24,99 €
Der New York Times-Bestseller von Mary Beard über die römischen Kaiser - von Augustus bis Caligula, von Nero bis Vespasian. Nach ihrem Bestseller »SPQR«, in dem über den Senat und das Volk von Rom schreibt, erzählt die »berühmteste Althistorikerin der Welt« (The Guardian) nun über Leben, Herrschaft und Alltag der Kaiser. Sie zeigt, was es wirklich hieß, Kaiser von Rom zu sein, jenseits der wilden Geschichten über Intrigen, Orgien und Wahnsinn. Sie malt ein farbiges Bild der Kaiserzeit, voll mit dem prallen Leben. Sie schildert, wie Augustus, Nero oder Caligula die Regierungsgeschäfte führten, stellt ihren Alltag im Palatin, dem römischen Kaiserpalast, dar, ihre Aufgaben und ihr Verhältnis zum Volk. Sie macht uns mit den Ehefrauen und Geliebten des Kaisers bekannt, auch mit den Müttern wie Neros Mutter Agrippina, mit den Rivalen des Imperators, seinen Sekretären, Buchhaltern und Hofnarren bis hin zum Schuhputzer und Serviettenhalter. Wir erfahren, was der Kaiser speiste, wie er reiste, mit wem er schlief, wovor er am meisten Angst hatte. Und sie zeigt, was die einfachen Leute im Kaiser sahen, was das römische Volk von ihm erwartete. Er war nicht nur die Verkörperung ihrer Ängste, die sich in den Mythen über die grausamen Herrscher Roms widerspiegeln. Sie wandten sich an ihn in der Not und bei Konflikten und sahen in ihm den weisen Richter, der ihre Probleme löste. Mit Humor und Scharfsinn schreibt Mary Beard über die Kunst des Regierens, über Autokratie und Korruption – und revolutioniert nebenbei unser Bild von Herrschern und Beherrschten im Römischen Reich. Mit 126 zum Teil farbigen Abbildungen
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 730
Mary Beard
Herrscher über Volk und Reich
Nach ihrem Bestseller »SPQR« über Volk und Senat erzählt Mary Beard über Leben und Herrschaft der Kaiser von Rom. Sie zeigt, was es wirklich hieß, Kaiser von Rom zu sein, jenseits der wilden Geschichten über Intrigen, Orgien und Wahnsinn. Sie schildert, wie Augustus, Nero oder Caligula die Regierungsgeschäfte führten, stellt ihren Alltag dar, ihre Aufgaben und ihr Verhältnis zum Volk. Sie macht uns mit den Ehefrauen und Geliebten des Kaisers bekannt, mit seinen Rivalen, Buchhaltern und Hofnarren. Und sie zeigt, was die einfachen Leute im Kaiser sahen: die Verkörperung all ihrer Sehnsüchte, Ängste und Wünsche, doch ebenso den weisen Richter, der ihre Probleme löste. Mit Humor und Scharfsinn schreibt Mary Beard über die Kunst des Regierens, über Autokratie und Korruption – und revolutioniert nebenbei unser Bild von Herrschern und Beherrschten im Römischen Reich.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Mary Beard, geboren 1955, lehrt an der Cambridge University Alte Geschichte. Der »Guardian« bezeichnete sie 2023 als berühmteste Althistorikerin der Welt. Immer wieder schaltet sich auch in aktuelle Debatten ein, wie 2017 mit ihrem internationalen Bestseller »Frauen und Macht« (S. FISCHER 2018). Sie ist Herausgeberin des Bereichs Altertumswissenschaften für das »Times Literary Supplement« sowie Autorin und Moderatorin der berühmten BBC-Serie ›Meet the Romans‹. Für ihre Bücher wurde sie mehrfach ausgezeichnet. »Emperor of Rome« war 2023 »Sunday Times«- und »New York Times«-Bestseller 2023 und gehörte zu den 25 »Best History Books of the Year« der »Sunday Times«.
Die Hauptakteure
Karten
Willkommen …
Prolog Ein Gastmahl mit Elagabal
Der tödliche Gastgeber
Bilder der Autokratie, damals und heute
Eine Geschichte von Kaisern
Ein Arbeitsleben
Kaiserliche Texte und Spuren
Welche Kaiser?
Die Welt der Kaiser
Kapitel 1 Ein-Mann-Herrschaft: Die Grundlagen
Die Tätigkeitsbeschreibung des Kaisers
Die republikanische Gewaltenteilung und die Anfänge des Imperiums
Vorgänger des autokratischen Regimes
Des Kaisers neue Kleider
Meine Taten
Was der Kaiser nicht gesagt hat
Kaiser versus Senatoren?
Die andere Seite der Geschichte
Kapitel 2 Wer ist der Nächste? Die Kunst der Nachfolge
Erben des Augustus
Wege an die Spitze
Eine Kultur des Misstrauens
Eine von den Siegern geschriebene Geschichte
Die Kunst der Anpassung: Die Vergangenheit des Plinius
Ein Gastmahl mit Nerva
Kapitel 3 Herrschaftliches Speisen
Ein schwarzes Abendessen
Wo die Römer aßen
Gastmahl im Palast
Anders essen?
Was stand auf der Speisekarte?
Das Personal
Ein Theater der Macht
Tod durch Essen
Gute und schlechte Gastgeber
Die Höhle Polyphems
Kapitel 4 Im Inneren des Palastes
Caligulas großspurige Pläne
Häuser und Gärten
Was geschah wo?
Ein Haus auf dem Palatin
Menschenwürdig leben
Was geschah auf dem Hügel?
Die Kunst der Rekonstruktion
Hadrians Welt
Kapitel 5 Menschen im Palast: Der Kaiser und sein Hof
Der Vater des Claudius Etruscus
Hofkultur
Eine Sklavengesellschaft
Stolz und Vorurteil
Im Bett mit dem Kaiser
Ehefrauen und Mütter
Frauen und Macht?
Der Kaiser aus Fleisch und Blut
Aus der Sicht des Kaisers
Kapitel 6 Bei der Arbeit
Zum Beispiel ein Brief
Die Verantwortung des Kaisers
Wer schrieb was?
Des Kaisers neue Feder
Von unten nach oben
Plinius bricht die Regeln
Die Initiative ergreifen
Claudius auf dem Rednerpodest
Die Revolution des Bürgerrechtes
Brutto und netto
Der reichste Mann der Welt
Cashflow
Harte Arbeit?
Kapitel 7 Auszeit?
Die Spiele des Volkes
Der beste Platz
Lampenfieber
Ein Tag bei den Rennen
Hohe Einsätze
Im Theater
Die Jagd nach Knaben
Kapitel 8 Kaiser im Ausland
Eine singende Statue
Hadrian auf Reisen
Schlechtes kaiserliches Benehmen?
Versorgung und Überleben
Die Kaiser im Krieg
Sieg!
Einer der Jungs
Probleme bei den Triumphzügen
Kapitel 9 Von Angesicht zu Angesicht
Aus nächster Nähe
Bilder der Macht
Die Revolution in der Bildhauerei
Gegenüberstellung
Was war mit den Frauen?
Variationen über ein Thema
Bildniskriege
Kaiser im Spiegel
Kapitel 10 »Ich glaube, ich werde ein Gott«
Die Himmelstreppe
Letzte Riten
Befreie den Adler!
Wann ist ein Gott kein Gott?
Das unlösbare Rätsel
Berühmte letzte Worte
Epilog Das Ende einer Ära
Warum dieser Endpunkt?
Das Blut der Märtyrer
Resümee
Die Namen der Kaiser
Weiterführende Literatur
Allgemeiner Überblick
Besichtigungsstätten
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Epilog
Chronologische Übersicht
Dank
Bildnachweise
Farbbildteil
Schwarzweißabbildungen
Register
Tafelteil
JULIUS CAESAR Nach seinem Sieg über Pompeius den Großen 48 v. Chr. Diktator von Rom. Ermordet 44 v. Chr.
AUGUSTUS (Octavian) Adoptivsohn des Julius Caesar. Nach seinem Sieg über Marcus Antonius und Kleopatra im Jahr 31 v. Chr. bis 14 n. Chr. Alleinherrscher in Rom. Dritte Ehefrau LIVIA.
TIBERIUS Leiblicher Sohn der Livia und Adoptivsohn des Augustus, reg. 14–37. Gerüchten zufolge hatte Caligula bei seinem Tod nachgeholfen.
CALIGULA (Gaius) Urenkel des Augustus, reg. 37–41. Von Angehörigen seiner Garde ermordet.
CLAUDIUS Neffe des Tiberius, reg. 41–54. Dritte Ehefrau MESSALINA, vierte Ehefrau AGRIPPINA (die Jüngere), von der er angeblich umgebracht wurde.
NERO Leiblicher Sohn der Agrippina, Adoptivsohn des Claudius, reg. 54–68. Nach Erhebungen des Militärs zum Selbstmord gezwungen.
Drei Kaiser, die jeweils nur einige Monate regierten:
GALBA, OTHO und VITELLIUS
VESPASIAN Sieger im Bürgerkrieg, reg. 69–79.
TITUS Leiblicher Sohn Vespasians, reg. 79–81. Angeblich war Domitian an seinem Tod beteiligt.
DOMITIAN Leiblicher Sohn Vespasians, reg. 81–96. Bei einer Palastverschwörung ermordet.
NERVA Vom Senat bestimmt, reg. 96–98.
TRAJAN Aus Spanien stammender Adoptivsohn Nervas, reg. 98–117. Ehefrau PLOTINA.
HADRIAN Aus Spanien stammender Adoptivsohn Trajans, reg. 117–138. Ehefrau SABINA.
ANTONINUS PIUS Adoptivsohn Hadrians, reg. 138–161. Ehefrau FAUSTINA (die Ältere).
MARCUS AURELIUS (MARK AUREL) Adoptivsohn des Antoninus Pius, reg. 161–180. Ehefrau FAUSTINA (die Jüngere).
LUCIUS VERUS Adoptivsohn des Antoninus Pius. Herrschte 161–169 zusammen mit Marcus Aurelius. Starb an der Pest (Gerüchten zufolge wurde er jedoch von seiner Schwiegermutter vergiftet).
