SS-GB - Len Deighton - E-Book

SS-GB E-Book

Len Deighton

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Beschreibung

Februar 1941. England wird von deutschen Truppen besetzt. Winston Churchill stirbt, die SS regiert in Whitehall. In diesen dunklen Stunden wird Inspector Archer, der für Scotland Yard arbeitet, mit einem Mordfall beauftragt. Routine, so scheint es. Doch dann stellt sich heraus, dass der Ermordete brisante Pläne zu einer schrecklichen Waffe bei sich trug. Archer befindet sich plötzlich zwischen den Fronten der Nazis und des Widerstands. Es beginnt ein Kampf um England ... ein Kampf um die Menschlichkeit.

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Seitenzahl: 532

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Das Buch

Februar 1941. England wird von deutschen Truppen besetzt. Winston Churchill stirbt, die SS regiert in Whitehall. In diesen dunklen Stunden wird Inspector Archer, der für Scotland Yard arbeitet, mit einem Mordfall beauftragt. Routine, so scheint es. Doch dann stellt sich heraus, dass der Ermordetet brisante Pläne zu einer schrecklichen Waffe bei sich trug. Archer befindet sich plötzlich zwischen den Fronten der Nazis und des Widerstands. Es beginnt ein Kampf um England … ein Kampf um die Menschlichkeit.

Der Autor

Len Deighton, 1929 in London geboren, gilt als einer der erfolgreichsten englischen Spannungsautoren. Seine Thriller und historischen Romane waren allesamt internationale Bestseller. Deightons Klassiker SS-GB ist die Grundlage für die aktuelle große TV-Verfilmung mit Sam Riley und Kate Bosworth in den Hauptrollen.

LEN DEIGHTON

SS-GB

THRILLER

Aus dem Englischenvon Kurt Wagenseilund Ursula Pommer

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe SS-GB erschien erstmals 1978 bei Jonathan Cape Dieser Roman erschien bereits im Heyne VerlagVollständige deutsche Erstausgabe 04/2018

Copyright © 1978 by Pluriform Publishing Company BV 1978

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlagillustration: Nele Schütz Design unter Verwendung der Originalmotive von © Sid Gentle Films (SS-GB) Limited 2016. A Sid Gentle Films Ltd production for BBC in association with BBC Worldwide and Lookout Point. © BBC 1996. © 2017 polyband Medien GmbH

Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-22334-2V001www.heyne.de

»Und wenn man in England heutesehr neugierig ist und fragt:›Ja warum kommt er denn nicht?‹Beruhigt Euch, er kommt!Man muss nicht immer so neugierig sein!«

ADOLF HITLERRede am 4. September 1940 auf einer »Volkskundgebung«zur Eröffnung des Kriegswinterhilfswerks im Berliner Sportpalast

GEHEIME KOMMANDOSACHE

Berlin, den 18.2.1941

Bedingungslose Kapitulationserklärung. Betrifft die gesamte britische Wehrmacht des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nord Irland mit sämtlichen Inseln.

Die britische Führung stimmt der bedingungslosen Kapitulation aller britischen Streitkräfte des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nord Irland mit allen Inseln und allen im Ausland stationierten Militärbasen zu. Dies betrifft auch die Einheiten der Royal Navy in allen Teilen der Welt, an Land und auf hoher See.

Alle kriegerischen Auseinandersetzungen britischer Streitkräfte an Land, zu Wasser und in der Luft sind am 19. Februar 1941 um 08:00 Uhr Greenwich-Zeit zu beenden.

Die britische Führung wird mit sofortiger Wirkung und ausnahmslos sämtliche Befehle der deutschen Führung ausführen.

Jeglicher Ungehorsam wird als Verstoß dieser bedingungslosen Kapitulationserklärung betrachtet und von der deutschen Führung gemäß Kriegsrecht geahndet.

Vorliegende Kapitulationserklärung betrifft das Vereinigte Königreich und die Vereinten Nationen des Commonwealth.

Die Kapitulationserklärung ist in Deutsch und Englisch verfasst. Die deutsche Version ist als Original anzusehen.

Die deutsche Führung hat die absolute Entscheidungsgewalt bei etwaigen Zweifeln oder Streitigkeiten die Auslegung oder Bedeutung der Kapitulationserklärung betreffend.

1

»Himmler hat den König im Tower festsetzen lassen«, berichtete Harry Woods, »aber jetzt sagen die deutschen Generäle, die Wehrmacht solle ihn bewachen.«

Der andere Mann beschäftigte sich mit den Papieren auf seinem Schreibtisch, ohne sich dazu zu äußern. Er drückte einen Gummistempel ins Stempelkissen und knallte ihn auf den Tagesbericht: »Scotland Yard, 14. November 1941«. Unglaublich, dass der Kriegsbeginn erst zwei Jahre zurücklag. Jetzt war alles vorbei und verloren. Es gab so viel Schreibarbeit zu erledigen, dass noch zwei Schuhkartons den überquellenden Papierkram aufnehmen mussten, Schuhe Marke »Dolcis«, Größe 37, erstklassige Lederpumps, hochhackig, schmale Form.

Superintendent Douglas Archer kannte nur eine Frau, die solche Schuhe kaufte – seine Sekretärin.

»Tja, das sagen jedenfalls die Leute«, fügte Harry Woods hinzu. Der schon etwas bejahrte Polizeisergeant war sozusagen die andere Hälfte des »Mord-Teams«.

Douglas Archer zeichnete den Tagesbericht ab und warf ihn in den Ablagekorb. Dann blickte er sich im Raum um und nickte. Es war schon ein jämmerliches Büro: die grün und cremefarben gestrichenen Wände altersgeschwärzt, die kleinen, bleigefassten Fensterscheiben vom rußigen Regen derart verschmiert, dass den ganzen Tag das elektrische Licht brennen musste.

»Mach’s nie auf deiner eigenen Schwelle«, riet Harry, nun, da es für gute Ratschläge ohnehin zu spät war. Jeder andere als Harry, weniger dreist, weniger redselig und wohlmeinend, hätte es hiermit gut sein lassen. Doch Harry übersah das gequälte Lächeln seines Vorgesetzten. »Mach’s lieber mit der Blondine oben in der Registratur oder mit dem dickbusigen deutschen Verbindungsweib von der Waffen-SS. Die soll darin übrigens recht munter sein, heißt es. Aber mit der eigenen Sekretärin?« Harry Woods verzog das Gesicht.

»Du verbringst zu viel Zeit damit, auf das zu hören, was die Leute reden«, meinte Douglas Archer gelassen. »Da hakt es bei dir, Harry.«

Harry Woods hielt dem missbilligenden Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. »Einer von der Polizei sollte überhaupt keine Zeit damit verbringen, auf das zu hören, was die Leute sagen, Chef«, meinte er. »Und wenn du den Tatsachen mehr Beachtung schenken wolltest, wäre dir inzwischen schon klar geworden, dass du zwar ein sagenhafter Kriminaler sein magst, aber ein miserabler Menschenkenner – da hakt’s bei dir!«

Es gab nicht viele Polizeisergeants, die es gewagt hätten, so mit Douglas Archer zu reden, doch diese beiden Männer kannten einander schon seit 1920. Damals war Harry Woods ein fescher junger Polizist gewesen, mit dem Ordensband der Militärverdienstmedaille auf der Brust, dessen Revier mit den gebrochenen Herzen hübscher kleiner Hausgehilfinnen übersät und mit heißen Fleischpastetchen verliebter Köchinnen gepflastert war, und Douglas Archer war noch ein neunjähriger Knabe und stolz darauf, mit ihm im Gespräch gesehen zu werden.

Bis Douglas Archer dann schließlich als frischgebackener Inspektoranwärter von der Hendon-Polizeiakademie kam, mit nicht mehr Polizeidiensterfahrung, als man sie eben hat, wenn man sich vorwiegend an dem Pedell der Hochschule vorbei und durch Oxfords Hintergässchen drückt.

Harry wusste alles, was ein Polizist wissen muss. Und noch einiges mehr. Er wusste von jedem Nachtwächter, um welche Zeit der sich seinen Tee aufbrühte, und befand sich, wenn es regnete, tunlichst immer in der Nähe eines trockenen Unterstellplatzes. Harry Woods wusste, unter welchen der verschiedenen Kehrichthaufen Geld zu finden war, und er nahm auch nie mehr als ein Drittel davon, damit der Ladenbesitzer nicht etwa auf eine andere Methode verfiel, die Straßenkehrer für ihre Extradienste zu entlohnen. Doch das war alles schon lange her, noch bevor Harry, dank der Großzügigkeit der Wirte und Schankkellner, zu seinem geröteten Gesicht und einem beträchtlich erweiterten Hosenbund gekommen war, lange auch, bevor er dank Douglas Archers Beharrlichkeit bei der Kripo und dann bei der Mordkommission von Scotland Yard gelandet war.

»Abteilung C bearbeitet einen saftigen Fall«, sagte Harry Woods. »Alle sind damit nicht weitergekommen. Soll ich schon mal die »Mordtasche« packen?«

Douglas wusste, dass sein Sergeant nun eine überraschte Reaktion von ihm erwartete. Er zog eine Augenbraue hoch: »Wie, zum Teufel, hast du denn davon nur Wind bekommen?«

»Eine Wohnung am Shepherd Market, vollgestopft mit Whisky, Kaffee, Tee und so weiter, und auf dem Tisch herumliegende Benzinbezugsscheine der Luftwaffe. Das Opfer ist ein gut gekleideter Mann, wahrscheinlich ein Schwarzhändler.«

»Meinst du?«

Harry lächelte. »Denk an diese Schwarzmarktbande, die den Lagerverwalter in Fulham umgelegt hat. Sie fälschten Benzinbezugsscheine der Luftwaffe. Das könnte derselbe Haufen sein.«

»Harry, willst du mir jetzt sagen, woher du all diese Informationen hast, oder willst du das Verbrechen aufklären, ohne dich von deiner Sitzfläche zu erheben?«

»Der Chef vom Revier Row ist ein alter Saufkumpan von mir. Er hat mich eben angerufen. Ein Nachbar hat die Leiche gefunden und die Polizei benachrichtigt.«

»Das hat keine Eile«, sagte Douglas Archer, »wir lassen’s langsam anlaufen.«

Harry biss sich auf die Lippen. Seiner Meinung nach tat Superintendent Douglas Archer ohnehin nie etwas anderes. Harry war ein Polizeibeamter der alten Schule, der für Papierkram, Aktensysteme und Mikroskope nur Verachtung übrig hatte. Er fand Reden, Trinken, Verhören und Verhaften sehr viel besser.

