Stadt der Feen und Wünsche - Leander Steinkopf - E-Book

Stadt der Feen und Wünsche E-Book

Leander Steinkopf

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Beschreibung

Ein Sommermorgen, die Stadt leuchtet. Die Menschen sind unterwegs, und einer läuft ihnen entgegen und hat nichts vor. Er läuft von der Mitte, wo jeder ein Ziel hat und junge Eltern auf deprimierende Weise alles richtig machen, an die Ränder, wo es zwischen Spielkasinos und Backshops auch nicht besser ist, nur anders. Wer ist er? Kein Rebell, eher ein zärtlicher Menschenfeind, ein romantisch veranlagter Pessimist, der Verfall sieht, wo andere Pläne schmieden. Ein absichtsloser Flaneur, der die verhasste Stadt mit dem Blick eines Verliebten betrachtet. Man folgt ihm, und hinterher möchte man selbst rausgehen, Zeit haben, Gegenwart erleben.

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Ein Sommermorgen, die Stadt leuchtet. Die Menschen sind unterwegs, und einer läuft ihnen entgegen und hat nichts vor. Er läuft von der Mitte, wo jeder ein Ziel hat und junge Eltern auf deprimierende Weise alles richtig machen, an die Ränder, wo es zwischen Spielkasinos und Backshops auch nicht besser ist, nur anders. Wer ist er? Kein Rebell, eher ein zärtlicher Menschenfeind, ein romantisch veranlagter Pessimist, der Verfall sieht, wo andere Pläne schmieden. Einer, der die verhasste Stadt mit dem Blick eines Verliebten betrachtet. Und am Abend, wenn er sie vor unseren Augen verwandelt hat, übernachtet er nicht bei der traurigen Frau, sondern bei der anderen, die das Leben leicht zu nehmen versteht, und möchte am Morgen nichts lieber als bleiben, doch er bricht wieder auf: »Wenn ich bliebe, würde ich die Sehnsucht vermissen.«

Hanser Berlin E-Book

Leander Steinkopf

Stadt der Feen und Wünsche

Eine Erzählung

Hanser Berlin

Die Fee, bei der er einen Wunsch frei hat, gibt es für jeden. Allein nur wenige wissen sich des Wunsches zu entsinnen, den sie taten; nur wenige erkennen darum später im eignen Leben die Erfüllung wieder.

Walter Benjamin

Ein Penner legt sich auf den Bürgersteig, streckt die Arme in den Himmel und singt »Ave Maria«. Ich bleibe stehen, der Menschenfluss staut sich. Eigentlich habe ich Lust, mich zu ihm auf den Boden zu legen. Mitsingen will ich nicht, ich würde die Hände in den Taschen behalten, in den Himmel starren und genießen, ein Hindernis zu sein. Doch ich steige über ihn hinweg, als müsste ich irgendwo hin. Ich mag diesen Teil der Friedrichstraße, in dem man sich vorkommt wie in einer richtigen Stadt. Hier kann man Menschen beobachten, die Verantwortung tragen und es eilig haben. Überall sonst in Berlin heißt Beobachten, Blicke unter Untätigen zu tauschen, aber auf diesen paar Hundert Metern wahre Stadt von der Spree in Richtung Süden findet man die besondere Ruhe, die entsteht, wenn man seine Langsamkeit gegen die Hast der anderen behauptet. Nur hier, und nicht sehr lange, denn bald kommen die Shopper, und deren Schlendern macht die Langsamkeit vulgär.

Bei Dussmann ragen zwischen den lesend geneigten Köpfen große Männer mit Anzug, Trenchcoat und Aktentasche hervor. Mit offen stehendem Mund und gespitzten Augen überblicken sie die Tische mit den Neuerscheinungen. Selbst wenn sie still stehen, weht ihr Mantel vor Eile. Über die Schultern der Leser hinweg greifen sie ein gebundenes Buch vom Stapel, wenden es hastig nach allen Seiten, so wie man Gemüse nach Druckstellen absucht, dann bezahlen sie mit Kreditkarte und lassen es als Geschenk verpacken.

