Spuk des Alltags - Alexander Moritz Frey - E-Book

Spuk des Alltags E-Book

Alexander-Moritz Frey

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Beschreibung

Spuk? - ein Jugendlicher ermordet seine Eltern und verbirgt sich zusammen mit den verwesenden Leichen in der Wohnung. Merkwürdige Klopfgeräusche ängstigen ihn. Erwachen in der Nacht die Toten? Alltag?Ein Mörder versteckt sein Opfer unter einem Sandberg im Hinterhof. Doch fürchtet er die im Sand spielenden Kinder, welche seine Tat ans Tageslicht bringen könnten. Oder gräbt sich die Leiche von selbst wieder heraus? Spuk?Ein deutscher Kriegsveteran beobachtet seinen Doppelgänger, der unermüdlich Leichen in das Dachgeschoss trägt. Es sind französische und britische Soldaten unter den Toten. Ist das eine Geistererscheinung oder überwältigt ihn sein Gewissen?Alltag? - eine alte Dame wird tot in ihrer Villa gefunden. Ihre Katzen haben sie zum Teil aufgefressen. Was führte zu ihrem Tod?Die Anthologie SPUK DES ALLTAGS enthält die KurzgeschichtenVerhexungVerneinungVerfolgungVerwandlungVergeltungVerzweiflungVerwirrungVerwesungVerstrickungVersammlungVermummung

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Seitenzahl: 278

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Alexander M. FreySpuk des Alltags

In dieser Reihe bisher erschienen

01 Geisterstunden vor Halloween von Stefan Melneczuk

02 Drachen! Drachen! von Frank G. Gerigk & Petra Hartmann (Hrsg.) 03 Hunger von David Grashoff & Pascal Kamp (Hrsg.)

04 Schattenland von Stefan Melneczuk

05 Der Struwwelpeter-Code von Markus K. Korb06 Bio Punk‘d von Andreas Zwengel

07 Xenophobia von Markus K. Korb08 Nachtprotokolle von Anke Laufer09 Reiche Ernte von Matthias Bauer

10 Das Tor von Matthias Bauer

11 Fantastic Pulp 1 von Michael Schmidt & Matthias Käther (Hrsg.)

12 Wenn die Welt klein wird und bedrohlich von Felix Woitkowski (Hrsg.)

13 Geisterstunden von Stefan Melneczuk

14 Fantastic Pulp 2 von Michael Schmidt & Matthias Käther (Hrsg.)

15 Cosmogenesis von Jörg Kleudgen

16 Haschisch von Oscar A. H. Schmitz

17 Spuk des Alltags von Alexander M. Frey

Alexander M. Frey

Spuk des Alltags

Elf seltsame Geschichten aus Traum und Trubel

Text und Illustrationen wurden von der Originalausgabe (1920) ­unverändert übernommen. Trotz intensiver Bemühungen ist es uns nicht gelungen, die jetzigen Inhaber der Rechte an diesem Buch in Wort und Bild zu ermitteln. Berechtigte Ansprüche sind an den BLITZ-Verlag zu richten.

© 2004, 2021 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Markus K. KorbLektorat: TTT, MallorcaTitelbild: Mark FreierUmschlaggestaltung: Mario HeyerInnenillustrationen: Otto NückelSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenwww.BLITZ-Verlag.deISBN 978-3-95719-896-9

VERHEXUNG

Bitte, lieber junger Herr, ach bitte, gehen Sie nicht vorbei! Gehen Sie nicht herzlos vorbei an einer alten Frau, die friert, – in dieser trüben Herbstnacht seit Stunden in der dunklen Ecke lehnt und nichts Heißes getrunken hat. Sie kommen gewiß aus einem Cafe, worin es behaglich und heiter war.

Dacht’ ich’s doch! Sie können sich nicht hartmachen und achtlos vorübereilen.

Sie haben ein gutes Herz, ein warmes Herz. – Oder haben Sie nur Neugier, weil Sie mir so prüfend unter die Kapuze schauen? Bitte, erschrecken Sie nicht. Ja, ich weiß, die Leute sind immer ein wenig erstaunt über mein Angesicht. Es will nicht recht passen zu meiner Behauptung, ich sei eine alte Frau. – Gut gepolstert und rosig sei es, hat man mir versichert.

Auch fehlt mir kein Zahn im Mund, es ist wahr. „Schimmerndes Raubtiergebiß“ hat es einmal jemand genannt, – nun, eh – dieser Jemand ist längst erledigt… Aber, junger Herr, wenn ich meine Kapuze abnähme, da würden Sie schneeweißes Haar sehen. Sie wissen, daß greise Frauen mit vollen weißen Haaren bis ins höchste Alter das Antlitz der Jugend bewahren? Eh was, ich bin ein altes schwaches Weib! Betrachten Sie meinen hilflosen Körper, den gekrümmten Rücken, ich kann ihn nicht mehr geradebiegen; will ich Ihnen in die Augen sehen, muß ich den Hals verrenken, daß mir der Kehlkopf wehtut. Hören Sie doch meine Stimme! Ich selbst höre sie gut. Wenn andere Leute auch nicht wissen, ob sie hoch oder tief sprechen, laut oder leise, gepreßt oder frei, dröhnend oder erstickt, – ich weiß, daß ich krächze und blechern scheppere mit meiner ausgeleierten Gurgel, daß ich zischle und quietsche, wenn ich, wie jetzt, leise und freundlich zu einem Menschen reden möchte, der gutherzig zu mir ist. – Sie finden mich gesprächig, wie? – Ein wenig geschwätzig?

