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Was macht die Überschreitung des Erlaubten so reizvoll, warum fasziniert das Spiel mit dem Verbotenen? Spicken, Schwarzfahren, Rasen, illegale Substanzen oder ein kleiner Diebstahl …, erinnern wir uns nicht alle mit leisem Behagen an den einen oder anderen schadlos überstandenen Regelverstoß? Es scheint, als ob wir solche Momente immer wieder suchen, sie unser Leben auf spezielle Weise bereichern. Dient diese gelegentliche Abweichung vom Regelkonformen vielleicht dazu, unsere Autonomie zu behaupten? Ist sie am Ende bedeutender Teil des Menschseins? Hält der Regelbruch mitunter das geregelte Leben am Laufen und hat womöglich sogar das Potenzial, gesellschaftliche Entwicklungen voranzutreiben? Wie viel es jenseits des Erlaubten zu entdecken gibt, zeigt uns Leander Steinkopf in seinem unterhaltsamen und pointierten Essay.
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Seitenzahl: 171
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LEANDER STEINKOPF
Der Reiz des Verbotenen
Über die Freiheit jenseits des Erlaubten
Reihe zu Klampen Essay
Herausgegeben von
Anne Hamilton
Leander Steinkopf,
geboren 1985, ist Essayist und Erzähler, Wissenschaftsjournalist und Redenschreiber, promovierter Psychologe sowie Autor und Herausgeber mehrerer Bücher. Nach Stationen in Mannheim, Berlin, Sarajevo und Plovdiv lebt er mit seiner Familie in München. Texte von ihm erscheinen etwa in »Merkur« und »Sinn und Form«, »FAZ« und »taz«, »Welt« und »SZ«, auf »Zeit Online« und in der »Neuen Zürcher Zeitung«.
Cover
Titel
Getreide, Himbeeren, Cannabis: eine Einführung in drei Erinnerungen
1. Ein Übertritt hinterlässt Spuren: warum ein Bett im Kornfeld in Erinnerung bleibt
Gründe für die Übertretung
2. Weisheit der Schwarzfahrer: die Evolution der Übertretung
3. Fear and Loathing in Las Vegas: Regelbruch als großer Coup
4. Zwergenweitwurf: wie man einen Moralphilosophen zur Weißglut treibt
5. Autonomes Fahren und autonome Menschen: wie man im Umgang mit Regeln zum freien Subjekt wird
6. Blaumachen und Glücklichsein: Übertretung als Schritt zur Selbstliebe
7. Tyrannenmord und ziviler Ungehorsam: Übertretung aus moralischen Gründen
Erwünschtheit der Übertretung
8. Mile High Club: die Pflicht zur Übertretung
9. Ein ehrenwertes Haus: Nonkonformismus als Selbstvergewisserung
10. The Bad Touch: wie sexuelle Tabus die Erotik erst ermöglichen
11. Verbotene Liebe: warum man zusammen Pferde stiehlt
Gesellschaftliche Funktion der Übertretung
12. Schwänzen, Spicken und Zu-spät-Kommen: Schule und Jugend als Versuchslabor für Übertretungen
13. Jenseits des Tempolimits: die kontrollierte Übertretung als Ventil
14. Hochstapelei als Gesellschaftskritik: die Übertretung als Mittel der Aufklärung
15. Ehebrecher auf der Kirchenbank: warum Regelbrüche absichtlich übersehen werden
16. Kein Dienst nach Vorschrift: der diskrete Charme der Bürokratie
17. Warum arbeiten die Arbeiter? Um zu bummeln und Büromaterial zu klauen
Innovation durch Übertretung
18. Naturgesetze brechen: wissenschaftlicher Fortschritt jenseits des Erlaubten
19. Hofdamen und Hipster: wie man durch Regelbrüche die Mode bestimmt
20. Wertewandel und Menschwerdung: Schierlingsbecher und verbotene Früchte
Ersatzbefriedigung
21. Ich war noch niemals in New York: vom Regelbruch träumen, statt ihn zu wagen
22. Durchs wilde Kurdistan: Die Fiktion zeigt das Menschliche jenseits des Erlaubten