COMMODUS Leiblicher Sohn des Marcus Aurelius und der Faustina, reg. 180–192 (und schon ab 177 zusammen mit seinem Vater). Bei einer Palastverschwörung ermordet.
Vier Kaiser oder Usurpatoren, die nur kurz regierten: PERTINAX, DIDIUS JULIANUS, CLODIUS ALBINUS, PESCENNIUS NIGER
SEPTIMIUS SEVERUS Aus Nordafrika stammender Sieger im Bürgerkrieg, reg. 193–211. Zweite Ehefrau JULIA DOMNA, eine Syrerin.
CARACALLA Leiblicher Sohn des Septimius Severus und der Julia Domna, reg. 211–217 (vorher zusammen mit Septimius und Geta). Auf einem Feldzug ermordet.
GETA Leiblicher Sohn des Septimius Severus und der Julia Domna, reg. 209–211 zusammen mit seinem Vater und Bruder. Auf Befehl Caracallas umgebracht.
MACRINUS Römischer Ritter, übernahm nach Caracallas Ermordung die Macht, reg. 217–218. Von Anhängern des Elagabal gestürzt.
ELAGABAL Aus Syrien stammender Großneffe der Julia Domna, reg. 218–222. Von Angehörigen seiner Garde erschlagen.
ALEXANDER SEVERUS Aus Syrien stammender Vetter und Adoptivsohn des Elagabal, reg. 222–235. Auf einem Feldzug ermordet.
… in der Welt der römischen Kaiser. Manche, wie etwa Caligula und Nero, stehen auch heute noch für Exzesse, Grausamkeit und Sadismus. Einige, wie der »Philosophenkaiser« Marcus Aurelius (Mark Aurel), genießen einen besseren Ruf, und seine Selbstbetrachtungen sind noch immer ein Bestseller. Wieder andere sind selbst unter Fachleuten fast unbekannt. Wem ist heute schon der Name Didius Julianus geläufig, der sich im Jahr 193 n. Chr., als die kaiserliche Garde das Reich an den Meistbietenden versteigerte, für ein paar Wochen seinen Platz auf dem Thron gekauft haben soll?
Die Kaiser von Rom befasst sich mit Fakten und Fiktionen und fragt, was diese Herrscher der antiken römischen Welt taten, weshalb sie es taten und warum ihre Geschichten auf eine so außergewöhnliche, manchmal reißerische Weise erzählt wurden. Dabei geht es um die großen Fragen von Macht, Korruption und Verschwörung, aber auch um ihre Alltagsgepflogenheiten. Was und wo haben sie gegessen? Mit wem haben sie geschlafen? Wie sind sie gereist?
Im Laufe des Buches werden wir viele Leute kennenlernen, die selbst keine Kaiser waren und dies auch nicht anstrebten, die jedoch das imperiale System erst ermöglichten: umsichtige Aristokraten, versklavte Köche, fleißige Sekretäre, Hofnarren – sogar einen Arzt, der einen jungen Prinzen wegen seiner Mandelentzündung behandelte. Und wir werden zahlreichen Männern und Frauen begegnen, die sich mit ihren großen und kleinen Problemen an den Mann an der Spitze wandten – von verlorenen Erbschaften bis hin zu einem Nachttopf, der mit fatalen Folgen aus einem oberen Stockwerk aus dem Fenster gefallen war.
Meine Hauptprotagonisten sind allerdings die fast dreißig Kaiser samt Partnerinnen, die – angefangen mit Julius Caesar (ermordet 44 v. Chr.) bis Alexander Severus (ermordet 235 n. Chr.) – knapp drei Jahrhunderte lang das Römische Reich regierten. Sie spielten in meinem früheren Buch, SPQR, nur eine relativ geringe Rolle. Darin wurde die über tausendjährige Geschichte der Entwicklung Roms vom 8. Jahrhundert v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. nacherzählt, und für die Beschränkung auf diesen Zeitraum gab es einen sehr guten Grund. Denn nachdem sich das System der Alleinherrschaft unter dem ersten Kaiser Augustus in der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. endgültig etabliert hatte, sollte sich in den nächsten zweihundertfünfzig Jahre nicht viel verändern: Das Römische Reich wurde kaum größer; es wurde auf die mehr oder weniger gleiche Weise verwaltet; und das politische Leben in Rom folgte im Großen und Ganzen demselben Muster. Im vorliegenden Buch möchte ich nun die Kaiser wieder ins Rampenlicht rücken. Dabei werde ich ihre jeweiligen Biographien nicht der Reihe nach durchgehen und mich bei Männern wie Didius Julianus nur mit einem kurzen Hinweis begnügen.[1] Stattdessen werde ich untersuchen, was es bedeutete, römischer Kaiser zu sein, und einige grundsätzliche Fragen stellen. Ich möchte herausfinden, wie sie das riesige Gebiet, das sie theoretisch kontrollierten, tatsächlich regierten, wie ihre Untertanen mit ihnen interagierten und ob wir uns eine Vorstellung davon machen können, was es hieß, auf dem Thron zu sitzen.
In Die Kaiser von Rom begegnen uns längst nicht so viele Psychopathen, wie man aufgrund der Spielfilme über das kaiserliche Rom vielleicht erwarten würde. Damit soll aber nicht geleugnet werden, dass die römische Welt nach unseren Maßstäben ein fast unvorstellbar grausamer Ort vorzeitigen Sterbens war. Wenn man einmal von den Hunderttausenden unschuldigen Opfern von Seuchen, überflüssigen Kriegen oder zusammenbrechenden Sportstadien absieht, war Mord die Ultima Ratio, um politische und sonstige Konflikte beizulegen. Die »Korridore der Macht« waren wie auch viele andere, bescheidenere Korridore in Rom stets blutbefleckt. Doch das Römische Reich hätte als System nicht überleben können, wenn es von einer Reihe geistesgestörter Autokraten regiert worden wäre. Ich interessiere mich deshalb mehr dafür, wie diese Geschichten über den kaiserlichen Wahnsinn entstanden sind und wie die Reichsgeschäfte tatsächlich geführt wurden. Dabei gilt mein Interesse auch den Befürchtungen der Römer, dass die Kaiserherrschaft (damit, dass sie blutig war, rechneten sie sowieso) eine seltsame und beunruhigende Dystopie sein könnte, die auf Täuschung und Betrug beruhte.
Keine Herrschaft fängt diese Befürchtungen einer Dystopie besser ein als die des gelegentlich wiederbelebten, aber meist halbvergessenen Elagabal. Mit ihm beginnt unser Buch.
Mary Beard, Cambridge, Dezember 2022
[1]
Natürlich erwarte ich nicht, dass die Leser auch nur den Namen jedes einzelnen Herrschers im Kopf behalten. Das kann niemand, daher habe ich hier die vollständige Liste aller Kaiser angegeben.
Elagabal war ein syrischer Teenager, der von 218 bis zu seiner Ermordung nur vier Jahre später Kaiser von Rom war – und ein denkwürdig extravaganter, einfallsreicher und gelegentlich sadistischer Gastgeber.[1] Die von ihm kredenzten Menüs waren, wie antike Autoren berichten, durchaus originell. Manchmal hatten alle Speisen dieselbe Farbe, etwa grün oder blau. Bei anderen Gelegenheiten wurden Delikatessen aufgetischt, die selbst nach gehobenen römischen Standards exotisch waren – oder bloß ekelerregend, wie Kamelfersen oder Flamingohirne, während für seine Hunde Foie gras serviert wurde. Mitunter frönte Elagabal seinem bösartigen oder auch jugendlichen Sinn für Humor, indem er seine Tischgenossen nach »thematischen« Gesichtspunkten auswählte: acht kahlköpfige Männer, acht, die nur ein Auge hatten oder einen Leistenbruch, oder acht sehr fette Männer, die gemeines Gelächter hervorriefen, weil sie nicht zusammen auf ein Speisesofa passten.
Zu seinen anderen Partystreichen gehörten Furzkissen (die ersten, die in der westlichen Kultur bezeugt sind), aus denen die Luft entwich, bis die Gäste auf dem Boden landeten, oder gefakte Lebensmittel aus Wachs oder Glas für die unbedeutendsten Bankettteilnehmer, die mit knurrendem Magen den ganzen Abend zusehen mussten, wie ihre angeseheneren Tischgenossen die echten Speisen verzehrten. Mitunter wurden zahme Löwen, Leoparden und Bären auf die Zecher losgelassen, wenn diese nach den Exzessen der vergangenen Nacht ihren Rausch ausschliefen. Manche von ihnen erschreckten sich beim Aufwachen so sehr, dass sie nicht an einem Biss, sondern an ihrer Panik starben. Ebenso tödlich war ein anderer Gag, der im 19. Jahrhundert die Phantasie des Malers Lawrence Alma-Tadema beflügelte: Angeblich überschüttete Elagabal seine Gäste einmal mit einer solchen Unmenge von Blütenblättern, dass sie unter ihnen begraben wurden und erstickten (Bildteil Abb. 1).