Douglas Archer war ein groß gewachsener überschlanker Mann von dreißig Jahren. Er gehörte zu der neuen Generation von Kriminalbeamten, die das schwarze Jackett, die Hose mit Nadelstreifen, den Hut mit Umschlagkrempe und den steifen Kragen – eine Art Uniform für die Mordkommission – verschmähte. Er trug lieber dunkle Hemden und breitkrempige Hüte, wie er sie bei George Raft in einem Gangsterfilm aus Hollywood gesehen hatte. In Übereinstimmung hierzu hatte er damit begonnen, kleine, schwarze Stumpen zu rauchen, sooft es seine Tabakration gestattete. Diesen Stumpen versuchte er schon zum dritten Mal anzuzünden. Der Tabak war von minderer Qualität und brannte schlecht. Douglas sah sich nach weiteren Streichhölzern um. Harry warf ihm eine Schachtel hinüber.

Douglas war Londoner, mit dem wachen Verstand und dem hochentwickelten Gefühl für den eigenen Vorteil, etwas, wofür die Londoner bekannt sind. Wie viele, die vaterlos aufgewachsen sind, war er in sich gekehrt und hielt auf Distanz. Seine sanfte Stimme und sein Oxfordakzent hätten besser zu einem weltfremden Berufszweig der Juristerei gepasst, doch er hatte es nie bereut, in den Polizeidienst gegangen zu sein. Das lag, wie er mittlerweile erkannt hatte, zum größten Teil an Harry. Für den einsamen kleinen Jungen aus reicher Familie war Harry Woods Vaterersatz geworden, ohne es zu wissen.

»Mal angenommen, die Benzingutscheine sind keine Fälschung, angenommen, sie sind echt«, sagte Douglas, »dann kannst du Gift darauf nehmen, dass deutsches Personal in die Sache verwickelt ist und das Ganze vor dem Militärgericht der Luftwaffe endet. Reine Zeitverschwendung, wenn wir uns da einmischen.«

»Es handelt sich um einen Mord«, erwiderte Harry, »daran können auch ein paar Benzingutscheine, echt oder gefälscht, nichts ändern.«

»Versuch nicht, neue Gesetze zu machen, Harry, wir haben schon Mühe genug damit, den bereits bestehenden Geltung zu verschaffen. Verbrechen, in die Leute von der Luftwaffe – und sei es noch so unerheblich – verwickelt sind, werden vor Gerichten der Luftwaffe verhandelt.«

»Nicht, wenn wir uns sofort auf die Socken machen«, widersprach Harry und fuhr sich mit der Hand über sein Haar, das sich jedem Versuch, es glattzustreichen, widersetzte. »Nicht, wenn wir ein Geständnis aus einem von ihnen herausholen, Durchschläge an die Geheime Feldpolizei und an die Kommandantur schicken und ihnen auf silbernem Tablett einen schlüssigen Beweis präsentieren. Sonst schlagen diese deutschen Scheißkerle das Verfahren ja doch nur mangels an Beweisen nieder oder schieben die Schuldigen auf irgendeinen faulen Posten in ein anderes Land ab.«

Für Harry hörte der Kampf nie auf. Seine Generation, die im Dreck von Flandern gekämpft und gesiegt hatte, konnte Niederlagen nicht einfach hinnehmen. Douglas Archer war nie Soldat gewesen. Solange die Deutschen ihn weitermachen und Mörder fangen ließen, tat er seine Arbeit, wie er sie immer getan hatte. Es wäre ihm lieb gewesen, wenn er Harry dazu hätte bringen können, das genauso zu sehen.

»Ich würde es begrüßen, Harry, wenn du deine persönliche Meinung nicht in die hierorts übliche Terminologie einfließen lassen wolltest.« Douglas klopfte leicht auf die SIPO-Mitteilungen. »Außerdem bin ich durchaus nicht überzeugt davon, dass sie mit ihrem deutschen Personal milde verfahren würden. Fünf Hinrichtungen im letzten Monat, darunter ein Major der Panzertruppe, Ritterkreuzträger, der sich nichts Schlimmeres hat zuschulden kommen lassen, als eine Stunde zu spät einzutreffen, um einen Fuhrpark von Militärfahrzeugen abzunehmen.« Er ließ die Informationsblätter auf den Schreibtisch seines Mitarbeiters hinübersegeln.

»Liest du etwa diesen ganzen Mist?«

»Wenn du vernünftiger wärest, Harry, würdest du’s auch lesen. Dann wüsstest du auch, dass General Kellermann sich nun mehr den Bericht der Kripo schon am Dienstagvormittag um elf Uhr erstatten lässt. Bis dahin sind es noch knapp zehn Minuten.«

»Weil der alte Sack in der Mittagspause zu viel säuft. Wenn er am Nachmittag aus dem SS-Offiziersclub heraustorkelt, weiß er kein englisches Wort mehr außer ›morning, morning‹!«

Harry Woods vermerkte mit Genugtuung, dass Douglas Archer, ängstlich besorgt, ob jemand etwa diese Äußerung gehört haben könnte, über die Runde leerer Stühle und Schreibtische blickte.

»Was immer daran wahr sein mag oder was nicht«, sagte Douglas vorsichtig, »die Tatsache bleibt bestehen, dass er seinen Bericht haben will. Und die Aufklärung eines Mordes, den zu untersuchen wir noch gar nicht aufgefordert sind, wird nicht als hinreichende Entschuldigung dafür gelten, dass ich nicht pünktlich da oben erscheine.«

Douglas erhob sich und sammelte die Unterlagen zusammen, die der General möglicherweise würde sehen wollen.

»Ich würde ihm sagen, er solle sich zum Teufel scheren«, meinte Harry, »und dass die Arbeit zuerst kommt.«

Douglas drückte behutsam seinen Stumpen aus, damit der ungerauchte Rest heil blieb. Dann legte er ihn, zusammen mit einem Vergrößerungsglas, zwei ungenutzten Karten für ein Polizeikonzert und einem defekten Füllhalter in die oberste Schublade seines Schreibtisches. »Kellermann ist gar nicht so übel«, sagte er. »Er hat die Londoner Polizei mehr oder weniger intakt gelassen. Hast du ganz vergessen, dass schon die Rede davon war, uns deutsche Polizeileute vor die Nase zu setzen? Kellermann hat sich dagegen gewehrt.«

»Zu viel Konkurrenz«, nuschelte Harry, »und Kellermann mag keine Konkurrenz.«

Douglas steckte den Bericht und die übrigen Papiere in seine Aktentasche und ließ das Schloss zuschnappen.

»Für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Westendzentrale uns verlangen sollte, halte die Mordtasche bereit, und lass einen Wagen kommen. Sag ihnen, sie sollten den Fotografen dabehalten, bis ich ihm Anweisung gebe zu gehen. Außerdem soll der Amtsarzt so lange bleiben und der Pathologe auch.«

»Das wird dem Doktor aber gar nicht schmecken«, meinte Harry.

»Vielen Dank, dass du mir das sagst, Harry. Schick dem Doktor mit den besten Empfehlungen von mir eine kleine Schachtel Konfekt, damit er sich die Wartezeit versüßt. Vergiss auch nicht, ihn daran zu erinnern, dass du von Whitehall 1212 anrufst: die Zentrale der Kriminalpolizei, des Sicherheitsdienstes, der Gestapo und so weiter. Wenn sich jemand darüber beschweren möchte, dass er warten muss, kann er’s hier ja schriftlich einreichen.«

»Mach dir nicht ins Hemd!«, sagte Harry beschwichtigend. Das Telefon läutete; die ruhige, unpersönliche Stimme von Kellermanns erstem Adjutanten sagte: »Superintendent Archer? Der General lässt grüßen und Sie fragen, ob es Ihnen jetzt recht wäre, den Bericht der Kripo heraufzubringen?«

»Sofort, Major«, erwiderte Douglas und hängte ein.

»Jawohl, Herr Major! Ich küsse Ihren Arsch, Herr Major!«, sagte Harry.

»Lieber Himmel, Harry, ich muss mich mit diesen Leuten auseinandersetzen, nicht du.«

»Ich nenne es trotzdem Arschkriecherei.«

»Was meinst du, wie viel Arschkriecherei nötig war, um deinen Bruder von diesem Zwangsarbeitseinsatz freizubekommen?« Douglas war fest entschlossen gewesen, Harry niemals Näheres darüber zu verraten. Jetzt ärgerte er sich, dass er es doch tat.

»Er hatte ein Attest von seinem Doktor«, sagte Harry, und im gleichen Augenblick, in dem er es sagte, wurde ihm klar, dass wohl die meisten ›Techniker‹, die in deutsche Fabriken geschickt werden sollten, von mitfühlenden Ärzten so etwas Ähnliches bekamen.

»Ja, das hat geholfen«, erwiderte Douglas müde.

»Das ist mir nie richtig klar gewesen, Doug«, sagte Harry, aber Douglas Archer war bereits im Begriff, in den ersten Stock zu eilen. Die Deutschen nahmen es mit der Pünktlichkeit peinlich genau.

