Kleopatras Nase - Mary Beard - E-Book

Kleopatras Nase E-Book

Mary Beard

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Beschreibung

Die international bekannte Althistorikerin Mary Beard hat uns schon in »SPQR«, der großen Geschichte des Römischen Reichs, die Welt der Antike so nah gebracht wie nie zuvor. Auch in »Cleopatras Nase« unterhält sie mit erstaunlichen Geschichten aus dem alten Griechenland und Rom, deckt Irrtümer auf und zerstört Mythen. In kurzweiligen und unterhaltsamen Essays schildert sie unbekannte Details aus dem Alltagsleben von Sklaven, Soldaten, Frauen und Kindern. Wir erfahren, worüber die Griechen lachten und wie groß Alexander wirklich war, warum die Asterix-Comics so erfolgreich sind und die Ruinen Pompejis zum Hotspot für Touristen wurden. An Beispielen von Sappho bis zu Julius Cäsar, von der unbekannten griechischen Sklavin bis zum römischen Senator behandelt Mary Beard grundlegende Fragen und zentrale Momente der Alten Geschichte. So zeigt sie, wie gegenwärtig die Antike immer noch ist.

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Seitenzahl: 568

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Mary Beard

Kleopatras Nase

Neue Begegnungen mit der Alten Geschichte

Aus dem Englischen von Ursula Blank-Sangmeister unter Mitarbeit von Anna Raupach

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]VorwortEinführung: Haben die Klassischen Altertumswissenschaften eine Zukunft?I Das antike Griechenland1 Erbauer von Ruinen2 Sappho spricht3 Welchem Thukydides kann man trauen?4 Alexander: Wie groß?5 Was brachte die Griechen zum Lachen?II Helden und Schurken des frühen Rom6 Wer wollte Remus’ Tod?7 Im Kampf mit Hannibal8 Quousque tandem …?9 Römische Kunstdiebe10 Der Plan zu Caesars ErmordungIII Das kaiserzeitliche Rom – Kaiser, Kaiserinnen und Feindinnen11 Auf der Suche nach dem Kaiser12 Kleopatra: Der Mythos13 Mit dem Imperium verheiratet14 Eine Satire Caligulas?15 Neros Kolosseum?16 Eine britische Königin17 Kurzzeit-Kaiser18 Hadrian und seine VillaIV Rom von unten nach oben19 Ehemalige Sklaven und Snobismus20 Wahrsagerei, Mundgeruch und Stress21 Rom – eine entmilitarisierte Stadt22 Leben und Tod im römischen Britannien23 Aramäisch in South ShieldsV Kunst und Kultur: Touristen und Wissenschaftler24 Da ging nur noch Aischylos?25 Laokoon: Die Arme und der Mann26 Vergessen Sie nicht Ihren Tropenhelm27 Pompeji für die Touristen28 »The Golden Bough«29 Die Begegnung von Philosophie und Archäologie30 Was unter den Tisch fällt31 Asterix und die RömerNachwort: Altertumswissenschaftliche RezensionenWeiterführende LiteraturDankQuellenAbbildungsnachweisRegister

Für Peter Carson

Vorwort

Dieses Buch bietet einen Rundgang durch die klassische Welt, vom prähistorischen Palast im kretischen Knossos bis zu jenem fiktiven Dorf in Gallien, wo Asterix und seine Freunde den Römern noch immer Widerstand leisten. Dabei begegnen wir einigen der berühmtesten oder berüchtigtsten Charaktere der antiken Geschichte: Sappho, Alexander dem Großen, Hannibal, Julius Caesar, Kleopatra, Caligula, Nero, Boudicca und Tacitus (und das ist nur eine kleine Auswahl). Doch wir erhalten auch einen Einblick in das Leben der großen Mehrheit ganz normaler Griechen und Römer – zu ihnen gehören auch die Sklaven, die einfachen Heeressoldaten, die Millionen von Menschen, die überall im Römischen Reich unter militärischer Besatzung lebten (ganz abgesehen von meinem besonderen Favoriten, Eurysaces, dem römischen Bäcker aus Kapitel 19). Was brachte diese Menschen zum Lachen? Putzten sie sich die Zähne? Wohin wandten sie sich, wenn sie Hilfe oder Rat brauchten – wenn sie Eheprobleme hatten oder pleite waren? Ich hoffe, dass »Kleopatras Nase« die Leser mit einigen der spannendsten Kapitel der antiken Geschichte und einigen ihrer denkwürdigsten Charaktere aus vielen Lebensbereichen bekannt machen wird oder sie ihnen wieder nahebringt; und ich hoffe, dass das Buch auf manche jener faszinierenden Fragen eine Antwort geben wird.

Doch ich verfolge ein noch ehrgeizigeres Ziel. Der englische Titel dieses Buches, »Confronting the Classics«, bedeutet, was er sagt. So handelt dieses Buch auch davon, wie wir mit der klassischen Tradition in Dialog treten oder sie in Frage stellen können und wieso es selbst im 21. Jahrhundert in den Altertumswissenschaften noch immer so vieles gibt, worüber man sich streitet; kurzum, es handelt davon, wieso das Thema noch immer nicht »abgeschlossen« und nicht »erledigt« ist (oder wieso wir es bei der Antike und den Wissenschaften, die sich mit ihr beschäftigen, sowohl mit einem »Abenteuer« als auch mit einer »Innovation« ebenso wie mit einer »Tradition« zu tun haben). Dies wird, wie ich hoffe, in den folgenden Abschnitten klar und deutlich zutage treten. Man sollte sich auf einige Überraschungen gefasst machen sowie auf etliche heftige Kontroversen, alte und neue. Klassische Philologen und Althistoriker mühen sich noch immer damit ab, die genaue Bedeutung des überaus schwierigen Griechisch des Thukydides zu entschlüsseln (wir machen Fortschritte, sind aber noch nicht am Ziel), und wir sind weiterhin unterschiedlicher Meinung darüber, wie wichtig Kleopatra für die Geschichte Roms tatsächlich war oder ob der Kaiser Caligula als schlichtweg verrückt abgeschrieben werden kann. Gleichzeitig finden moderne Beobachter ständig Möglichkeiten, neue Fragen aufzuwerfen – und manchmal neue Antworten zu finden. Ich habe die Hoffnung, dass es mir mit diesem Buch gelingt, einige unserer aktuellen Debatten für ein deutlich breiteres Publikum lebendig werden zu lassen – angefangen mit der Frage, welchen Beitrag die persischen Quellen für unser Verständnis von Alexander dem Großen liefern können, bis zu dem Problem, wie um alles in der Welt es die Römer fertigbrachten, sich ausreichend Sklaven zu beschaffen, um ihren Bedarf zu decken.

Debatte ist das Schlüsselwort. Wie ich in der Einführung noch einmal herausstellen werde, ist die Beschäftigung mit den Altertumswissenschaften der Eintritt in ein Gespräch – nicht nur mit der Literatur und den materiellen Überresten der Antike, sondern auch mit jenen, die in den Jahrhunderten vor uns versucht haben, die Griechen und Römer, die sie zitiert oder zu neuem Leben erweckt haben, zu verstehen. Darum werden in diesem Buch auch – da sie ebenfalls an dem Gespräch beteiligt sind – die Wissenschaftler und Archäologen früherer Generationen, die Reisenden, Künstler und Altertumsliebhaber angemessen berücksichtigt. Und deshalb kommt der unbezwingbare Asterix ebenfalls zum Zuge, weil – seien wir ehrlich – seine Bande tapferer Gallier sehr viele von uns zum ersten Mal dazu gebracht hat, über die Probleme des römischen Imperialismus nachzudenken.

Es sei noch erwähnt, dass alle Kapitel dieses Buches Adaptationen und Aktualisierungen von Rezensionen und Aufsätzen sind, die in den letzten Jahrzehnten in der London Review of Books, der New York Review of Books oder dem Times Literary Supplement erschienen sind. Im Nachwort werde ich noch ausführlicher auf das Handwerk des Rezensierens eingehen. Jetzt will ich einfach nur festhalten, dass Rezensionen seit langem zu den wichtigsten Orten gehören, an denen altertumswissenschaftliche Debatten ausgetragen werden. Ich hoffe, dass die nachfolgenden Aufsätze einen Eindruck davon vermitteln, warum die klassische Antike ein Thema ist, über das es sich noch immer lohnt, mit all der uns zu Gebote stehenden Ernsthaftigkeit zu sprechen – ganz abgesehen davon, dass die Beschäftigung mit ihr Vergnügen macht und für gute Laune sorgt.

»Kleopatras Nase« beginnt mit einer Robert B. Silvers Lecture. Ich hatte die große Ehre, diesen Vortrag im November 2011 in der New York Public Library zu halten. Der Titel »Haben die Klassischen Altertumswissenschaften eine Zukunft?« trifft den Nagel auf den Kopf. Es ist, wenn Sie so wollen, mein Manifest.

Einführung: Haben die Klassischen Altertumswissenschaften[1] eine Zukunft?

2011 war für den (zu der Zeit längst) verstorbenen Terence Rattigan ein ungewöhnlich gutes Jahr: In seinem Stück »Man and Boy« (eine aktuelle Geschichte über den Zusammenbruch eines Bankiers) spielte Frank Langella am Broadway die Hauptrolle – es war die erste Inszenierung in New York seit den 1960er Jahren. Außerdem gab es eine Verfilmung von »The Deep Blue Sea«, in der Rachel Weisz die Frau eines Richters spielt, die mit einem Piloten durchbrennt. Die Premiere war Ende November 2011 im Vereinigten Königreich, und im Dezember lief der Film in den USA an. Es war Rattigans 100. Geburtstag (er starb 1977), deshalb kam es zu jener Art von Neubewertung, die Hundertjahrfeiern häufig mit sich bringen. Lange Zeit konnten – in den Augen von Kritikern, wenn auch nicht des Publikums des Londoner West Ends – seine kunstvollen Geschichten von den verdrängten Qualen der privilegierten Klassen es nicht mit dem Realismus der Arbeiterklasse eines John Osborne und der anderen zornigen jungen Dramatiker aufnehmen. Aber wir haben gelernt, uns auf neue Weise mit ihnen zu befassen.

