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Mary Beard

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Beschreibung

Die Geschichte Roms für unsere Zeit: Wer hätte gedacht, dass Alte Geschichte so spannend und gegenwärtig sein kann? Unkonventionell, scharfsinnig und zugleich akademisch versiert – dies trifft nicht nur auf die hochrenommierte Althistorikerin und Cambridge-Professorin Mary Beard selbst zu, sondern auch auf ihre neue große Geschichte des Römischen Reichs und seiner Bewohner. Scharfsinnig und lebensnah erzählt Mary Beard die Geschichte eines Weltreichs, lässt uns Kriege, Exzesse, Intrigen miterleben, aber auch den römischen Alltag – vom Ärger in Mietshäusern bis zu Ciceros Scheidung. Sie lässt uns hinter die Legenden und Mythen blicken, hinterfragt sicher Geglaubtes und kommt zu überraschenden Einsichten. So erscheint Rom ganz nah – etwa in seinen Debatten über Integration und Migration – und doch auch faszinierend fern, wenn es beispielsweise um Sklaverei geht. Ein neuer Blick auf das alte Rom. In prächtiger Ausstattung, mit über hundert s/w Abbildungen und umfangreichem farbigem Bildteil.

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Seitenzahl: 892

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Mary Beard

SPQR

Die tausendjährige Geschichte Roms

 

Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff

 

Über dieses Buch

 

 

Wer hätte gedacht, dass Alte Geschichte so spannend und gegenwärtig sein kann?

Ein neuer Blick auf das alte Rom

 

Unkonventionell, scharfsinnig und zugleich akademisch versiert – dies trifft nicht nur auf die hochrenommierte Althistorikerin Mary Beard selbst zu, sondern auch auf ihre neue große Geschichte des Römischen Reiches und seiner Bewohner. Begeistert erzählt sie die Geschichte eines Weltreichs, lässt uns Kriege, Exzesse, Intrigen miterleben, aber auch den römischen Alltag – wie Ärger in den Mietshäusern und Ciceros Scheidung. Sie lässt uns hinter die Legenden und Mythen blicken, hinterfragt sicher Geglaubtes und kommt durch ihren Fragen zu überraschenden Einsichten. So erscheint Rom ganz nah – in seinen Debatten über Integration und Migration – und dann doch auch faszinierend fern, wenn es etwa um Sklaverei geht. Die Geschichte Roms für unsere Zeit.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Mary Beard lehrt an der Cambridge University Alte Geschichte. Sie gilt in der angelsächsischen Welt als die bekannteste lebende Althistorikerin und zugleich als eine der streitbarsten. Immer wieder schaltet sie sich in aktuelle Debatten ein, u.a.in ihrem Blog »A Don's Life«. Sie ist Herausgeberin des Bereichs Altertumswissenschaften für das »Times Literary Supplement«, Kuratorin zahlreicher Ausstellungen sowie Autorin und Moderatorin der berühmten BBC-Serie »Meet the Romans«. Für ihre große Geschichte Pompeijs erhielt sie 2008 den Wolfson History Prize. Im Juli 2010 wurde Mary Beard zum Fellow of the British Academy gewählt.

Inhalt

Hinweis zu Tabellen

[Karten]

Prolog Die Geschichte Roms

Kapitel 1 Ciceros größte Stunde

SPQR: 63 v. Chr.

Cicero gegen Catilina

Im Senat

Triumph – und Demütigung

Aufzeichnungen

Die andere Seite der Geschichte

Unser Catilina?

Kapitel 2 Am Anfang

Cicero und Romulus

Mord

Raub und Vergewaltigung

Bruder gegen Bruder, Außenstehende gegen Dazugehörige

Geschichte und Mythos

Aeneas und mehr

Ausgrabungen aus der Frühzeit Roms

Das fehlende Bindeglied

Kapitel 3 Die Könige von Rom

In Stein gemeißelt

Könige oder Stammesoberhäupter?

Gründungslegenden: Religion, Zeit und Politik

Etruskische Könige?