2

General – oder, genauer gesagt, SS-Gruppenführer – Fritz Kellermann war ein freundlich wirkender Mann zwischen 55 und 60 Jahren. Er war von mittelgroßer Gestalt. Pausbäckchen und eine rosige Gesichtsfarbe bezeugten seine Leidenschaft für gutes Essen und Trinken. Dies im Verein mit seiner Angewohnheit, mit beiden Händen in den Taschen dazustehen, konnte beim flüchtigen Betrachter den irrigen Eindruck erwecken, Kellermann sei klein und dick. Sein Stab nannte ihn »Vater«, aber wenn auch seine Art väterlich war, so war sie doch nicht gütig genug, um ihm den geläufigeren Kosenamen »Papa« einzutragen. Sein dichtes, weißes Haar hatte manchen jungen Offizier dazu verleitet, seine Einladung zu einem flotten Morgenritt durch den Park anzunehmen. Doch kaum einer tat das ein zweites Mal. Und nur die Ahnungslosesten seiner Leute ließen sich jemals auf eine Schachpartie mit ihm ein – Kellermann war einst Schach-Jugendmeister von Bayern gewesen. »Das Glück scheint mir heute hold zu sein«, pflegte er zu sagen, wenn er seinen Gegner schließlich in eine demütigende Verteidigungslage hineinmanövriert hatte.

Vor dem deutschen Sieg hatte Douglas dieses Büro im ersten Stock selten betreten. Es war das Erkerzimmer, das bis dahin einzig und allein der Polizeipräsident benutzt hatte. Doch nun war er oft hier und hatte Besprechungen mit Kellermann, dessen polizeiliche Befugnisse das gesamte besetzte Gebiet umfassten. Douglas war, zusammen mit einigen Offizieren, das Privileg zugestanden worden, das Chefzimmer durch den Privateingang statt durchs Vorzimmer zu betreten. Bevor die Deutschen kamen, war dies nur dem Stellvertreter des Chefs gestattet gewesen. General Kellermann meinte, das sei Bestandteil des Führungsprinzips. Harry Woods hingegen fand, das sei ein Schmarrn.

Das Büro des Chefs war unverändert wie in alten Tagen geblieben. An dem einen Ende stand der massive Mahagonischreibtisch. Der Sessel dahinter befand sich bereits in dem kleinen Erker, in den von allen Seiten das Licht einfiel und von dem aus man einen wunderbaren Ausblick über den Fluss hatte. Auf dem großen, marmornen Kaminsims tickte eine Standuhr. Sie schlug die vollen und halben Stunden. In der gewölbten Kaminöffnung, hinter polierten Messingschüreisen und einem Kohlenkasten, loderte ein Feuer. Die einzige ins Auge fallende Veränderung waren die zahlreichen präparierten Fische in den Glaskästen an der gegenüberliegenden langen Wand. Jede der Trophäen trug ein Schildchen, das in goldenen Buchstaben Fritz Kellermanns Namen auswies sowie die genaue Orts- und Zeitangabe des Fanges.

Zwei Männer in Wehrmachtsuniform standen bereits da, als Douglas den Raum betrat. Er zögerte. »Kommen Sie rein, Superintendent, kommen Sie rein!«, rief Kellermann.

Die beiden Fremden betrachteten Douglas eingehend und nickten einander zu. Dieser Engländer war genau der Richtige für sie. Er galt nicht nur als einer der erfahrensten Kriminalbeamten in der Mordkommission, er war auch jung, wirkte sportlich und hatte die Art von hellhäutigem schmalem Gesicht, das die Deutschen für aristokratisch hielten. Er war »nordisch«, ein perfektes Exemplar des »neuen Europäers«. Außerdem sprach er hervorragend Deutsch.

Einer der beiden Männer nahm ein Notizbuch von Kellermanns Schreibtisch. »Nur noch eine Aufnahme, Gruppenführer«, sagte er. Der andere schien auf einmal eine »Leica« aus dem Nichts hervorgezaubert zu haben. Er kniete sich hin und warf einen Blick durch den Sucher. »Sie und der Superintendent müssen irgendetwas betrachten, Notizen oder eine Karte oder so etwas Ähnliches … Sie wissen ja, irgendetwas Dienstliches.«

An den Ärmelmanschetten ihrer feldgrauen Uniformen trugen die Männer einen Streifen mit der Aufschrift »Propagandakompanie«.

»Na, tun wir ihnen den Gefallen«, sagte Kellermann. »Diese Kameraden sind vom Fernmelder. Sie sind eigens von Berlin gekommen, um uns zu interviewen.«

Widerstrebend begab sich Douglas an das entgegengesetzte Ende des Schreibtisches, stellte sich dort in Positur und betrachtete etwas verlegen die Ausgabe einer Anglerzeitschrift. Er fühlte sich höchst unbehaglich, aber Kellermann hatte die Situation voll im Griff.

»Superintendent Archer«, fragte der eine der beiden PK-Journalisten in schwerfälligem Englisch, »stimmt es, dass die Leute von Scotland Yard Gruppenführer Kellermann ›Vater‹ nennen?«

Douglas zögerte. Er versuchte Zeit zu gewinnen, indem er so tat, als hielte er still für die Aufnahme.

»Sehen Sie denn nicht, wie Sie den Superintendenten in Verlegenheit bringen?«, unterbrach Kellermann. »Und sprechen Sie ruhig Deutsch mit ihm. Er spricht Deutsch genauso gut wie ich.«

»Also stimmt es?«, beharrte der Journalist in dem Versuch, die Antwort von Douglas zu erzwingen.

Die Kamera klickte. Der Fotograf überprüfte die Einstellung noch einmal und schoss in schneller Folge ein paar weitere Bilder.

»Natürlich stimmt es«, sagte Kellermann. »Dachten Sie, ich lüge! Oder halten Sie mich für einen, der nicht weiß, was in seiner eigenen Dienststelle vor sich geht?«

Der Journalist nahm stramme Haltung an, und der Fotograf ließ die Kamera sinken.

»Es stimmt«, sagte Douglas.

»So, meine Herren, und jetzt habe ich zu tun«, sagte Kellermann und scheuchte die Journalisten eilig hinaus: wie eine alte Dame, die in ihrem Schlafzimmer ganz plötzlich Hühner entdeckt hat.

»Tut mir leid«, wandte er sich an Douglas, als die Journalisten gegangen waren, »sie behaupteten, nur fünf Minuten zu brauchen, und dann hängen sie hier endlos herum. Na ja, es gehört zu ihrer Aufgabe, jede Gelegenheit zu nutzen, nehme ich an.« Er begab sich an seinen Schreibtisch zurück und setzte sich. »So, und jetzt erzählen Sie mir, was los war, alter Junge.«

Douglas las seinen Bericht mit den nötigen Anmerkungen und Erläuterungen vor. Kellermanns Interesse galt vorrangig der Aufzählung und Begründung von entstandenen Kosten. Douglas gab diese Berichte immer so ab, dass die für die Dienststelle aufgewandten Mittel in Besatzungsmark angegeben waren.

Nach Beendigung des Dienstlichen öffnete Kellermann ein Kistchen mit Schwarzmarkt-Zigarren, fünf Besatzungsmark pro Stück. Eine von Kellermanns »Monte Christo No. 2« galt als höchster Sympathiebeweis und kam ungefähr einem Ritterschlag gleich. Mit großer Sorgfalt suchte Kellermann zwei Zigarren aus. Genau wie Douglas bevorzugte er das Aroma der Exemplare mit den grünen oder gelben Flecken auf dem Außenblatt. Danach begann ein wahres Zeremoniell des Schneidens und Entfernens loser Tabakfasern. Wie gewöhnlich trug Kellermann Zivil, einen seiner weichen Tweedanzüge mit Weste und goldener Kette für die Taschenuhr. Es war typisch für ihn, dass er nicht einmal für das Interview mit den beiden Propagandaleuten seine SS-Uniform angezogen hatte.

»Immer noch keine Nachricht von Ihrer Frau?«, fragte Kellermann und reichte Douglas die Zigarre.

»Ich muss mich wohl damit abfinden, dass sie tot ist. Sie lief während der Luftangriffe oft hinüber ins Nachbarhaus, das dann bei Straßenkämpfen völlig zerstört worden ist.«

»Geben Sie die Hoffnung nicht auf«, sagte Kellermann, und Douglas fragte sich, ob dies wohl als ein Hinweis auf seine Affäre mit der Sekretärin aufzufassen sei.

»Aber Ihrem Sohn geht es doch gut?«

»Ja. Er war an dem Tag im Luftschutzkeller. Der Sohn wächst und gedeiht.«

Kellermann beugte sich zu Douglas hinüber, um ihm die Zigarre anzuzünden. Douglas hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass die Deutschen nach dem Rasieren Kölnisch Wasser benutzten. Der Duft überraschte ihn immer wieder aufs Neue. Die Zigarre glühte nur. Douglas hätte sie lieber mitgenommen, aber sein Vorgesetzter bot ihm immer gleich Feuer an. Vielleicht war das eine Vorsichtsmaßnahme, dachte Douglas, um den Empfänger daran zu hindern, sie zu Schwarzmarktpreisen zu verkaufen, statt sie selbst zu rauchen. Oder vielleicht nahm Kellermann einfach an, es sei nicht gentlemanlike, die Zigarre einfach so wie ein Trinkgeld in die Tasche zu stecken.

»Gibt’s sonst noch Probleme, Superintendent?« Kellermann legte Douglas im Vorbeigehen leicht die Hand auf die Schulter, was diesen wiederum zu der Überlegung veranlasste, ob der Gruppenführer wohl etwas über den Inhalt seiner Privatpost wisse. Heute Morgen hatte sich ein Brief seiner Sekretärin darin befunden, in welchem sie ihm mitteilte, dass sie schwanger sei und zweitausend Besatzungsmark brauche. Englische Pfunde, ließ sie ihn wissen, sei nicht die Art von Währung, die die Abtreibungsspezialisten gerne sahen. Douglas hatte die Genehmigung, einen Teil seines Gehaltes in Besatzungsmark umzuwechseln. Im Übrigen hatte er keine Ahnung, wie dieser Brief in seine Post gekommen war. Hatte Sylvia ihn einer Kollegin mitgegeben, oder war sie selbst im Hause gewesen?