Erkennen Sie nun, daß ich eine alte Vettel bin, die gerne schwatzt?

Ich tue es, um Ihnen Dankbarkeit zu zeigen, weil Sie sich meiner annehmen wollen. Sehen Sie meinen humpelnden Gang, sehen Sie die Last der Ledertasche, in der nichts steckt als ein paar leichte Habseligkeiten, – wie sie mich zu Boden zieht! Fassen Sie ganz Vertrauen zu mir, ich bin arm und alt.

Nein – bleiben Sie nicht unter dieser Laterne stehen, ziehen Sie nicht Ihre Börse! Ich möchte Sie um etwas anderes bitten als um Geld.

Ich habe einen weiten Weg vor mir, einen beschwerlichen durch den Nebel dieser Herbstnacht. Am Fluß wird er besonders milchig und stickig sein. Gleich feuchten zerfließenden Fingern, die kraftlos krallen und dennoch würgen, legt er sich in allen Straßen den späten Fußgängern um den Hals; es ist gut, wenn man zu zweit ist und sich seiner ein wenig erwehren kann: durch ein trostreiches Wort, durch einen aufmunternden Blick. Man müßte einen Wagen haben, ein gepolstertes kleines Kabinett mit lautlosen Rädern, einem Lämpchen zur Seite und einem durchheizten Fußboden, der dem klebrigen Dunst nicht erlaubt, hereinzusickern, der dafür sorgt, daß er nur die Außenseiten der kleinen Fenster umfangt und tränend an den Scheiben niederrinnt. – Sie wundern sich über meine Worte, schöner junger Herr? Aber ich bin einstmals – einstmals in Moskau, in London, in Wien und Kopenhagen bin ich gefahren in solchen seidengepolsterten Schmuckkästchen auf lautlosen Rädern.

Nein, werden Sie nicht ungeduldig. Ich weiß, ich bin abgekommen. Ich habe Ihnen sagen wollen, worum ich bettele, und Sie warten darauf, es zu hören. Wollen Sie mich ein Stück des Weges begleiten? Wollen Sie einer alten, gebrechlichen Frau nach Hause helfen? Dies ist meine Bitte. Ich habe vorhin gesagt: ein weiter Weg ist zurückzulegen, ein beschwerlicher Weg. Nein, er ist nicht weit: nur für meinen kurzgehenden Atem; und beschwerlich: nur für meine morschen Füße. Ihren lustgeschwellten Gliedern ist er ein Kleines; Ihre giergeschwellten Glieder fressen diese Entfernung wie der Windhund die paar Meter zwischen Laternenpfahl und Laternenpfahl.

Sie stutzen, Sie sind befremdet, weil ich sage, Ihre Glieder sind giergeschwellt? Lieber schöner junger Herr, wenn ich Ihren Blick nicht aufgefangen hätte! Schmerzt auch mein verrenkter Kehlkopf, so ist er’s doch gewöhnt, daß ich mein Angesicht aufwärts wende, denn es trifft sich manchmal, daß ich jungen Männern in die Augen schauen muß. O, wenn ich Ihren Blick nicht abgefangen hätte, der sich an die beiden Mädchen hängen wollte, die gerade vorbeistrichen! Schütteln Sie nicht so heftig den Kopf; Sie bejahen deutlich vor lauter Verneinung, und Sie ringen um den Entschluß, mich stehen zu lassen und den beiden Tieren dort zu folgen. Sehen Sie nicht, daß Ihre Wahl schlecht getroffen wäre? Muß ich Ihnen meine Augen leihen, die das brausende Blut Ihrer dreißig Jahre nicht geblendet hat? Meine welterfahrenen Augen, die durch den Samtmantel der einen hindurch die verwelkten Spitzen ihrer Brüste künstlich aufgerichtet im Mieder taumeln sehen, und bei der anderen unschwer entdecken, daß sie falsches Haar pfundweise unter den Federhut gepfercht trägt und in x-beinigen Gelenken wassersüchtig aufgetrieben ist?

Vergeuden Sie sich nicht an diese beiden Bewahrerinnen kümmerlicher Herrlichkeiten, schöner junger Herr. Sie verdienen, daß andere Arme sich um Ihren kräftigen Nacken schließen. Ihnen wären Schenkel angemessen, deren beseligende Linie weich neben der herrischen Stärke Ihrer Lenden ruht.

Weshalb zittern Sie? Sie müssen nicht Angst vor mir haben. Wundern Sie sich bitte nicht über diese vielleicht gedrechselten und ein wenig überraschenden Worte aus dem Munde einer alten Frau. Vergessen Sie doch niemals, wie sehr alt ich bin, und daß ich die Welt kenne und die vielen Worte dieser bunten Welt, die man einmal alle, mögen es auch viele sein, gehört und selbst gesprochen hat, wird man nur alt genug. Ich glaube auch nicht, daß Sie aus Angst zittern.

Sie zittern wie der Hund, der Beute entwischen sieht; wie der Kater, dem das Fleisch des Vogels entflogen ist. Aber vielleicht, heißer junger Herr – vielleicht kann ich Ihnen helfen…

Sehen Sie, wir sind schon am Flußufer, und Sie haben sich noch gar nicht entschieden, ob Sie mir die Liebe antun wollen, mich ein Stückchen zu betreuen. Wie gut ich schreite, nicht wahr? Viel besser als in den Straßen der Stadt. Es geht sich leichter, weiß man junge Kraft neben sich, auf die man sich im Notfall stützen kann.