23. Bluff für brave Bürger: Übertretungsersatz im Spiel
24. Could I eat your ass? Popkonsum als Bohème-Beteiligung
Der Erhalt der Übertretung
25. Talent zur Grenzüberschreitung: wie man sich eine Tür offenhält
26. Meeresfrüchte als Kindheitstraum: vom Nutzen der Sitten für die Übertretung
27. Casanova in Paris: die Freiheit des Verbots
Impressum
Am 2. April 1995, dem Tag, an dem Jürgen Drews 50 Jahre alt wurde, saß ich bei meiner Mutter im Auto, auf dem Weg zum Einkaufen oder von der Grundschule nach Hause, und im Radio lief eine Call-in-Show. Uneheliche Kinder des Schlagersängers mit Playboy-Image sollten anrufen, sich zu ihrem Vater bekennen, das vermutliche Zeugungsdatum nennen und durften sich dann einen Song von ihm wünschen. Es war der Humor der 90er. Weder kannte ich Jürgen Drews, noch wusste ich, was uneheliche Kinder sind. Die Sendung jedenfalls wurde wohl bald abgebrochen, denn alle unehelichen Kinder – ausnahmslos Frauen – wünschten sich immer dasselbe Lied. Jürgen Drews kannte ich nicht, aber dieses Lied schon: »Ein Bett im Kornfeld, das ist immer frei, denn es ist Sommer, und was ist schon dabei«. Und selbstverständlich wurde Jürgen Drews’ Lied auch ohne die Hilfe seiner unehelichen Nachkommen ständig gespielt, ja es war schon lange zu einer Art Volkslied geworden, das man auch im Kinderchor und im Musikunterricht sang. Man kann die Zeilen kaum lesen, ohne die Melodie zu hören. Und die Sehnsucht, die es in den Menschen befriedigt, ist sicher nicht die nach einer Nacht auf unebenem Acker mit stechendem Stroh. Es ist die kleine Übertretung, die das Lied interessant macht.
In einer der frühesten Erinnerungen, die ich an meinen Vater habe, hob er mich an einem Maschendrahtzaun hoch und wollte, dass ich mit meinen kleinen Händen hindurchgreife, um beim Nachbarn Himbeeren zu pflücken. Ich weigerte mich, sagte, dass man das nicht dürfe, doch mein Vater erklärte mir, dass man so viel pflücken darf, wie man essen kann. Man nenne das Mundraub, und das sei erlaubt. Also steckte ich meinen kleinen Arm durch eine Zaunmasche und erntete die Himbeeren in die große Hand meines Vaters. Bald hatten wir zwei Hände voll mit Himbeeren, mein Mund war rot verschmiert, ich hatte ein neues Wort gelernt und eine Erfahrung gemacht, die ich erst viel später durchschaute, Meine Hand passte durch den Maschendrahtzaun, und selbst eine universelle Regel konnte ein Schlupfloch haben. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie es war, jedes Jahr aufs neue die Früchte unseres eigenen Pflaumenbaums zu ernten, aber an das eine Mal, als wir Himbeeren klauten, erinnere ich mich genau. Durch die kleine Übertretung war das triviale Ereignis mit einem Eselsohr versehen. Und egal, ob es Äpfel, Birnen, Kirschen oder eben Himbeeren sind: Beim Nachbarn Obst zu klauen, ist ein so selbstverständlicher Teil der Kindheit, dass es schon zum Klischee geronnen ist.
Als ich vor Jahren, kaum volljährig, das erste Mal Amsterdam besuchte, konnte ich nicht vermeiden, es mit der mir bekannten Kleinstadt und den nahegelegenen kleineren Großstädten hinsichtlich eines Aspekts zu vergleichen: Ist man hier freier? Auf den ersten Blick sollte die Antwort klar sein. Das in der Jugend so mystifizierte Kiffen war in Amsterdam erlaubt, begünstigt und jederzeit möglich, während sich das System von Rechten und Freiheiten ansonsten nicht groß von dem deutschen unterschied: ein Mehr an Freiheit also! Und doch empfand ich es nicht so.