»Keines, mit dem ich den Gruppenführer belasten müsste«, erwiderte Douglas.

Kellermann lächelte. Douglas’ Ängste hatten ihn veranlasst, seinen Vorgesetzten in der seltsamen Form der dritten Person anzureden, die die eher unterwürfigen Deutschen zu benutzen pflegten.

Kurz nach seiner Versetzung zu Scotland Yard hatte Douglas öfter einen Vorwand gesucht, um den leeren Raum zu betreten und mit jener Ehrfurcht zu bestaunen, wie sie aus der Vorstellung eines Schulbuben erwächst, der zu viel Kriminalromane verschlungen hat.

»Als dies noch das Büro des Polizeipräsidenten war, betrat ich den Raum nur selten.«

»Wir leben in einer schweren Zeit«, bemerkte Kellermann, als wolle er sich dafür entschuldigen, dass Douglas’ Aufenthalt in diesem Raum jetzt öfter erforderlich war.

Kellermann beugte sich vor, um einen Zentimeter Zigarrenasche in ein weißes Modell der Towerbridge abzustreifen, das irgendein findiger Fabrikant insoweit zeitgemäß umgestaltet hatte, als er die Hakenkreuzflagge und die Inschrift »Waffenstillstand, London, 1940« darauf angebracht hatte.

»Bis jetzt«, Kellermann wählte seine Worte äußerst vorsichtig, »bis jetzt sind noch keine politischen Aufgaben an die Polizei herangetragen worden.«

»Wir sind immer völlig unpolitisch gewesen.«

»Nein, das stimmt nicht ganz«, widersprach Kellermann freundlich. »In Deutschland nennt man einen Spaten einen Spaten und die Staatspolizei auch Staatspolizei. Hier nennen Sie Ihre Staatspolizei ›Special branch‹, die ›besondere Abteilung‹. In diesen Dingen seid ihr Engländer eben weniger direkt.«

»Jawohl, Sir.«

»Aber es wird der Tag kommen, an dem ich dem Druck aus Berlin nicht länger ausweichen kann und das englische mit dem deutschen Polizeisystem gleichschalten muss.«

»Wir Engländer übernehmen Neuerungen nur ungern, wie Sie wissen, Sir.«

»Betreiben Sie keine Spiegelfechterei mit mir«, erwiderte Kellermann unverändert liebenswürdig und immer noch lächelnd. »Sie wissen genau, wovon ich rede.«

»Ich bin mir dessen nicht bewusst, Sir.«

»Keiner in diesem Haus möchte politische Einmischung. Die unvermeidliche Folge davon wäre nämlich, dass Ihre Polizei gegen politische Widerstandsgruppen angehen müsste, gegen noch nicht entwaffnete Soldaten, die sich versteckt haben, gegen politische Flüchtlinge, gegen Juden, Zigeuner und andere unerwünschte Elemente.«

Kellermann sagte das in einem Ton, der den Zuhörer überzeugen musste, dass er, anders als seine Vorgesetzten in Berlin, derartige »Elemente« keineswegs für nur »unerwünscht« halte.

»Das würde den Polizeiapparat genau in zwei Teile spalten«, bemerkte Douglas.

Kellermann antwortete nicht. Er griff nach einem Telex, das auf seinem Schreibtisch lag, und las es, als müsse er sich dessen Inhalt wieder ins Gedächtnis rufen.

»Ein hoher Offizier des Sicherheitsdienstes ist auf dem Weg hierher. Sie sind zur Zusammenarbeit mit ihm eingeteilt.«

»Sind seine Aufgaben politischer Art?«

Hinter der Abkürzung SD für Sicherheitsdienst verbarg sich der deutsche Geheimdienst. Diese unerfreuliche Entwicklung war Douglas höchst unwillkommen.

»Ich weiß nicht, weshalb er hierherkommt«, beteuerte Kellermann nahezu fröhlich. »Er gehört zum persönlichen Stab des Reichsführers SS und wird deshalb in seiner Tätigkeit, worin sie auch immer bestehen mag, nur Berlin unterstehen.« Kellermann zog tief den Rauch ein und blies ihn durch die Nase wieder aus. Er ließ Douglas Zeit, die Tatsache zu verdauen, zusammen mit der Erkenntnis, dass dieser neue Mann für ihrer beider Status quo eine Gefahr bedeuten würde.

»Der Name des neuen Kameraden ist Huth«, fuhr Kellermann fort, »Standartenführer Huth«.

Dass er den SS-Rang dermaßen betonte, war deutlich genug; ein Zeichen, dass der neue Mann »anders« war. Kellermann hob die Hand. »Berlin direkt unterstellt«, wiederholte er. »Das bedeutet, er wird einen ganz bestimmten«, er zögerte und ließ seine Hand wieder sinken, »Einfluss haben.«

»Ich verstehe«, sagte Douglas.

»Dann, mein lieber Freund, seien Sie doch so nett, alles zu verhindern, was zu peinlichen Indiskretionen führen könnte. Ich meine damit verbale Enthüllungen durch Ihren Freund im Stockwerk über uns.«

»Sergeant Woods?«

»Wie schnell Sie doch schalten, Superintendent«, sagte Kellermann.

3

Einige Leute behaupteten, seit der Einstellung der Feindseligkeiten habe es kein wolkenloses Wetter mehr gegeben. Es sah tatsächlich fast so aus. Heute war die Luft feucht, und die farblose Sonnenscheibe, die gerade noch am bedeckten Himmel zu erkennen war, wirkte wie ein leerer Teller auf einem schmutzigen Tischtuch.

Und dennoch konnte jemand, der in London aufgewachsen war, wie beispielsweise Douglas Archer, durch die Curzon Street schlendern, und, wenn er nicht allzu genau hinschaute, das Gefühl haben, dass sich seit dem vergangenen Jahr wenig oder nichts geändert habe. Das Schild »Soldatenkino« am Curzon-Lichtspieltheater war klein und unauffällig, und wenn man versuchte, das Restaurant »Mirabelle« zu betreten, konnte es geschehen, dass der mit einem Zylinder geschmückte Portier einem zuflüsterte, dass dieses Lokal ausschließlich von Stabsoffizieren der VIII. Luftflotte benutzt würde, deren Hauptquartier sich schräg gegenüber in den Räumen des Kultusministeriums befand. Und wenn man nicht allzu aufmerksam hinblickte, konnte man auch die Schilder übersehen, auf denen »Jüdisches Unternehmen« stand, was so ziemlich alle Kunden, außer ein paar Unverfrorenen, fernhielt. Und im September 1941 pflegte Douglas Archer, so wie die meisten seiner Landsleute, eben nicht allzu genau da- und dorthin zu blicken.

Der Schauplatz der Mordtat, wohin sie, wie Sergeant Woods es schon prophezeit hatte, gerufen wurden, war Shepherd Market. Dieses Labyrinth enger Straßen und Gässchen wurde hauptsächlich von Londoner Arbeitern und italienischen Händlern bewohnt. Aber auch wohlhabende Fremde ließen sich gerne hier nieder. Sie glaubten, in den gewundenen Sträßchen, inmitten baufälliger Häuser – wenngleich in der bequemen Nähe eleganter Läden und Restaurants – jenes London entdeckt zu haben, von dem sie in Dickens’ Geschichten gelesen hatten.

Das Haus war für diese Gegend typisch. Zwei uniformierte Polizeibeamte waren schon eingetroffen und stritten mit zwei Reportern. Im Parterre befand sich ein winziger Antiquitätenladen, nicht viel breiter als die Reichweite eines Mannes mit seitlich ausgestreckten Armen. Die Räume hatten die Dimensionen eines Puppenhauses. Die Wendeltreppe zum ersten Stock war so eng, dass die Gefahr bestand, beim Hinaufgehen die gerahmten Drucke, die dort hingen, mit den Schultern von der Wand zu fegen. Nur mit Mühe konnte Harry die »Mordtasche« nach oben tragen, wo die Leiche lag.

Der Polizeiarzt war bereits anwesend. Er saß auf einer chintzbezogenen Couch, in einen britischen Armeemantel gehüllt, zugeknöpft bis unters Kinn, die Hände in den Taschen. Er war noch ein junger Mann, Mitte zwanzig etwa, aber Douglas sah auch in seinen Augen schon diese schreckliche Resignation, die so vielen Briten als letzte Möglichkeit der Abwehr geblieben zu sein schien. Vor ihm auf dem Boden lag der Tote. Es war ein etwa fünfunddreißigjähriger Mann, hellhäutig, mit Glatze. Wäre man ihm auf der Straße begegnet, hätte man einen erfolgreichen Akademiker in ihm vermutet, diese Art von zerstreutem Professor, wie man sie in Lustspielen immer wieder sieht.

Seine Weste war nicht nur mit Blut, sondern auch mit braunem Puder verschmiert. Douglas berührte den Fleck mit der Fingerspitze, aber bevor er sie noch zu seiner Nase hob, erkannte er den schweren Duft von Schnupftabak. Spuren davon fanden sich auch unter den Fingernägeln des Toten. Seit der Verknappung aller Tabakwaren war Schnupftabak immer populärer geworden, den gab es bisher noch unrationiert. Douglas fand die Schnupftabakdose in einer Westentasche. Das Geschoss hatte den Deckel davon abgerissen. Außerdem fand er noch eine halb gerauchte Zigarre mit der Banderole »Julietta«, eine Sorte, die heutzutage ein kleines Vermögen wert war. Kein Wunder, dass der Mann den Zigarrenrest aufbewahrt hatte.

Douglas betrachtete den Anzug des Toten: Schneiderarbeit aus hochwertigem Stoff. Dafür, dass er maßgeschneidert zu sein schien, hing er reichlich lose um den Körper des Toten, so als ob dieser durch eine plötzliche, rigorose Diät viele Pfunde verloren hätte. Darauf deutete auch das schlaffe und faltige Gesicht hin. Douglas berührte die kahlen Stellen auf dem Kopf des Mannes.