Ich gehe zu den Regalen mit den Lebensratgebern. Niemand bleibt dort stehen, sie schielen nur im Vorbeigehen auf die Bücher. Stehenzubleiben hieße einzugestehen, dass man Probleme hat. Es reicht, ein Buch in die Hand zu nehmen oder einen Titel nur lange genug zu fixieren, schon ist man enttarnt: als Raucher, der nicht loskommt, als Jasager, der nicht Nein sagen kann, als Depressiver, als Impotenter. Ich bleibe gerne hier stehen und schaue mir die Bücher an. Nicht jene, die mir helfen könnten, sondern die anderen, die mir unverständlich sind. Ich glaube, die größte Wirkung könnten sie haben, wenn sie nicht heimlich zu Hause gelesen würden, sondern ganz offen in der U-Bahn. Man sähe jedem die größte Schwäche am Buchdeckel an und wäre nicht so allein mit seiner Unzulänglichkeit.

Ich gehe an der Spree entlang, da sitzen Kiffer mit dem ersten Joint des Tages und Büromenschen, die Pause machen, um ihre Erinnerungen an die Sonne aufzufrischen. Das Regierungsviertel besteht fast nur aus Glas und es scheint keine Zäune und Mauern zu brauchen, alles ist offen, der Zutritt nur versperrt von den Blicken der Wärmesensoren und Überwachungskameras. Schaut man von der Spreepromenade zum Kanzleramt auf, wirkt es still und tot, nur ab und zu hebt sich ein Schwarm Vögel in den leeren Himmel, als würde dort nur über einen Acker geherrscht, aus dem die Krähen Körner picken.

Ein gutes Stück weiter die Spree entlang lastet eine Brücke auf dem Fluss und zwängt die Promenade in einen Tunnel hinein. Dort sind vier Penner heimisch. Sie sind gerade nicht zu Hause, nur ihre vier Matratzen liegen mit dem Kopfende zur Wand, in gleichmäßigem Abstand zueinander wie in einem Vierbettzimmer. Am Kopfende der Matratze, dort wo neben dem Bett der Nachttisch stünde, lehnt je eine Plastiktüte mit ihrer Habe, nur geschützt von dem äußeren Anschein, das nichts weniger wert zu klauen ist. Auf der letzten Matratze scheint jemand zu liegen, aber bei näherem Hinsehen ist es nur eine zusammengerollte Decke, mit einer weiteren bedeckt, wie es der Held macht in alten Agentenfilmen, wenn er weiß, dass er im Schlaf erschossen werden soll.

Der kleine Park an der Turmstraße ist neu gemacht, der Rasen und die Rabatten, der Spielplatz, die Bänke und die Sitzkiesel. Der ganze Platz ist ein Fremdkörper, kein Schmutz, der ihn dem umgebenden Moabit anverwandt machen würde. Die Politiker glauben, dass so ein Plätzchen Perspektive die Stadt verändern, einen Bezirk aus dem Dreck holen kann. Doch die Stadt holt sich zurück, was ihr gehört. Erst sind es nur ein paar Kronkorken, festgetreten im Tartanboden an den Trampolinen, Zigarettenkippen im Sand unter dem Klettergerüst, das ist die Saat für alles Weitere. Bald schieben sich erste Ranken über den Fremdkörper, eilige Tags am Klettergerüst und den Sitzkieseln, bald wuchern Graffiti. Triebe dringen in jede Ritze, sprengen die Planken von den Parkbänken, reißen die Papierkörbe aus der Verankerung. Abkürzungen graben sich diagonal durch den Rasen. Hundekot mischt sich in die Kiespfade. Irgendwann hat sich das erste Kind blutende Finger geholt an den Scherben und Spritzen im Sand, dann gehen die Eltern woanders hin. Die Hundebesitzer meiden den Ort, weil die Tiere in die großen Pfützen springen und den Schlamm nach Hause tragen. Die alten Menschen finden keinen Platz mehr, denn auf jeder Sitzgelegenheit liegt ein Schatten Urin. Wenn dann nur noch die Trinker kommen und danach die Flaschensammler, dann ist das ökologische Gleichgewicht wiederhergestellt, dann soll der nächste Politiker kommen und versuchen, etwas zu ändern.