Um von meiner nicht gerade innenstädtischen Unterkunft in einem auf einem Campingplatz geparkten Kombi ins Zentrum zu kommen, musste ich die S-Bahn nehmen. Selbstverständlich kaufte ich mir dafür eine Fahrkarte. Aber mir fiel auch auf, dass ich diesbezüglich gar keine Wahl hatte, denn während man in Deutschland einfach einsteigen durfte, hinderten hier mannshohe Drehtüren alle am Zutritt zum Bahnhof, die kein Ticket vor den Sensor halten konnten. Von der Regellage war alles wie in Deutschland: Hier wie dort ist das Fahren ohne Ticket verboten. In Amsterdam war das Fahren ohne Ticket aber nicht bloß verboten, sondern so gut wie unmöglich.
Dann, in der Amsterdamer Innenstadt angekommen, war ich schon nach einem bloßen Spaziergang durch das einschlägige Viertel so benommen, dass ich keinen Coffeeshop suchte, sondern tatsächlich einen Kaffee. Hatte es mir hier nach Freiheit ausgesehen, wo man an jeder Ecke das damals in Deutschland verbotene Gras und Dope erwerben, es an jeder Ecke verbauen und verrauchen konnte? Nein, das Freiheitspathos, das in meiner Jugend mit der Droge verbunden war, hatte sich im dichten Rauch aufgelöst. Der sanfte Regelverstoß, den man in Deutschland mit dem Kiffen verband, das zwar untersagt war, aber irgendwie doch geduldet wurde, stand einem hier nicht offen. Es bestand keine Notwendigkeit, sich zu verstecken, nicht die geringste Heimlichkeit war nötig. Indem man sich einen Joint anzündete, löste man sich nicht aus den Zusammenhängen, sondern fügte sich nur mehr in die Masse. Der Regelübertritt war unmöglich geworden, weil man die Regel einfach gestrichen hatte.
Im gängigen Verständnis von Freiheit, das den Möglichkeitsraum des Erlaubten betrachtet, war Amsterdam der Ort der größeren Freiheit. Doch das tief empfundene Gefühl von Freiheit, das darin besteht, die Regeln zu übertreten, auszubrechen, war hier auf zwei Arten beschnitten: einerseits indem die Regel durch eine unüberwindbare Drehtür untermauert wurde, die den Bruch der Regel verhinderte, andererseits durch liberales Erlauben, das den Raum des Legalen weitete und so den Reiz des Verbotenen tilgte.
Anders erlebte ich es in Berlin. Die Chausseestraße war auf Höhe des Oranienburger Tors abgesperrt, kurz bevor sie zur Friedrichstraße wird. Ich ging weiter Richtung Süden und hörte in der Ferne Techno, und bald stieg mir ein Geruch in die Nase: Cannabisrauch über die volle Breite der Prachtstraße. Dann sah ich gepanzerte Polizisten, die einem Demonstrationszug vorangingen und ihn in losem Abstand flankierten. Es war ein Marsch für die Legalisierung von Cannabis. Vor allem junge Leute, zu einem Großteil Schüler, hielten ihre selbstgemalten Transparente oder die Plakate hoch, die ihnen die Zeugwarte linker Parteien zur Verfügung gestellt hatten. Ich – dessen Jugend auf dem Land stattgefunden hatte und auch schon eine Weile zurücklag – wunderte mich nur, dass dieser Umzug von Kiffern sich offensichtlich für hektischen Techno begeisterte, ansonsten kam mir das alles sehr bekannt vor. Dieser kleine Gesetzesänderungswunsch zu größter Bedeutung aufgeblasen, außerdem das rebellisch-avantgardistische Selbstverständnis der Demonstranten, über zwanzig Jahre früher war es nicht anders gewesen. Tausende demonstrierten hier, forderten die Legalisierung des Kiffens, aber alle kifften sie ungeniert in der Öffentlichkeit. Und ich fragte mich, wenn sie unter direkter Überwachung einer Polizeihundertschaft unbehelligt kiffen können, was sollte dann die Erfüllung ihrer Forderung noch für erlebbare Veränderungen bringen?