Ich habe mir ein anderes Stück von Rattigan noch einmal angeschaut, »The Browning Version«, uraufgeführt im Jahr 1948. Es handelt von Andrew Crocker-Harris, einem Lehrer in den Vierzigern an einer englischen Privatschule – ein altmodischer Zuchtmeister, der wegen eines schweren Herzleidens in den vorzeitigen Ruhestand gehen muss. Das andere Unglück Crocks (bei den Kindern heißt er nur »the Crock«) besteht darin, dass er mit einer wirklich boshaften Frau namens Millie verheiratet ist, die ihre Zeit aufteilt zwischen einer On-off-Affäre mit dem Naturwissenschaftslehrer und dem Austüfteln immer neuer Varianten von häuslichem Sadismus, um ihren Ehemann zugrunde zu richten.

Der Titel des Werks versetzt uns jedoch zurück in die klassische Antike. Crock unterrichtet, wie Sie es wohl schon erahnt haben, Griechisch und Latein (was sonst könnte er mit einem Namen wie Crocker-Harris unterrichten?), und »Browning Version«, der Titel des Stücks, bezieht sich auf Robert Brownings berühmte Übersetzung von Aischylos’ Drama »Agamemnon« aus dem Jahr 1877. Verfasst in den 450er Jahren v. Chr., erzählt das griechische Original von der tragischen Rückkehr König Agamemnons aus dem Trojanischen Krieg und seiner anschließenden Ermordung durch seine Frau Klytaimnestra und deren Liebhaber, den sie sich während Agamemnons Abwesenheit genommen hatte.

Dieser Klassiker ist in gewisser Weise der eigentliche Star in Rattigans Drama. John Taplow, ein Schüler, der Griechisch-Nachhilfestunden bei ihm genommen und den griesgrämigen alten Schulmeister immer mehr in sein Herz geschlossen hat, schenkt Crock das Buch zu dessen Pensionierung. Die Geschenkübergabe ist die Schlüsselszene der Handlung, fast der Moment der Erlösung. Zum ersten Mal lässt Crocker-Harris seine Maske fallen: Als er die »Browning Version« aufschlägt, bricht er in Tränen aus. Warum? Zunächst einmal, weil er der Tatsache ins Gesicht sehen muss, dass er, so wie Agamemnon, von einer ehebrecherischen Frau vernichtet wird (es handelt sich nicht eben um ein feministisches Stück). Aber er weint auch über das, was der junge Taplow auf das Titelblatt geschrieben hat. Es ist eine – sorgfältig auf Griechisch wiedergegebene – Zeile aus dem Stück, die Crock für sich so übersetzt: »Gott schaut aus der Ferne gnädig auf einen sanften Herrn.« Er wertet dies als Kommentar zu seinem eigenen Berufsleben: Er hat alles daran gesetzt, kein sanfter Lehrmeister zu sein, und Gott hat nicht gnädig auf ihn geschaut.

Rattigan begnügt sich hier nicht damit, die gequälte Psyche der britischen oberen Mittelschicht zu analysieren (und es ist auch nicht nur eine weitere »Schulgeschichte«, jene schrullige Marotte einiger britischer Autoren). Als jemand, der selbst eine solide klassische Ausbildung genossen hat, befasst er sich auch mit zentralen Fragen der klassischen Altertumswissenschaft, der klassischen Tradition und unserer modernen Beschäftigung mit ihr. Inwieweit kann die antike Welt uns helfen, unsere eigene zu verstehen? Welche Grenzen sollten wir unserer Neuinterpretation und Wiederaneignung setzen? Als Aischylos schrieb: »Gott schaut aus der Ferne gnädig auf einen sanften Herrn«, dachte er gewiss nicht an einen Lehrer, sondern an einen militärischen Eroberer. Tatsächlich war der Satz – und auch darauf kam es, wie ich vermute, Rattigan an – einer der letzten, den Agamemnon zu Klytaimnestra sprach, bevor sie ihn ins Haus führte, um ihn umzubringen.

Anders gesagt: Was können wir tun, um die antike Welt zu verstehen? Wie interpretieren wir sie? Der junge Taplow hat keine sehr hohe Meinung von Brownings Aischylos-Übersetzung, und sie ist – nach unserem Geschmack – auch wirklich in einer grässlichen poetischen Sprache des 19. Jahrhunderts verfasst (»Who conquers mildly, God, from afar, benignantly regardeth« – Brownings Übersetzung der Schlüsselzeile ist kaum dazu angetan, dass man sich auf den Rest des Stückes stürzt). Doch als Taplow sich im Unterricht für Aischylos’ Griechisch begeistert und eine erstaunlich geistreiche, aber leicht ungenaue Übersetzung von einer der blutrünstigsten Stellen vorlegt, wird er von Crock zurechtgewiesen: »Sie sollen das Griechische analysieren« – das heißt, den Text wortwörtlich übersetzen –, »nicht mit Aischylos zusammenarbeiten.«

Wenn man überzeugt ist, dass die klassische Tradition etwas ist, womit man sich beschäftigen und auseinandersetzen muss und das nicht nur reproduziert und nachgeplappert werden sollte, steht man auf der Seite derer, die mit Aischylos zusammenarbeiten. Hier kann ich nicht umhin, an die auf eklatante Weise modernen Übersetzungen von Teilen aus Homers »Ilias« zu erinnern, die der im Dezember 2011 verstorbene englische Dichter Christopher Logue verfasst hat – »Kings«, »War Music« und andere –, »die beste Übersetzung Homers seit der von [Alexander] Pope«, wie Garry Wills sie einmal bezeichnete. Das war, glaube ich, ein sowohl aufrichtiger als auch leicht ironischer Kommentar. Denn der Witz ist, dass Logue, der wichtigste Mitarbeiter Homers, kein Wort Griechisch konnte.

Viele der von Rattigan gestellten Fragen liegen auch den Thesen zugrunde, die ich hier vorbringen möchte. Ich versuche nicht, jeden davon zu überzeugen, dass die klassische Literatur, Kultur oder Kunst es verdienen, ernst genommen zu werden. Damit dürfte man in den meisten Fällen offene Türen einrennen. Stattdessen möchte ich darauf hinweisen, dass die Sprache der klassischen Autoren und der klassischen Literatur eine Kultursprache und damit noch immer eine essentielle und unauslöschliche Ausprägung der »westlichen Kultur« darstellt, die in Rattigans Drama ebenso Eingang gefunden hat wie in die Dichtung von Ted Hughes oder die Romane von Margaret Atwood oder Donna Tarrt. »Die geheime Geschichte« hätte jedenfalls nicht an einer Fakultät für Geographie angesiedelt werden können. Doch ich möchte auch etwas genauer auf den Umstand eingehen, dass wir heute so sehr auf den Niedergang der humanistischen Bildung fixiert sind. Auch hier liefern Rattigans »Browning Version« und seine Nachfolger eine interessante Perspektive.

Das Stück ist bei unter Geldknappheit leidenden Theatern und TV-Gesellschaften bis heute beliebt, teils aus dem einfachen Grund, dass Rattigan als Schauplatz für das gesamte Geschehen Crocker-Harris’ Wohnzimmer wählte, was die Inszenierung äußerst kostengünstig macht. Doch es gibt auch zwei Verfilmungen von »The Browning Version«, die sich aus Crocker-Harris’ Wohnung herauswagten, um das filmische Potential der englischen Privatschule von ihren malerischen holzgetäfelten Klassenräumen bis hin zum Grün ihrer hügeligen Cricket-Felder ganz auszuschöpfen. Rattigan höchstpersönlich verfasste das Drehbuch zum ersten Film, in dem Michael Redgrave 1951 die Hauptrolle spielte. Der Autor nutzte das Format des Films, um sich ausführlich über Erziehungsphilosophie zu verbreiten und den naturwissenschaftlichen Unterricht (für den Millies Liebhaber steht) dem klassischen Sprachenunterricht (repräsentiert durch Crock) gegenüberzustellen. Außerdem wies er Crocks Nachfolger als Latein- und Griechischlehrer, Mr Gilbert, eine größere Rolle zu – womit er klarstellte, dass er sich vom sturen Pauken lateinischer und griechischer Grammatik distanzierte und sich dem zuwandte, was wir heute einen »schülerzentrierten« Ansatz nennen.

1994 kam es, diesmal mit Albert Finney als Hauptdarsteller, zu einer modernisierten Neuverfilmung: Millie wurde in Laura umbenannt, und ihr Naturwissenschaftslehrer und Liebhaber war nun ein ausgesprochen adretter Amerikaner. In mancherlei Hinsicht ähnelte diese Version noch immer der alten Geschichte: Finney zog seine Klasse in Bann, wenn er den Schülern einige Zeilen aus Aischylos vorlas, und über das Geschenk der »Browning Version« weinte er sogar noch ergreifender, als Redgrave es getan hatte. Aber das Ganze nimmt eine markante Wendung, indem ein neues Narrativ eingeführt wird: das eines Niedergangs. Crocks Nachfolger nämlich gibt in dieser Fassung den Latein- und Griechisch-Unterricht vollständig auf. »Meine Aufgabe ist es«, sagt er im Film, »eine neue Sprachenabteilung zu organisieren: moderne Sprachen, Deutsch, Französisch, Spanisch. Schließlich leben wir in einer multikulturellen Gesellschaft.« Crock erscheint nun als der allerletzte Vertreter seiner Spezies.