Die charakterlichen Mängel des Kaisers beschränkten sich indes nicht auf fragwürdige Gastgeberallüren. Er hatte sich offenbar so sehr der Extravaganz verschrieben, dass er dasselbe Paar Schuhe niemals ein zweites Mal trug (was auf frappierende Weise an Imelda Marcos, die frühere First Lady der Philippinen, erinnert, die angeblich mehr als dreitausend Paar Schuhe in ihren Schränken gehortet hatte). Und mit so perverser wie kostspieliger Bravour ließ er in seinen Sommergärten Berge von Schnee und Eis anhäufen, wohingegen er Fisch nur zu essen pflegte, wenn er viele Kilometer vom Meer entfernt war. Außerdem soll er die religiösen Anstandsregeln verletzt haben, indem er eine Vestalin heiratete, eine jener ehrwürdigsten römischen Priesterinnen, die unter Androhung der Todesstrafe zur Jungfräulichkeit verpflichtet waren. Ein weiteres religiöses Sakrileg, das er begangen haben soll, stellte eine äußerst zersetzende, wenn auch kurzlebige Revolution dar – er habe, so heißt es, Jupiter als Hauptgott Roms durch Elagabal ersetzt, den Gott seiner Heimatstadt Emesa (das heutige Homs in Syrien), auf den der Name zurückgeht, unter dem der Kaiser heute allgemein bekannt ist (griffiger als »Marcus Aurelius Antoninus«, wie einer seiner offiziellen Namen lautete). Auch die traditionellen Geschlechter- und Gendernormen ließ er nicht unangetastet: Mehrere Anekdoten befassen sich mit seinem Crossdressing und seinem Make-up, sogar der Versuch einer chirurgischen Geschlechtsumwandlung wird ihm nachgesagt. Wie der zeitgenössische Schriftsteller Cassius Dio behauptete, Autor einer umfangreichen achtzigbändigen Geschichte Roms von den Anfängen bis ins 3. Jahrhundert n. Chr., verlangte Elagabal von den Ärzten, »sie möchten ihm mit Hilfe eines Einschnittes eine Gebärmutter einsetzen«.[2] In unseren Tagen wird er manchmal als Transgender-Pionier gefeiert, der die starren binären Stereotype radikal hinterfragte. Die meisten Römer haben wohl eher gedacht, dass er ihre Welt völlig auf den Kopf stellte.
1 Eine marmorne Porträtbüste des Elagabal. Mit seinen langen Koteletten und der Andeutung eines Schnurrbartes wirkt der jugendliche Kaiser, ein Teenager, kaum wie das Ungeheuer, als das er in den literarischen Berichten über seine Herrschaft erscheint.
Antike Berichte über seine Herrschaft widmen sich Seite für Seite der rätselhaften Exzentrik des Kaisers, seinem irritierenden Hang zur Subversion und seinen abscheulichen Grausamkeiten, einschließlich der – auf manchen Listen ganz oben stehenden – Opferung von Kindern. Diese und ähnliche Erzählungen sind eines der Themen in diesem Buch. Woher stammen sie? Wie gut waren sie den gewöhnlichen Einwohnern des Römischen Reiches bekannt? Wer nahm Anstoß an Elagabals Banketten und warum? Und was können uns diese Geschichten, ob wahr oder nicht, über die römischen Kaiser oder über die Römer im Allgemeinen sagen?
Elagabal – in anderer Schreibweise »Heliogabal« – ist für viele kaum ein Begriff, wenngleich die ihm zugeschriebenen Untaten (vielleicht verzweifelte Versuche, die Beschränkungen der römischen Konvention zu durchbrechen) nicht nur Alma-Tadema, sondern auch andere moderne Schriftsteller, Aktivisten und Künstler inspirierten, von Edgar Allan Poe und Neil Gaiman bis hin zu Anselm Kiefer. Seine Verbrechen und Vergehen stellen frühere und besser bekannte römische Schurkenkaiser und deren vermeintliche Schandtaten deutlich in den Schatten: Nero schlug die Leier, während die Stadt Rom in Flammen aufging; Domitian vertrieb sich die Langeweile, indem er mit seiner Schreibfeder Fliegen aufspießte; und am Ende des 2. Jahrhunderts beschoss Commodus, der Antiheld des Hollywood-Films Gladiator, die Zuschauer im Kolosseum mit Pfeil und Bogen. Die Horrorgeschichten über Elagabal sind jedoch schlimmer. Wie ernst sollten wir sie nehmen?
»Nicht so ernst«, lautet die übliche Antwort. Selbst Elagabals anonymer römischer Biograph, der fast zwei Jahrhunderte nach dem Tod des Kaisers schrieb – er ist auch die Quelle für die meisten reißerischen Details über Elagabals Partystreiche und Speisemarotten – räumte ein, dass einige der von ihm überlieferten Anekdoten unglaubhaft und höchstwahrscheinlich erfunden seien, ausgeheckt von denen, die sich nach der Ermordung des Kaisers bei seinem Rivalen und Thronnachfolger beliebt machen wollten. Gewissenhafte moderne Historiker haben diese fragwürdigen Geschichten sehr sorgfältig untersucht. Sie versuchen, zwischen Fiktion und Fakten zu unterscheiden, indem sie gelegentlich eine einzelne Information herausgreifen, für die es anderswo eine unabhängige Bestätigung zu geben scheint (die Tatsache zum Beispiel, dass der Name der Vestalin auf Münzen aus der Zeit Elagabals erscheint, verweist auf eine Verbindung zwischen den beiden, wenn auch nicht auf eine Ehe). Dennoch bleibt häufig nicht viel mehr an sicheren Befunden übrig als die Herrschaftsdaten und ein paar andere dürre Fakten. Gleichzeitig warnen diese Historiker mit Recht, dass relativ harmlose Aktivitäten durch Vorurteile verzerrt gedeutet werden könnten. So hängt es weitgehend von der generellen Einstellung gegenüber dem Kaiser ab, ob die farblich kodierten Bankette als verachtenswerter, selbstgefälliger Luxus oder – was ebenfalls möglich wäre – als köstlichste und raffinierteste Form der Haute Cuisine angesehen werden. Der springende Punkt ist jedoch Elagabals Alter. Er war gerade einmal vierzehn Jahre alt, als er auf den Thron kam, und achtzehn, als er ermordet wurde. Furzkissen, schon möglich; kalkulierte Religionspolitik, wohl kaum.
Eine seriöse Geschichtswissenschaft beschränkt sich indes nicht auf bloße Fakten. Ich möchte aus verschiedenen Blickwinkeln ein Licht auf die römischen Kaiser werfen – seien es gütige ältere Staatsmänner oder jugendliche Tyrannen, Möchtegernphilosophen oder Hobbygladiatoren, seien sie berühmt oder vergessen – und mich mit grundsätzlichen Fragen befassen, etwa der, warum so viele von ihnen durch den Dolch eines Mörders (wie Elagabal) oder vergiftete Pilze ums Leben kamen. Bei einer solchen Untersuchung müssen antike Übertreibungen, Erfindungen und Lügen eine wichtige Rolle spielen. Zu dem Instrumentarium, mit dem sich die Menschen ein Bild von ihren Herrschern machten, sie beurteilten, über die Macht eines Autokraten diskutierten oder den Abstand zwischen »ihnen« und »uns« markierten, gehörten stets Phantasie, Klatsch, Verleumdung und urbane Mythen.
Bei den Geschichten über Imelda Marcos’ dreitausend Paar Schuhe etwa (von denen verdächtigerweise nur eine deutlich geringere Zahl gefunden wurde) geht es mehr darum, eine Welt unvorstellbarer und sinnloser Privilegien anzuprangern, als die Leidenschaft einer reichen Frau für Schuhwerk zu dokumentieren. In bescheidenerem Maße dienen uns die Anekdoten über die verwöhnten Corgis von Königin Elizabeth II. – angeblich fraßen sie ihr Hundefutter aus massiven Silberschalen – als Aufhänger, um den Unterschied zwischen einem »königlichen« Leben und unserem eigenen im Alltag zu verdeutlichen, während sie uns gleichzeitig ermöglichen, einen harmlosen Scherz über den törichten Geltungskonsum im Palast zu machen.
Die unglaubwürdigen Geschichten, die in den antiken Beschreibungen von Elagabals Herrschaft immer wieder auftauchen, gehören, unabhängig von ihrem Ursprung, zu unseren wertvollsten Quellen, die darüber Auskunft geben, wie die Römer sich den denkbar schlimmsten Kaiser vorstellten. Diese Unwahrheiten und eklatanten Übertreibungen wirken fast wie eine Lupe, die das, was an einem »schlechten« römischen Kaiser als »schlecht« erschien, in den Fokus nimmt und stark vergrößert. Manches mag allzu vorhersehbar sein: die Grausamkeiten und Demütigungen (von den Kinderopfern bis zu den unglücklichen fetten Männern, die man auf ein einziges Speisesofa zu quetschen versuchte) oder der sinnlose Luxus (Elagabals Hunde labten sich an leckerer Foie gras, wenn sie diese auch nicht aus silbernen Schüsseln fraßen). Doch in den anscheinend absurden Anekdoten über die exzentrischen Eigenheiten des Kaisers verbergen sich noch ganz andere, nicht weniger abstoßende Schrecken der Autokratie.
Dazu gehört der Terror der grenzenlosen Macht. Die kuriosen Anekdoten über Elagabals Marotten (dass er seine Sommergärten mit Eis und Schnee schmückte und Fisch nur zu verzehren pflegte, wenn er vom Meer weit entfernt war, oder dass er, wie es in einer anderen Geschichte heißt, nachts lebte und arbeitete und tagsüber schlief) verweisen auf mehr als auf seine schrullige und kostspielige Maßlosigkeit (das »Der-Mann-der-alles-hat«-Syndrom). Sie werfen die Frage auf, wo die Macht des Kaisers endet, und zeigen ihn als einen Herrscher, der selbst die Natur seinem Willen unterwerfen will, indem er die natürliche Ordnung der Dinge durchbricht (Eis im Sommer?), Zeit und Raum neu anordnet und sogar das biologische Geschlecht wechselt, ganz wie es ihm beliebt. Elagabal war nicht der Erste, der solche Befürchtungen weckte. Zweihundertfünfzig Jahre zuvor hatte einer der Kritiker Julius Caesars – der republikanische Politiker und geistreiche Philosoph Marcus Tullius Cicero – düster gescherzt, dieser habe sogar die Sterne am Himmel gezwungen, ihm zu gehorchen.