»Alopecia areata«, sagte der Doktor, »das ist weit verbreitet.«

Douglas sah dem Toten in den Mund. Er musste wohl genug Geld gehabt haben, um hervorragende zahnärztliche Versorgung in Anspruch zu nehmen. Gold schimmerte in der Mundhöhle, aber da war auch Blut.

»Er hat Blut im Mund.«

»Vielleicht hat er sich im Fallen das Gesicht verletzt.«

Douglas glaubte das zwar nicht, wollte es aber nicht zur Streitfrage machen. Er bemerkte die winzigen Geschwüre im Gesicht des Mannes. Er schob die Hemdärmel des Toten weit genug nach oben, um die rot entzündeten Arme zu sehen.

»Wo kann man sich um diese Jahreszeit noch einen solchen Sonnenbrand zuziehen?«, fragte der Doktor.

Douglas antwortete nicht. Er fertigte eine kleine Skizze der Örtlichkeit und des Körpers an, der vermutlich nach rückwärts in das winzige Schlafzimmer hingeschlagen war. Er nahm an, dass der Erschossene gerade im Türrahmen gestanden haben mochte, als die Kugel ihn traf. Er berührte leicht das verkrustete Blut, um festzustellen, wie weit es bereits geronnen war, und legte seine Handfläche auf die Brust des Toten. Er konnte keine Spur von Wärme mehr fühlen. Seiner Erfahrung nach musste der Mann sechs Stunden oder länger tot sein. Der Doktor beobachtete Douglas schweigend. Douglas erhob sich aus seiner gebeugten Haltung und blickte sich im Raum um. Er war winzig und überladen, die Tapeten wirr gemustert, Picassodrucke an den Wänden. Tischlampen aus Chiantiflaschen standen umher. Ein kleiner Sekretär aus Nussbaum mit aufgeklappter Schreibfläche sah aus, als sei er geplündert worden. Eine altmodische Messinglampe war so eingestellt, dass ihr Licht direkt auf die grünlederne Schreibfläche fallen musste. Die Birne war jedoch ausgeschraubt und mit billigem Schreibpapier und einigen Umschlägen zusammen in eines der Brieffächer gelegt worden. Es gab weder Bücher noch Fotos noch irgendetwas Persönliches. Der Raum wirkte nicht anders als ein etwas besseres Hotelzimmer. Vor dem winzigen Kamin stand ein Korb mit Holzscheiten. Der Kaminrost war voll mit Papierasche.

»War der Pathologe schon hier?«, erkundigte sich Douglas. Er schraubte die Birne in das Gewinde der Messinglampe und ließ sie lange genug brennen, um festzustellen, dass sie in Ordnung war. Dann erst schaltete er sie wieder aus, ging zum Kamin und legte seine Hand in die Asche. Sie war nicht mehr warm, aber leider gab es auch keinen Fetzen unversehrt gebliebenen Papiers mehr, anhand dessen man hätte erkennen können, was da verbrannt worden war. Gewiss war es mühsam, so viel Papier zu verbrennen. Douglas wischte sich die Hände an seinem Taschentuch ab.

»Noch nicht«, erwiderte der Doktor teilnahmslos. Douglas nahm an, dass er nur widerwillig hier saß und wartete.

»Wie sehen Sie das Ganze, Doktor?«

»Können Sie ein paar Zigaretten erübrigen, wo Sie doch mit der deutschen Sicherheitspolizei zusammenarbeiten?«

Douglas zog das goldene Zigarettenetui, das sein einziger Besitz von größerem Wert war. Der Doktor nahm sich eine Zigarette heraus und nickte dankend, während er sie nachdenklich betrachtete. Sie hatte einen doppelten roten Ring aufgedruckt, der darauf hinwies, dass diese Zigarette aus Wehrmachtsbeständen stammte. Der Doktor steckte sie sich in den Mund, holte ein Feuerzeug aus der Tasche und zündete sie an, ohne seine Haltung oder seinen Gesichtsausdruck zu verändern: auf der Couch zurückgelehnt, die Beine lang ausgestreckt.

Ein Polizist in Uniform hatte, während er draußen vor der Tür auf der winzigen Diele wartete, all dies beobachtet. Er steckte den Kopf in die Türe: »Entschuldigen Sie, meine Herren, eine Nachricht für Sie: Der Pathologe kann erst nachmittags kommen …«

Harry Woods packte die »Mordtasche« aus. Douglas konnte sich nicht beherrschen. Er warf ihm einen bedeutsamen Blick zu. Harry nickte nur. Jetzt war es klar, dass die Entscheidung, den Polizeiarzt hierzubehalten, richtig gewesen war. Die Pathologen kamen heutzutage ja immer zu spät.

»Also, was halten Sie davon, Doktor?«, wiederholte Douglas.

Sie betrachteten beide die Leiche zu ihren Füßen. Douglas berührte die Schuhe des Toten. Die Füße wurden immer als Letztes von Leichenstarre befallen. »Bis der Pathologe kommt, werden die Fotografen auch fertig sein«, sagte Harry.

Douglas knöpfte dem Toten das Hemd auf und entblößte die blau unterlaufenen Stellen rings um die blutverkrusteten Einschusslöcher.

»Was ich davon halte?«, entgegnete der Doktor. »Revolverschüsse in die Brust als Todesursache. Die erste Kugel ging ins Herz, die zweite in die Lungenspitze. Der Tod ist mehr oder weniger unmittelbar eingetreten. Kann ich jetzt gehen?«

»Ich werde Sie gewiss nicht länger aufhalten als notwendig«, sagte Douglas ohne eine Spur von Entgegenkommen in der Stimme.

Neben der Leiche hockend, blickte er nach hinten in die Richtung, in der der Mörder gestanden haben musste, dabei entdeckte er, direkt an der Wandleiste unter einem etwas weiter weg stehenden Stuhl, das Glänzen von Metall. Er erhob sich, ging hinüber und griff danach. Es war ein kleines Stück legierten Metalls mit ledergefasstem Rand. Er steckte es in seine Westentasche.

»Da hat also die erste Kugel das Herz getroffen, Doktor? Nicht die zweite?«

Der Doktor saß nach wie vor in derselben Haltung auf der Couch. Aber jetzt drehte er seine Füße nach innen, bis die Fußspitzen einander berührten. »Wenn der erste Schuss die Lunge getroffen hätte, während das Herz noch schlug, hätte es mehr Schaum im Blut gegeben«, sagte er. »Richtig«, bestätigte Douglas.

»Vielleicht stürzte er aber bereits, als der zweite Schuss fiel? Das würde auch den Abstand der beiden Einschüsse voneinander erklären.«

»Mag sein«, nickte Douglas.

»Ich habe in diesem Jahr genug Schusswunden gesehen, um in gewisser Weise ein Experte dafür geworden zu sein«, sagte der Doktor, ohne zu lächeln. »Eine Neun-Millimeter-Pistole. Die entsprechenden Projektile werden Sie finden, wenn Sie mal in dem Gips hinter dieser entsetzlichen Streifentapete nachkratzen. Das hat jemand getan, der ihn kannte. Ich würde an Ihrer Stelle nach einem linkshändigen entlassenen Soldaten Ausschau halten, der vermutlich öfters hierhergekommen war und einen eigenen Wohnungsschlüssel hatte.«

»Gute Arbeit, Doktor!« Harry Woods, der soeben die Taschen des Toten untersuchte, blickte auf. Der sarkastische Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Sie kennen meine Methoden, Watson«, sagte der Doktor.

»Der Tote trägt einen Mantel. Sie schließen daraus, dass er zur Tür hereinkam und seinen Mörder bereits wartend vorfand. Sie nehmen an, die beiden Männer standen einander Auge in Auge gegenüber beziehungsweise der Mörder saß im Sessel am Kamin. Aus dem Wundkanal schließen Sie, dass sich die Waffe in der linken Hand des Mörders befand.«

»Verdammt gute Zigaretten haben diese Deutschen«, sagte der Doktor, hielt die Zigarette in die Luft und betrachtete ihren Rauch.

»Und an einen Soldaten denken Sie, weil der erste Schuss direkt ins Herz traf.«

Der Doktor sog den Rauch ein und nickte.

»Haben Sie bemerkt, dass wir alle drei noch unsere Mäntel anhaben?«, fragte Douglas. »Es ist verdammt kalt hier, und die Gaszufuhr ist gedrosselt. Nicht alle Soldaten sind Scharfschützen, Doktor, und auch von denen ist nur einer unter einer Million Experte im Pistolenschießen, noch dazu, wie Sie sehen werden, mit einer deutschen Pistole. Und Sie nehmen an, dass der Mörder einen Schlüssel hatte, weil nichts auf eine gewaltsam geöffnete Tür schließen lässt. Aber sogar Sergeant Woods könnte mit einem Zelluloiddietrich die Tür schneller öffnen als Sie mit einem Schlüssel, und dazu noch leiser.«

»Oh«, sagte der Doktor.

»So, und wie steht’s mit der Todeszeit?«, fragte Douglas.

Alle Ärzte hassen es, die Todeszeit zu bestimmen, und dieser war überzeugt davon, dass auch die Polizeibeamten das wussten. Er zuckte die Achseln: »Soll ich Ihnen etwas vorzaubern? Sie wissen, wie schwierig eine genaue Zeitangabe ist.«

»Sie sollen nicht zaubern«, sagte Douglas, »sondern sich an Tatsachen halten.«

Der Doktor, immer noch auf der Couch lümmelnd, drückte seine Zigarette aus und tat sie in eine zerbeulte Tabaksdose.

»Ich habe die Temperatur gemessen, als ich ankam. Die normale Berechnung sieht so aus, dass eine Leiche pro Stunde eineinhalb Grad Fahrenheit abkühlt.«

»Davon hab ich mal was läuten hören«, sagte Douglas.