Aber Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen! Ich kann es gar wohl verstehen, daß Sie wissen möchten, weshalb ich nächtlicherweise auf Straßen der Stadt in dunklen Winkeln stehe, – stundenlang. Daß ich – lauere sozusagen, – ja, lassen Sie mich diesen Ausdruck gebrauchen, er liegt Ihnen auf der Zunge, ich weiß es. Schämen Sie sich dessen nicht! Und bitte, hören Sie endlich auf mit dem entschuldigenden Gestammel. Sie sollen alles erfahren, Sie haben ein Recht darauf kraft Ihrer Ritterlichkeit mir gegenüber. Sehen Sie, jetzt behandeln Sie mich fast wie eine Dame Ihrer Kreise, und vorhin unter der Lampe wollten Sie mir Geld schenken. O, das braucht Sie nicht zu bedrücken; Sie wollten ja auch den beiden Frauen, die vorbeistrichen, Geld geben. Wem hätten Sie wohl mehr in die Hand gelegt: einer von diesen oder mir? Freilich, bei den anderen konnten Sie auf Gegenleistung rechnen, bei mir nicht. Trotzdem glaube ich, Sie hätten mich fürstlich, Sie hätten mich königlich beschenkt. Der Freimut Ihrer Bewegungen – ein wenig zwar behindert durch die Ungewißheit des Weges, in den Sie hineintappen… Wie…?

Alles sollen Sie erfahren, freilich; ich versprach Ihnen Aufklärungen. Niemand weiß besser als ich, daß ich sie Ihnen schuldig bin. – Aber Sie dürfen sich nicht an dem Wort „hineintappen“ stoßen; das war doch nur eine kleine scherzhafte Wendung. Weil wir gerade vom Wege sprechen, will ich Ihnen zuerst vor allen anderen Dingen auseinandersetzen, wohin ich zu gehen habe.

Es fällt Ihnen auf…? Ja, manchmal gelingt es mir, meinen krummen Rücken geradezubiegen. Wenn ich in besonders anregender Gesellschaft bin. Befeuert von Zuneigung mögen mir Kräfte zurückkehren, die mich längst verlassen haben. Es ist eine Schwäche der Rückenwirbel, die plötzlich behoben ist. Aber es hält nicht vor, es geht vorüber, es ist nur für kurze Zeit. Ja, Sie haben recht, mein Rückgrat hat Straffheit und Biegsamkeit zurückgewonnen. Stoßen Sie sich nicht an diesem für mich glücklichen Ereignis, gönnen Sie mir diese bald wieder schwindende Fähigkeit. Sie darf Sie nicht beunruhigen, sie ist leider nur augenblicklich und nicht von Belang. – Gehe ich Ihnen zu schnell? Sie nehmen den Hut ab. Wahrhaftig, auch mir wird heiß. Ich werde die Kapuze ein wenig lüften. Die Kapuze…? Freilich, Sie beobachten recht trotz des Nebels und der Dunkelheit: sie ist aus schwerem Samt. Streifen Sie ruhig darüber, ihre Hand wird Ihnen bestätigen, daß es schwerer, schwarzer Samt ist; deshalb macht sie mir auch heiß… Graues Tuch –? Nein, liebes junges Herzchen, aus grauem Tuche war die Kapuze niemals; nicht in der dunklen Häuserecke, nicht unter der Laterne, die zusehen sollte beim Aufschnappen der Geldbörse. Gewiß, ich weiß: der grauen Kapuze wollten Sie Geld geben, dem schwarzen Samt keineswegs. – Aber nein, Sie sollen sich doch nicht schon wieder entschuldigen.

Weshalb dieser fassungslose Mund? Blond? Nein, Ärmster, blond sind meine Haare nicht. – Ganz hellblond? Nein, auch das nicht. Weiß, schneeweiß, das habe ich Ihnen doch schon längst erzählt. Sie lassen mich mit Ihren ewigen Zwischenfragen gar nicht dazu kommen, Ihnen das zu erzählen, was neu für Sie ist, und worauf Sie ein Anrecht haben, es zu hören. – Weißblond? Aber nein, auch nicht weißblond. Lassen Sie ab, Sie retten nichts von Ihren Gesichtern. Und wenn sie noch so willig sich anzupassen suchen. Es kann sein, daß der gelbe Nebel meine Haare weißblond erscheinen läßt. Er täuscht Sie nur, glauben Sie mir!

Aber gewiß doch sollen Sie Elvira heute abend noch kennenlernen – vorausgesetzt, Sie begleiten mich bis nach Hause, was noch nicht ausgemacht ist. Ich kann es von Ihnen auch nicht verlangen. Sie waren mir bereits unendlich behilflich, es würde mich freuen, wollten Sie Ihr Werk zu Ende führen, aber Sie haben sich bisher nicht abschließend geäußert.

Weshalb soll ich nicht davon reden, daß Sie „Ihr Werk zu Ende führen“? Weshalb soll ich mich nicht so ausdrücken? Sie meinen, es klinge verrucht? Als hätten Sie das Werk eines Verbrechers vor? Aber nicht doch, mein Häschen. Sie Zaudernder! Sie fleischgewordener Gewissensbiß! Ihr Samariterwerk sollen Sie zu Ende führen, nichts weiter. Ja, Sie haben recht: Elvira ist blond. Hellblond? Nein. Es gibt nur ein Blond, das ist ihr eigen. Sie ist elvirablond.