Der Film sagt den Tod der humanistischen Bildung jedoch nicht nur voraus, er trägt dazu auch selber bei, ohne dass dies beabsichtigt gewesen wäre. In einer Szene bespricht Crock mit seiner Klasse einen Abschnitt von Aischylos, offensichtlich anhand des griechischen Originals, doch die Schüler haben große Schwierigkeiten, den Text zu lesen. Jeder scharfsichtige Altphilologe wird den Grund dafür leicht erkennen: Die Jungen haben Aischylos in der Penguin-Übersetzung (mit dem sofort erkennbaren typischen Cover) vor sich liegen; sie haben gar keinen griechischen Text. Vermutlich sollte jemand aus der Requisite 20 Exemplare des »Agamemnon« beschaffen und besorgte das Werk, weil er es nicht besser wusste, auf Englisch.

Das Schreckgespenst vom Ende der humanistischen Bildung ist den meisten Lesern wahrscheinlich vertraut. Ich möchte – aus einer gewissen Besorgnis heraus – versuchen, die Frage aus einer anderen Perspektive zu betrachten, über die üblichen negativen Klischees hinauszugehen und (zum Teil mit Terence Rattigans Hilfe) einen neuen Blick auf das zu werfen, was wir als Alte Geschichte, Altphilologie und Klassische Archäologie oder im Englischen als »Classics« bezeichnen. Doch vergegenwärtigen wir uns zuerst einmal, was in der neueren Debatte über den gegenwärtigen Stand der klassischen Sprachen, ganz zu schweigen von ihrer Zukunft, immer wieder hervorgehoben wird.

Die Grundbotschaft ist bedrückend. In den letzten etwa zehn Jahren sind buchstäblich Hunderte von Büchern, Artikeln, Zeitschriften und Kommentaren erschienen mit Titeln wie »Die alten Sprachen in der Krise«, »Können die alten Sprachen überleben?«, »Wer hat Homer umgebracht?«, »Warum Amerika die klassische Tradition braucht« und »Die Rettung der alten Sprachen vor den Konservativen«. Sie alle beklagen auf unterschiedliche Weise den Tod der alten Sprachen, unterziehen sie einer Autopsie oder empfehlen einige ziemlich verspätete Lebensrettungsmaßnahmen. Die endlose Aufzählung düsterer Fakten und Zahlen in diesen Beiträgen und der Ton dieser Litanei sind allgemein bekannt. Aufhänger sind zumeist der Niedergang der lateinischen und altgriechischen Sprache an den Schulen oder die Schließung altphilologischer Institute überall auf der Welt.

Angesichts der zunehmenden Marginalisierung der klassischen Sprachen wurde im November 2011 eine internationale Petition an die UNESCO gerichtet mit dem Ersuchen, Latein und Griechisch zum besonders geschützten »immateriellen Kulturerbe der Menschheit« zu erklären. Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll, wenn man die klassischen Sprachen wie eine gefährdete Spezies oder wie eine wertvolle Ruine behandelt. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass der in der Petition formulierte Vorschlag, für ihre Erhaltung solle die italienische Regierung zuständig sein (als ob sie nicht schon genug am Hals hätte), damals keine kluge Politik war.

Für den Niedergang der klassischen Sprachen werden vielfältige Gründe angeführt. Manche behaupten, dass deren Anhänger die alleinige Schuld dafür trügen. Es gehe eben um »tote weiße Europäer« und deren Sache, die viel zu oft als wohlfeile Legitimation für eine ganze Reihe von kulturellen und politischen Sünden hergehalten habe, angefangen beim Imperialismus und Eurozentrismus bis hin zu gesellschaftlichem Snobismus und todlangweiliger Pädagogik. Die Briten herrschten über ihr Empire mit Cicero in der Hand; Goebbels wählte griechische Tragödien als Bettlektüre (und wenn man Martin Bernal glauben kann, fand er seine verrückten Ansichten über die arische Überlegenheit in den Traditionen der klassischen Altertumswissenschaft bestätigt). In der neuen multikulturellen Welt, so heißt es bisweilen, müssten die klassischen Sprachen all dies nun ausbaden. Ganz abgesehen davon, dass zumindest in England das Lateinische lange Zeit als Torhüter diente, um rigide Klassenprivilegien und gesellschaftliche Exklusivität zu wahren – auch wenn die offenkundigen Nutznießer einen hohen Preis dafür zu zahlen hatten. Zwar erhielt man Zutritt zu einer kleinen Elite, gewiss, aber man war während seiner Kinderjahre auf einen äußerst beschränkten Lehrplan festgelegt: Es ging fast nur um Übersetzungen ins und aus dem Lateinischen (und wenn man etwas älter war, dem Griechischen). Im Film The Browning Version lässt Crocker-Harris seine Schüler die ersten vier Strophen von Tennysons »The Lady of Shalott« ins Lateinische übersetzen: eine ebenso sinnlose wie prestigeträchtige Übung.

Andere behaupten, die Altertumswissenschaften seien an der Politik der modernen Universität gescheitert. Nach Aussage von Victor David Hanson und seinen Kollegen liegt die Schuld für den allgemeinen Niedergang des Fachs bei der karriereorientierten Ivy League, natürlich auch bei Oxbridge,[2] bei Professoren, die sich (im Streben nach hohen Gehältern und langen Forschungsfreistellungen) mit ihrer Selbstbezogenheit in eine postmoderne Sackgasse begeben haben, während gewöhnliche Studenten und die »Leute da draußen« wirklich etwas über Homer und die anderen großen Vorbilder Griechenlands und Roms hören wollen. Die Antwort darauf ist: Wahrscheinlich ist es gerade der Umstand, dass Professoren der Altertumswissenschaften es ablehnen, sich mit moderner Theorie zu befassen, und die antike Welt weiterhin (als ob sie eine bewundernswerte Kultur sei) durch eine rosarote Brille betrachten, der aus dem Fach ein verschlafenes, rückständiges Nest zu machen droht.

Die Stimmen, die betonen, dass wir uns mit dem Elend, der Sklaverei, der Frauenfeindlichkeit und der Irrationalität der Antike befassen müssen, gehen über Moses Finley und den irischen Dichter und Altphilologen Louis MacNeice zurück auf meine eigene berühmte Vorgängerin Jane Ellen Harrison, die im 19. Jahrhundert in Cambridge lehrte. »Immer wenn ich mich an Griechenlands Herrlichkeit erinnern soll«, hielt MacNeice auf unvergessliche Weise in seinem »Autumn Journal« fest,

»Denke ich stattdessen

An die Gauner, die Abenteurer, die Opportunisten,

Die sorglosen Athleten und die schrillen Knaben (…)

(…) an den Lärm

Der Demagogen und der Quacksalber; und an die Frauen, die

Trankopfer über Gräbern ausgießen,

Und an die Trimmer in Delphi und die Strohmänner in Sparta und zuletzt

Denke ich an die Sklaven.«

Natürlich ist nicht alles, was über den gegenwärtigen Stand der »Classics« geschrieben wird, hoffnungslos düster. Einige unbeschwerte Optimisten verweisen beispielsweise auf das neue öffentliche Interesse an der antiken Welt. Davon zeugen die Erfolge von Filmen wie Gladiator, von Stacy Schiffs Kleopatra-Biographie oder der anhaltende Strom von literarischen Beiträgen zur klassischen Antike oder der Beschäftigung mit ihr (dazu gehören mindestens drei bedeutende fiktionale oder poetische Bearbeitungen von Homer allein im Jahr 2011). Und gegen die unheilvollen Beispiele eines Goebbels und des britischen Imperialismus lässt sich eine Liste entschiedenerer Helden der klassischen Tradition anführen – so unterschiedliche Personen wie Sigmund Freud, Karl Marx (dessen Doktorarbeit der klassischen Philosophie gewidmet war) und die amerikanischen Gründerväter.

Was das Lateinische betrifft, werden in der Post-Crocker-Harris-Welt etliche unterschiedliche Geschichten erzählt. Wo der Unterricht der Sprache noch nicht gänzlich abgeschafft ist, kann man jetzt häufig lesen, welch enorme Wirkung Latein – nun befreit von der altmodischen Grammatikpaukerei – auf die intellektuelle und sprachliche Entwicklung ausüben kann. Dies basiert entweder auf Studien in Schulen in der Bronx, nach denen sich der IQ von Kindern durch das Lernen von Latein erhöht, oder auf jenen allgemein verbreiteten Behauptungen, wonach Lateinkenntnisse beim Erlernen von Französisch, Italienisch, Spanisch oder jeder x-beliebigen anderen indoeuropäischen Sprache außerordentlich hilfreich sind.

Hier gibt es allerdings ein Problem. Manche Einwände der Optimisten treffen zwar durchaus ins Schwarze. Die klassische Vergangenheit wurde niemals nur von einer politischen Richtung vereinnahmt: Mit Hilfe antiker Autoren wurden wahrscheinlich ebenso viele Revolutionen wie konservative Diktaturen legitimiert, und im Laufe der Jahre stand Aischylos sowohl im Dienst der Nazipropaganda als auch von Befreiungsbewegungen im Afrika südlich der Sahara. Einige der Gegenargumente sind jedoch schlichtweg irreführend. Der Erfolg von Gladiator war absolut nichts Neues; man denke nur an Ben Hur, Spartacus, Im Zeichen des Kreuzes und die zahlreichen Versionen von Die letzten Tage von Pompeji, die bis auf die Anfangsjahre des Kinos zurückgehen. Dasselbe gilt auch für den Erfolg populärer Biographien über antike Persönlichkeiten; unzählige Leute meiner Generation wurden durch die – jetzt weitgehend vergessenen – Biographien von Michael Grant in die Antike eingeführt.

Und viele der Argumente, mit denen jetzt das Lateinlernen gerechtfertigt wird, sind, fürchte ich, auch gefährlich. Sicherlich lernt man durch Latein etwas über Sprache und darüber, wie sie funktioniert, und die Tatsache, dass es sich um eine »tote« Sprache handelt, kann durchaus befreiend sein: Ich bin für immer dankbar, dass man im Lateinunterricht nicht lernen muss, wie man eine Pizza bestellt oder sich nach dem Weg zur Kathedrale erkundigt. Aber ganz im Ernst: Wenn man Französisch lernen will, tut man, ehrlich gesagt, besser daran, dies gleich zu tun, ohne den Umweg über eine andere Sprache. Es gibt wirklich nur einen guten Grund, Latein zu lernen – wenn man nämlich auf Lateinisch verfasste Texte lesen möchte.