Archäologie, Tyrannei – und Vergewaltigung

Die Geburtsstunde der Freiheit

Kapitel 4 Roms großer Sprung nach vorn

Zwei Jahrhunderte des Wandels: von den Tarquiniern bis Scipio Barbatus

Die Welt des Zwölftafelgesetzes

Die Ständekämpfe

Die Außenwelt: Veii und Rom

Die Römer gegen Alexander den Großen

Expansion, Soldaten und Bürger

Ursachen und Erklärungen

Kapitel 5 Die Ausweitung der römischen Welt

Die Nachfahren des Barbatus

Eroberung und ihre Folgen

Cannae und die schwer fassbare Seite der Kämpfe

Polybios zur römischen Politik

Ein auf Gehorsam aufgebautes Reich

Die Wirkmacht des Reiches

Römer sein

Kapitel 6 Neue Politik

Zerstörung

Das Vermächtnis von Romulus und Remus?

Tiberius Gracchus

Gaius Gracchus

Römische Bürger und Bundesgenossen im Krieg

Sulla und Spartacus

Alltagsleben

Kapitel 7 Auf dem Weg zur Kaiserherrschaft

Cicero gegen Verres

Herrschende und Beherrschte

Senatoren unter Beschuss

Rom, die käufliche Stadt

Pompeius der Große

Der erste Kaiser

Die Dreierbande

Die Würfel fallen

Die Iden des März

Kapitel 8 Zu hause

Öffentliches und Privates

Die andere Seite des Bürgerkriegs

Ehemänner und Ehefrauen

Geburt, Tod und Trauer

Geld zählt

Humaneigentum

Auf dem Weg zu einer neuen Epoche – der Kaiser

Kapitel 9 Die Umwälzungen des Augustus

Caesars Erbe

Der Bürgerkrieg

Gewinner und Verlierer

Das Rätsel Augustus

Res Gestae – Meine Taten

Machtpolitik

Probleme und Nachfolge

Augustus ist tot. Lang lebe Augustus!

Kapitel 10 Vierzehn Kaiser

Die Männer auf dem Thron

Was ging bei Gaius schief?

»Gute Kaiser« und »schlechte Kaiser«?

Veränderungen an der Spitze

Nachfolgeregelung

Senatoren

Ach, ich glaube, ich werde ein Gott …

Kapitel 11 Besitzende und Besitzlose

Reich und Arm

Abstufungen der Armut

Die Arbeitswelt

Kneipenkultur

Ertragen und sich begnügen

Schwalben und Schlangen

Kapitel 12 Rom außerhalb von Rom

Die Provinz Plinius’ des Jüngeren

Die Grenzen des Römischen Reiches

Die Verwaltung des Reiches

Romanisierung und Widerstand

Freier Waren- und Personenverkehr

Wo sie eine Einöde schaffen, sprechen sie von Frieden

Schwierigkeiten mit den Christen

Bürger

Gaius Julius Zoilos

Epilog Das erste römische Jahrtausend

Zum Abschluss

Bibliographie

Vorbemerkung

Chronologische Übersicht

Dank

Bildnachweise

Register

[Tafelteil]

Hinweis zu Tabellen

Liebe Leser:innen,

 

 

Zur besseren Darstellung empfehlen wir, Tabellen in der Queransicht zu betrachten.

 

Wir wünschen Ihnen eine angenehme und interessante Lektüre.

 

Ihre S. Fischer Verlage

PrologDie Geschichte Roms

Das antike Rom ist wichtig. Die alten Römer zu ignorieren hieße, die Augen nicht nur vor der fernen Vergangenheit zu verschließen, denn unsere Weltsicht und unser Selbstverständnis sind bis heute wesentlich von Rom mitgeprägt, von der abgehobenen Theorie bis hin zur anspruchslosen Unterhaltung. Auch nach zweitausend Jahren bildet es die Grundlage westlicher Kultur und Politik, der Texte, die wir schreiben, sowie der Art, wie wir die Welt begreifen und unseren Platz darin verorten.

Die Ermordung Julius Caesars im Jahr 44 v. Chr. an den Iden des März, wie das Datum bei den Römern hieß, diente seither als Vorlage und zuweilen auch als heikle Rechtfertigung für Tyrannenmorde. Die politische Geographie des modernen Europa und angrenzender Gebiete ist aus der Raumordnung des Römischen Reiches hervorgegangen. So ist London in erster Linie die Hauptstadt Großbritanniens, weil die Römer es zur Hauptstadt ihrer Provinz Britannia machten – einer gefährlichen Region, die ihrer Ansicht nach jenseits des großen Ozeans lag, der die zivilisierte Welt umgab. Roms Vermächtnis an uns umfasst nicht nur die Idee der Freiheit und der Staatsbürgerschaft, sondern auch die der imperialen Ausbeutung und ein Vokabular moderner Politik, das von »Senatoren« bis zu »Diktatoren« reicht. Es hat uns seine Schlagworte hinterlassen: von »Ich fürchte die Griechen, auch wenn sie Geschenke bringen«, bis hin zu »Brot und Spiele«, »Auch Rom wurde nicht an einem Tag erbaut« und »Wo Leben ist, ist Hoffnung«. Rom hat mehr oder weniger in gleichem Maße Gelächter, Ehrfurcht und Schrecken ausgelöst. Wie eh und je sind auch heute Gladiatoren große Kassenschlager. Vergils großes Epos über die Gründung Roms, die Aeneis, fand im 20. Jahrhundert nahezu mit Sicherheit mehr Leser als im 1. Jahrhundert n. Chr.