Ja, Sie haben alles gewußt. Gewiß: Sie haben mich mit Elvira verwechselt, als Sie mir vorhin einreden wollten, ich sei blond. – Wie man einen Menschen mit einem anderen verwechseln kann, den man gar nicht kennt? Aber stoßen Sie sich doch nicht an solchen Kleinigkeiten! Vertauschen wir nicht fortwährend die unmöglichsten Dinge miteinander? Und kennen wir diese Dinge eigentlich, die wir miteinander vertauschen? Nun also. – Reden wir lieber von etwas anderem; lassen Sie mich Ihnen endlich sagen, wo ich wohne. Sie können sich dann entscheiden, ob ich das Vergnügen haben werde, Sie heute noch in meinem Heim zu begrüßen.

– Ja, Elvira ist schön. Ich kann es ohne Eitelkeit gestehen, denn ich bin nicht ihre Mutter. Sie ist meine Enkelin. Ihre beiden Zöpfe sind an der Wurzel so dick wie ihr blondes Fußgelenk. Ihre Gelenke sind schmal… Sehen Sie: dick die Flechten und die Gelenke dünn, zum Verwechseln im Durchmaß und doch so verschieden im Wert ihres Durchmaßes, – und Sie wollen noch grübeln über Sinn und Möglichkeiten von Verwechslungen. Sehen Sie ein, daß es zu nichts führt?

Nicken Sie nicht so hoffnungslos, oder ich muß Sie aufheitern. Elvira soll Sie aufheitern, wird Ihnen das zusagen? – Sie schweigen, ein wenig mißtrauisch. Sie haben recht: ich mache Ihnen immer Versprechungen, als da sind: „Elvira wird Sie aufheitern. Ich werde Ihnen berichten…“ und so fort.

Also gut: ich werde Ihnen jetzt endlich erzählen, wo ich wohne. Wir haben nicht mehr weit bis dorthin. Sie kennen die alte Mühle am Ende des Parkes, den wir noch entlangwandern müssen? – Sie taumeln; sind Sie müde? Das wäre doch heiter, wenn schließlich ich alte Frau Sie stützen müßte. Lassen Sie mich auf der Seite der Böschung gehen, Sie torkeln mir sonst noch die Quader hinunter in den Fluß, und ich stehe hier oben, sehe sie im Brei des Nebels versinken und weiß nicht einmal, ob Sie ins eiskalte Wasser tauchen, das Sie mit sich fortreißt. Wer weiß, ob der dicke Nebel einen Schrei emporquirlen ließe. Wer hört ihn auch? Meinen Ohren ist er umsonst geschrien. Kein Mensch ist weit und breit, und ich bin ein altes Weib, kann niemanden retten. Eine vortreffliche Gelegenheit: in solcher Nacht, in solcher Stille, bei solchem Nebel, an solchem Strom… Nein, mein Herzchen, ich habe keine Angst! Ich weiß nicht, warum Sie taumeln, aber ich sehe Sie taumeln. Ihre Kinnbacken schlagen. Ja, es ist häßlich kalt und feucht, und heißes Blut wird so abgekühlt von klebriger Hand, daß es nicht zischen kann, sondern schaudern muß. Was mich betrifft, ich gehe leidlich jetzt zu dieser Stunde, ich gehe – fast bild’ ich mir ein: kerzengerade. Ich gehe ruhig auf der Seite der Böschung, mein Häschen, mir geschieht nichts Böses; mich zu beseitigen, überdenkt jetzt niemand kraftlos – oder doch am Ende? Fast lache ich ein wenig, mein lieber junger Herr. Gestatten Sie es mir! Es ist ganz und gar nicht beleidigend für Sie, dieses Lachen.

– Das ist mir erklärlich, daß Sie sich wundern über diese Erscheinung; es muß Sie merkwürdig dünken, die Brücke frei vom Dunste zu sehen. Aber ich kann Ihnen verraten, wie das zugeht: ewige Zugluft, die durch die Brückenbögen fährt, schlürft und reißt jeden Nebel mit sich. Die weißliche Nebelwand steht diesseits und jenseits der Brückenmasse und wird ausgehöhlt und abgeschliffen von den Luftwirbeln, die ganze Fetzen losreißen, ziehende Schwaden unter die Bögen saugen und sie schließlich in die Höhe werfen und zerflattern lassen.

Ja, ruhig, mein Kindchen! Wie eine Mutter muß man Ihnen zusprechen. Nicht angewurzelt stehenbleiben, nicht aufschreien und zu rennen beginnen! Sie rennen unvermeidbar durch die Trübung in den Tod, – und der andere springt doch! Ja, Sie sehen richtig, Ihre Augen trügen Sie nicht. Dort auf der Brüstung der Brücke steht ein Mensch und schaut hinunter und greift in die Nacht über sich und wirft den Kopf seinen greifenden Händen ratlos nach. Ein Selbstmörder. Die letzten Zuckungen eines Selbstmörders, der vor dem Sprung einen Ausweg noch erhaschen will, aber er findet keinen. Sehen Sie: da braust er schon hinab!

Haben Sie seinen Mantel wirbeln hören? – Nein, Sie müssen sich nicht mit den Händen die Ohren zuschlagen, er wird keinesfalls um Hilfe schreien, Sie dürfen sich nicht erregen. Hat dieses Abschiedsrauschen des Mantels, der flattert wie eine Fahne, die auf Halbmast geht, Ihr Herz gepeinigt? Hätte es auch Ihr Herz gepeinigt, wenn die Brückenbögen keinen Zugwind erzeugten? Dann hätten Sie nichts gesehen, dann hätten Sie nur gehört und gedacht: eine Flußwelle spült herauf, eine Wildente, ein Nachtvogel mit großen Schwingen rauscht zur Tiefe. Sehen Sie: oft hören Sie den Klang einer Welle und den Flug eines Vogels, und es ist keine Welle, und es ist kein Vogel, und ein Mensch stirbt, – und es treibt Sie keine Faser Ihres Körpers, ihm zu helfen.