Dennoch entspricht das nicht ganz dem, was ich sagen will. Mehr beschäftigt mich die folgende Frage: Was treibt uns dazu, so beharrlich den »Zustand« der alten Sprachen zu untersuchen und Bücher zu kaufen, die ihren Niedergang beklagen? Wenn man sich eine Meinung nach der anderen vor Augen führt, kann man bisweilen den Eindruck gewinnen, dass man einem seltsamen Krankenhaus-Drama in einer Art akademischer Notaufnahmestation beiwohnt: Ein offenkundig kranker Patient (»alte Sprachen«) ist umringt von verschiedenen Ärzten, die sich weder über die Diagnose noch über die Prognose recht einigen können. Täuscht der Patient eine Krankheit nur vor und ist in Wirklichkeit kerngesund? Ist eine allmähliche Besserung wahrscheinlich, wenn auch vielleicht keine völlige Wiedergenesung? Oder ist die Krankheit unheilbar, und es geht nur noch um eine Palliativbehandlung oder verdeckte Euthanasie?

Was vielleicht noch wichtiger ist: Warum interessieren wir uns so stark für das Schicksal der alten Sprachen, und warum diskutieren wir gerade in dieser Weise darüber und füllen so viele Seiten mit den konkurrierenden Antworten? Die Debatte über ihren Niedergang ist ebenso paradox wie die Annahme, dass der Mini-Verlagsbuchhandel davon abhängt, dass eine große Zahl maßgeblicher Verfechter der alten Sprachen Bücher kauft, die sich mit ihrem Untergang befassen. Was ich damit sagen will: Wenn einem Latein, Griechisch und die klassische Tradition völlig gleichgültig sind, liest man kein Buch darüber, warum sich niemand mehr dafür interessiert.

Natürlich liegen den verschiedenen Debatten über den Gesundheitszustand der »Klassischen Altertumswissenschaften« unterschiedliche Annahmen zugrunde über das, was darunter zu verstehen ist: Diese Annahmen reichen vom Studium des Lateinischen und Griechischen an einer Universität bis hin zu – am anderen Ende des Spektrums – einem im weiteren Sinne allgemeinen Interesse an der antiken Welt in all ihren Formen. Darin dass, wenn im Englischen von »Classics« oder (wie in Amerika häufiger) von »the classics« die Rede ist, nicht dasselbe gemeint ist, liegt einer der Gründe für die unterschiedlichen Ansichten über die Situation, in der sie sich befinden. Ich habe nicht vor, hier eine einfache Neudefinition anzubieten. Aber ich werde einige der Themen aufgreifen, die in Terence Rattigans Stück vorkommen, um darauf hinzuweisen, dass die antiken Klassiker in die Art und Weise, wie wir über uns und unsere eigene Geschichte denken, eingegangen sind, und dies in einer weit komplexeren Form, als wir normalerweise zugestehen. Sie entstammen nicht nur einer fernen Vergangenheit oder haben nicht nur diese zum Thema. Sie sind auch eine Kultursprache, die wir, im Dialog mit einer Vorstellung von der Antike, zu sprechen gelernt haben. Und um etwas Offensichtliches zu konstatieren: In gewisser Weise handeln die klassischen Werke, wenn es überhaupt um jemanden geht, ebenso von uns wie von den Griechen und Römern.

Doch zurück zur Rhetorik des Niedergangs – und hier möchte ich Ihnen einen weiteren düsteren Text vorstellen:

»Von vielen Seiten hören wir Behauptungen, vorgetragen im Brustton der Überzeugung, (…) dass die Arbeit im Bereich des Griechischen und Lateinischen erledigt – dass die Zeit dieser Sprachen vorbei sei. Wenn ihre Abschaffung als wirksames Erziehungsmittel ein Opfer ist, das der Fortschritt der Zivilisation unerbittlich fordert, dann ist alles Bedauern müßig, und wir müssen uns der Notwendigkeit beugen. Doch wie wir aus der Geschichte wissen, liegen die Gründe für den Untergang bedeutender Suprematsmächte nicht zuletzt in der Trägheit und Kurzsichtigkeit ihrer Verteidiger. Diejenigen, die daran glauben (…), dass das Griechische und Lateinische, so wie in der Vergangenheit auch in Zukunft weiterhin von unschätzbarem Nutzen für jede höhere menschliche Bildung sein können, haben daher die Pflicht, nachzuprüfen, ob die genannten Gründe existieren und wie sie sich umgehend beseitigen lassen. Denn wenn diese Fächer untergehen, gehen sie unter wie Luzifer. Auf eine zweite Renaissance können wir mit Sicherheit nicht hoffen.«

Wie Sie anhand des rhetorischen Stils schon gemerkt haben dürften, wurde der Text nicht erst gestern geschrieben (auch wenn man gestern in etwa dasselbe gehört haben könnte). Tatsächlich stammt er aus der Feder des Cambridger Latinisten J.P. Postgate, der im Jahr 1902 den Niedergang des Lateinischen und Griechischen beklagte – eine berühmte Klage, die in einer einflussreichen Londoner Zeitschrift (The Fortnightly Review) veröffentlicht wurde und einen so starken Eindruck hinterließ, dass im Vereinigten Königreich sogleich die Classical Association gegründet wurde, deren Absicht es war, Gleichgesinnte mit dem erklärten Ziel zusammenzubringen, die klassischen Sprachen zu retten.

Der springende Punkt ist, dass man solche Klagen oder Befürchtungen fast überall in der Geschichte der klassischen Tradition finden kann. Wie allgemein bekannt, rechtfertigte Thomas Jefferson im Jahr 1782 die große Bedeutung der klassischen Sprachen in seinem eigenen Erziehungscurriculum unter anderem mit den damaligen Verhältnissen in Europa: »Wie ich höre, kommt das Erlernen des Lateinischen und Griechischen in Europa außer Gebrauch. Ich weiß nicht, was ihre Sitten und Beschäftigungen erfordern: Aber es wäre von uns sehr unklug, ihrem Beispiel in diesem Punkt zu folgen.«

Das alles erscheint uns fast absurd, denn für uns sind dies Stimmen aus dem Goldenen Zeitalter des Studiums und der Kenntnis der klassischen Antike, der Epoche, die für uns verloren ist. Diese Stimmen erinnern jedoch eindrucksvoll an einen der wichtigsten Aspekte der Beschäftigung mit der Antike auf der symbolischen Ebene: jenes Bewusstsein vom drohenden Verlust und von der erschreckenden Fragilität unserer Verbindung mit der fernen Vergangenheit (die jederzeit abreißen kann). Wir fürchten die Barbaren vor den Toren und dass wir schlichtweg nicht in der Lage sind, das zu erhalten, was wir wertschätzen. Das heißt, Traktate über den Niedergang der alten Sprachen sind keine Kommentare zu diesem Verfall, sondern Debatten innerhalb dieser Entwicklung: Sie sind teilweise Ausdruck des Verlusts, der Sehnsucht und der Nostalgie, Gefühle, die beim Studium der klassischen Antike stets mitschwingen. Wie so häufig erfassen Schriftsteller dieses Gefühl deutlich genauer als die professionellen Altphilologen. Das Gefühl des Dahinschwindens, der Abwesenheit, des verlorenen Ruhms und einer vergangenen Ära ist eine sehr klare Botschaft von »The Browning Version«.

Ein anderer Aspekt der Zerbrechlichkeit wiederum ist ein wichtiges Thema in Tony Harrisons ungewöhnlichem Stück »The Trackers of Oxyrhynchus«, uraufgeführt im Jahr 1988. Gezeigt werden (in einem Teil der komplexen Handlung, in der Antikes und Modernes vermischt werden) zwei britische Altertumsforscher, die in den Müllhalden der ägyptischen Stadt Oxyrhynchos nach Papyrusfetzen graben, die womöglich »neue« Puzzleteile der klassischen Literatur enthalten oder wertvolle Einblicke in das alltägliche, ungeordnete, reale Leben der Antike ermöglichen. Doch alles, was man je findet, sind, wie Harrison betont, Fragmente aus antiken Papierkörben – und die Frustration und Enttäuschungen der Ausgrabung treiben einen der Archäologen in den Wahnsinn.

Die Wahrheit ist, dass die humanistische Bildung qua Definition dem Untergang geweiht ist. Selbst in der Epoche, die wir jetzt als Renaissance bezeichnen, feierten die Humanisten nicht die »Wiedergeburt« der antiken Kultur. Eher Harrisons »Spurensuchern« gleichend, unternahmen sie meist einen letzten verzweifelten Versuch, deren flüchtige und fragile Spuren vor dem Vergessen zu bewahren. Zumindest seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. gab es keine Generation mehr, die davon ausgegangen ist, dass sie die klassische Tradition mehr fördere als ihre Vorgänger. Aber hier gibt es natürlich auch eine positive Seite. Das Gefühl des drohenden Verlusts, die immerwährende Befürchtung, dass wir gerade dabei sein könnten, die antike Kultur vollständig zu verlieren, ist ausschlaggebend dafür, dass ihr – ob beim professionellen Studium oder bei der kreativen Wiederaneignung – die Energie und Spannung verliehen wird, die sie meiner Meinung nach noch immer besitzt.

Ich bin mir nicht sicher, ob uns das bei den Voraussagen über die Zukunft der alten Sprachen sehr viel weiterhilft, aber ich vermute, dass sich die Menschen im Jahr 2111 noch immer mit ihnen befassen werden, intensiv und kreativ, dass sie weiterhin über ihren Niedergang klagen und wahrscheinlich auf uns als ein Goldenes Zeitalter der klassischen Studien zurückschauen werden.