Ich dachte mir sodann, dass eine Legalisierung die Lage nur verschlechtern würde, denn damit wäre eine Großdemonstration, wie sie hier stattfand, unnötig und unmöglich. Das gute Gefühl von Avantgarde und Rebellion, die Widerständigkeit des wilden Lebens, all dies würde verfliegen, wäre alles erlaubt. Obendrein wäre die nun noch für selbstverständlich genommene Solidarität, die das gemeinsame Anliegen erzeugte, dahin. Was sollte diese Menge der Verschiedenen noch einen, wenn ihr großes Ziel erreicht wäre? Damals auf dem Land, wo für jede Subkultur die kritische Masse fehlte, fanden sich die Punks, die Rastas, die Hiphopper und die Alternativen in den üblichen Verstecken zum Kiffen zusammen. Und auch hier auf der Berliner Chausseestraße sah ich ein Durcheinander der Stile dicht an dicht. Es ist doch wunderbar, dass sie hier kiffend für legales Kiffen demonstrieren können, dachte ich mir, und es wäre furchtbar, wenn man ihnen diese Erfahrung durch Erlaubnis nähme. Wir werden sehen.
Die Freiheit jenseits des Erlaubten ist ein Faszinosum des erfüllten Lebens, der Reiz des Verbotenen ist eine rätselhafte Kraft. Dieses Buch wird sich mit den Fragen beschäftigen, was am Verbotenen reizt, wieso Regelbrüche unsere Aufmerksamkeit erregen und in Erinnerung bleiben, wie Übertretungen unserem Leben Bedeutung verleihen, unsere Individualität und Autonomie entwickeln helfen und darüber hinaus sogar die Gesellschaft am Laufen halten.
Welch einen Unterschied macht es, seinen Fahrschein vor dem Einsteigen zu entwerten oder eben nicht: Solange man sich im Erlaubten bewegt, bewegt man sich innerhalb des Verlässlichen. Mit einem gültigen Fahrschein muss man nichts befürchten, seiner Umwelt keine weitere Beachtung mehr schenken. Ganz anders als Schwarzfahrer, so John von Düffel und Klaus Siblewski in »Wie Dramen entstehen«1:
»Wer ohne Ticket unterwegs ist, reist mit der Angst oder auch dem Kitzel der Gefahr, erwischt zu werden. Bei jedem Halt, jedem Ein- und Aussteigen mustert er die neuen Fahrgäste – jeder von ihnen könnte ein Kontrolleur in Zivil sein, der im nächsten Moment seinen Ausweis zückt und die Fahrkarten verlangt. Der Schwarzfahrer in der U-Bahn kann es sich nicht leisten, die Leute um ihn herum zu ignorieren, er fragt sich ständig, mit wem er es zu tun hat, welche Gefahr von diesem oder jenem Unbekannten ausgeht, und er beobachtet jede noch so kleine Bewegung oder Veränderung im Abteil messerscharf.«
Schwarzfahren verlangt Wahrnehmung, Einfühlung, Bereitschaft; es ist eine geschärfte Form der Existenz. Dieser Geisteszustand wird in der gegenwärtigen westlichen Zivilisation kaum noch abgerufen, und doch gehört er zum Menschsein dazu. Wie edel funkelt die geistige Klarheit während einer zehnminütigen Schwarzfahrt, wie stumpf starrt im Vergleich der legale Sitznachbar in sein Smartphone. Natürlich ist die Minimierung von Gefahr und Unberechenbarkeit eine große Errungenschaft unserer modernen Zivilisation, trotzdem lebt in ihr immer noch jene Gattung Mensch, deren Sinne schärfer werden, wenn ein nagender Hunger schnell nach Nahrung verlangt, die wach und wachsam wird auf fremdem Gebiet, die blitzschnell urteilen und fliehen kann, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht. Es ist wunderbar, dass wir diese Fähigkeiten kaum noch brauchen, und es wäre wünschenswert, sie in Zukunft noch weniger brauchen zu müssen. Dennoch bleiben sie uns erhalten, sie gehören zu unserem Menschsein. Beim Schwarzfahren können wir dies erleben, uns vollständiger fühlen, ohne uns einer ernstzunehmenden Gefahr auszusetzen.