Nicht selten des Nachts, wenn ich hier vorbeikomme, sehe ich Menschen, die hinunterspringen. Springen sie denn? Es ist ein Treten in die Luft, ein allerletzter Versuch der Rettung, eine Probe, ob in zwölfter Stunde sich das Wunder einstellt. Aber solch ein Wunder gibt es nicht, mein junger Herr; Gott läßt die Narren stürzen. Es gibt überhaupt keine Wunder. Alles geht ganz natürlich zu. Sind Sie nicht überzeugt davon, wenigstens heute abend, wo wir so nüchtern und gesittet uns unterhalten? – Sie müssen mich nicht so entsetzt anstarren. Jener Hampelmann wollte das Wasser, und man muß den Willen der Menschen respektieren. Genug.

Lassen Sie mich lieber fortfahren zu erzählen. Ich habe Sie gefragt, ob Sie vielleicht die alte Mühle am Ende des Parkes kennen. Sie haben mir nicht geantwortet. – Wie, Sie wollen leugnen –? Leben Sie denn nicht in dieser Stadt? Seit fünfzehn Jahren – – aber, was ist das? Sie zaudern: es könnte sein, daß Sie die Stadt verwechseln? Wenn auch. Erinnern Sie sich unseres Gespräches vorhin über Verwechslungen, – und daß sie belanglos sind. Jedenfalls kennen Sie doch die alte Mühle; Sie müssen Sie kennen! – Nun also, sehen Sie; sie geben es schon zu.

In dieser Mühle wohne ich mit Elvira, meiner Urenkelin. Es wird Ihnen bei Spaziergängen aufgefallen sein, daß heutzutage nicht einmal mehr erkenntlich ist, wo der Bach seinen Weg nahm. Überhaupt sieht diese Mühle in ihrem schweren Steingefüge mehr aus wie ein kleiner hoher Kornspeicher. Nein, alte Kornspeicher – Sie haben recht – sind stets aus Holz. Also, wie ein Riesenschilderhaus, wie ein überhöhtes Vogelbauer, wie ein schwerbedachter Eichkätzchenkäfig. Wär’ nicht das brave Mühlrad da, das zuweilen eine seufzende Umdrehung macht und morsches Holz dabei wie abgestorbene Glieder fallen läßt, – es ist lustig: kein Wasser treibt es, kein Wind braucht es zu stoßen, es dreht sich, als erwache es plötzlich, auf die andere Seite, – – wär’, sag ich, die Mühlrad nicht, keine Seele könnte glauben, das Haus sei je eine Mühle gewesen.

Dort wohne ich, ja. Wir sind nicht mehr weit entfernt. – Sehen Sie den Nebel, an dem die Wiesen so sehr getrunken haben, daß sie ertrunken sind. Wenn hier Abgründe wären – man könnte hineingleiten wie in Watte – man fiele so weich wie auf Watte. Sie glauben mir nicht? – Sie müssen nicht an die Bäume anrennen, – hier ist ein kleiner Wasserlauf, Sie müssen nicht hineintappen. Wenn Sie nasse Füße bekommen haben, – Elvira soll Ihnen ein Paar ihrer blutdurchwirkten Strümpfe geben.

Wir sind bald am Ziel. Ich versprach Ihnen Ersatz. Merken Sie nun, wie sehr der Ersatz übertreffen wird, was er ersetzen soll?

Nein, ich spreche nicht von mir! Sie sind manchmal sehr komisch – so ganz unentschieden – und grenzenlos frech in Ihrer Schüchternheit. Ich habe schneeweiße Haare und behalte sie. Lassen Sie das! – Elvira wird Ihnen helfen, sich zu beruhigen. Aber ich kann Ihnen, wenn Sie das ablenkt und besänftigt für den Augenblick, von meiner Person erzählen. Ich deutete seidengepolsterte Kistchen auf lautlosen Rädern an. Ich bin so durch Kopenhagen gefahren, durch London und Petersburg. Ihr Urgroßvater hat mich vielleicht tanzen sehen. Ich war berühmt, ehe die Taglioni berühmt war. Ihr Urgroßvater muß also noch ein Knabe gewesen sein, als ihm der Speichel meinetwegen im Mund zusammenlief. Blond? Nein, ich war nie blond. Sie haben recht, es zu vermuten, denn Sie wissen, daß ich Dänin bin. Ich bin aber zeit meines Lebens schwarz gewesen. Ja, gewiß, ich heiße Lucie. Sie glauben, ich sei jetzt weiß? Nun soll ich die Kapuze wirklich abnehmen.

Sehen Sie, Sie schütteln geschlagen den Kopf.

Wir sind angekommen. Sie merken es nicht? Ja, der Nebel hat alles verschluckt. Wenn Sie einen Schritt weitergehen, stoßen Sie mit dem Gesicht gegen die Mauer. Hier sind die Stufen. – Hier fehlt ein Stein – treten Sie nicht in die schwarze Lücke, sonst treten Sie ins Bodenlose. Was zaudern Sie? Zu spät ist Ihr ärmliches Schwanken. Sie sind angelangt. Treten Sie über den kleinen Abgrund, frisch! Muß ich gebrechliche Frau es Ihnen vormachen? – Sehen Sie, es geht.