Doch die Macht über die Natur war nur ein Aspekt von Elagabals dystopischer Welt. Sie war ein Albtraum von Täuschungen, in dem Wahrheit und Unwahrheit immer wieder auf den Kopf gestellt und durcheinandergewirbelt wurden. Nichts war so, wie es schien. So erwies sich die spektakuläre Großzügigkeit des Kaisers als todbringend – seine Freundlichkeit konnte buchstäblich das Leben kosten (das ist eine Botschaft der extravaganten Dusche mit den Rosenblättern). Und bei den Banketten im Palast entpuppten sich die appetitlichen Speisen auf den Tellern der Gäste am unteren Ende der Rangordnung als kunstvolle, aber ungenießbare Repliken. Umgekehrt konnte Fingiertes real werden. Wie Elagabals Biograph in einer Nebenbemerkung behauptet, soll der Kaiser, als auf der Bühne ein Ehebruch dargestellt wurde, darauf bestanden haben, ihn »in echt« vollziehen zu lassen. Zweifellos wäre die Show durch den Livesex pikanter geworden. Doch hinter all dem stand die beunruhigende Logik, dass der Kaiser Fakten und Fiktion auf den Kopf stellte und eine chaotische Welt erschuf, in der niemand wissen konnte, wer oder was nur Teil eines Theaterspiels war. In einer korrupten Autokratie war alles Lug und Trug. Oder wie es wiederum sein römischer Biograph auf den Punkt brachte: Elagabals Leben war so falsch wie sein Name.
Das Vergrößerungsglas, als das uns diese Geschichten dienen, hilft uns, die mit der Kaiserherrschaft in Rom verbundenen Ängste deutlich zu erkennen. Es ging nicht nur um die Macht zu töten. Die Macht des Kaisers machte vor nichts halt. Sie vernebelte die Sinne und gedieh in einem unheilvollen Chaos.
Auf den folgenden Seiten werde ich von Zeit zu Zeit auf Elagabal zurückkommen, nicht zuletzt um zu erklären, wie ein syrischer Teenager auf den Kaiserthron gelangen konnte (eine römische Antwort konzentrierte sich, wie nicht anders zu erwarten, auf die Machenschaften seiner Mutter und Großmutter). Und ich werde auch auf die (dystopischen und anderen) Phantasien zurückkommen, die sich um den antiken römischen Hof rankten, und noch weitere unglaubwürdige Geschichten untersuchen, die die Römer über ihre Kaiser erzählten. Ich werde unter die Lupe nehmen, wie römische Herrscher in gewagten Witzen, satirischen Parodien – und in so abstrusen Anekdoten, wie sie Elagabal angedichtet sind – dargestellt wurden. Dabei werden wir auch auf Kaiser treffen, die ihren Untertanen in unterschiedlicher Gestalt im Traum erschienen sind (nicht immer ein gutes Zeichen: »Auf einen Kranken, der träumt, Kaiser zu sein, wartet der Tod«, wie ein Traumdeuter im 2. Jahrhundert n. Chr. warnte).
Doch all dies wird nur einen Teil des Buches ausmachen. Ich werde mich nicht nur mit den »Phantasie-Kaisern« befassen, sondern auch ganz nüchternen Fragen nachgehen. Dabei geht es um das tägliche Leben dieser römischen Herrscher, die Risiken der Politik, die Anforderungen der militärischen Sicherheit und das eintönige Alltagsgeschäft des Regierens eines riesigen Reiches, das im grellen Licht all dieser anschaulichen Anekdoten über Grausamkeit und Luxus oft übersehen wird. Ich werde mir Gedanken machen über die Schreibtischarbeit und die Verwaltung, die Buchhaltung, das Einstellen und Feuern von Mitarbeitern. Inwieweit war der Kaiser an all dem persönlich beteiligt? Wer waren seine Mitarbeiter, auf wen konnte er sich stützen, angefangen bei Ehefrauen und Erben über Sekretäre und Buchhalter bis hin zu Köchen und Hofnarren? Und was war, wenn der Kaiser erst vierzehn Jahre alt war?
Uns wird ein weiteres wirkmächtiges, aber ganz anderes Klischee des kaiserlichen Verhaltens begegnen: Hier zeigt sich der Kaiser weniger als gefährlicher Wüstling denn als hart arbeitender Bürokrat. Beide Aspekte werden in Die Kaiser von Rom eine wesentliche Rolle spielen.
Elagabal war ungefähr der 26. römische Kaiser (sein genauer Platz in der numerischen Reihenfolge hängt davon ab, welche erfolglosen Usurpatoren man mitrechnet). Kaiser kamen und gingen, und viele sind in Vergessenheit geraten. Manche haben der westlichen Kultur einen unverwechselbaren Stempel aufgedrückt. Caligula (reg. 37–41) ist in Erinnerung geblieben, weil er seinem Lieblingspferd ein politisches Spitzenamt übertragen wollte, Hadrian (reg. 117–138), weil er in Nordengland seinen »Wall« errichtete. Doch kaum jemand kennt heute Vitellius (einen notorischen Vielfraß, der im Jahr 69 einige Monate herrschte) oder den Zuchtmeister Pertinax (mit einer ähnlich kurzen Regierungszeit im Jahr 193); auch der Name Elagabal ist wenig geläufig.
Diese Männer (es waren immer Männer; es gab nie eine »Kaiserin« auf dem Thron) herrschten über ein riesiges Gebiet, das sich zur Zeit seiner größten Ausdehnung von Schottland bis zur Sahara und von Portugal bis zum Irak erstreckte und dessen Bevölkerung sich außerhalb Italiens auf schätzungsweise um die fünfzig Millionen Menschen belief. Die Kaiser erließen Gesetze, führten Kriege, erhoben Steuern, entschieden Streitigkeiten, finanzierten Bauwerke und Unterhaltungsprogramme und überschwemmten die römische Welt mit ihren Porträts, so wie die Gesichter moderner Diktatoren heutzutage zu Tausenden auf Plakatwände geklebt werden. Sie besaßen und nutzten große Teile des Reiches, von kommerziellen landwirtschaftlichen Betrieben bis hin zu Papyrussümpfen und Silberminen, und manche unternahmen weite Reisen, um das Reich zu erkunden und zu bewundern, wobei sie nicht nur auf militärischen Ruhm und Kriegsprofite aus waren. Wenn Touristen sich heute vor der Stadt Luxor am Nil versammeln, um zwei altägyptische Kolossalstatuen (aus dem Jahr 1350 v. Chr.) zu bestaunen, stehen sie an genau derselben Stelle wie Kaiser Hadrian und sein Gefolge im Jahr 130 n. Chr., die sich ebenfalls auf einer Besichtigungsreise befanden. Die kaiserliche Gesellschaft hinterließ ihre anerkennenden Kommentare (in eigens verfassten Gedichten) eingeritzt in die Beine einer der Statuen: Auf diese Weise bekundete die römische Elite, dass sie vor Ort gewesen war (Abb. 64).
Wie genau ein Kaiser sein Reich in der Praxis kontrollierte, ist durchaus rätselhaft. Abgesehen von einigen Heereseinheiten, die an etlichen »Brennpunkten« stationiert waren, gab es nur sehr wenige hochrangige Magistrate, die spärlich über das gesamte Imperium verteilt waren (etwa einer pro 330000 Einwohner, wenn man nur die höheren Chargen berücksichtigt). Im Vergleich mit manchen modernen Staaten muss die Kontrolle daher meist recht locker gewesen sein. Die riesigen Entfernungen und die Zeit – von manchmal mehreren Monaten –, die man gebraucht haben dürfte, um wichtige Informationen oder Anweisungen vom Zentrum aus in manche der entlegeneren Teile der römischen Welt (und umgekehrt) zu übermitteln, hätten eine tagtägliche Mikroverwaltung der kaiserlichen Gebiete ebenfalls unmöglich gemacht. Doch je näher wir dem römischen Kaiser kommen, desto besser können wir sehen, wie beschäftigt er war.
Antike Schriftsteller berichten von Herrschern, die offenbar von dem überschwemmt waren, was wir als »Papierkram« (für sie waren es Wachstafeln und Papyrusrollen) bezeichnen würden: Julius Caesar erledigte seine Korrespondenz während der Wagenrennen und verärgerte damit alle anderen Zuschauer, die dies als beleidigende Kritik an den populären Vergnügungen werteten.[1] Vespasian, der im Jahr 79 als einer der wenigen glücklichen Kaiser in seinem Bett starb, erhob sich vor dem Morgengrauen, um seine Briefe und offiziellen Berichte zu lesen. Elagabals Nachfolger Alexander Severus war offenbar so mit seinem Job verheiratet, dass er in seinen Privatgemächern militärische Unterlagen aufbewahrte, um, wenn er allein war, die Budgets und Truppenaufstellungen durchzugehen. Aber der Papierkram war nur ein Teil des Jobs. Von den Kaisern wurde erwartet, dass sie für ihre Untertanen erreichbar waren, sowohl auf dem Papier als auch in Person. Diese Erwartung bezeugt eine Anekdote über Hadrian: Auf einer Reise stellte sich ihm eine Frau in den Weg, die ihn um eine Gefälligkeit bitten wollte. Als er antwortete, er habe keine Zeit, erwiderte sie scharf: »Dann hör auf, Kaiser zu sein« – und so ließ er sie zu Wort kommen.[2]
Wir müssen diesen Geschichten jedoch mit Vorsicht begegnen. Manche Kaiser haben natürlich härter gearbeitet als andere. In jeder Autokratie gibt es sowohl fleißige Männer wie George VI. (der Vater von Elizabeth II., ein pflichtbewusster und zurückhaltender Familienmensch) als auch extravagante Herrscher wie Edward VII. (der Urgroßvater von Elizabeth II., eher pflichtvergessen, dafür seinen zahlreichen Mätressen zugetan). Doch wir sollten niemals unterstellen, dass die Berichte über eine unglamouröse Verwaltung vertrauenswürdiger seien als die Geschichten über glamouröse Exzesse. Auch hier ist das Bild, das sie vom perfekten Kaiser entwerfen, stark ideologisch geprägt. Die Geschichte von Hadrian und der Frau, die sich ihm in den Weg stellte, ist im Übrigen fast identisch mit den Anekdoten, die über einige frühere Herrscher der griechischen Welt erzählt werden – was darauf hindeutet, dass sie ein altes Klischee des »guten Monarchen« aufgreift. Dennoch stützen einige der außergewöhnlichsten Dokumente, die aus dem antiken Rom erhalten sind, das verbreitete Bild. Dabei handelt es sich um die aufgezeichneten Entscheidungen, mit denen die Kaiser auf Bitten, Petitionen und Hilferufe einfacher Untertanen oder Stadträte aus dem gesamten Reich reagierten – manchmal sind sie in Stein gemeißelt (vermutlich von einem Bittsteller, der den Erfolg seines Gesuchs feiert), manchmal auf Papyrus geschrieben oder in nüchternen antiken Rechtsprechungskompendien gesammelt. Auffällig ist hier, wie viele der Probleme, deren Lösung vom Kaiser erwartet wurde, lokal begrenzt oder trivial (wenn auch natürlich nicht für die Betroffenen) waren.