Doch nicht nur auf die Unsicherheit, die wir jenseits des Erlaubten vorfinden, sind wir durch unsere Anlagen vorbereitet. Auch der Reiz des Verbotenen lässt sich als Ergebnis unserer biologischen Evolution betrachten. Die meisten Tiere können nichts Verbotenes tun, weil sie keine Regeln kennen. Vor dem Verbotenen und dem Reiz der Übertretung steht also die Evolution der Regelhaftigkeit. Das ist ein großes Thema in der Evolutionsforschung, zeichnet sich der Mensch doch vor allem durch seine Fähigkeit zum geordneten Zusammenleben in großen Gruppen aus. Die Gruppe brachte in der Evolutionsgeschichte viele Vorteile, da sich auf Aufgaben spezialisiert werden konnte, Risiken gestreut wurden und intensive Kooperation möglich war. Die Vorteile des Zusammenlebens in der Gruppe haben im Prozess der biologischen und kulturellen Evolution zu Rücksicht und Altruismus geführt, zu Fairness, Moral und Einigung auf Regeln. Es galt, den Egoismus einzuhegen, damit das Zusammenleben in der Gruppe funktioniert, letztlich zum Vorteil jedes einzelnen. Trotzdem ist der Egoismus nicht restlos wegevolviert. Tatsächlich profitiert das Individuum, was sich selbst den Übertritt herausnimmt, während die anderen sich an die Regeln halten. Diese Fähigkeit zum Regelbruch ist jedoch nicht bloßes Überbleibsel der tierischen Normlosigkeit, es ist eine neue Fähigkeit, die sich erst dadurch herausbilden konnte, dass der Mensch in der Lage war, Normen zu entwickeln und zu befolgen. Das normlose Verhalten ist tierisch, aber die Fähigkeit, Normen bewusst zu brechen, ist spezifisch menschlich. Ohne sich konkrete Gedanken zur Evolutionsgeschichte zu machen, fasste George Bataille diesen Sachverhalt so zusammen:
»Auf dem Weg der Verbote trennte sich der Mensch vom Tier. Er versuchte dem exzessiven Spiel des Todes und der Fortpflanzung (der Gewalt), in deren Macht das Tier sich ganz und gar befindet, zu entrinnen. Doch auf dem sekundären Weg der Überschreitung näherte sich der Mensch dem Tier wieder an.«2
In der Wissenschaft weckt aus guten Gründen vor allem das normkonforme Verhalten Interesse. Es bleibt eine Herausforderung zu erklären, wie die Evolution eine Einhegung des Egoismus zuwege bringen konnte, handelt doch die herkömmliche Darwin’sche Erzählung von Existenzkampf und Überleben des Stärkeren. Die Frage nach Normen und Kooperation fasziniert also durch ihre Schwierigkeit. Gleichzeitig sind Kooperation und die Ausrichtung an Normen die entscheidende Voraussetzung für unsere eigentliche Menschwerdung, für die komplexen Gesellschaften, in denen wir leben. Widmet sich die Forschung doch einmal dem Bruch von Normen, dann geht es darum, wie dieser unterbunden und Stabilität gewährleistet werden könne. So gibt es reichlich Forschung zu den menschlichen Fähigkeiten, die dazu dienen, sogenannte free rider dingfest zu machen, also jene Individuen, die sich Normen und Kooperation entziehen. Zahlreiche Studien der evolutionären Psychologie und der Verhaltensökonomie widmen sich unserer Sensibilität für Regelbrüche und unserer Motivation, diese zu sanktionieren. Und tatsächlich ist man zu der Erkenntnis gekommen, dass wir eine besonders feine Wahrnehmung haben, wenn es darum geht, Regelbrecher zu identifizieren, und dass wir eine starke Motivation haben, diese zu bestrafen, selbst wenn es uns etwas kostet. Psychologen und Ökonomen interessieren sich hingegen kaum für die Herausbildung von Fähigkeit und Motivation, sich Übertritte herauszunehmen und Vorteile zu erlangen, ohne dabei das filigrane Geflecht des gesellschaftlichen Miteinanders zu beschädigen.