Der Doktor bedachte ihn mit einem unfrohen Grinsen, steckte die Tabaksdose in seine Manteltasche und betrachtete seine Füße. »Es könnte heute zwischen sechs und sieben gewesen sein.«

Douglas wandte sich an den uniformierten Beamten. »Wer hat den Mord entdeckt und wann?«

»Die Leute unten bringen jeden Morgen eine Flasche Milch herauf. Sie fanden die Tür offen. Es roch nicht nach Pulvergasen – nichts«, sagte der Sergeant.

Der Doktor bekam einen Lachkrampf und drohte sich dabei zu verschlucken. Er keuchte und schlug sich auf die Brust.

»Roch nicht nach Pulvergasen«, wiederholte er, »das ist großartig. Das ist wirklich stark! Das muss ich mir merken!«

»Sie haben keine Ahnung von Polizeibeamten, Doktor«, sagte Douglas, »was umso mehr ins Gewicht fällt, als Sie Polizeiarzt sind. Dieser Mann hier, ein Beamter, den ich bis jetzt noch nicht kannte, gab mir einen höflichen Hinweis darauf, dass der Eintritt des Todes möglicherweise früher erfolgte, Doktor.«

Douglas ging hinüber zu dem liebevoll bemalten Eckschrank und öffnete ihn, um eine beachtliche Anzahl von Flaschen vorzufinden. Er nahm eine Whiskyflasche heraus und wunderte sich nicht, dass die meisten der Flaschenetiketten die Aufschrift »Abfüllung für die Wehrmacht« trugen. Er stellte die Flasche wieder zurück und schloss den Schrank.

»Haben Sie jemals von postmortaler Blaufärbung gehört, Doktor?«

»Der Tod könnte auch früher eingetreten sein«, gab der Doktor zu. Mittlerweile saß er aufrecht, und seine Stimme klang sanft. Er hatte gleichfalls die Blaufärbung bemerkt, die davon herrührt, dass das Blut sich verdickt.

»Aber nicht vor Mitternacht«, meinte Douglas.

»Nein, nicht vor Mitternacht«, stimmte der Doktor zu.

»Mit anderen Worten, der Tod trat während der Polizeistunde ein.«

»Das ist anzunehmen?«

»Das ist anzunehmen!«, sagte Douglas spitz.

»Es war sicherlich während der Polizeistunde«, räumte der Doktor ein.

»Welches Spielchen spielen Sie eigentlich, Doktor?«, fragte Douglas. Er sah den Arzt dabei nicht an, sondern ging hinüber zum Kamin und untersuchte den riesigen Haufen verkohlten Papiers, das in die winzige Kaminöffnung gestopft worden war. Der glänzend polierte Messingschürhaken war vom Rauch geschwärzt. Jemand hatte ihn benutzt, um sicher zu sein, dass auch das letzte Stück Papier von den Flammen erfasst wurde. Douglas legte seine Hand in die federleichte Asche. Das musste ein riesiger Haufen von genormtem Schreibpapier gewesen sein. Die Asche war kalt.

»Wie steht es mit dem Tascheninhalt, Harry?«

»Personalausweis, acht Pfund, drei Schilling und zehn Pence, zwei Schlüssel, Hausschlüssel und Wohnungsschlüssel, Taschentuch und eine Eisenbahnfahrkarte London–Bringle Sands, hin und zurück.«

»Ist das alles?«

Harry wusste, dass Douglas den Personalausweis sehen wollte, und reichte ihm diesen ungefragt hinüber. »Leichtes Gepäck hatte der«, sagte er.

»Oder seine Taschen sind gefilzt worden«, meinte der Doktor, ohne seine Stellung auf dem Sofa zu verändern.

Harrys und Douglas’ Blicke trafen sich. Eine Spur von Lächeln lag in diesen Blicken.

»Oder seine Taschen wurden gefilzt«, sagte Douglas zu Harry.

»Richtig«, sagte Harry.

Douglas öffnete den Personalausweis. Daraus war zu ersehen, dass der Inhaber ein zweiunddreißigjähriger Buchhalter mit Wohnsitz in Kingston, Surrey, gewesen war.

»Kingston«, sagte Douglas.

»Ja«, bestätigte Harry. Sie beide wussten, dass das Kingstoner Einwohnermeldeamt abgebrannt war. Kingston war zur beliebtesten Adresse für Passfälscher geworden.

Douglas steckte den Personalausweis in die Tasche und wiederholte seine Frage: »Was für ein Spielchen spielen Sie, Doktor?« Er sah den Arzt an und wartete auf eine Antwort. »Warum versuchen Sie, mich bezüglich der Todeszeit irrezuführen?«

»Na schön, es war dumm von mir. Aber wenn die Leute nach Mitternacht kommen und gehen, sind die Nachbarn doch verpflichtet, dies der Feldgendarmerie zu melden.«

»Und woher wollen Sie wissen, dass sie es nicht getan haben?«

Der Doktor hob seine Hände und lächelte. »Ich habe es vermutet.«

»Sie vermuteten es.« Douglas nickte. »Vielleicht deswegen, weil alle Ihre Nachbarn die Sperrstunde nicht beachten?«, fragte er. »Und welche Anordnungen übertreten sie außerdem noch regelmäßig?«

»Du lieber Himmel!«, sagte der Doktor. »Ihr seid ja schlimmer als die Deutschen. Ich würde lieber der Gestapo was erzählen als einem Bullen wie Ihnen. Die würde mir wenigstens nicht jedes Wort im Mund verdrehen.«

»Es steht nicht in meiner Macht, Ihnen die Möglichkeit zu einer Unterhaltung mit der Gestapo zu verweigern«, sagte Douglas, »jedoch um meine eigene ordinäre Neugier zu befriedigen, Doktor – gründet sich Ihre Auffassung über die freundlichere Befragungstechnik dieser Dienststelle auf eigene Erfahrung, oder wissen Sie das nur vom Hörensagen?«

»Ist ja schon gut«, sagte der Doktor. »Nehmen wir an, es war drei Uhr morgens.«

»Das ist schon besser«, meinte Douglas. »Nun untersuchen Sie die Leiche bitte genau, damit ich nicht hier auf den Pathologen warten muss und mit meiner eigenen Arbeit beginnen kann. Dann will ich den ganzen anderen Unsinn vergessen. Aber wenn Sie auch nur das Geringste auslassen, Doktor, dann nehme ich Sie mit nach Scotland Yard und drehe Sie durch die Mangel, verstanden?«

»Ist ja schon gut«, wiederholte der Doktor.

»Unten ist eine Dame«, meldete der Polizeisergeant. »Sie will was aus dem Antiquitätenladen holen. Ich hab ihr gesagt, sie solle auf Sie warten.«

»Gut«, sagte Douglas. Er ging hinaus und die Treppe hinunter, während der Arzt den Leichnam untersuchte und Harry Woods die Schubladen des Sekretärs durchstöberte.

Der Antiquitätenladen war einer von Hunderten, die seit den Luftangriffen und dem Strom der Flüchtlinge aus Kent und Surrey, die den schrecklichen Kämpfen dort zu entgehen suchten, aus dem Boden geschossen waren. Die deutsche Mark war künstlich im Wert gesteigert worden. Die deutschen Besatzer schickten Antiquitäten güterzugweise nach Hause. Händler zogen zwar einen guten Gewinn daraus, aber man brauchte nicht Wirtschaftsspezialist zu sein, um zu erkennen, auf welche Weise der Wohlstand hier aus dem Land herausgesogen wurde.

Es gab ein paar wirklich exquisite Möbelstücke im Laden. Douglas überlegte, wie viel davon auf gesetzlichem Weg hierhergeraten und was wohl einfach aus leeren Wohnungen gestohlen worden war. Offenbar verwendete der Ladeninhaber die winzigen Apartments im oberen Stock als Lagerräume und verlangte dazu auch noch höhere Mieten.

Die Besucherin saß auf einem eleganten Windsor-Stuhl. Es war eine auffallend schöne Frau, hohe Stirn, hoch angesetzte Backenknochen, ein großflächiges Gesicht mit einem wunderbar geschnittenen Mund, der freundlich lächelte. Sie war hochgewachsen, langbeinig, die Arme schlank und wohlgeformt.

»Na, vielleicht bekomme ich jetzt eine vernünftige Auskunft.« Ihre weiche Stimme hatte einen amerikanischen Akzent. Sie griff in ihre Lederhandtasche und reichte ihm einen amerikanischen Pass.

Douglas nickte. Einen Augenblick lang war er wie verzaubert. Dies war die begehrenswerteste Frau, die er jemals gesehen hatte.

»Was kann ich für Sie tun, Madam?«

»Miss«, sagte sie. »Bei uns zu Hause haben wir es nicht so gern, wenn wir mit ›gnädige Frau‹ angeredet werden.« Sie schien sich über seine Verlegenheit zu amüsieren. Dabei lächelte sie in dieser selbstverständlichen Weise, die reiche oder sehr gut aussehende Menschen kennzeichnet.

»Was also kann ich für Sie tun, Miss?«

Sie trug ein zweiteiliges Schneiderkostüm aus rosa Wollstoff. Sein sportlicher Schnitt wies es unmissverständlich als ein amerikanisches Modell aus. Es wäre gewiss auch sonst aufgefallen, aber in dieser kriegszerrütteten Stadt zwischen so vielen verlotterten Uniformen oder Kleidern, die aus Uniformstoffen genäht waren, zeichnete dieses Kostüm sie als eine Seltenheit aus – eine wohlhabende Besucherin. Über die Schulter trug sie eine neue »Rolleiflex«-Kamera. Die Deutschen verkauften diese Kameras an Angestellte der Besatzungsmacht oder an jeden, der in US-Währung zahlte.

»Mein Name ist Barbara Barga. Ich schreibe eine Kolumne, die in zweiundvierzig US-Zeitungen und Magazinen erscheint. Der deutsche Presseattaché in Washington bot mir ein Ticket zur Eröffnung des Lufthansa-Linienverkehrs zwischen London und New York in der vorigen Woche an. Ich habe mich bedankt, und jetzt bin ich hier.«

»Willkommen in London«, sagte Douglas trocken. Es war recht geschickt von ihr, den Jungfernflug in der Focke-Wulf-Linienmaschine zu erwähnen. Goebbels und Göring waren mitgeflogen, und es war eines der Ereignisse in diesem Sommer, über das am häufigsten berichtet worden war. Wer zu diesem Flug ein Ticket bekam, musste schon ein bekannter Journalist sein.