»Der Fall des Nachttopfs« ist nur ein Beispiel. Im Jahr 6 v. Chr. wurde Kaiser Augustus in einem chaotischen Streit in der Stadt Knidos an der Südwestküste der heutigen Türkei um sein Urteil gebeten. Bei einer Fehde zwischen zwei lokalen Familien war einer der Hauptakteure ums Leben gekommen: Während einer üblen Schlägerei, die vor dem Haus seiner Kontrahenten stattfand, war er von einem Nachttopf am Kopf getroffen worden. Ein Sklave (der womöglich nur den Inhalt ausleeren wollte) hatte ihn aus dem oberen Stockwerk fallen lassen. Die örtlichen Behörden wollten die Eigentümer des Sklaven wegen strafbarer Tötung anklagen, doch dem erhaltenen Text seines Urteils zufolge vertrat Augustus die gegenteilige Auffassung und wertete die Tötung, ob Unfall oder nicht, als legitime Selbstverteidigung.[3] Fast genau dreihundert Jahre später sah sich der zu jener Zeit herrschende Kaiser auf seiner Reise durch die Donauregion mit Hunderten von persönlichen Kontroversen und Streitigkeiten konfrontiert, die es beizulegen galt. So gab es den Fall einer Frau, die eine Entschädigung für eine verpachtete Kuh verlangte, die bei einem »feindlichen Überfall« getötet worden war, oder einen kniffligen Streit über die finanzielle Haftung nach dem Zusammenstoß zweier Flussboote sowie die Klage eines Mannes, der seine Frau zur Prostitution angeboten hatte und das vereinbarte Honorar einforderte (glücklicherweise wurde ihm wenig Mitgefühl zuteil).[4] Ob sich der Kaiser höchstpersönlich mit diesen juristischen Feinheiten herumschlug, wissen wir nicht. Manchmal wahrscheinlich schon, aber mitunter hat er die von seinen Mitarbeitern ausgearbeiteten Urteile wohl nur unterzeichnet (ich kann mir nicht vorstellen, dass der junge Elagabal mehr als das getan hat). Doch wer auch immer die Arbeit erledigte, entscheidend ist, dass es der Kaiser war, den die Menschen als Schiedsrichter sahen.
Diese Fälle bilden ein nützliches Gegengewicht zur albtraumhaften Vision der kaiserlichen Macht. Sie erinnern daran, dass die Kaiser zwar von manchen als die Regisseure einer dystopischen und schreckenerregenden Welt betrachtet wurden, von anderen jedoch als diejenigen, die ihre Probleme lösten – bis hin zu ihrer verlorenen Kuh. Sie stellen außerdem sicher, dass ein der Figur des Kaisers gewidmetes Buch sich nicht nur mit Menschen aus der obersten Elite befasst. Weit gefehlt. Es ist womöglich paradox, doch durch die Augen des Kaisers und den Umgang mit seinen Untertanen können wir das einfache Volk Roms und des römischen Imperiums, das so häufig unsichtbar bleibt, am deutlichsten und genauesten sehen. Die Kaiser von Rom handelt von Herrschern und Beherrschten.
Die Aufzeichnungen der kaiserlichen Entscheidungen samt dem frappierenden Einblick, den sie in das Alltagsleben (mitsamt seinen Schwierigkeiten) im Römischen Reich gewähren, sind nur einige der antiken Texte und Dokumente, die ich aus ihrem Schattendasein im Hörsaal und Forschungsseminar befreien möchte. Bei unseren Untersuchungen werden uns natürlich auch einige der bekanntesten Klassiker der antiken Literatur den Weg weisen: allen voran Tacitus, dessen Darstellung der Herrscher des 1. Jahrhunderts n. Chr. in seinen Annalen und Historien, die er zu Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. verfasste, unübertroffen ist als zynische Sektion von Korruption in der Autokratie. Etwa zur selben Zeit schrieb auch Sueton, ein Palast-Insider (er war unter den Kaisern Trajan und Hadrian in den kaiserlichen Archiven und im Sekretariat angestellt), dessen anschauliche Biographien der ersten »Zwölf Caesaren« von Julius Caesar bis zum Fliegen aufspießenden Kaiser Domitian in den vergangenen fünfhundert Jahren von den Historikern als Handbuch für diese Epoche genutzt wurden. Ich werde aber auch noch andere, kuriosere und überraschendere Werke, die weitaus weniger bekannt sind, ins Rampenlicht rücken und den Reichtum des uns überlieferten literarischen Materials angemessen würdigen. Da die Worte der antiken römischen Schriftsteller immer wieder abgeschrieben, einer sorgfältigen Textkritik unterzogen und schließlich gedruckt wurden und so vom Schreibrohr und der Schriftrolle auf die moderne Buchseite oder den Bildschirm gelangten, ist ein viel breiteres Spektrum an Schriften erhalten geblieben, als wir uns oft vorstellen.
Einige dieser Texte sollten die Leser zum Lachen bringen. So besitzen wir eine Minisammlung von kaiserlichen Witzen – Augustus etwa neckte seine Tochter Julia, weil sie sich die grauen Haare ausriss[1] – sowie unterschiedliche Arten der Satire. Zu den satirischen Werken gehören eine Spottschrift[2] des im 4. Jahrhundert herrschenden Kaisers Julian über seine Vorgänger (Elagabal hat hier eine Nebenrolle als »das Kerlchen aus Emesa«) sowie ein urkomisches Pamphlet, das möglicherweise von Neros Lehrer Seneca verfasst wurde. Es zieht die Vorstellung ins Lächerliche, dass Kaiser Claudius nach seinem Tod im Jahr 54 zu einem Gott habe werden können: Wir folgen dem etwas verwirrten alten Kaiser, als er sich zum Sitz der »echten« Götter auf dem Olymp hinaufkämpft, nur um bei seinem Eintreffen gleich wieder nach Hause geschickt zu werden.
Manche dieser Werke erlauben uns einen unerwarteten Blick hinter die Kulissen. Das Handbuch eines griechischen Rhetoriklehrers gibt Ratschläge, wie man den Kaiser, sollte man sich an ihn wenden müssen, am besten anspricht. Von dem Philosophen Epiktet, einem früheren Sklaven von Neros Sekretär, stammen Beobachtungen über das Leben bei Hofe (einschließlich eines mahnenden Hinweises auf Soldaten, die sich als verdeckte Ermittler betätigen). Kaiserliche Palastärzte wiederum haben nicht nur Aufzeichnungen über die Halsentzündungen, sondern auch über die Magenbeschwerden und Medikationen ihrer prominenten Patienten hinterlassen – zwei Jahrtausende später können wir diese Fallakten immer noch einsehen. Und wir können immer noch eine aus dem 2. Jahrhundert stammende Sammlung von Berichten an den Kaiser in Rom lesen, verfasst von Plinius, der Hunderte von Kilometern entfernt als Statthalter an der Schwarzmeerküste stationiert war und in seinen Briefen alle möglichen Probleme darlegte, angefangen mit einigen lästigen Christen bis hin zu einer maroden Badeanlage und einer besorgniserregenden Kostenexplosion bei der Errichtung eines – bereits viele Baumängel aufweisenden – Theaters.
Andere Schriften sind fast noch merkwürdiger, als wir je erwartet hätten. Das »Leben« Elagabals etwa mit seinen wunderbar aufschlussreichen Phantasien und Übertreibungen hinsichtlich der Lebensweise des »Kerlchens« gehört zu einer Sammlung von mehr als fünfzig Biographien von Kaisern, Usurpatoren, Erben und anderen Thronprätendenten, die mit Hadrian im Jahr 117 beginnt und mit einem blutrünstigen Niemand endet, der im Jahr 285 verstarb. Obwohl viele dieser Lebensbeschreibungen sehr kurz sind (für unsere Begriffe eher knappe Porträts als Biographien), umfassen sie insgesamt mehrere hundert moderne Seiten. Die Schrift, bekannt unter dem Titel »Kaisergeschichte« (Historia Augusta), gibt sich als ein Gemeinschaftswerk aus, das am Ende des 3. Jahrhunderts von sechs verschiedenen Autoren mit recht klangvollen Namen erstellt wurde: so Trebellius Pollio und Flavius Vopiscus aus Syrakus, um nur zwei zu nennen. Eine sorgfältige Sprach- und Stilanalyse hat jedoch ergeben, dass die Historia von nur einer (unbekannten) Person verfasst wurde, etwa hundert Jahre später, als in dem Werk behauptet. Die Schrift als solche ist eines der großen Rätsel der antiken Literatur. Warum sollte jemand zu einem solchen Trick greifen? Handelt es sich um eine Fälschung? Um einen ziemlich langatmigen Scherz oder eine Satire? Oder aber um das radikale Experiment einer pseudohistorischen Erzählung? Wie auch immer die Antwort lautet, das Buch schlägt bewusst die Brücke zwischen Geschichtsschreibung und Fiktion.[3]
2 Die Bronzetafel, im 16. Jahrhundert in Lyon gefunden, enthält die Rede des Claudius, in der er vor dem Senat größere politische Rechte für die Gallier forderte. Aufgrund der ungewöhnlich deutlichen Schrift ist der Text sehr leicht lesbar. Die erste Zeile dieses Ausschnitts beginnt mit den Worten »TEMPUS EST«, »Es ist an der Zeit«. Siehe diesen Abschnitt.