Helfen Sie mir, die Tür zu öffnen. Sie dreht sich nur mürrisch in tiefer Nacht, sie will schlafen wie das Mühlrad. Stemmen Sie sich dagegen. Sehen Sie, auch das geht.

Und nun willkommen in meinem Hause!

Freilich, es kann nicht anders sein, als daß Sie sich wundern. Wer hier eintritt, ist freudig entsetzt. Niemand erwartet die kleinen erlesenen Räume; ihrer viele gibt es nicht im schmalen Gemäuer. Drei Zimmerchen hier, über uns drei Zimmerchen, und über den drei Zimmerchen drei Zimmerchen.

Nein, du mußt nicht so ängstlich umherschauen, verwirren dich die Zahlen und die Zimmerchen, mein Häschen? – Oben wohnen die Tiere. Was meinst du? – Ja: viele schöne Tiere, du wirst sie noch kennenlernen. Ja, dort oben in den dreimal drei Zimmerchen. Komm, leg deinen Mantel ab und gleich auch Rock und Weste, es ist sehr warm hier, so eine schmiegsame Wärme aus lebendem Fell und atmenden Federn, nicht wahr, ganz anders als die derbe Hitze von Kohlen und Holz. Der mohnblütige Milchfasan strömt viel Wärme aus, die knallgelbe Kurbelkatze saugt sie wollüstig ein, so hilft eins der Tierchen dem andern… freilich, du hast ganz recht: sie stammt von der Pantherkatze und der Turteltaube, und manchmal ist es nötig, sie zu kurbeln; dafür hat sie ihren Schwanz.

Siehst du, mein Äffchen, du bist schon ganz im Bilde, du wirst dich leicht eingewöhnen. Die Wendeltreppe: ja, da kommen meine Freundchen oft herunter untertags, obwohl man den Tag nicht eigentlich merkt, denn wir halten immer die Läden geschlossen. Es ist wegen der Leute. Eine freundliche Helle –? Ja, sie bleibt beständig die gleiche; wir erzeugen sie selbst aus Fellen und Federn. Eh, du weißt zur Genüge, wie aus Wärme Licht entsteht; ich will dich damit nicht langweilen.

Nein, nicht alle kommen über die Wendeltreppe. Vom polierten Plumpsack kann ich es nicht verlangen. Siehst du die Klappe dort an der Wand? Mach sie getrost auf und schau hinein. Was siehst du? Eine metallene Röhre, glatt und blitzend gewunden. Durch sie kommt der Plumpsack vom Dache heruntergefahren. Nein, ich kann wirklich nicht von ihm verlangen, daß er sich über die Wendeltreppenstufen quält, der Gute mit seinen Quastenbeinchen.

Was ist das? Was meinst du, mein Äffchen? Nein, nein, nein, weinen will der große Junge?! Morgen wirst du den Plumpsack kennenlernen, ihr werdet euch vertragen, und alles wird gut sein. Komm, setz dich behaglich in die Sofaecke!

Du weinst um deine Mutter? Sie wird dich vermissen und blutend nach dir suchen, wähnst du, wenn ich dich festhalte? Täusche dich nicht, mein kleiner Betrüger. Wie sehr bist du längst schon deiner Mutter entlaufen und immer hinter anderen Frauen her. Hast du sie nicht seit Jahren einsam gemacht? – Geh, du hast nur Mitleid mit dir selbst. Deine Mutter ist Vorwand. Wie lange schon sucht sie nach dir und findet dich nicht, denn du hast dich nicht finden lassen.

Jetzt magst du für sie von der Brücke heruntergeflattert sein, und sie wird nicken und wird dies Ende verstehen. Aber du wirst doch nicht –! Ausgänge? Nein, in diesem Raum sind keine Türen. Die Fensterläden? Du weißt es doch: seit vierhundert Jahren sind sie geschlossen und eingerostet. Was wandelt dich an? Laß den Dolch im Türrahmen stecken! Du wirst doch nicht auf mich alte Frau losgehen wollen! Sieh, wie gebrechlich ich bin. Mein Kehlkopf schmerzt und wimmert, so sehr muß ich den Hals unterm verkrümmten Rücken aufwärts biegen, um nur in deine wütenden Augen sehen zu können. Laß ihn, den Dolch. Seine Edelsteine sind falsch, und seine Schneide schneidet nicht; er hat an meiner Hüfte gefunkelt, beim Tanz in der „Tochter des Banditen“. Ich habe die Pantomime fünfzigmal in Kopenhagen getanzt. Schlag seine Spitze zurück in das Holz der Türe; zum Lohn wird Elvira durch sie für dich erscheinen.

Siehst du, da kommt Elvira. Bist du nun zufrieden? Du zitterst. Ja, Elvira ist schön. Denkst du jetzt noch an die beiden Dirnen, die dir unter der Lampe vorbeistrichen – damals – wie lang ist es her? Ein paar Jahre; wir hatten uns eben kennengelernt. Begehrst du noch die beiden Dirnen? Vielleicht die mit den hängenden halbleeren Mehlsäcken? Oder gar am Ende die mit den gedunsenen Gelenken? Ich kann dir jetzt verraten, daß sie schon einmal ertrunken war. Ich wollte dich in jener Nacht nicht so sehr erschrecken, aber hast du sie nicht selbst von der Brücke hinunterspringen sehen in den Strom? Nun also. Und du weißt doch auch, daß Ertrunkene, die länger im Wasser gelegen sind, gedunsene Glieder haben. Nun also!