Aber die Frage bleibt: Was verstehen wir unter »Classics«? Ich bin mir bewusst, dass ich fast ebenso inkonsequent bin wie diejenigen, die ich kritisiert habe. Manchmal habe ich mich auf Latein und Griechisch bezogen, manchmal auf ein Fach, das von Leuten studiert wird, die sich selbst als Altertumswissenschaftler oder Althistoriker bezeichnen, manchmal auf ein allgemeineres Kulturgut (den Stoff von Filmen, Romanen und Gedichten). Nun sind Definitionen jedoch häufig »falsche Freunde«. Die elegantesten und ansprechendsten neigen oft dazu, zu viel auszuschließen; die gescheitesten und umfassendsten sind so gescheit, dass sie auf nicht eben hilfreiche Weise fade sind (ein neuerer Versuch, »Classics« zu definieren, lautet: »das Studium der – im weitesten Sinne verstandenen – Kultur jedes Volkes, das Griechisch und Latein verwendet, von ihrem Beginn bis [sagen wir mal] zu den islamischen Invasionen des 7. Jahrhunderts n. Chr.«. Schon richtig, aber …).

Ich werde keine Alternative entwerfen. Doch ich möchte sehr wohl über mögliche Koordinaten einer Definition reflektieren – über eine Schablone, die beim Nachdenken über die Bedeutung von »Classics« hilfreich sein könnte, und darüber, worin ihre Zukunft bestehen mag. Meines Erachtens müssen wir, um es ganz einfach auszudrücken, über die oberflächlich gesehen plausible Vorstellung (die der gerade zitierten Definition zugrunde liegt) hinausgehen, dass die »Classics« die Literatur, Kunst, Kultur, Geschichte, Philosophie und Sprache der antiken Welt sind oder sich damit befassen. Natürlich trifft das in Teilen zu. Das von mir beschriebene Gefühl von Verlust und Sehnsucht bezieht sich bis zu einem gewissen Grad auf die Kultur der fernen Vergangenheit, auf die Papyrusfragmente aus den Papierkörben von Oxyrhynchos. Aber das ist nicht alles. Wie die nostalgische Rhetorik unmissverständlich klarmacht, gilt das Gefühl von Verlust und Sehnsucht auch unseren Vorgängern, deren Verbindungen mit der antiken Welt, die, wie wir oft glauben, so viel enger waren als die unseren.

Um es so knapp wie möglich auszudrücken: Das Studium der Antike beschäftigt sich mit dem, was im Zeitraum zwischen der Antike und uns heute geschieht. Es ist nicht nur der Dialog, den wir mit der Kultur der klassischen Welt führen. Es ist auch der Dialog mit denen, die uns vorausgegangen sind, die selbst im Dialog mit der klassischen Welt gestanden haben (seien es Dante, Raffael, William Shakespeare, Edward Gibbon, Pablo Picasso, Eugene O’Neill oder Terence Rattigan). Die Beschäftigung mit der Antike bedeutet (wie Autoren des 2. Jahrhunderts n. Chr. bereits erkannt hatten) eine Folge von »Dialogen mit den Toten«. Doch zu den Toten gehören nicht nur diejenigen, die vor 2000 Jahren gestorben sind. Dieser Gedanke kommt in einem anderen Artikel in The Fortnightly Review treffend zur Sprache, nämlich in einer 1888 erschienenen Satire, einem in der Unterwelt spielenden Sketch, bei dem ein Trio namhafter Altertumswissenschaftler (die seit langem toten Bentley und Porson sowie ihr kürzlich verstorbener dänischer Kollege Madvig) frei und offen mit Euripides und Shakespeare diskutiert. Die kleine Satire erinnert uns daran, dass die einzigen Sprecher in diesem Dialog wir selbst sind; wir sind es, die als Bauchredner auftreten und den Alten eingeben, was sie sagen sollen: Tatsächlich beklagen sich die Altertumsforscher über die schreckliche Zeit, die sie im Hades verbringen; wo sie ständig von den antiken Schatten beschimpft werden, die sich darüber beschweren, dass sie von den Altphilologen falsch verstanden werden.

Daraus folgen zwei ganz einfache Dinge. Erstens, dass wir mit Behauptungen über die klassische Welt viel vorsichtiger sein sollten, als wir es häufig sind – oder zumindest dass wir uns deutlicher bewusst sein sollten, um wessen Behauptungen es sich dabei handelt. Nehmen wir beispielsweise die gängige Feststellung »Die alten Athener haben die Demokratie erfunden«. So formuliert ist sie schlichtweg falsch. Soweit wir wissen, hat kein alter Grieche jemals so etwas behauptet; und in jedem Fall ist Demokratie nicht etwas, das man wie einen Kolbenmotor »erfindet«. Unser Wort »Demokratie« kommt aus dem Griechischen, das ist richtig. Ansonsten haben wir den Athenern des 5. Jahrhunderts den Status »Erfinder der Demokratie« verliehen; wir haben unseren Wunsch nach einem Ursprung auf sie projiziert. (Und vor 200 Jahren hätte diese Projektion unsere Vorgänger in Erstaunen versetzt – denn für die meisten von ihnen war die Politik Athens im 5. Jahrhundert v. Chr. der Prototyp einer verheerenden Herrschaft des Pöbels.)

Der zweite Punkt ist das unauslöschliche Eingewobensein der klassischen Tradition in die westliche Kultur. Ich will damit nicht sagen, dass klassisches Altertum und westliche Kultur Synonyme sind. Natürlich gibt es viele andere, multikulturelle Stränge und Traditionen, auf die wir unser Augenmerk richten müssen, die definieren, wer wir sind, und ohne die unsere heutige Welt unermesslich ärmer wäre. Tatsache jedoch ist, dass Dante Vergils »Aeneis« gelesen hat, nicht das Gilgamesch-Epos. Was ich hier bislang herausgestellt habe, ist, dass wir uns mit unseren Vorgängern beschäftigen auf Grundlage von deren Beschäftigung mit den antiken Autoren. Das Ganze bekäme einen leicht anderen Akzent, wenn man sagte, dass es unmöglich wäre, heute Dante zu verstehen ohne Vergil, John Stuart Mill ohne Platon, Donna Tarrt ohne Euripides und Rattigan ohne Aischylos. Ich bin nicht sicher, ob dies so sein wird. Aber wenn wir die Klassiker von der modernen Welt amputieren sollten, würde dies, glaube ich, mehr bedeuten als einige Universitätsinstitute zu schließen und die lateinische Grammatik auf den Schrotthaufen zu werfen. Es würde blutige Wunden reißen im Zentrum der westlichen Kultur – und zu einer dunklen Zukunft voller Missverständnisse führen. Ich habe Bedenken, diesen Weg zu gehen.

Mit zwei Dingen möchte ich schließen: mit einer etwas nüchternen Bemerkung über Kenntnisse und Kompetenzen und mit einer, die eher etwas feierlicher ist.

Zunächst zu den Kenntnissen: Ich habe mehrmals darauf hingewiesen, dass wir die alten Griechen und Römer zum Sprechen bringen und ihre Schriften und die von ihnen hinterlassenen materiellen Spuren zum Leben erwecken müssen. Unser Dialog mit ihnen ist nicht gleichberechtigt. Wir haben die Kontrolle. Wenn es jedoch ein nützlicher und konstruktiver Dialog werden soll, kein unverständliches und letztlich sinnloses babylonisches Sprachengewirr, dann muss er auf sehr gute Kenntnisse der antiken Welt und der antiken Sprachen gegründet sein. Damit will ich jetzt nicht sagen, dass alle Latein und Griechisch lernen sollten (so wie ich auch nicht sagen will, dass man von Dante nichts hat, wenn man Vergil nicht gelesen hat). Kulturelles Verständnis ist glücklicherweise ein gemeinschaftliches und soziales Unterfangen.

In kultureller Hinsicht ist es wichtig, dass zumindest einige Leute Vergil und Dante gelesen haben. Anders gesagt: Die allgemeine Stärke der humanistischen Bildung sollte man nicht an der genauen Zahl der Jugendlichen messen, die in der Schule oder an der Universität Latein und Griechisch gelernt haben. Sie lässt sich besser an der Frage messen, wie viele Leute davon überzeugt sind, dass es auf der Welt Menschen geben sollte, die Latein und Griechisch können, und wie viele Leute denken, dass solche Kompetenzen ernst genommen werden sollten – und letztlich lohnenswert sind.

Was mich besorgt, ist, dass es zwar noch immer eine enorme und breite Begeisterung für die antike Kultur gibt, die vorhandenen Kenntnisse in dem von mir beschriebenen Sinn aber eher zu wünschen übrig lassen. Christopher Logue konnte kein Griechisch, als er die »Ilias« in Angriff nahm. Er war jedoch sehr gut bekannt mit einem Mann, der es beherrschte – Donald Carne-Ross, der später Professor für Altertumswissenschaften an der Universität von Boston wurde. Wenn man jene Zusammenarbeit damit vergleicht, wie selbst in wichtigen Publikationen in an die Altertumswissenschaften angrenzenden akademischen Fächern (etwa in Kunstgeschichte oder Englisch) verfahren wird, findet man immer wieder von Druckfehlern wimmelndes, konfuses und falsch übersetztes Latein und Griechisch. Ich werfe den Autoren ihre fehlenden Sprachkenntnisse nicht vor; das ist nicht das Problem. Was ich ihnen allerdings vorwerfe, ist, dass sie nicht auf die Idee kommen, sich von jemandem, der kompetent ist, helfen und korrigieren zu lassen. Die vielleicht größte Ironie dabei ist, dass in meiner eigenen Neuausgabe von Rattigans »Browning Version« die für das Stück zentralen griechischen Passagen so viele Druckfehler enthalten, dass sie kaum einen Sinn ergeben. Crock würde sich im Grabe umdrehen. Oder mit meinen Worten: Mit Unsinn kann man keinen Dialog führen.