»Und nun sagen Sie mir, was hier eigentlich los ist?«, bat sie lächelnd.

Douglas Archer war noch nicht vielen Amerikanern begegnet, und schon gar nicht einer Amerikanerin, die mit diesem Mädchen hätte konkurrieren können. Wenn sie lächelte, bekam sie winzige Lachfältchen, die Douglas bezauberten. Ganz entgegen seiner Gewohnheit lächelte er zurück.

»Missverstehen Sie mich nicht«, sagte sie, »ich habe ja nichts gegen Polizisten, aber ich habe nicht erwartet, so viele davon heute hier in Peters Laden zu finden.«

»Peter?«

»Peter Thomas«, erklärte sie. »Also, hören Sie, an der Tür steht doch Peter Thomas? Peter Thomas, Antiquitäten, oder?«

»Kennen Sie Mr. Thomas?«, fragte Douglas.

»Ist er in Schwierigkeiten?«

»Wir kommen schneller zurecht, wenn Sie meine Fragen beantworten, Miss!«

Sie lächelte. »Wer sagt denn, dass ich schneller zurechtkommen will? Okay, ich kenne ihn.«

»Können Sie mir eine kurze Beschreibung geben?«

»Achtunddreißig, vielleicht auch jünger, dunkel, wird schon ein bisschen kahl, ziemlich groß, etwa eins sechsundachtzig, kleines Oberlippenbärtchen, tiefe Stimme, gut angezogen.«

Douglas nickte. Das genügte, um in dieser Beschreibung den Toten wiederzuerkennen.

»Können Sie mir sagen, in welchem Verhältnis Sie zu Mr. Thomas standen?«

»Meine Beziehungen zu ihm waren rein geschäftlich. Aber wie wäre es, wenn Sie mir jetzt endlich sagten, wer Sie eigentlich sind?«

»Entschuldigen Sie«, sagte Douglas. Er hatte das Gefühl, als ob er hier nicht besonders gut abschnitt. Das Mädchen lächelte über seine Verlegenheit. »Ich bin Superintendent Archer und beauftragt, hier Nachforschungen anzustellen. Mr. Thomas wurde heute Morgen tot aufgefunden.«

»Aber doch nicht etwa Selbstmord? Peter war nicht der Typ.«

»Er wurde erschossen.«

»Foul play«, sagte das Mädchen, »nennen die Briten das nicht so?«

»Welche Art von Geschäften hatten Sie mit ihm?«

»Er half mir bei den Artikeln, die ich über Amerikaner schrieb, die sich während der Kämpfe hier aufhielten. Ich lernte ihn kennen, als ich hier hereinkam, um nach dem Preis eines Möbelstücks zu fragen. Er kannte alle Welt einschließlich einer Menge in London lebender Ausländer.«

»Wirklich?«

»Peter war ausgesprochen clever. Er beschaffte einem, was man haben wollte, wenn es ihm nur Gewinn brachte.«

Sie blickte um sich und entdeckte eine Schachtel originalverpackter Filme auf einem Bord über der Registrierkasse.

»Ich habe gestern Morgen angerufen und ihn gebeten, mir ein paar Filme zu besorgen. Sie waren mir ausgegangen, und Peter versprach, mir welche zu beschaffen.«

»Es wurde kein Film bei der Leiche gefunden.«

»Vielleicht in seiner Tasche?«

»In den Taschen des Toten war kein Film.«

»Nun ja, es ist auch einerlei. Ich werde auch so welche kriegen.«

Sie stand neben ihm, und er roch ihr Parfüm. Er stellte sich vor, wie es sein würde, wenn er sie umarmte. Als hätte sie das gespürt, blickte sie ihn an und lächelte.

»Wo kann ich Sie erreichen, Miss Barga?«

»Bis Ende der Woche im Dorchester-Hotel. Dann ziehe ich in die Wohnung einer Freundin.«

»So – das ›Dorchester‹ hat wieder eröffnet?«

»Ja, aber nur ein paar Räume im rückwärtigen Trakt. Es wird lange dauern, bis die zum Park gelegene Seite wieder aufgebaut ist.«

»Geben Sie mir lieber auch noch Ihre zukünftige Anschrift«, sagte Douglas, obgleich er wusste, dass sie als Ausländerin gemeldet und vermutlich auch bei der Pressestelle der Kommandantur bekannt sein musste.

Sie schien keine Eile zu haben. »Peter konnte wirklich an alles herankommen«, fuhr sie fort. »Marmorstatuetten, aus den Trümmern eines Museums herausgebuddelt, samt Expertise natürlich. Entlassungsscheine aus der Armee, Ausnahmebewilligungen hinsichtlich der Sperrstunde, Befreiungen von der Reisebeschränkung, Peter war ein Hansdampf in allen Gassen. Leute wie er geraten leicht in alle möglichen Schwierigkeiten. Ich glaube nicht, dass ihm jemand eine Träne nachweint.«

»Sie waren eine große Hilfe, Miss Barga.«

Sie war bereits im Fortgehen begriffen, als er nochmals das Wort an sie richtete: »Wissen Sie übrigens, ob er sich kürzlich in heißen Klimazonen aufgehalten hat?«

Sie wandte sich um: »Wieso?«

»Er hatte Sonnenbrand an den Armen, als ob er in der prallen Sonne eingeschlafen wäre.«

»Ich habe ihn zuletzt vor ein paar Wochen gesehen«, sagte Barbara Barga. »Vielleicht benutzte er eine Höhensonne?«

»Auch das wäre möglich«, sagte Douglas, Zweifel in der Stimme.

Harry Woods hatte zwei Stockwerke höher mit Thomas’ einzigem Nachbarn gesprochen. Dieser hatte die Leiche identifiziert und durch die Art seiner Informationen erkennen lassen, dass Thomas alles andere als ein idealer Hausgenosse gewesen sei.

»Da kam immer ein Feldwebel von der Luftwaffe, ein langer Kerl mit Brille. Ich kenne mich in den Rängen nicht so aus, aber er war vom Verpflegungslager, in der Marylebone Road. Der schleppte immer alles Mögliche an. Lebensmittel in Konserven und auch Medikamente. Ich glaube, die haben Drogen verkauft. Da war immer was los. Sie hätten mal die Mädchen sehen sollen, die hierherkamen. In voller Kriegsbemalung und mit Alkoholfahne. Manchmal klopften die versehentlich an meine Tür. Furchtbares Volk. Man soll Toten ja nichts Übles nachsagen, aber die Clique, mit der der umging, war schlimm.«

»Wissen Sie, ob er eine Höhensonne hatte«, fragte Douglas, der hinzugekommen war.

»Man sollte sich fragen, was er nicht hatte. Wenn Sie bei dem mal die Schränke untersuchen, wird es sein, als wären Sie in der Höhle von Aladin mit der Wunderlampe. Und vergessen Sie dabei nicht die Mansarde!«

»Das werden wir. Vielen Dank.«

Als der Mann gegangen war, nahm Douglas das Stückchen Metall aus der Tasche, welches er unter dem Stuhl gefunden hatte. Es war aus gebogenem legiertem Leichtmetall hergestellt, und dennoch wirkte es für seine Größe schwer und unhandlich. Das Metall war blank, seine Kanten mit einem hellbraunen Lederstreifen abgedeckt. In dem Gewinde, das hineingebohrt war, musste einmal eine Schraube gesessen haben. Alles in allem und der schlampigen Konstruktion nach zu schließen sah das Ding aus, als sei es Bestandteil einer der zahlreichen Prothesen, die in aller Eile für Amputierte hergestellt worden waren. Falls es zu einer rechten Armprothese gehören sollte, hätte der Doktor beachtliche Rückschlüsse gezogen. Douglas könnte tatsächlich hingehen und nach einem linkshändigen kriegsentlassenen Scharfschützen Ausschau halten.

Harry trat ein, und Douglas steckte die Metallkonstruktion in die Tasche. »Hast du den Doktor schon gehen lassen?«, fragte er.

»Du bist wirklich ein bisschen hart mit ihm umgegangen, Doug.«

»Was sagte er sonst noch?«

»Drei Uhr morgens. Ich glaube, wir sollten diesen Luftwaffenfeldwebel suchen.«

»Hat der Doktor irgendetwas wegen des Sonnenbrands an den Armen gesagt?«

»Höhensonne«, erwiderte Harry.

»Sagte er das?«

»Nein, ich sage es. Der Doktor hat doch bloß herumgestottert. Du weißt doch, wie sie das immer machen.«

»Der Nachbar behauptete, der Ermordete sei Schwarzhändler gewesen, und die kleine Amerikanerin sagt das Gleiche«, sagte Douglas.

»Passt doch alles zusammen, oder?«

»Das passt so, dass es schon zum Himmel stinkt.« Harry schwieg.

»Hast du eine Höhensonne gefunden?«

»Nein, aber wir waren ja noch nicht in der Mansarde.«

»Also schön, dann schau mal hinauf, Harry. Und dann geh rüber zur Feldgendarmerie und hol dir die Erlaubnis zur Einvernahme des Feldwebels.«

»Was meinst du damit: ›Es stinkt zum Himmel‹?«, fragte Harry unvermittelt.