Tausende von Originaldokumenten tragen zum Reichtum und zur Vielfalt der Geschichten über die römischen Kaiser bei. Einige wurden öffentlich ausgestellt, in Stein oder Bronze verewigt, andere, auf Papyrus festgehalten, konservierte der ägyptische Sand. Sie wurden in den letzten hundert Jahren von modernen Archäologen in riesigen Mengen ausgegraben (viele noch ungelesen). Wir haben zum Beispiel den in Bronze geritzten Text einer Rede des Kaisers Claudius aus dem Jahr 48, in der er sich dafür aussprach, den Galliern größeren politischen Einfluss einzuräumen, und seinen Zuhörern gleichzeitig eine Kurzfassung der römischen Geschichte präsentierte. Und auf einem Papyrus können wir heute noch die Kopie einer Rede des Germanicus lesen, eines kaiserlichen Prinzen, der sich in Alexandria an die Menge wandte und unter anderem sagte, dass er seine »Oma« vermisse (besser bekannt als Livia, die Frau des Augustus, die in einem furchterregenderen Ruf stand, als das Wort »Oma« vermuten lässt).[4] Aber wir erhalten auch weitere Einblicke in das, was sich hinter den Kulissen abspielte. Die Quellen reichen von den erhaltenen Epitaphien (Grabinschriften) von etwa hundert Bediensteten Livias (darunter eine Masseurin, etliche Ankleidefrauen, ein Maler und sogar ein Fensterputzer) bis hin zur missmutigen Korrespondenz eines Amtsträgers in Ägypten, der enorme Schwierigkeiten hatte, all die für einen bevorstehenden kaiserlichen Besuch notwendigen Lebensmittel zu beschaffen.
Wir können auch die materielle Welt der Kaiser betreten. So ist es weiterhin möglich, in ihren Palästen umherzuwandern, nicht nur auf dem im Zentrum Roms gelegenen Palatin (von dem das Wort »Palast« abgeleitet ist), sondern auch in ihren Lustgärten vor der Stadt und ihren Residenzen auf dem Lande. Eine von ihnen, die Villa des Kaisers Hadrian in Tivoli, etwa fünfunddreißig Kilometer von Rom entfernt, war mit ihrer Parklandschaft, ihren Wohnblöcken, etlichen Speisesälen und Bibliotheken flächenmäßig fast doppelt so groß wie das antike Pompeji. »Villa« ist eine krasse Untertreibung, handelte es sich doch eher um eine private »Kleinstadt«. Wir können den Kaisern auch in die Augen schauen. Dabei ist nur ein Bruchteil der einst existierenden Porträts erhalten (nach einer fundierten Schätzung gab es in der römischen Welt allein von Kaiser Augustus ursprünglich zwischen 25000 und 50000 Statuen.[5] Doch sie füllen noch immer zu Tausenden unsere Museen. Sie kommen in allen möglichen Arten, Formen und Größen daher. Manche Bewohner des Römischen Reiches aßen sogar Kekse, die mit Bildern der Kaiser geschmückt waren (dies legen jedenfalls einige erhaltene Gebäckformen[6] nahe). Um das Jahr 200 setzte eine römische Dame sogar noch eins drauf: Sie ließ ihre goldenen Ohrringe mit dem Porträt des Kaisers Septimius Severus, eines unmittelbaren Vorgängers von Elagabal, verzieren.[7]
3 und 4 Zwei überraschende Stellen für ein Kaiserbildnis. Links, auf der modernen Replik einer antiken Gebäckform (vielleicht für die Kekse, die bei religiösen Festen verteilt wurden) steht ein Kaiser bei seinem Triumphzug auf einem Wagen (siehe auch hier) und wird von der Siegesgöttin gekrönt. Vgl. auch Abb. 12. Rechts ist der Kaiser auf einem Ohrring dargestellt (der Haken war ursprünglich sicherlich so gebogen, dass der Kopf nicht nach unten hing).
Natürlich gibt es etliche Fragen zur Welt der Kaiser, die wir aufgrund fehlender Quellen nicht beantworten können (etwa wie diese Welt für eine Frau aussah oder alle möglichen Details ihrer Finanzen). Alles in allem hoffe ich jedoch, dass die Leser und Leserinnen nach der Lektüre dieses Buches nicht enttäuscht sind, wie wenig wir über diese Herrscher von vor zweitausend Jahren wissen, sondern darüber staunen, wie viel uns doch bekannt ist.
Elagabal hatte zahlreiche Nachfolger. Der Ostteil des Reiches mit seiner im 4. Jahrhundert gegründeten Hauptstadt Konstantinopel (dem heutigen Istanbul) wurde bis zum Jahr 1453, als die Stadt an die Osmanen fiel, kontinuierlich von römischen Herrschern regiert. Wir betrachten diese späteren Herrscher als Byzantiner, während sie sich selbst als Römer verstanden. In diesem Buch werde ich jedoch nicht sehr viel weiter schauen als bis zu Alexander Severus, Elagabals Cousin, Adoptivsohn und Nachfolger, dem Mann, der angeblich Überstunden machte, um sich mit seinen militärischen Aufzeichnungen und Truppenaufstellungen zu beschäftigen. Auch er war ein Knabenkaiser, der im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren auf den Thron gelangte und von 222 bis 235 regierte. Ich beginne das Buch mit den Architekten der römischen Alleinherrschaft (mit Julius Caesar, der 44 v. Chr. ermordet wurde, und seinem Großneffen Octavian, der zum ersten Kaiser wurde) und werde den Zeitraum von der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. behandeln – in diesen nicht ganz dreihundert Jahren wurde das Imperium von fast dreißig Kaisern regiert.
Solche chronologischen Grenzen sind stets bis zu einem gewissen Grad willkürlich, und ich werde gelegentlich die von mir gezogenen Linien überschreiten (was ich im Übrigen bereits getan habe: Die Fälle der verlorenen Kuh und der sich prostituierenden Ehefrau gehören ins spätere 3. Jahrhundert). Es gibt jedoch starke Argumente dafür, gerade dort haltzumachen, wo ich es tue. Denn nach Alexander Severus kam es zu dramatischen Veränderungen. Etliche Militärputsche und Bürgerkriege führten dazu, dass im Laufe des restlichen Jahrhunderts die Kaiser in rascher Folge kamen und gingen. Viele entstammten nun nicht mehr der römischen Hocharistokratie, und die geopolitische Lage hatte sich so gewandelt, dass eine ganze Reihe von ihnen während ihrer kurzen Herrschaft der Stadt Rom niemals einen Besuch abstattete. Die Regierungszeiten waren wirklich kurz. Einige erfolglose Usurpatoren nicht mitgerechnet, gab es in den fünfzig Jahren nach Alexander Severus’ Tod genauso viele Kaiser wie in den fast dreihundert Jahren davor. Der Wandel von Stil und Charakter ist in einer Geschichte über Alexanders Nachfolger, Maximinus Thrax (»der Thraker«), belegt. Er war, wie es hieß, der erste Kaiser, der weder lesen noch schreiben konnte. Dies mag zwar eher eine tendenziöse Verleumdung als eine Tatsachenbeschreibung sein, ist aber, ob wahr oder nicht, ein Hinweis auf eine neue Welt.
In dem Zeitraum zwischen den Kaisern Augustus und Alexander Severus blieben die römische Politik und Geopolitik so stabil, dass man, wenn man sich etwa im Jahr 1 v. Chr. schlafen gelegt hätte und zweihundert Jahre später wieder aufgewacht wäre, die Welt um sich herum noch immer wiedererkannt hätte. Nach Augustus wurden Eroberungen weiterhin überschwänglich gefeiert und keine so sehr wie jene, an welche die Trajanssäule erinnerte, die, im frühen 2. Jahrhundert errichtet, Trajans Siege über Dakien (auf dem Gebiet des heutigen Rumänien) verkünden und zugleich der kaiserlichen Asche als letzte Ruhestätte dienen sollte. Die meisten dieser militärischen Erfolge führten jedoch kaum zu Gebietsgewinnen und bereiteten häufig mehr Ärger, als sie wert waren (Britannien könnte man treffend als »das Afghanistan Roms« bezeichnen); oder aber das eroberte Land ging schnell wieder verloren. Es waren militärische »Prestigeprojekte«, wie ein Historiker sie vor einiger Zeit genannt hat,[1] die allerdings mit einem schrecklichen Verlust an Menschenleben einhergingen.
Selbstverständlich gab es auch einige grundlegende langfristige Veränderungen. Am wichtigsten war hier, wie wir noch sehen werden, die zunehmende geographische – und bisweilen ethnische – Diversität der Kaiser. Trajan und Hadrian (erste Hälfte 2. Jahrhundert) hatten beide spanische Wurzeln. Septimius Severus, »der erste afrikanische Kaiser«, wurde einige Jahrzehnte später im heutigen Libyen geboren (Bildteil Abb. 3). Elagabal war der Großneffe von Septimius’ Ehefrau, der Syrerin Julia Domna, und dank des Einflusses ihrer Familie kam er durch einen Staatsstreich, der zweifellos von anderen inszeniert wurde, auf den Thron. Doch trotz all dieser allmählichen Weiterentwicklungen machten Augustus und Alexander Severus in etwa denselben Job und wurden nach fast denselben Maßstäben und Klischees beurteilt.
Sowohl antike als auch moderne Geschichtsschreiber haben über diese imperialen Jahrhunderte häufig in allen Einzelheiten Bericht erstattet und die Palastrivalitäten, Streitigkeiten, Zusammenstöße zwischen den Parteien, die Feldzüge und politischen Kraftproben sehr genau analysiert. Sie haben versucht, die unterschiedlichen Charaktere der einzelnen Herrscher zu beschreiben, vom mürrischen und heuchlerischen Tiberius, Augustus’ Nachfolger, über den extravaganten und verantwortungslosen Nero bis hin zum pingeligen Antoninus Pius oder seinem Nachfolger, dem Philosophen Mark Aurel. Moderne Historiker haben sich sorgfältig bemüht, ihre Leserschaft durch die Dynastien zu führen, deren komplizierte Familienverhältnisse, strategische Adoptionen (wie Elagabals Adoption des Alexander Severus) und mehrfache Ehen es fast unmöglich machen, alle Informationen in einem konventionellen Familienstammbaum abzubilden. Und sie fanden Gefallen an den farbigen Details vieler außergewöhnlicher Anekdoten, die über diese Herrscher erzählt wurden, während sie zugleich an deren Wahrheitsgehalt zweifelten oder nach einer – unter der Oberfläche verborgenen – prosaischeren Wirklichkeit Ausschau hielten. (Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, war Caligulas Androhung, sein Pferd mit einem hohen Amt zu betrauen, womöglich nur ein grober Scherz, der danebenging.)