Enden möchte ich jedoch mit einem nicht ganz so übellaunigen Gedanken. Beim nochmaligen Durchlesen meines Textes habe ich festgestellt, dass ich einen wesentlichen Punkt bei der Beschäftigung mit der antiken Kultur ausgelassen habe: ein angemessenes Gefühl des Staunens. Professionelle Altertumswissenschaftler sind in dieser Hinsicht nicht sehr begabt. Meist wird man sie darüber klagen hören, dass wir über die antike Welt so vieles nicht wissen. Sie jammern, dass so viele Bücher des Livius für uns verloren sind, oder darüber, dass Tacitus nicht von den römischen Armen berichtet. Doch das geht an der Sache vorbei. Wirklich erstaunlich ist das, was wir aus der antiken Welt haben, nicht das, was wir nicht haben. Wenn man es nicht schon wüsste, würde man niemandem Glauben schenken, der behauptet, die von vor 2000 Jahren lebenden Menschen geschriebenen Texte seien in solchen Mengen auf die Nachwelt gekommen, dass kaum jemand in der Lage sei, sie im Laufe seines Lebens zu lesen. Es ist erstaunlich, aber es ist so; und es eröffnet die Möglichkeit zu einer ganz wunderbaren gemeinsamen Erkundungsreise.

Hier lohnt es sich, noch einmal zu Brownings Übersetzung des »Agamemnon« zurückzukehren und einen genaueren Blick auf seine Einleitung zu werfen. »Darf ich«, schreibt er, »am Ende eines etwas mühseligen und vielleicht erfolglosen Abenteuers zur Erholung ein wenig plaudern?« Mühselig? Wahrscheinlich. Erfolglos? Ich denke nicht, trotz des sehr altmodischen Klangs von Brownings Sprache. Abenteuer? Ja, gewiss – und das Abenteuer, die Antike zu entdecken, ist etwas, woran wir alle teilhaben können.

Robert B. Silvers Lecture, New York Public Library, November 2011

IDas antike Griechenland

Was können wir über die ferne prähistorische Vergangenheit des antiken Griechenland wissen? Wie können wir zu jenen frühesten Kulturen des Mittelmeerraums zurückkehren, die Hunderte von Jahren, bevor Perikles den Bau des Parthenons finanziell unterstützte oder Sokrates den Schierlingsbecher trank, in Blüte standen? Bei der Wiederentdeckung der griechischen Prähistorie ist Sir Arthur Evans eine der Schlüsselfiguren. Im Jahr 1899 kaufte er ein Grundstück vor den Toren der kretischen Stadt Heraklion, grub die Überreste eines riesigen, fast bis aufs Jahr 2000 v. Chr. zurückreichenden Palastes aus und baute ihn in der Form, in der wir ihn noch heute besichtigen können, wieder auf. Im Scherz wird dieser scheinbar »prähistorische« Palast manchmal als Kretas erstes Bauwerk aus Stahlbeton bezeichnet.

Im ersten Kapitel dieses Abschnitts werfen wir einen Blick auf Evans’ Funde in Knossos und auf die »minoische Kultur« (der er ihren Namen gab) im Allgemeinen. Wir fragen, wie genau oder wie phantasievoll er den Palast und seine berühmten Gemälde rekonstruiert hat, und befassen uns mit seinen Zielen, Methoden und Motiven, die selbst heute noch Gegenstand heftiger Diskussionen sind. Unterwegs legen wir einen kurzen Halt ein und denken darüber nach, warum Meinungsverschiedenheiten unter Archäologen so häufig in hässliche persönliche Fehden ausarten.

Jene grundlegende Frage, woher wir wissen, was wir über das antike Griechenland zu wissen glauben, durchzieht auf unterschiedliche Weise den Rest dieses Abschnitts. In Kapitel 2 geht es darum, wie wir angesichts der Tatsache, dass so wenige ihrer Werke erhalten sind, die Stimme griechischer Frauen wieder einfangen können. Tatsächlich haben wir etwas mehr Material, als wir oft annehmen (kaum jemand hat beispielsweise von den Dichterinnen Korinna, Nossis oder Melinno gehört; Melinnos – wahrscheinlich im 2. Jahrhundert v. Chr. verfasste – »Hymne auf Rom« können wir noch immer lesen). Aber dennoch ist es nicht viel. Und wenn Texte erhalten sind, ist ihre Bedeutung häufig heftig umstritten. Das gilt vor allem für die Dichtung Sapphos, die im frühen 6. Jahrhundert v. Chr. auf der Insel Lesbos lebte und schrieb. Sie ist bis heute die weitaus berühmteste griechische Dichterin (von einigen Griechen wurde sie sogar als »die zehnte Muse« bezeichnet). Doch worum es in ihrem Werk wirklich geht und insbesondere wie erotisch ihre Zeilen über andere Frauen gemeint waren, ist noch immer strittig. Ihretwegen hat das Wort »lesbisch«, abgeleitet von ihrer Heimatinsel, in der modernen Welt eine sexuelle Bedeutung. Ob sie allerdings in unserem Sinne lesbisch war oder einfach nur ein sehr emotionales Verhältnis zu Freundinnen und Schülerinnen hatte (wie viele zugeknöpfte Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts gern glauben wollten), steht auf einem anderen Blatt.

Unterschiedliche Interpretationsprobleme kommen ins Spiel, wenn wir Thukydides, den griechischen Geschichtsschreiber des 5. Jahrhunderts, oder die Lebensgeschichte Alexanders des Großen betrachten. Thukydides’ Darstellung des großen »Peloponnesischen Krieges« zwischen Athen und Sparta gilt üblicherweise als Meilenstein innerhalb der streng wissenschaftlichen Geschichtsschreibung – und dank seiner manchmal erschreckenden Analyse der antiken Kräfteverhältnisse ist es ein Lieblingswerk von Analytikern der modernen Außenpolitik. Hier geht es, wie Kapitel 3 zeigt, nicht nur darum, ob Thukydides’ Erklärung für die Niederlage Athens zutrifft (war es wirklich so, dass die Athener, wie von Thukydides dargelegt, sich mit dem Überfall auf Sizilien übernahmen? War es falsch von ihnen, die vorsichtigen Strategien ihres großen Generals Perikles aufzugeben, nachdem dieser in den ersten Kriegsjahren gestorben war?). Noch wichtiger ist die Frage, inwieweit wir Thukydides’ außerordentlich schwieriges Griechisch überhaupt verstehen. Wie sich herausstellt, sind einige seiner berühmtesten Bonmots klägliche oder zumindest überoptimistische Fehlübersetzungen, und wir versuchen noch immer, die tatsächliche Bedeutung vieler seiner griechischen Formulierungen herauszufinden. Wir kommen der Sache zwar näher, aber dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass selbst die Grundlagenarbeit der klassischen Altertumswissenschaften noch lange nicht getan ist.

Bei Alexander dem Großen stellt sich das Problem, dass uns sehr viele anschauliche antike Berichte über seine Feldzüge und seinen manchmal extravaganten Lebensstil vorliegen – zugleich aber ist keine der zahlreichen Geschichten und Biographien, die von seinen Zeitgenossen des 4. Jahrhunderts v. Chr. verfasst wurden, auf die Nachwelt gekommen. Stattdessen haben wir nur Darstellungen, die Hunderte von Jahren später geschrieben wurden, allesamt vor dem Hintergrund des römischen Imperialismus. In Kapitel 4 wage ich mich etwas weiter vor (und, wie ich Sie wohl warnen sollte, auf eine etwas provokative Weise), wenn ich dazu auffordere, Alexander den Großen mitnichten als griechischen Heros oder Schlägertypen zu betrachten, sondern als eine römische literarische Schöpfung.

Das Schlusskapitel dieses Abschnitts befasst sich mit einer jener Fragen, auf die es bekanntermaßen keine Antwort gibt: Was brachte die Menschen in der Vergangenheit zum Lachen? Es versucht, einige antike Witze aus dem einzigen erhaltenen antiken Witzebuch wieder zum Leben zu erwecken (aber wer weiß schon, ob wir sie richtig verstanden haben – manche von ihnen erinnern geradezu an den Stil Monty Pythons). Außerdem geht es um die Frage, warum gerade die Stadt Abdera (in Nordgriechenland) so eng assoziiert war mit Leuten, die lachten und verlacht wurden. Wie viele Abderiten brauchte man, um eine Glühbirne auszutauschen …?

1Erbauer von Ruinen

Bezeichnenderweise war Evelyn Waugh von den Überresten des prähistorischen minoischen Palastes in Knossos und dessen berühmten Fresken unbeeindruckt. In »Labels«, seinem Reisebericht aus dem Jahr 1930, schildert er auf denkwürdige Weise seine Enttäuschung. Sie gilt weniger der Ausgrabungsstätte (»wo«, wie er verschmitzt vermerkt, »Sir Arthur Evans […] den Palast wieder aufbaut«) als vielmehr der dort aufgefundenen Sammlung erstklassiger Gemälde und Skulpturen, die man nach Heraklion ins Museum geschafft hatte. Unter den Skulpturen entdeckte er »nichts, was auf irgendein echtes ästhetisches Empfinden hindeutet«. Die Fresken waren weitaus schwerer zu beurteilen, »da nur wenige Quadratzentimeter der uns gezeigten riesigen Ausstellungsfläche älter als zwanzig Jahre sind und man sich des Verdachtes nicht erwehren kann, dass die Maler sich in ihrem Bemühen um genaue Rekonstruktionen durch eine etwas unangemessene Vorliebe für die Cover der Vogue mäßigen ließen«.