Ich setze mich in den Fischladen und bestelle Hamsi. Im Fernsehen trotten Beşiktaşspieler in die Halbzeitpause, Erdoğan empfängt Abbas zum Staatsbesuch. Eine Indonesierin sitzt mit ihrem kleinen Sohn am zweiten Tisch, eingezwängt zwischen Eingangstür und Kühltheke. Hundert Fischaugen starren aus dem schottrigen Eis. Ihr Mann kommt rein mit zwei Bier vom Biomarkt nebenan. Sie haben gebratene Doraden bestellt und ein Makrelensandwich für den Sohn. Der alte Türke ist heute nicht da, seine Tochter macht den Laden. Ihr Mund lächelt nie, hat ein Piercing im Winkel, spuckt Worte, als schmeckten sie bitter. Wollmütze und Trainingsjacke schützen gegen die Kälte hinter der Theke und den Nebel von Frittierfett, der sich auf alles legt. Sie streift sich den Kettenhandschuh über und kratzt mit dem kurzen Messer die Gedärme aus den Doraden.

Ein junger Mann kommt rein, so deutsch, so nett, so weich, mit blasser Haut, die am ersten Frühlingstag gleich verbrennt. Auf seinen Dreitagebart hat er zwei Wochen gewartet. Manche Menschen kenne ich gleich wie mich selbst. Er weiß, dass er hier nicht zu Hause ist, dass er hier der Fremde ist, dass die Freundlichkeit, die er erfährt, bloß Gastfreundschaft ist. Die junge Türkin dreht sich um, ihre Augen eisig blau, sie fragt: »Was soll’s sein?« »Ich würde von dem Lachsfilet nehmen«, sagt er mit belegter Stimme, räuspert sich. »Was?«, sagt sie, und er wiederholt seinen Satz. Seit er hier wohnt, schaut er sehnsüchtig den orientalischen Schönheiten nach, er kann nicht aufhören damit, auch nicht seitdem er, ganz plötzlich und endgültig, an eine Frau geriet, wie er sie aus der Schule kennt, aschblond und abendländisch.

Es gibt Dinge, die mache ich eigentlich nicht mehr, Döner essen, U1 fahren und nach Friedrichshain gehen. Aber Judith wohnt am Boxhagener Platz, im schlimmsten Friedrichshain, dort, wo die Menschen laut und glücklich sind, wo die Touristen dicht an dicht in Kunstlederkneipen sitzen, wo die Tattoos von alleine wachsen wie Hautausschlag im Hallenbad.

Es wird langsam dunkel, und dann wird es voll am S-Bahnhof Warschauer Straße. Die Security-Männer der Deutschen Bahn lehnen an den Geländern der Brücken, die die Gleise miteinander verbinden. Sie lehnen da zu viert, schauen den jungen Frauen nach, besprechen sie, gelegentlich rufen sie ihnen etwas auf Arabisch hinterher. Vor der Currywurstbude und dem Passbildautomaten stehen die Berlinbesucher Schlange, weil sie vor der langen Nacht noch Grundlagen und ein paar Erinnerungen brauchen.

Auch ich habe Erinnerungen an diese Gegend, und wenn ich Friedrichshain fernbleibe, dann vor allem, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Da war mal eine Frau, die hielt mich an, als wollte sie nach dem Weg fragen, aber sie fragte mich, was anzufangen sei mit den vierundzwanzig Stunden bis zu ihrer Abreise. Ich zeigte ihr die Stadt, und sie entdeckte sie für mich mit ihren unverbrauchten Augen. Am Morgen mussten wir zum Zug rennen, wir streckten uns wie Erdmännchen auf der Rolltreppe zum Gleis und sahen ihn noch stehen. Sie ließ mich in der Stadt zurück, und ich streifte herum, ruhelos. Gedanken zerrten mich in Hauseingänge, in die wir uns zum Küssen gedrückt hatten, ich schritt die Wege ab, auf denen wir uns verirrten. Sie saß im Zug, stand manchmal auf, um am Fenster eine starke Zigarette zu rauchen, und setzte sich wieder hin, wenn ihr schwindlig wurde. Die Stadt war noch lange von ihrer Liebe verseucht.