Die Geschichtsschreibung zum alten Rom hat sich jedoch in den vergangenen fünfzig Jahren dramatisch verändert und noch stärker im Laufe der 250 Jahre, seit Edward Gibbon The History of the Decline and Fall of the Roman Empire schrieb, sein eigenwilliges historisches Experiment, das die moderne Erforschung der römischen Geschichte in der englischsprachigen Welt einleitete.[1] Zum Teil liegt das an neuen Betrachtungsweisen und Fragestellungen, unter denen wir alte Zeugnisse untersuchen. Es ist ein gefährlicher Mythos, dass wir bessere Historiker seien als unsere Vorgänger. Das stimmt nicht. Aber wir gehen mit anderen Prioritäten an die römische Geschichte heran – von Gender-Identität bis zur Nahrungsversorgung –, die diese antike Vergangenheit in einer neuen Ausdrucksweise zum Sprechen bringen.

Zudem hat es eine ungeheure Fülle neuer Entdeckungen – im Boden, unter Wasser und sogar in Bibliotheken vergraben – gegeben, die uns mehr Neues über die Antike verraten, als irgendein moderner Historiker je zuvor wissen konnte. So tauchte erst 2005 in einem griechischen Kloster ein Manuskript mit dem ergreifenden Text eines römischen Arztes auf, dessen kostbarster Besitz gerade in Flammen aufgegangen war.[2] Im Mittelmeer wurden Wracks von Frachtschiffen gefunden, die es nicht bis Rom geschafft hatten; ihre Ladung bestand aus Skulpturen, Möbeln und Glas aus anderen Ländern für die Häuser der Reichen und aus Wein und Oliven, die als Grundnahrungsmittel für alle dienten. Während ich dies schreibe, untersuchen Archäologen sorgsam Bohrkerne aus dem grönländischen Eisschild und finden selbst dort Spuren der Umweltverschmutzung durch die römische Industrie.[3] Andere erforschen unter dem Mikroskop menschliche Exkremente aus einer Jauchegrube in Herculaneum in Süditalien, um aufzuschlüsseln, welche Nahrungsmittel in den Verdauungstrakt gewöhnlicher Römer – und wieder hinaus – gelangten. Dazu gehörten unter anderem viele Eier und Seeigel.[4]

Die römische Geschichte wurde und wird ständig umgeschrieben. In mancherlei Hinsicht wissen wir heute mehr über das antike Rom als die Römer selbst. Mit anderen Worten, die römische Geschichte ist eine fortwährende Baustelle. Das vorliegende Buch ist mein Beitrag zu diesem umfassenden Projekt und legt meine Sicht dar, warum sie wichtig ist. Der Titel SPQR greift eine weitere berühmte römische Wendung auf: Senatus PopulusQue Romanus, »Senat und Volk von Rom«. Mein Antrieb zu diesem Buch erwächst aus persönlicher Neugier in Bezug auf die römische Geschichte, aus der Überzeugung, dass ein Dialog mit dem alten Rom nach wie vor lohnend ist, sowie aus der Frage, wie aus einem winzigen, wenig bemerkenswerten Dorf in Mittelitalien eine dominante Großmacht werden konnte, die große Territorien auf drei Kontinenten beherrschte.