Auch ich werde an den anschaulichen Geschichten über die römischen Kaiser mit all ihren skurrilen Eigenheiten, durch die sie bis heute im Gedächtnis geblieben sind, meine Freude haben – allerdings werde ich diese Texte verwenden, um das römische Kaisertum auf eine andere Weise zu beleuchten. Das vorliegende Buch ist zum Glück kein historiographisches Werk, in dem fast dreißig Herrscher der Reihe nach abgehandelt werden. Nachdem ich ein Leben lang über das antike Rom und seine Geschichte geforscht und gelehrt habe, bin ich überzeugt, dass ein solch detailliertes Narrativ (ob es sich nun um einen Kaiser handelt, um zwölf oder mehr) oftmals ebenso viel verbirgt wie enthüllt. Letztendlich ist eine hastig geplante, den eigenen Interessen dienende Palastrevolte wie die andere, wobei sich die Protagonisten ändern, die Motive aber ähnlich zwielichtig (oder hochgesinnt) bleiben. Häufig gibt es keinen großen Unterschied zwischen illoyalen Prinzen oder Prinzessinnen und denen, die auf sie folgen. Und dieselben schockierenden Anekdoten, so unverwechselbar oder charakteristisch sie auch scheinen, werden mit mehr oder weniger denselben Worten regelmäßig von mehreren Kaisern erzählt. Natürlich interessiert es mich, warum einige Kaiser als sadistische Monster in die Geschichte eingegangen sind, andere als anständige Männer, die ihr Bestes taten, wieder andere als großzügige Wohltäter und manche als selbstsüchtige Geizhälse. Doch noch mehr interessiert mich das größere Bild dahinter: Ich möchte herausfinden, wofür die Autokratie und die Autokraten in Rom standen und wie ähnlich und nicht nur wie verschieden diese Herrscher waren. Insofern stehe ich auf derselben Seite wie Mark Aurel, der in seinen Selbstbetrachtungen darüber reflektierte, dass sich die Alleinherrschaft im Laufe der Jahrhunderte nicht wirklich verändert habe: »Überall dasselbe Schauspiel, nur von anderen Personen aufgeführt.«[2]
Die Kaiser von Rom handelt daher von den »Kaisern« als Kategorie oder von »dem Kaiser« ebenso wie von jedem einzelnen Herrscher aus Fleisch und Blut. In dieser Hinsicht spiegelt das Buch höchstwahrscheinlich die Ansicht der großen Mehrheit der Bevölkerung des Römischen Reiches. Der Charakter des Mannes auf dem Thron, seine persönlichen Fehler oder Vorzüge waren vermutlich sehr wesentlich für diejenigen, die auf seiner Gästeliste standen, oder auch für die Angehörigen der Elite, die die kaiserlichen Biographien sorgfältig studierten oder verfassten. Die Kaiser waren nicht alle gleich. Doch für die meisten der etwa fünfzig Millionen Menschen, die außerhalb von Italien lebten, und für viele innerhalb des Landes war der »Kaiser« wichtig, egal, wer er gerade war oder wie er hieß. Es war der »Kaiser«, an den sie sich mit ihren Problemen wandten. Es war der »Kaiser«, von dem sie träumten. Nach dem Tod oder dem Sturz eines Kaisers war es üblich, dem neuen Regime Rechnung zu tragen und die Marmorbüsten des vorherigen Herrschers umzuarbeiten oder an die Züge seines Nachfolgers »anzupassen«. Dafür dürfte es verschiedene Gründe gegeben haben, sei es, dass man das Geld für eine brandneue Skulptur sparen oder das Gesicht des Vorgängers buchstäblich auslöschen wollte. Aber die eigentliche Botschaft war, dass es nur ein paar Schläge mit dem Meißel brauchte, um einen Kaiser in einen anderen zu verwandeln (Abb. 91).
5 Eine Liste römischer Kaiser auf einem ägyptischen Papyrus, verfasst auf Griechisch, überschrieben mit »Herrschaften der basileis«, das heißt der »Kaiser« oder »Könige« (vgl. hier). Nach der Überschrift müsste Caligula der dritte in der Liste sein, wurde aber ausgelassen (so dass Claudius direkt auf Tiberius folgt).
Mit ziemlicher Sicherheit dürften manche Reichsbewohner nicht in der Lage gewesen sein, den Namen des gerade regierenden Kaisers zu nennen. Darauf verwies ein Philosoph und christlicher Bischof aus Nordafrika, als er zu Beginn des 5. Jahrhunderts schrieb, dass es in seinem Teil der Welt Menschen gebe, die wegen der Steuererhebungen zwar wüssten, dass ein Kaiser auf dem Thron sitze, aber wer es sei, wüssten sie nicht unbedingt (und wie er weiter scherzte: »Es gibt unter uns Leute, die noch immer Agamemnon für den König halten« – gemeint ist der griechische Heerführer im mythischen Trojanischen Krieg).[3] Sicherlich war es so, dass nicht sehr viele eine auch nur annähernd genaue Liste der früheren und gegenwärtigen Kaiser hätten erstellen können. Selbst dem offenbar fleißigen Mann aus der Mitte des 3. Jahrhunderts, dessen Bemühungen um eine solche Liste auf einem Papyrusfetzen erhalten sind, unterliefen einige schwerwiegende Fehler: Mehrere Kaiser, darunter Caligula, sind ausgelassen und die Länge der Regierungszeiten von anderen falsch angegeben. Ich werde alle Kaiser, auf die ich näher eingehe (es sind nicht alle der fast dreißig) mit den notwendigen Details vorstellen. Wir müssen uns jedoch keine Sorgen machen, wenn wir einen Mark Aurel nicht immer von einem Antoninus Pius unterscheiden können. Die meisten gewöhnlichen Römer konnten das wahrscheinlich auch nicht.
Die römischen Kaiser konfrontieren uns mit einigen der extremsten Bilder der antiken Macht und mit einigen der ödesten Alltagsrealitäten des Lebens im Römischen Reich. Darüber hinaus liefern sie noch bis in die moderne Welt ein Muster für Autokraten und sind eine Warnung für Politiker: angefangen mit all jenen Königen und Dynasten, die in der Malerei und Plastik im römisch-kaiserlichen Gewand dargestellt sind, bis hin zu all jenen Premierministern und Präsidenten, die in Karikaturen als Nero, »der die Leier schlägt, während Rom brennt«, persifliert werden. Es lohnt sich, die römischen Kaiser ernst zu nehmen und tiefer zu ergründen, wie die Römer selbst eine Machtvision, die noch immer über uns schwebt, verstanden, diskutiert und in Frage gestellt haben.
6 Auf dem Cover der Zeitschrift Istoé ist Jair Bolsonaro, der damalige Präsident Brasiliens, unverkennbar als »Nero, der die Leier schlägt, während Rom brennt« porträtiert. Von Barack Obama über Boris Johnson bis hin zu Narendra Modi gibt es auf der Welt kaum einen prominenten Politiker, der von dieser besonderen Form der Satire verschont wurde.
Während meines gesamten Berufslebens habe ich versucht, diesen schwer fassbaren, fernen, aber seltsam vertrauten Herrschern auf die Spur zu kommen. Ich hoffe, in diesem Buch das, was ich über die reale und imaginäre Welt der Kaiser herausgefunden habe, mit einem größeren Publikum zu teilen: angefangen mit dem erhabenen Reich der Götter, in das viele von ihnen, nicht nur Claudius, Einlass begehrten, bis hin zu den schmutzigen Wassern des Tibers, in dem andere ein abruptes Ende fanden. Ich bezweifle zwar, dass so viele dieser Männer tatsächlich die blutrünstigen oder geistesgestörten Psychopathen waren, als die sie häufig beschrieben werden, empfinde aber auch den Versuch, einige der schlimmsten »Monster« zu rehabilitieren, nicht als hilfreich. So haben mich die vielfältigen Bemühungen, Caligula, Nero oder Commodus in missverstandene Reformer zu verwandeln, die nur eine ungünstige Presse hatten, niemals wirklich überzeugt. Die Beurteilung der Kaiser ist heute eine schwierige Gratwanderung zwischen Abscheu und Sympathie.
Infolge meiner langen Beschäftigung mit dem Römischen Reich verabscheue ich zunehmend die Autokratie als politisches System und empfinde nicht nur für seine Opfer mehr Mitgefühl, sondern auch für alle, die, ob niedrig oder hoch gestellt, in diesem System gefangen waren: von den gewöhnlichen Männern und Frauen, die im Schatten des Kaisers lebten, sich über die Macht und Autokratie den Kopf zerbrachen und sich nach Kräften bemühten, irgendwie zurechtzukommen, bis zu dem (vermutlich gleichfalls gewöhnlichen) Mann auf dem Thron. Man vergisst leicht, dass auch er zweifellos über das Wesen eines Autokraten nachdachte und darüber, was es bedeutete, Kaiser von Rom zu sein.