Elvira, wirf dein Gewand ab! Gefällt sie dir? Habe ich zu viel gesagt? Sind etwa die Gelenke gedunsen? Oder ist ihr Haar falsch? – Pelz, meinst du? Gut, sagen wir Pelz. Aber dünkt er dich falsch? Umarme sie, mein Söhnchen, ihre Brust ist fest, du läufst nicht Gefahr, in qualligem Fleisch zu versinken. Ein Pantherköpfchen? – Eh, du wirst dich gewöhnen. Sieh den goldgelben Blick ihrer smaragdgrünen Seen. Hör, was ihr Stimmchen dir schnurrt.

Aber sie ist doch blond! Hab ich dich denn belogen? Man könnte es meinen, wenn man deine taumelnden Augen betrachtet. Ein blondes Pantherchen, meinst du? Nun wohl: ein hauchend hingestreiftes Gepardchen, ein Pardelweibchen, eine Genette! –

Nein, niemand stöhnt. Sie sind ein Hasenfuß, trotz all Ihrer Gier! Jagen Sie Ihre Blicke nicht so haltlos durch die Zimmer! Sie dürfen versichert sein, es hat niemand gestöhnt. Hier geht es allen gut. Ich habe Ihnen doch schon erzählt, daß unser Mühlrad sich manchmal auf die andere Seite dreht im Schlaf und dabei seufzend knarrt. Das ist es, was Sie gehört haben.

Die Tiere? Ja, sie schlafen auch. Aber nicht so beharrlich wie das Mühlrad; das schläft jetzt gut seine zweihundert Jahre; nur manchmal, wie Sie wissen, wälzt es sich auf den Bauch, aber es wacht nicht auf dabei. – Morgen, wenn er sich ausgeschnarcht hat, morgen werden Sie den Plumpsack begrüßen; er wird herunterfahren und ein Schälchen Milch mit Ihnen trinken.

Milch, gewiß! Ach, sie mundet dir nicht? Warte nur bis morgen; sie wird dir bestimmt und ausgezeichnet munden.

Die Tiere? Was die so treiben hier? Nun: sie leben, sie haben ihr Auskommen. Übrigens wechseln sie. Sie sind hier sozusagen nur in Kost und Pflege, sie kommen und gehen; sie kommen allerdings anders, als sie gehen, das ist freilich noch ein wenig unbegreiflich für dich – und wenn du es begreifen könntest, gehörst du schon zu ihnen, – und begreifst nichts mehr.

Diese Rede scheint dir dunkel, mein Söhnchen? Also lassen wir ihren Sinn auf sich beruhen.

– Wohin sie gehen, die Tiere? Nun, zu den Menschen. Sie sind mir dankbar für Kost und Pflege und bezahlen mir dies, ehe sie mich verlassen.

Du meinst, ich verkaufe die Tierchen hinaus in die Welt. Wenn du es so nennen willst: ich bin einverstanden, aber ich weise Vorwürfe zurück. Hast du nicht unter der Lampe die beiden Dirnen kaufen wollen? Wer soll mich da hindern, dich morgen an die Frau Kommerzienrat zu verkaufen, mein Äffchen!

Elvira? Nein, Elvira verkaufe ich nicht. Elvira nicht. Sie nicht! An niemanden. Ich liebe sie sehr, meine Ururenkelin, und ich brauche sie dringend zur Aufrechterhaltung des Betriebes. Des Betriebes? – Ja. Verstehen Sie das nicht? Denken Sie nach, junger Herr, denken Sie über sich selbst nach!

Aber nein, Sie sollen nicht immer so fassungslos erschrecken. Den Sie da vor sich sehen, das sind schon Sie! Sie stehen vor einem meiner schmalen hohen Spiegel, wirklich, und betrachten sich selbst. Das ist lustig: Sie haben nie gewußt, daß Sie wie ein Kakadu aussehen? Aber ich bitte Sie, denken Sie doch an Ihre schweren Augenlider, – haben nicht schon Ihre Schulkameraden immer über diese „Rolläden“ gespottet? Sie haben freilich später bei Frauen Eindruck damit zu machen geglaubt, und ich bin auch sicher, die Frau Kommerzienrat wird entzückt sein. Denken Sie an Ihren Haarschopf, der immer widerspenstig in die Höhe stieg – an Ihre etwas feisten Bäckchen – an die stahlscharf gebogene Nase, auf die Sie stolz waren, über einer kleinen üppig vorgeschobenen Unterlippe! – Übrigens kleidet der weiße Frack Sie gut; man sieht, daß Sie eine vortrefflich gewölbte Brust haben.

Ja, hier sehen Sie sich von der Seite. Recht vorteilhaft, nicht wahr? – Nun lassen Sie den Kopf nicht hängen! Seien Sie kein Spielverderber! Das alles ist unabwendbar und auch ganz angenehm.

Gewiß: dort drüben sehen Sie sich ebenfalls. – Mehr ein Seidenhäschen – meinen Sie? Dort im Spiegel wartet eher ein Seidenhase auf als ein Kakadu? Zugegeben, die Beleuchtung ist anders. Hier ist sie besser. Die Beleuchtung vorhin wirkte verzerrend. – – Was Sie nicht sagen! Auch das ist Ihnen neu, daß Sie stark verwandte Züge mit dem Seidenhasen immer schon gehabt haben? Ja, mein Lieber, da muß ich doch fragen: was haben Sie denn eigentlich von sich gewußt? Haben Sie niemals ihre fürchterlich langen Ohren begriffen? Haben Sie sich darüber zu täuschen verstanden, daß Sie mit schnuppernden Lippen gefräßig waren und stets fortpflanzungsbedürftig? – Ihre Nase hat hier einen zarteren Schwung voll weicher Wollust, ihre schweren Augenlider sind sanfter und sind betörend bewimpert, – ich bin sicher: Frau Kommerzienrat Basalt wird hiermit noch mehr zufrieden sein. Sie wird Ihnen tief in die roten Augensterne schauen.