In diesem Buch geht es also um die Frage, wie Rom so wachsen und seine Stellung so lange halten konnte, und nicht um den Verfall und Untergang des Römischen Reiches, falls es ihn denn je in dem Sinne gab, wie Gibbon es sich vorstellte. Es gibt viele Möglichkeiten, einen sinnvollen Schlusspunkt für die Geschichte des antiken Rom festzusetzen: Manche haben den Übertritt Kaiser Konstantins zum Christentum auf seinem Sterbebett 337 n. Chr. gewählt oder die Plünderung Roms durch Alarich und die Westgoten 410 n. Chr. Meine Geschichte Roms endet 212 n. Chr. mit dem krönenden Moment, als Kaiser Caracalla jeden freien Einwohner des Römischen Reiches zum vollgültigen römischen Bürger erklärte, damit den Unterschied zwischen Eroberern und Unterworfenen aufweichte und die nahezu tausend Jahre zuvor begonnene Ausdehnung der Rechte und Privilegien römischer Bürger auf andere Einwohner des Reiches zum Abschluss brachte.

Dieses Buch ist jedoch kein schlichter Ausdruck von Bewunderung. In der – römischen wie auch griechischen – Antike gibt es vieles, was unser Interesse und unsere Aufmerksamkeit verdient. Unsere Welt wäre unermesslich ärmer, wenn wir uns nicht weiterhin mit der Antike auseinandersetzen würden. Aber Bewunderung ist etwas völlig anderes. Da ich gern ein Kind unserer Zeit bin, sträuben sich mir die Haare, wenn ich Leute von »großen« römischen Eroberern oder gar vom »großartigen« Römischen Reich reden höre. Ich habe mich zu lernen bemüht, Dinge von zwei Seiten zu betrachten.

Tatsächlich befasst sich dieses Buch mit einigen der Mythen und Halbwahrheiten über Rom, mit denen ich wie viele andere aufgewachsen bin. Die Römer verfolgten nicht von Anfang an einen großartigen Plan, die Welt zu erobern. Auch wenn sie ihr Imperium letztlich als Ausdruck eines manifesten Schicksals hinstellten, sind die Motive, die sie ursprünglich zu ihrer militärischen Expansion im gesamten Mittelmeerraum und darüber hinaus trieben, nach wie vor eines der größten Rätsel der Geschichte. Bei der Errichtung ihres Reiches trampelten die Römer keineswegs harmlose Völker brutal nieder, die sich friedfertig und harmonisch um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten, bis die Legionen am Horizont auftauchten. Ein römischer Sieg war zweifellos grausam, und nicht zu Unrecht wurde Julius Caesars Eroberung Galliens mit Völkermord verglichen und auch von zeitgenössischen Römern ganz ähnlich kritisiert. Aber die Welt, in die Rom expandierte, war nicht geprägt von Völkern, die friedlich zusammenlebten, sondern von Gewalt, von rivalisierenden Machtbasen, die sich auf Militärgewalt stützten (eine echte Alternative dazu gab es nicht), und von Kleinreichen. Die meisten Feinde der Römer waren ebenso militaristisch wie sie, siegten aber nicht – und die Gründe dafür will ich zu klären versuchen.

Rom war nicht einfach der zu Gewalt neigende kleine Bruder des antiken Griechenland, der sich technischen Meisterleistungen, militärischer Effizienz und Absolutismus verschrieben hatte, während die Griechen Denken, Theater und Demokratie bevorzugten. Manche Römer stellten es gern so dar, und vielen modernen Historikern kommt es gelegen, die antike Welt als simplen Gegensatz zweier äußerst unterschiedlicher Kulturen zu präsentieren. Das ist jedoch irreführend, und zwar in Hinblick auf beide Seiten. Die griechischen Stadtstaaten waren ebenso wild entschlossen, Schlachten zu gewinnen, wie die Römer, und die meisten hatten nicht viel mit dem kurzen Experiment der Athener Demokratie zu tun. Einige römische Schriftsteller waren alles andere als blinde Verfechter imperialer Macht, sondern gehörten zu den vehementesten Kritikern des Imperialismus, die es je gab. »Stehlen, Morden, Rauben nennen sie mit falschem Namen Herrschaft und Frieden, wo sie eine Wüste schaffen«, mit diesem Schlagwort wurden die Folgen militärischer Eroberungen häufig zusammengefasst. Geschrieben hat es der römische Historiker Tacitus im 2. Jahrhundert n. Chr. über die römische Herrschaft in Britannien.[5]