Anscheinend war es für Waugh, dessen Besuch kurz nach der Restaurierung der Wandmalereien stattfand, recht einfach zu erkennen, wie wenig minoisch diese Meisterwerke der minoischen Kunst waren. Fast ein Jahrhundert später und nachdem die Gemälde stark verblasst sind, merken die meisten Besucher des Museums von Heraklion glücklicherweise gar nicht, dass die Ikonen der prähistorischen kretischen Kultur, die auf Tausenden von Ansichtskarten, Postern und Museumssouvenirs abgebildet sind (das »Delphin«-Fresko, die »Damen in Blau« oder der »Prinz der Lilien«), nur eine indirekte Verbindung mit dem 2. Jahrtausend v. Chr. haben, da es sich bei ihnen weitgehend um Rekonstruktionen des frühen 20. Jahrhunderts n. Chr. handelt. Auch entgeht es den meisten von ihnen, dass jene unverkennbar primitiven, plumpen roten Säulen, das Markenzeichen von Knossos, ganz aus modernem Beton bestehen und Teil von Evans’ »Wiederaufbau« sind.

1.

Prähistorische Kunst oder ein Cover der Vogue? Der »Prinz der Lilien« gehörte zu Evans’ minoischen Lieblingsgemälden – es ist jedoch eine gepanschte, irreführende Restaurierung.

Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts leitete Arthur Evans die Ausgrabung und Restaurierung des Palastes in Knossos, doch die bekanntesten Entdeckungen wurden überwiegend bei den frühesten Kampagnen zwischen 1900 und 1905 gemacht. Evans, im Jahr 1851 geboren, Sohn eines bekannten Archäologen (der als Papierfabrikant ein Vermögen gemacht hatte), studierte in Oxford Neuere Geschichte. Als er trotz eines erstklassigen Abschlusses kein Forschungsstipendium erhielt, reiste er durch Osteuropa und verband sein Interesse an der Archäologie mit einem Posten als Balkankorrespondent für den Manchester Guardian. Investigativer Journalismus war damals wie heute mit einigen Risiken verbunden, insbesondere auf dem Balkan. In der Herzegowina der Spionage bezichtigt und kurzerhand aus dem gesamten Österreichisch-Ungarischen Reich ausgewiesen, kehrte er nach Oxford zurück, wo er 1884 zum Kurator des Ashmolean Museum of Art and Archaeology ernannt wurde (wobei er diese Position angeblich seinem Vater vor der Nase wegschnappte).

Dies erwies sich als eine Berufung von epochemachender Bedeutung. Trotz aller möglichen Einwände vonseiten Benjamin Jowetts und seinesgleichen machte sich Evans daran, Gelder zu beschaffen, um die Sammlung der gesamten europäischen Archäologie (angefangen mit der Frühgeschichte) für Forschungszwecke zugänglich zu machen. 1894 organisierte er ihren Umzug in neue und größere Räumlichkeiten hinter den University Galleries in der Beaumont Street, wo sie sich noch immer befindet. Seit Mitte der 1890er Jahre konzentrierten sich seine Interessen zunehmend auf die Insel Kreta. Anfangs war Evans den prähistorischen Schriftsystemen auf der Spur, da er zu der Überzeugung gelangt war, dass Kreta den Beweis für eine frühe Alphabetisierung liefern werde – ein Beweis, an dem Heinrich Schliemann mit seinen Ausgrabungen in Mykene eklatant gescheitert war. Mit der Zeit stellte sich jedoch heraus, dass eine bestimmte Vorstellung über die griechische Geschichte auf dem Spiel stand: Evans suchte nach einer Stätte, mit der die Dominanz von Mykene und damit die Version eines machohaften, kriegerischen frühen Griechenland in Frage gestellt werden konnte.

Evans nutzte das Geld seiner Familie, und im Jahr 1899 war es ihm schließlich gelungen, das Gelände Kephala vor den Toren Heraklions zu kaufen. Dort hatten kleinere Ausgrabungen seit langem darauf hingedeutet, dass es sich bei diesem Ort um das prähistorische Knossos handelte, die sagenhafte Stadt des Königs Minos, der Prinzessin Ariadne und des Minotaurus, der im dortigen Labyrinth sein mörderisches Unwesen getrieben hatte. Auch andere hatten schon versucht, diese Stätte an sich zu bringen. Schliemann höchstpersönlich hatte in den 1880er Jahren den halbherzigen Versuch unternommen, sie zu erwerben, wobei er sich damit brüstete, dass er sie mit 100 Männern innerhalb einer Woche ausgraben könne. Letzten Endes aber trug Evans mit seinem Bargeld und beharrlichem Verhandeln mit den verschiedenen Grundstückseigentümern den Sieg davon. Die Ausgrabungen begannen im Jahr 1900, und in wenigen Wochen war der berühmte »Thron« in seinem »Thronsaal« samt einem »Schwimmbecken« (oder »Reinigungsbassin« oder »Fischteich«, ganz nach Belieben) freigelegt, außerdem eine ganze Reihe reizvoller fragmentarisch erhaltener Fresken, die einst die Wände geziert hatten. Bei ihrer Deutung ließ Evans seiner Phantasie sofort freien Lauf. Sobald einige Quadratzentimeter verblasster Gips zum Vorschein kamen, beschäftigte er sich geistig schon mit dessen Restaurierung (handelte es sich um Ariadne? oder vielleicht um einen Mundschenk?). Gleichzeitig gab er den Räumen, die er entdeckte, sinnträchtige Namen: »Halle der Doppeläxte«, »Megaron der Königin« – ursprünglich wohl provisorische Bezeichnungen, die sich aber gehalten haben. All dies trug zu einem eindrucksvollen Bild der von ihm ausgegrabenen Zivilisation (er bezeichnete sie als »minoisch«) bei. Mit der Zeit ließ das Team aus Künstlern und Architekten, das die fragmentarischen Gemälde »komplettierte« und einen großen Teil des Palastes nach Evans’ Angaben wieder aufbaute, diese Kultur eine Evans’ Bild entsprechende Gestalt annehmen.

Diese Vorgehensweise war von Anfang an umstritten. Waugh war nicht der Einzige, der an dem, was er im Museum von Heraklion sah, seine Zweifel hatte Die Exponate ähnelten auf verdächtige Weise wenn nicht den Covern der Vogue, so zumindest der Art déco. Er war auch nicht der Einzige, dem Evans’ Rolle in der Ausgrabungsstätte als »Erbauer von Ruinen« (wie eine französische Zeitung ihn nannte) Unbehagen bereitete. Wie R.G. Collingwood (vgl. S. 325–333) feststellte, war »der erste Eindruck, der sich einem Besucher vermittelt, dass die Architektur von Knossos aus Garagen und öffentlichen Toiletten besteht«. Es gab zahlreiche ähnlich lautende Kommentare.

Es bestand nicht nur das Problem einer »Modernisierung«. Bei diesen aufwendigen Restaurierungen war es – wie sich später herausstellte – auch zu einigen peinlichen Fehlern gekommen. Das bekannteste Beispiel dafür war das Fresko der sogenannten »blauen Affen«. Aus den wenigen Fragmenten hatten Evans’ Künstler ursprünglich das Bild eines zarten Jungen rekonstruiert, der Safranblüten sammelt: ein perfektes Symbol für die sorglosen Menschen mit ihrer unschuldigen Liebe zur Natur, die angeblich in dieser minoischen Welt lebten. Erst viel später, als jemand das seltsame Blau hinterfragte und etwas erkannte, das wie ein Schwanz aussah, wurde das Gemälde noch einmal überarbeitet und zeigt seither einen blauen Affen in einem Krokusfeld. Ein ähnliches Fragezeichen schwebt noch immer über dem »Prinzen der Lilien« (Abb. 1) – eine kraftvolle Umrisszeichnung mit Lendenschurz, einer Halskette aus Lilien und einem aufwendigen, mit Federn und weiteren Lilien verzierten Kopfschmuck. Obwohl man anfangs nicht recht wusste, wie diese Gestalt zu restaurieren sei, kam Evans rasch zu der Überzeugung, dass hier der »Priesterkönig« des minoischen Staates dargestellt war, und er ließ den Kopfschmuck mittels teurer Goldprägung auf den Einband aller seiner der Stätte gewidmeten Publikationen aufbringen. Heute hält man es für sehr unwahrscheinlich, dass die drei erhaltenen Fragmente der Silhouette (Kopfschmuck, Torso und Teile eines Beins) ursprünglich überhaupt zu ein und derselben Person gehörten. Viel eher dürfte der Kopfschmuck, mitnichten die Krone eines Priesterkönigs im Sinne Frazers (vgl. S. 322), das Haupt einer in der Nähe befindlichen Sphinx verziert haben.

Doch weder Kontroversen noch eklatante Irrtümer konnten der Popularität von Evans’ Rekonstruktionen groß schaden. Berühmte Besucher strömten scharenweise nach Knossos (Isadora Duncan soll auf der großen Treppe einen Tanz improvisiert haben). Auch für normale Touristen war der Palast ein Grund, Kreta zu besuchen. In Baedekers Reiseführer Griechenland fand sich in der Ausgabe von 1888 noch kein Eintrag für Kreta, 1904 enthielt er dann 15 Seiten über Knossos und andere Sehenswürdigkeiten. Heute wird die Stätte jährlich von einer Million Menschen besichtigt. Evans’ Bilder führten zudem zu einer bemerkenswerten Rückkopplung mit der Kultur, aus der sie stammten. Die Ästhetik des Palastes mag sich direkt aus der künstlerischen Welt des frühen 20. Jahrhunderts herleiten (Evans verglich ein minoisches Gemäldefragment mit einer Tapete von William Morris), doch im Laufe des Jahrhunderts ließen sich Künstler, Filmemacher und Romanciers (insbesondere Mary Renault) ihrerseits inspirieren von dem, was Evans und sein Team geschaffen hatten. Es gibt nur sehr wenige Filme, die im heroischen Zeitalter Griechenlands spielen und deren Kulissen sich nicht zumindest teilweise aus dem »Palast des Minos« herleiten.