Sie hat sich für morgen mittag angesagt und will einen Kakadu oder ein Seidenhäschen mitnehmen. Hasen sind jetzt große Mode. Also entscheiden Sie sich bis morgen zu dem, was Ihnen mehr liegt: Kakadu oder Seidenhase. Ich pflege meiner Ware innerhalb ihrer Möglichkeiten freie Hand zu lassen.

Schlafen Sie jetzt, junger Freund. Ziehen Sie das Kästchen mit Heu vor, oder hier in der Ecke die Holzstange für den Krallenfuß? Wenn Sie wollen, dürfen Sie auch eine letzte Nacht auf dem Menschenkanapee zubringen. Schlafen Sie gut – und heute noch, wo Sie wollen! – Morgen kommt die Dame.

Nein, nein, Elvira benötigen Sie nicht mehr; es sähe doch etwas lächerlich aus, wollten Sie sich an die Brust einer Kätzin schmiegen – in Ihrem unentschiedenen Zustand… Außerdem kommt morgen die schöne üppige Dame…

Schlafen… schlafen…

VERNEINUNG

Das erste, was Wilhelm Weifeuer verspürte, als er sich aus tiefer Bewußtlosigkeit emporrang, war, daß sein Mund offenstand und daß es ihm vorläufig nicht glückte, ihn zu schließen, weil die Scharniere irgendwie ausgehängt oder verrostet waren – offenbar schon seit langem. Der Unterkiefer schien gar nicht mehr ihm zu gehören. Er konnte die Nasenflügel blähen und auch ganz winzig mit der Oberlippe zucken. Von dort aus bis hinauf in die Gehirngänge, in denen ihm taube Gedanken schwerfällig durcheinanderkrochen und lallten, blind aneinanderstießen, ohne sich die Hände zu reichen und die klärende Kette zu bilden – bis in diese Gehirngänge hinauf erfanden sich wenigstens leise Regungen. Aber Zunge, Schlund und Stimmbänder –?

Auch kinnladenabwärts zeigten sich Spuren von Empfindung. Es trank an ihm eine saugende Kälte – ; nun er die Augendeckel mühsam wie einen verklemmten Rolladen bis zur kleinen Schlitzöffnung emporschieben konnte, sah er sie auch: sie verweilte im rötlichen Dunst einer halbdunklen Halle und beugte sich über ihn, unentwegt und lautlos schlürfend. Außer dieser gierig-stillen Kälte empfand er immer betonter eine grenzenlose Unbequemlichkeit der Glieder, die vertrackt und außergewöhnlich gelagert waren… nicht so, wie man daheim liegt auf dem grünen Kanapee oder im Faulenzerstuhl auf der Veranda.

„Also bin ich auf der Bühne – “, formte Wilhelm Weifeuer matt, – mit einer Stimme, die krächzend aus einem vertrockneten Schlünde losbröckelte. Die Kinnlade tat widerwillig Dienst. Er stützte sich auf wankende Ellbogen – sah runden Auges in kleine rötliche Flammen. „Auf der Bühne – und in einem Sarge –?“ fragte er die stumme Nachtkälte, die weiter an ihm sog. Da keine Antwort kam, – auch von den anderen Särgen nicht, links und rechts, in denen Menschen lagen, zog Weifeuer mit schwerer Mühe Beine, die so taten, als gehörten sie nicht zu ihm, gegen den Leib, saß eine Weile, ohne davon befriedigt zu sein, zusammengeknüllt und entschloß sich dann, aus der Kiste zu steigen.

„Die Vorstellung scheint aus zu sein, und man hat uns hier vergessen“, sagte er, sich und den Nachbarn ermutigend, zu dem nächsten Sarg hinüber. „Welche Gewissenlosigkeit: man kann sich den Tod holen. Ich habe vergessen – “ Er sah grüne Kränze zu seinen Füßen. Seine nackten Sohlen standen auf Blumen, deren zerquetschter Leib sterbenden Duft aushauchte.

„Mein Gott, was hab ich denn vergessen – “, fragte er sich mit gekräftigtem Organ und griff in die Silbermähne. Von Kranzschleifen sah er sich umhangen; ein Leuchter glomm trüb; er las: Dem unvergeßlichen Wilhelm Weifeuer! Der Magistrat der Stadt. – Er humpelte weiter, bückte sich: Als Künstler groß, und liebenswert als Kamerad. Das Stadttheater.

„Also bin ich gestorben“, sprach er erschüttert. „Und wieder auferstanden“, beschwichtigte er sich zweifelnd. Er sprach in gedämpften, sonoren Kehllauten; seine Stimme sollte ihm beweisen, daß er lebe; zudem hoffte er auf Antwort irgendwoher. Sie kam nicht. Er ließ weiter bedruckte Seidenbänder durch eiskalte Finger gleiten: Ein letzter Gruß der knorrigen Eiche, jung bis ins Alter. – „Alt?“ frug er sich. „Ich gelte als Fünfziger.“ –