Sie war nur eine von vielen, die mit ihrem angestauten Freiheitsdrang kommen, jede Nacht bis zum Morgengrauen wollen, hinter jedem Zaun eine Möglichkeit sehen und in jedem Gedränge das Leben. Sie machen Urlaub in der Stadt, ohne Rücksicht darauf, dass dort Menschen leben, für die es ein Morgen gibt. Und dann fahren sie nach Hause, duschen einmal lange, schlafen aus und ordnen sich wieder in ihren Alltag ein, doch mein Gehirn bleibt noch tagelang verdreckt und zerbrechlich, wie ein wackliger Stapel Geschirr, der in trübem Spülwasser steht.

Im Burgerladen am Boxhagener Platz werden über einen Lautsprecher Nummern aufgerufen wie auf dem Arbeitsamt. Vor der Tür sitzen hungrige Leute und trinken ein Spätibier über die Wartezeit. Die Rasenfläche in der Mitte brodelt von Gesprächen. Ab und zu schäumt ein Zischen aus dem Stimmenmatsch, das spezielle Geräusch, wenn man eine Bierflasche mit dem Feuerzeug aufmacht. In einer Kneipe wird gerade die Musik aufgedreht. Der Abend ist warm vor Menschen.

»Komm hoch, ich lasse die Tür offen«, sagt Judith durch die Sprechanlage. Sie sitzt in der Küche, an einem Schallschutzfenster mit Blick auf den Partylärm. Sie hat sich einen Kamillentee aufgegossen, hält den Beutel an der Schnur und lässt ihn im Tee baumeln, als erwartete sie, dass heute noch was anbeißt. »Na, wie geht’s?«, frage ich. Sie antwortet nicht. »Willst du einen Tee?«, fragt sie irgendwann. »Kaffee«, sage ich. Sie geht zum Herd und schraubt die Kanne auf. Sie will den Kaffeesatz in den Bioeimer klopfen, aber ihre Schläge sind zu schwach dafür, da kratzt sie ihn mit einem Löffel raus, ganz langsam, wie ein Archäologe, der ein Fossil freilegt. Sie lässt frisches Wasser in einem dünnen Faden in das Kannenunterteil laufen, und als sie den Herd anschaltet, dreht sie den Knopf Stufe für Stufe nach oben, sechs Mal klickt es im Sekundentakt, bis sie die Kanne auf die Platte stellt. »Es gibt heute eine Party auf dem Dach«, sagt sie mit Sehnsucht in der Stimme, als wäre das Dach nicht bloß zwei Treppen entfernt.

Ich lasse sie zuerst die Leiter nehmen, damit sie nicht hinter mir zurück in die Wohnung rennt. Dann steige ich auf die vierte Sprosse, stelle meine Kaffeetasse aufs Dach und klettere hinterher. Ich sehe, wie Judith kurz lächelt, als sie sich umsieht. Auf den sandigen Dachpappen sind Decken ausgebreitet, Kerzen brennen, Menschen hocken dort und drehen Zigaretten auf dem Schoß. Sie trinken warmes Bier. Sie reißen Fladenbrot ab und wischen damit durch die fast leeren Plastikschüsseln. Die Sonne geht unter, Wolkenstreifen fangen die Farben auf. Dachantennen stechen wie Grashalme in den Nachthimmel. Überall stehen Schornsteine als selbstverständliches Mobiliar einer Dachfläche. Ihre Backsteine strahlen die Sonnenwärme ab, die sie über den Tag gesammelt haben, ebenso die Wärme von Kindheitsfantasien, Mary Poppins und Karlsson vom Dach.