Diese Popularität ist kaum überraschend. Evans tat mehr, als nur einige ziemlich langweilige Ruinen und nichtssagende bemalte Gipsfragmente in Sehenswürdigkeiten zu verwandeln. (Hätte er die Stätte so gelassen, wie sie sich nach seinen Ausgrabungen darbot, würden heute weitaus weniger als eine Million Besucher in Knossos Schlange stehen.) Entscheidend für deren Wirkung war die Tatsache, dass er dem frühen 20. Jahrhundert exakt das damals gewünschte Bild einer primitiven Kultur vermittelte (und damit die zeitgenössische Kunst kommentierte). Die Minoer waren nicht die eher abstoßenden, gewalttätigen Helden von Schliemanns Mykene; noch waren sie das finstere, bösartige Volk, das man aufgrund des Mythos vom Minotauros erwartet hätte. Stattdessen waren sie im Großen und Ganzen friedlich, lebten im Einklang mit der Natur, begeisterten sich für den angemessen robusten (und quasi-religiösen) Sport des Stiersprungs und waren, dem damals aktuellen Trend entsprechend, mit einem erfreulichen Maß an matriarchalischen Anklängen versehen. In seiner Evans-Biographie greift J.A. MacGillivray auf simple populärpsychologische Erklärungen für den Umstand zurück, dass Evans der Muttergottheit in der minoischen Kultur eine so große Bedeutung zuwies: Grund war demnach vor allem das »Vakuum«, das »der Tod seiner Mutter, als er sechs Jahre alt war«, in seinem Leben hinterließ. Ich vermute dagegen, dass dies eher mit damals aktuellen Trends in der Anthropologie und Mythenforschung zusammenhing, so wie auch die Vorstellung vom minoischen »Priesterkönig« stark durch James Frazer beeinflusst war.

Doch wie steht es bei diesen wohldurchdachten Rekonstruktionen mit der Archäologie? Das Paradoxe bei Evans ist, dass man die romantische Deutung der minoischen Kultur, die er in Beton und Farbe neu erfand (und mit der schnellen Feder eines Journalisten publizierte), zwar leicht ins Lächerliche ziehen kann, dass aber die Ausgrabungen vor Ort objektiv und, nach den Standards der Zeit, überaus sorgfältig durchgeführt wurden. Diese Sorgfalt war wohl teilweise, vielleicht auch überwiegend, das Verdienst seines Ausgrabungsassistenten Duncan Mackenzie. Evans hatte zwar über die notwendigen Mittel verfügt, um eine große Parzelle kretischen Landes zu kaufen, aber als er im Jahr 1900 mit der Arbeit in Knossos begann, war er in praktischer Archäologie relativ unerfahren. Der Direktor der British School in Athen gab ihm den Rat, sich von jemandem helfen zu lassen, der sich mit Ausgrabungen auskannte. So stellte er Mackenzie ein, der bereits Ausgrabungen auf der Insel Melos geleitet hatte. Mackenzie war, in den Worten von Colin Renfrew, »einer der Allerersten, die in der Ägäis wissenschaftlich arbeiteten«, und er war ein Fanatiker der akkuraten Dokumentation. Er verfasste eine ganze Reihe von »Tagebüchern« (insgesamt 26), in denen er die Funde von Knossos ausführlich beschrieb und die oftmals die Grundlage für Evans’ später veröffentlichte Berichte bildeten. Auch nutzte er seine auf Melos gemachten Erfahrungen, um Evans bei der Bestimmung der stratigraphischen Schichten der Stätte zu unterstützen, und gelangte so schließlich zu einer gewissen Vorstellung bezüglich der Datierungen der Besiedlungsphasen.

Die relativ hohe Qualität der Arbeit kann jedoch nicht ausschließlich auf Mackenzie zurückgeführt werden. Trotz Evans’ oberflächlicher Begeisterung für die minoische Kultur, trotz seiner Bemühungen, den Namensursprung der mythischen Figuren Minos und Ariadne herauszufinden, und ungeachtet der idealisierenden Bezeichnungen, die er allzu rasch für die frisch ausgegrabenen Räume erfand (»Thronsaal« usw.), haben Evans’ Grabungsberichte und vielbändigen Veröffentlichungen über die Stätte den Test der Zeit außerordentlich gut bestanden. Selbst gemessen an den Standards der modernen Wissenschaftstheorie und -diskussion gibt es nur sehr wenige grobe Interpretationsfehler. So kam Evans, wie Michael Ventris und John Chadwick ein halbes Jahrhundert später zeigen sollten, zu dem falschen Schluss, dass die Schrift Linear B, die auf Hunderten von Tontafeln aus Knossos erhalten ist, keine Form des Griechischen ist (die noch immer verwendeten Namen »Linear A« und »Linear B« für die präalphabetische Schrift des frühen Griechenland sind jedoch ihm zu verdanken). Er war auch im Irrtum, als er seine »minoische« Kultur als die erste Kultur in der prähistorischen Ägäis bezeichnete und die »mykenischen« Paläste des Festlands zu einem untergeordneten Phänomen degradierte. Doch von diesen Irrtümern abgesehen und trotz einer Reihe äußerst feindseliger Angriffe durch wissenschaftliche Kollegen (die prähellenische Archäologie ist kein besonders freundliches Fach), sind Evans’ sonstige Hauptthesen wenn nicht akzeptiert, so doch zumindest noch immer erwägenswert. Und die Fragen, die er aufwarf, bestimmen im Großen und Ganzen weiterhin die Diskussion: Welche Funktion hatten der Palast in Knossos und andere, ähnliche Paläste? Auf welche gesellschaftliche und politische Struktur lassen die Überreste schließen? Was führte zum Ende dieser Kultur? Ganz anders sieht das Schicksal Schliemanns aus: Seine Funde bleiben zwar überaus bedeutsam, doch fast keine seiner Fragen oder Argumente (bezüglich der Chronologie oder Interpretation) haben die etwa 100 Jahre nach seinen Ausgrabungen überlebt. Wer macht sich schon groß Gedanken darüber, ob er einen Blick auf das Antlitz Agamemnons geworfen hat oder nicht?

MacGillivrays Biographie, die sich auf Evans’ Tätigkeit in Knossos konzentriert, gibt sich mit solchen Subtilitäten oder Paradoxien nicht ab, sondern ergeht sich in abfälligen Bemerkungen und Anspielungen. MacGillivray arbeitete selbst einige Jahre in Knossos; so ist es schwierig, nicht zu dem Schluss zu kommen, dass er in diesem Buch teilweise einige alte Rechnungen mit einem Geist aufmacht, dessen Gegenwart dort noch immer stark zu spüren sein dürfte. Evans ist, von außen betrachtet, als Schurke nicht besonders glaubhaft, und die Taktik, die MacGillivray einschlagen muss, um ihn als einen solchen hinzustellen, nimmt im Verlauf des Buches immer verzweifeltere Formen an: Man füge in jeden Satz ein pejoratives Adjektiv ein; man unterstelle Evans niemals ein ehrenhaftes Motiv, wenn es auch ein übles geben könnte. So wird Evans beispielsweise als »mittelmäßiger« Journalist bezeichnet, obwohl alles darauf hindeutet, dass seine Berichte aus Bosnien-Herzegowina scharfsinnig und einflussreich waren. Sein Universitätsabschluss wird als »eine ›Eins‹ kaum verdienend« beiseitegeschoben und den Prüfern Korruption unterstellt – hier greift MacGillivray eine Bemerkung aus einem der Nachrufe auf Evans auf und strapaziert sie bis aufs Äußerste. Evans’ Großzügigkeit gegenüber dem jungen Mortimer Wheeler, dessen mageres Stipendium von 50 Pfund er aus eigener Tasche verdoppelte, wird groteskerweise als »schlichte Befolgung des 3. und 9. Pfadfindergesetzes« abgetan (was, worum es sich dabei auch immer handeln mag, nicht stimmen kann). Und seine Begeisterung für die minoische Kultur wird beharrlich gleichgesetzt mit Rassismus, Ariertum und Blindheit für den Einfluss der afrikanischen und semitischen Kultur, obwohl Evans bis heute unter anderem immer dafür kritisiert wird, dass er zu sehr nach ägyptischem Einfluss in Kreta suchte – zweifellos deswegen ließ ihn Martin Bernal in »Black Athena« relativ glimpflich davonkommen. Eine der seltsamsten Behauptungen in dieser endlosen Aufzählung von »Fehlern« besagt, dass Evans »kaum größer war als vier Fuß«, eine Aussage, die durch die Fotos, die das Buch illustrieren, eindeutig widerlegt wird (es sei denn, dass seine archäologischen Kollegen ähnlich kleinwüchsig waren oder dass er auf einer sehr trügerischen Kameraperspektive bestand).

Unvermeidbar ist, dass auch dem Sex eine Statistenrolle zugewiesen wird. Evans war nur kurz verheiratet, seine Frau Margaret verstarb im Jahr 1893 an Tuberkulose; sie hatten keine Kinder. 1924, im Alter von 73 Jahren, erhielt er eine Geldstrafe wegen eines – mit einem jungen Mann begangenen – »Verstoßes gegen die guten Sitten im Hyde Park«. MacGillivray macht daraus eine große Sache, widmet einige Argwohn erregende Seiten der Analyse von Evans’ Rolle bei den Pfadfindern und deutet sogar an, dass er mit einem höchst auffälligen Akt der Großzügigkeit just diese Verurteilung vertuschen wollte. Denn am Tag der Gerichtsverhandlung wurde bekanntgegeben, dass er Knossos der British School in Athen zum Geschenk gemacht habe. Sicherlich war dies ein mehr als willkommenes zeitliches Zusammentreffen. Doch die Annahme, dass diese Schenkung eine »Sensation« gewesen sei oder das Hauptmotiv darin bestanden habe, vom Prozess abzulenken, ist schlichtweg falsch. Wie Joan Evans (die Kunstgeschichtlerin und mehr als 40 Jahre jüngere Halbschwester Arthurs) in ihrer Familienchronik »Time and Chance« klarstellt, war die Schenkung spätestens seit 1922 aktiv vorbereitet worden. MacGillivray nimmt sich nicht die Zeit, die feine Ironie in diesem elegant geschriebenen Bericht über Evans’ Familie wahrzunehmen, der 1943