Die Geschichte Roms ist eine große Herausforderung, da es nicht nur eine einzige Erzählung gibt, besonders nicht, nachdem die römische Welt sich weit über Italien hinaus ausgedehnt hatte. Die Geschichte Roms ist nicht gleich der Geschichte des römischen Britannien oder des römischen Afrika. Mein Hauptaugenmerk wird sich auf die Stadt Rom und das Italien der Römerzeit richten, ich werde mich aber auch bemühen, Rom von außen zu betrachten, also aus Sicht derjenigen, die als Soldaten, Rebellen oder ehrgeizige Kollaborateure in den weiter entfernten Regionen des Römischen Reiches lebten. Zudem muss die Geschichtsschreibung für verschiedene Perioden jeweils völlig anders vorgehen. Aus der Frühzeit Roms und aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., als das kleine Dorf sich zu einem wichtigen Akteur auf der italienischen Halbinsel entwickelte, existieren keinerlei Schriftzeugnisse zeitgenössischer Römer. Geschichtsschreibung muss sich hier auf eine gewagte Rekonstruktion stützen, die aus einzelnen Fundstücken – einer Tonscherbe, einigen in Stein geritzten Buchstaben – möglichst viel herausholt. Nur dreihundert Jahre später stellt sich das umgekehrte Problem: Wie lässt sich die Fülle konkurrierender Zeitdokumente, die jede klare Erzählung zu überschwemmen droht, sinnvoll ordnen?

Die Geschichte Roms erfordert außerdem eine bestimmte Art von Phantasie. Das antike Rom vom 21. Jahrhundert aus zu erforschen hat etwas von einem Seiltanz, von einem äußerst heiklen Balanceakt. Schaut man auf der einen Seite hinunter, erscheint alles beruhigend vertraut: Es gibt Gespräche, an denen wir uns beinah beteiligen könnten – über das Wesen der Freiheit oder über sexuelle Probleme; es gibt Gebäude und Monumente, die wir wiedererkennen, ein für uns nachvollziehbares Familienleben mit Jugendlichen, die Ärger machen, und Witze, die wir »verstehen«. Auf der anderen Seite ist uns diese Welt völlig fremd. Das betrifft nicht nur die Sklaverei, den Dreck (so etwas wie eine Müllabfuhr gab es im antiken Rom nicht), das Gemetzel an Menschen in der Arena und die tödlichen Krankheiten, deren Heilung für uns heute selbstverständlich ist, sondern auch die Neugeborenen, die auf Abfallhaufen geworfen wurden, die Mädchen, die schon als Kinder verheiratet wurden, und die prunkvollen Eunuchenpriester.

Diese Welt werden wir von einem bestimmten Moment der römischen Geschichte aus erkunden – ein Moment, über den die Römer nie zu rätseln aufgehört haben und über den moderne Schriftsteller, seien sie Historiker oder Dramatiker, endlos debattiert haben. Er bietet die beste Einführung zu einigen der wichtigsten Persönlichkeiten im antiken Rom, in die vielschichtigen Diskussionen der Römer über ihre eigene Vergangenheit und in unsere anhaltenden Bemühungen, sie zu begreifen und sinnvoll zu erklären – sowie in die Gründe, warum die Geschichte Roms, seines Senats und seines Volkes nach wie vor von Bedeutung ist.

Kapitel 1Ciceros größte Stunde

SPQR: 63 v. Chr.

Unsere Geschichte des antiken Rom setzt um die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. ein, über 600 Jahre nach der Gründung der Stadt. Sie beginnt mit den Vorboten einer Revolution, mit einer terroristischen Verschwörung, die Stadt zu zerstören, mit Untergrundaktivitäten und öffentlichen Tiraden, mit einem Kampf von Römern gegen Römer und mit Bürgern, die (ob unschuldig oder nicht) im Interesse der inneren Sicherheit verhaftet und kurzerhand hingerichtet werden. Es ist das Jahr 63 v. Chr. Auf der einen Seite steht Lucius Sergius Catilina, ein zorniger, bankrotter Patrizier und mutmaßlicher Kopf einer Verschwörung, Roms gewählte Vertreter zu ermorden und die Stadt niederzubrennen – und dabei sämtliche Schulden reicher wie auch armer Bürger zu streichen. Auf der anderen Seite steht Marcus Tullius Cicero, der berühmte Redner, Philosoph, Priester, Dichter, Politiker und geistreiche Geschichtenerzähler, der zu den auserkorenen Attentatsopfern zählt – und der seine rhetorischen Talente später nutzen wird, um sich unermüdlich damit zu brüsten, wie er Catilinas abscheulichen Plan aufgedeckt und den Staat gerettet hat.[1] Das war seine größte Stunde.