Bei Schimpansen sind die Verhältnisse klar, da gibt es die dominanten Männchen, und ihnen stehen die Paarungen zu. Die Schimpansenweibchen sind nur empfängnisfähig und sexuell interessiert, wenn ihre Geschlechtsteile um den Zeitpunkt des Eisprungs sichtbar rot anschwellen. In dieser Zeit bekommen sie die besondere Aufmerksamkeit der Alpha-Männchen, die Mitbewerber attackieren, die es wagen, sich dem Weibchen zu nähern. Trotzdem haben die Weibchen mit anderen Männchen Sex, allerdings heimlich. Und verfügen dafür über ihre eigenen Methoden. Sie achten darauf, dass ein Busch, Baum oder Stein den Akt aus dem Blickfeld des Anführers rückt. Die subalternen Männchen haben die Fähigkeit, ihre Erektion rasch zu verstecken, sollte das Alpha-Männchen doch einen Blick werfen.
Frans de Waal berichtet etwa von der Schimpansendame Oor, die gegen Ende des Geschlechtsverkehrs weithin hörbar aufschreit, allerdings nur, wenn sie mit dem Alpha-Männchen kopuliert.3 Hat sie Sex mit anderen Männchen, zeigt sie beim Höhepunkt weiterhin den Gesichtsausdruck eines Schreis – gebleckte Zähne, offener Mund –, bleibt aber still, dabei den Eindruck erweckend, stärkste Emotionen mit größter Mühe zu kontrollieren. Von Dandy, dem jüngsten und niederrangigsten Erwachsenen in der Gruppe, berichtet de Waal, dass er mit der Dame seiner Wahl ein paar vielsagende Blicke austauscht, woraufhin beide wie zufällig in dieselbe Richtung davongehen und sich mit etwas Glück versteckt hinter Bäumen wiedertreffen. Luit wiederum präsentiert gerade einem Weibchen seinen erigierten Penis, als er bemerkt, dass Alpha-Männchen Nikkie sich mit einem Stein bewaffnet von weit hinten nähert. Luit schaut sich immer wieder nach dem sich nähernden Nikkie um, blickt dann wieder zu seinem Penis, der langsam erschlafft. Erst als die Erektion verschwunden ist, dreht Luit sich um, geht auf Nikkie zu, schnüffelt unschuldig an dem Stein und verschwindet.
Subalterne Männchen haben einen Vorteil aus dieser Möglichkeit des Betruges, da sie sich fortpflanzen können, auch ohne an der Spitze der Hierarchie zu stehen. Die Weibchen haben dadurch Vorteile, weil sie mit der genetischen Vielfalt ihres Nachwuchses das Risiko streuen, und außerdem, weil sie und ihre Nachkommen bei nicht ganz klarer Vaterschaft von weniger Männchen in der Gruppe Aggressionen fürchten müssen.
Es ist unklar, ob dieser heimliche und verbotene Liebesakt für Schimpansen besonders erregend ist, bei Menschen scheint es jedenfalls so zu sein. So hat die Psychotherapeutin Esther Perel in ihrer Praxis unzählige Geschichten von Affären und Seitensprüngen gehört und weiß, was sie alle gemeinsam haben.