In den folgenden Kapiteln werde ich mich auf die Suche nach dem Kaiser begeben und die faszinierende Welt aus Fiktion und Fakten näher beleuchten – von der kaiserlichen Tafel bis zu den militärischen Grenzen, von den Bulletins seiner Ärzte bis zu seiner Darstellung in Witzen, Satiren und Träumen, von seinem Schreibtisch bis zu seinen letzten Worten. Doch zunächst einmal werde ich, in weiter Entfernung von Elagabal und seinen Furzkissen, den Rahmen abstecken und mich der Politik und Definition der Ein-Mann-Herrschaft im Römischen Reich zuwenden. Autokratien kommen in vielen unterschiedlichen Formen daher. In den nächsten beiden Kapiteln werde ich einige der Grundlagen der römischen Autokratie erläutern – wie die Tätigkeit eines römischen Kaisers beschrieben wurde, wie das System entstand, wer diese Männer waren, die wir jetzt als »Kaiser von Rom« bezeichnen, und wie sie auf den Thron gelangten.
Am 1. September 100 n. Chr., etwa hundert Jahre vor der Herrschaft Elagabals, erhob sich Gaius Plinius Secundus im Senat, um Kaiser Trajan in einer außergewöhnlichen Rede seinen Dank auszusprechen.[1] Der Senat war eine der ältesten und angesehensten politischen Institutionen Roms, die sich mittlerweile zu einer Ratsversammlung, einem Gerichtshof und einem Gesprächsforum entwickelt hatte und der etwa sechshundert Senatoren sowie der Kaiser und andere öffentliche Führungspersönlichkeiten angehörten. Es war ein bunt gemischter Haufen der wohlhabenden römischen Oberschicht, bestehend aus willfährigen Lakaien wie aus Unzufriedenen, aus alteingesessenen Aristokraten wie aus neureichen Parvenüs.
Plinius, wie er heute meist kurz genannt wird, oder Plinius der Jüngere, um ihn von seinem gleichnamigen Onkel zu unterscheiden, war der pedantische Statthalter, dessen Berichte, die er von seinem Posten am Schwarzen Meer nach Hause schickte, wir noch immer lesen können (vgl. hier). Er war außerdem ein wohlhabender und erfolgreicher Rechtsanwalt sowie der Autor des einzigen erhaltenen Augenzeugenberichtes vom Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79, den er als Siebzehnjähriger aus sicherer Entfernung beobachtet hatte.[2] Im Jahr 100 war er zu einem der beiden Konsuln für die Monate September und Oktober ernannt worden. Diese einst höchsten Ämter des römischen Staates waren noch immer äußerst prestigeträchtig, wurden jetzt aber nicht mehr durch öffentliche Wahl, sondern de facto vom Kaiser selbst vergeben. Deshalb war es üblich geworden, dass die neuen Konsuln ihm in einer Rede vor dem versammelten Senat ihren Dank bekundeten. Plinius betrat die Bühne und stellte sich neben seinen Amtskollegen und Trajan. Schauplatz war das grandiose, eigens errichtete »Senatsgebäude«, das Julius Caesar im Zentrum Roms gestiftet hatte – bequem für den Kaiser, der sich in seiner Sänfte in nur zehn Minuten vom kaiserlichen Hauptpalast bis zur Kurie bringen lassen konnte.
Nur selten waren diese Dankesreden mehr als der Pflicht geschuldete langweilige Routine. Wie auch Plinius zugab, enthielten sie nicht viel, um die Zuhörer wach zu halten, und der Kaiser musste viele solcher Elogen über sich ergehen lassen. Einige Jahre zuvor, im Jahr 97, hatte eine solche Rede eine etwas traurige Berühmtheit erlangt, als ein achtzigjähriger Konsul an den Verletzungen starb, die er sich bei ihrer Vorbereitung zugezogen hatte: Er hatte das schwere Buch, in dem er etwas nachschauen wollte, fallen lassen, und als er sich bückte, um es aufzuheben, war er – ein Unfall, den wir noch immer allzu gut kennen – auf dem glatten Boden ausgerutscht, hatte sich die Hüfte gebrochen und nie wieder davon erholt.[3] Plinius’ Rede wurde eine andere Art von Berühmtheit zuteil. Denn nachdem er sie im Senat vorgetragen hatte (der im Ferienmonat September vermutlich etwas spärlich besucht war), gab er seinen Freunden Zugaben, die er ihnen an drei aufeinanderfolgenden Tagen in drei privaten Sitzungen vortrug – eine Form der Unterhaltung, die in der römischen Aristokratie gang und gäbe war und als keine ganz so eitle Art der Selbstdarstellung galt, für die man sie heute halten würde. Die Rede, die Plinius in schriftlicher Form als Musterbeispiel für eine öffentliche Rede verbreitete, ist uns unter dem Titel Lobrede, Panegyricus auf Latein, überliefert. Hoffentlich handelt es sich um eine erweiterte Fassung der ursprünglich vor dem Kaiser und Senat gehaltenen Ansprache. Denn in der jetzt vorliegenden Form würde sie nach meiner Berechnung mehr als drei Stunden in Anspruch nehmen, selbst bei sehr schnellem Sprechen. Doch der Panegyricus ist noch immer ein wertvolles Zeugnis für eine ungewöhnliche persönliche Begegnung zwischen Untertan und Kaiser sowie für die Worte, die bei dieser Gelegenheit gesprochen wurden. Abgesehen davon läuft das Werk fast auf eine Tätigkeitsbeschreibung für das Amt des römischen Kaisers hinaus.
Moderne Leser empfinden das vor Unterwürfigkeit triefende, weitschweifige Lob Trajans häufig als einen fast ebenso ungenießbaren Wesenszug der römischen Autokratie wie all die Geschichten über launenhafte Grausamkeit oder perversen Luxus. Jede Seite der Lobrede bringt neue Übertreibungen: Der Kaiser ist, wie Plinius verkündet, ein Vorbild an Vollkommenheit; eine Ehrfurcht einflößende Kombination aus Ernsthaftigkeit und guter Laune, Autorität und Lockerheit, Macht und Freundlichkeit; ein Idol für die ihn liebenden Untertanen, die, ihre Kleinen auf den Schultern tragend, herbeieilen, um einen flüchtigen Blick auf ihn zu erhaschen; ein Mann, der die römische Geburtenrate schon allein deswegen ankurbelt, weil niemand zögert, Kinder in eine Welt zu setzen, die mit einem so gütigen Herrscher gesegnet ist. Wie sehr unterscheidet er sich, so Plinius, von dem – nur kurz zuvor im Jahr 96 ermordeten – monströsen Kaiser Domitian, der in seiner blutbefleckten Höhle lauerte, sich bei üppigen Banketten mit übertrieben raffinierten Gerichten den Bauch vollschlug und militärische Siege feierte, die er in Wirklichkeit gar nicht errungen hatte: »Ein entsetzlicher Anblick! Hochmut auf der Stirn, Wut in den Augen, ein weibisch bleicher Körper.«[4] (In Bezug auf Täuschung, Verweichlichung und Haute Cuisine liegen die Parallelen zu den Geschichten über Elagabal auf der Hand.) Man vergleiche ihn, so Plinius’ Aufforderung, mit Trajan, einem Kaiser, der sich durch einen gastfreundlichen Palast ohne Verbrechen, einfache Mahlzeiten, eine authentische Kriegsbilanz sowie einen kräftigen Körperbau auszeichnete (sein ergrautes Haar verlieh ihm zusätzliche Autorität). »Die Principes vor dir«, schmeichelt er, »… waren vom Gebrauch ihrer Füße abgekommen. Also mußten Sklaven sie auf ihren Schultern und Nacken hoch über unseren Köpfen einhertragen. Dich aber heben dein Ruhm, dein Ansehen, die Verehrung, die Freiheit noch über die anderen Principes hervor.«[5] Es wird kaum überraschen, dass ein moderner Kritiker die gesamte Rede unverblümt ablehnte: »Sie ist, nicht unverdient, fast allgemeiner Verachtung anheimgefallen.«[6]
Wir sind heute im Allgemeinen weniger sensibel für die Nuancen des Lobes als viele in früheren Generationen. Aber im Fall von Plinius’ Dankesrede sollten wir unsere »Verachtung« etwas zügeln. Die Rede ist nämlich komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Zunächst einmal ist das, was als Lob des Kaisers angekündigt wird, auch ein Eigenlob des Plinius (auch wenn man sich deshalb wohl nicht stärker für die Rede erwärmen kann). Wir erfahren zum Beispiel, wie innig die Beziehung mit seinem lieben Freund Trajan ist (sie tauschen sogar Küsse), und wir erleben die Vertrautheit ihrer langen gemeinsamen Abende im Palast, an denen sie einfache Mahlzeiten zu sich nehmen und freundschaftliche Gespräche führen. Wir kommen auch in den Genuss einiger virtuoser Darbietungen von Plinius’ Fachwissen (für einen modernen Leser besonders anstrengend sind mehrere Seiten über die Komplexität der römischen Erbschaftssteuer, über die er ein minutiöses Insiderwissen besaß). In der Lobrede erhebt Plinius vor dem Kaiser und seinen Senatskollegen Anspruch auf Anerkennung.
Was jedoch noch wichtiger ist: In die Elogen sind einige klare Lektionen für den Kaiser eingebettet. Wie Plinius implizit zu verstehen gibt, existiert kein besseres Mittel, das Verhalten eines Menschen zu beeinflussen, als ihn für die Eigenschaften zu loben, die man für wünschenswert hält, ob er sie nun hat oder nicht. In diesem Sinne ist der Panegyricus eine ausführliche Beschreibung des Amtes des Kaisers, verfasst von einem führenden Mitglied der römischen Elite.[7] Unter den oberflächlichen Komplimenten verbergen sich Anweisungen für einen guten Herrscher. Eine Schilderung der kaiserlichen Tugenden ist weit weniger pikant als die der kaiserlichen Laster, und das Lob eines gütigen Autokraten hat für die meisten modernen Leser einen hohlen Klang. Dennoch lohnt es sich, sich mit Plinius’ Tätigkeitsbeschreibung zu befassen – als Gegengewicht zu den phantastischen Horrorgeschichten über die kaiserliche Macht.
7 und 8 Die Porträtbüsten des Helden und des Antihelden des Plinius – links Domitian, rechts Trajan – sind ähnlich gestaltet. Trotz seiner angeblichen Kahlköpfigkeit ist Domitian hier mit einem üppigen Haarschopf gezeigt (sofern er keine Perücke trägt).