»Der Nachbar hat uns jede Kleinigkeit von diesem verdammten Feldwebel mitgeteilt, nur nicht seinen Namen. Und da taucht plötzlich die junge Amerikanerin auf und fragt mich, ob ein Film bei der Leiche gefunden worden sei. So ein Blödsinn. Ein Mädchen wie die kann sich doch selbst massenhaft Filme mitbringen, und wenn sie mehr braucht, kriegt sie jede Menge von den Nachrichtenagenturen oder von der amerikanischen Botschaft, falls ihr nicht bereits die deutsche Pressestelle so viel gegeben hat, wie sie haben will. Die hat es doch gar nicht nötig, sich auf Schwarzmarktgeschäfte einzulassen.«

»Vielleicht wollte sie es aber gerade. Vielleicht versucht sie auf diese Weise, Kontakt mit dem Widerstand zu bekommen und eine Story darüber zu schreiben.«

»Genau das nehme ich an, Harry.«

»Na, und was stört dich noch?«

»Wenn der hier gewohnt hat, warum musste er sich dann gestern nach Bringle Sands eine Rückfahrkarte kaufen? Und wenn er hier wohnte, wo hat er seine Sachen, seine Unterwäsche, seine Anzüge?«

»Die hat er in Bringle Sands gelassen.«

»Und hatte die Absicht, hier zu Bett zu gehen und am darauffolgenden Morgen dasselbe Hemd und dieselbe Unterwäsche anzuziehen? Glaubst du das? Sieh ihn dir doch an. Dieser Mann muss einen tollen Aufwand mit frischer Wäsche getrieben haben.«

»Nimmst du an, dass er hier nicht wohnte?«

»Ich glaube, dass hier überhaupt niemand wohnte. Dies war eine Art Treffpunkt.«

»Geschäftlich oder wegen Liebschaften?«

»Du vergisst, was die Leute aus dem Widerstand ein ›sicheres Haus‹ nennen, Harry. Vielleicht haben sie sich hier getroffen und alles Mögliche gelagert oder versteckt. Und wir wissen auch immer noch nicht genau, warum er eigentlich seinen Mantel trug.«

»Du hast doch dem Doktor gesagt, der Kälte wegen.«

»Der Doktor hat versucht, mich aus der Fassung zu bringen, und ich muss sagen, das ist ihm auch gelungen. Er kann mit seiner Ansicht, dass hier einer gesessen und auf Thomas gewartet hat, durchaus recht haben. Aber das erklärt noch lange nicht, warum er den Hut aufbehielt.«

»Also ich weiß eigentlich nie, womit ich bei dir dran bin«, beschwerte sich Harry.

»Sei vorsichtig mit dem, was du sagst, wenn du nachher zur Feldgendarmerie gehst, Harry.«

»Bin ich blöde? Was denkst du denn?«

»Nicht blöde«, berichtigte Douglas, »du bist Romantiker.«

»Glaubst du wirklich, dass er diese Verbrennungen von einer Höhensonne abbekam?«, fragte Harry statt einer Antwort.

»Ich habe noch nie von jemandem gehört, der unter der Höhensonne eingeschlafen wäre«, erwiderte Douglas, »aber für alles muss es ja ein erstes Mal geben. Überleg mal, warum die Birne aus der Schreibtischlampe geschraubt worden ist. Dabei war die gar nicht kaputt.«

4

Das Bier schien jeden Tag fader zu werden. Leute, die die Geschichte von den im Krieg verwüsteten Hopfenfeldern glaubten, hatten noch nie von dem Exportbier getrunken, das in den deutschen Kantinen ausgeschenkt wurde.

Obwohl ihm nichts mehr zustand, bestellte sich Douglas ein zweites Bier und bestrich das saft- und kraftlose Käsebrot mit Senf, bevor er hineinbiss. Im »Red Lion« verkehrten noch viele andere Beamte des Morddezernats. Dies war Scotland Yards ureigenste Kneipe. Hier waren mehr Verbrechen aufgeklärt worden als in sämtlichen Büros, Laboratorien und Nachrichtenzentralen zusammen. Manchmal schon nach ein paar Drinks. So wurde jedenfalls im Allgemeinen behauptet.

Ein Zeitungsverkäufer vom Evening Standard kam herein. Douglas kaufte ein Exemplar und schlug die Seite mit den Lokalnachrichten auf.

TOTER IN WESTEND - LUXUSAPARTMENT AUFGEFUNDEN

Scotland-Yard-Beamte erschienen heute in Shepherd Market, Mayfair, nachdem ein Nachbar, der die Morgenmilch brachte, den Toten entdeckt hatte. Der Name des Toten wurde von der Polizei noch nicht bekannt gegeben. Er soll Antiquitätenhändler gewesen sein. Scotland Yard nimmt als Todesursache Mord an. Die Untersuchung leitet derselbe Polizeibeamte, der im vergangenen Sommer den schwierigen Mordfall »Sexbestie« gelöst hat.

Als Douglas den »Red Lion« verließ, regnete es. Er blickte nach links in Richtung des Verkehrsstroms und entdeckte auf der gegenüberliegenden Straßenseite Sylvia, seine Sekretärin. Offenbar hatte sie hier auf ihn gewartet. Douglas ließ ein paar Busse vorbeifahren und eilte bis zur Mitte der Straße, wo er wieder zwei Stabswagen mit Stander passieren lassen musste. Sie holperten über den nach den Bombenangriffen notdürftig reparierten Asphalt und bespritzten ihn von oben bis unten. Douglas fluchte, aber das ließ die Regennässe nicht geringer werden.

»Liebling«, sagte Sylvia, und es lag nicht viel Leidenschaft in dieser Anrede. Aber die hatte es im Zusammensein mit ihr eigentlich nie gegeben. Sie wandte ihm das kühle Gesicht zu.

»Ich habe mir den ganzen Vormittag Sorgen gemacht. In dem Brief stand, dass du weggehen wolltest.«

»Verzeih, Liebling. Ich hätte mich, nachdem ich diesen verdammten Brief abgeschickt hatte, am liebsten geohrfeigt. Sag, dass du mir nicht mehr böse deswegen bist!«

»Bist du wirklich schwanger?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher.«

»Sylvia! Du schreibst mir einen Brief, in dem steht, dass –«

»Schrei nicht hier auf der Straße, Liebling!« Sie legte ihm die Hand auf den Mund. Die Hand war eiskalt. »Vielleicht hätte ich nicht hierherkommen sollen.«

»Nach drei Tagen hätte ich deine Abwesenheit melden müssen. In der Teeküche wurde schon nach dir gefragt. Es war unmöglich, deine Abwesenheit zu leugnen.«

»Ich wollte dir keine Scherereien machen, Liebling.«

»Ich hab deine Tante in Streatham angerufen, aber die sagte, sie hätte dich seit Monaten nicht gesehen.«

»Ja, ich müsste eigentlich mal hingehen.«

»Würdest du bitte so freundlich sein und zuhören, was ich sage, Sylvia!«

»Lass meinen Arm los, du tust mir weh. Ich höre ja zu.«

»Aber du hörst nicht genau zu.«

»Ich höre dir zu wie sonst auch.«

»Du hast immer noch deinen Sipo-Passierschein.«

»Welchen Passierschein?«

»Deinen Scotland-Yard-Ausweis! Bist du betrunken, oder was ist los mit dir?«

»Natürlich hab ich nicht getrunken. Also schön, was ist damit? Hast du gedacht, ich verkauf den verdammten Passierschein an den Meistbietenden? Wer zum Teufel ist wahnsinnig genug, freiwillig in diesen Kasten zu gehen, außer wenn er Gehalt dafür kriegt?«

»Lass uns ein Stück gehen«, sagte Douglas. »Weißt du nicht, dass sie in Whitehall regelmäßig Polizeikontrolle machen?«

»Wovon redest du?«, fragte sie lächelnd. »Gib mir lieber einen vernünftigen Kuss. Freust du dich nicht, mich zu sehen?«

Er küsste sie flüchtig. »Natürlich freue ich mich. Komm, wir gehen zum Trafalgar Square, oder?«

»Mir soll’s recht sein.«

Sie spazierten bis nach Whitehall, vorbei an dem Posten, der unbeweglich vor dem von den Deutschen beschlagnahmten Bürogebäude stand. Sie waren fast beim Whitehall-Theater angelangt, als sie bemerkten, dass die deutschen Soldaten tatsächlich Stichproben machten. Auf der anderen Straßenseite parkten drei Bedford-Laster, frisch bemalt mit der Inschrift »Deutsche Wehrmacht«.

Die Soldaten trugen Maschinenpistolen über der Schulter und waren feldmarschmäßig gekleidet. Sie legten rasch eine nägelgespickte Bretterbarriere über die Straße, sodass nur noch eine Reihe von Wagen in jeder Richtung vorbeikonnte. Der Geländewagen des Kommandanten der Aktion stand zu Füßen der Statue Charles I.

Die Deutschen lernen schnell, dachte Douglas, denn dies war der Platz, den auch die Londoner Polizei für Razzien bevorzugte.

Weitere Soldaten waren damit beschäftigt, auch hinter ihnen eine Barriere zu errichten.

Sylvia machte nicht den Eindruck, als ob sie aufgeregt sei, aber sie schlug doch vor, weiterzugehen, hinunter ans Flussufer.

»Nein«, sagte Douglas, »die Seitenstraßen sperren sie zuerst ab.«

»Ich zeige einfach meinen Passierschein vor«, sagte Sylvia.

»Bist du total verrückt geworden?«, fuhr Douglas sie an. »Im Yard-Gebäude sind Gestapo und SD untergebracht. Und außerdem alle anderen Kontrollorgane. Die Deutschen halten gerade diesen Passierschein für das wichtigste und, in gewisser Weise, gefährlichste Dokument, das sie einem Ausländer geben können. Du bist ohne Krankmeldung weggeblieben und hast diesen Passierschein behalten. Wenn du die deutschen Vorschriften nicht nur unterzeichnet, sondern auch gründlich durchgelesen hättest, wüsstest du, dass das dem Diebstahl eines Passierscheins gleichkommt, Sylvia. So, wie die Dinge stehen, wird deine Passierscheinnummer und dein Name auf der Fahndungsliste der Gestapo geführt. Jede Patrouille von Landsend bis John O’Groats wird dich aufgreifen.«

»Und was soll ich tun?« Selbst jetzt lag noch keinerlei Furcht in ihrer Stimme.

»Ruhig bleiben. Die haben Beamte in Zivil, die jeden beobachten, der sich auffällig benimmt.«