»Mit einer Affäre schlägt man einen Weg ein, der risikoreich und gefährlich ist – aber auch das aufregende Kribbeln der Grenzüberschreitung für uns bereithält. […] Fremdgeher berichten von ihren Abenteuern mit ähnlichen Worten: wiedergeboren, verjüngt, intensiviert, wiederbelebt, erneuert, lebhaft, befreit. […] Die Lust am Leben, die solch eine Begegnung entfacht, erwischt einen mit unwiderstehlicher Kraft. Das geschieht oft weder geplant noch beabsichtigt. Das erotische Verlangen, das wir auf einmal spüren, rüttelt uns wach aus unserer Erstarrung und lässt uns den gewohnten Alltagstrott vergessen. Die Zeit scheint stehenzubleiben. Das unaufhaltsame Älterwerden angehalten. Wir sehen die Welt mit neuen Augen. Viele erzählen von verstärkten Sinneswahrnehmungen: Das Essen schmeckt besser, Musik klingt schöner als je zuvor und Farben sehen lebendiger aus.«4
Dabei scheint es nicht nur um den Reiz des Neuen, Anderen und Fremden zu gehen, sondern tatsächlich um den Reiz des Verbotenen. Selbst eine offene Beziehung beseitigt nicht den Reiz des Regelbruchs. Esther Perel stellt fest,
»dass wir, selbst wenn wir die Freiheit haben, uns anderen Sexualpartnern zuzuwenden, immer noch dem Reiz des Verbotenen erliegen. Monogamie liegt uns Menschen vielleicht nicht im Blut, Grenzen überschreiten dagegen mit Sicherheit. […]
Die Regeln zu brechen ist aufregend und erotisch, egal ob diese ›gemeinsam bis ans Lebensende‹, ›Sex ist in Ordnung, aber verlieben nicht‹, ›Aber nur mit Kondom‹, ›Er darf aber nicht in dir kommen‹ oder ›Du kannst es mit anderen treiben, aber nur, wenn ich zuschaue‹ lauten. So gesehen gibt es auch in offenen Beziehungen viel Untreue und damit einhergehendes Chaos. Wenn die Grenzüberschreitung die eigentliche Motivation ist, dann wird es den Fremdgeher nicht davon abhalten, über den Zaun zu klettern, wenn das Tor offen ist.«5
Aber warum? Aus evolutionsbiologischer Sicht setzen sich Gene durch, welche die evolutionäre Fitness der Individuen steigern, die sie in sich tragen. In anderen Worten: Ein Gen, das für ein bestimmtes Merkmal codiert, was den Fortpflanzungserfolg steigert, wird dank dieses Fortpflanzungserfolgs in der nächsten Generation stärker vertreten sein. So könnte es auch mit den Genen sein, die anfällig für den Reiz des Verbotenen und die heimliche Sexualität machen. Stellt man sich die heimliche sexuelle Begegnung als etwas vor, das in der Menschheitsgeschichte immer wieder vorkam, und das den Beteiligten Vorteile brachte, dann könnte sich die Erregung der verbotenen Begegnung als evolutionärer Vorteil durchgesetzt haben. Mit der Erregung des Verbotenen kam man schneller zur Sache und schneller zum Ende und wurde so seltener entdeckt. Und die so Erregbaren zeugten mit höherer Wahrscheinlichkeit Nachwuchs, der dieses Merkmal weitertrug. So könnte sich der Reiz der verbotenen Sexualität in unsere Gene eingeschrieben haben.
Beim Reiz anderer Verbote wäre der biologische Selektionsmechanismus ähnlich. Das erstrebenswerte Verbotene ist mit einem besonderen Reiz markiert. Dieser besondere Reiz ist erforderlich, um zur Überschreitung der Norm zu motivieren, ohne dabei die Norm aus den Augen zu verlieren. Die besondere Aufregung und Aufmerksamkeit soll dem Erwischtwerden vorbeugen und präpariert für die Flucht. Der Regelbruch versetzt uns also in einen Zustand intensiven Wahrnehmens und Erlebens, einen Zustand hoher Energie, um der Entdeckung vorzubeugen und auf sie vorzubereiten. Und dieser intensive Zustand ist sicher um so attraktiver, je grauer und gleichförmiger unser Alltag ist.