Rom war 63 v. Chr. eine Großstadt mit über einer Million Einwohnern, das war größer, als irgendeine andere europäische Stadt bis ins 19. Jahrhundert werden sollte. Obwohl sie damals noch keine Kaiser hatte, beherrschte sie ein Reich, das sich von Spanien bis Syrien, von Südfrankreich bis an die Sahara erstreckte. Die Stadt war eine ausufernde Mischung aus Luxus und Schmutz, Freiheit und Ausbeutung, Bürgerstolz und mörderischem Bürgerkrieg. In den folgenden Kapiteln werden wir wesentlich weiter zurückblicken bis zu den Anfängen der Römerzeit und den frühen kriegerischen und sonstigen Leistungen des römischen Volkes. Wir werden uns damit befassen, was hinter einigen der Geschichten über die Frühzeit Roms steht, die bis heute nachwirken und berühren, von »Romulus und Remus« bis zur »Schändung der Lucretia«. Und wir werden Fragen ansprechen, die Historiker seit der Antike gestellt haben: Wie und warum wurde eine gewöhnliche Kleinstadt in Mittelitalien so viel größer als jede andere im antiken Mittelmeerraum und kontrollierte schließlich ein so ausgedehntes Reich? Was, wenn überhaupt, war so besonders an den Römern? Aber bei der Geschichte Roms ist es wenig sinnvoll, am Anfang zu beginnen.

Erst ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. können wir Rom eingehend in lebendigen Details aus dem Blickwinkel von Zeitgenossen erforschen. Aus dieser Zeit ist eine Fülle von Schriftzeugnissen erhalten geblieben: von Privatbriefen bis zu öffentlichen Reden, von philosophischen Abhandlungen bis zu Dichtungen – Episches und Erotisches, Gelehrtes und Unmittelbares von der Straße. Dank alledem können wir die alltäglichen Machenschaften und Mauscheleien der politischen Granden Roms heute noch nachvollziehen. Wir können ihre Verhandlungen und Kompromisse belauschen und beobachten, wie sie sich gegenseitig im buchstäblichen wie auch im übertragenen Sinne in den Rücken fielen. Wir können uns sogar ein Bild von ihrem Privatleben machen: von ihren Ehestreitigkeiten, ihren Geldsorgen, ihrer Trauer über den Tod geliebter Kinder und gelegentlich auch über den Tod geliebter Sklaven. Es gibt keine vorhergehende Periode in der westlichen Geschichte, die wir so gut oder so eingehend kennenlernen können (aus dem antiken Athen liegen uns nicht annähernd so viele und vielfältige Zeugnisse vor). Erst über tausend Jahre später finden wir im Florenz der Renaissance wieder einen Ort, über den wir so detailliert Bescheid wissen.

Ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. erforschten römische Schriftsteller zudem systematisch die früheren Jahrhunderte ihrer Stadt und ihres Reiches. Die Neugier in Bezug auf Roms Vergangenheit reicht sicher noch weiter zurück: So können wir noch heute eine Analyse zum Aufstieg der Stadt zur Macht lesen, die ein griechischer Einwohner in der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. verfasste.[2] Aber erst ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. begannen römische Gelehrte und Kritiker, viele der Fragen zu stellen, die uns noch heute beschäftigen. In einer Kombination aus fundierter Forschung und reichlich kreativer Erfindung setzten sie Stück für Stück ein Bild von der Frühzeit Roms zusammen, auf dem wir bis heute aufbauen. Noch immer sehen wir die römische Geschichte zumindest teilweise aus der Sicht des 1. Jahrhunderts v. Chr., oder anders gesagt: Hier begann die römische Geschichte, wie wir sie kennen.

Das Jahr 63 v. Chr. ist ein entscheidendes in diesem wichtigen Jahrhundert, ein Moment, in dem die Stadt nur knapp einer Katastrophe entging. In den tausend Jahren, mit denen sich dieses Buch befasst, erlebte Rom häufig Gefahren und Niederlagen. So besetzte um 390 v. Chr. eine Horde marodierender Gallier die Stadt. Der karthagische Feldherr Hannibal überquerte 218 v. Chr. in einer berühmten Aktion die Alpen mit seinen 37 Elefanten und fügte den Römern entsetzliche Verluste zu, bevor sie ihn schließlich in die Flucht schlagen konnten. Die Schlacht bei Cannae 216 v. Chr. war durch ihre hohen Verluste, die sich nach römischen Schätzungen auf bis zu 70000 Tote an einem einzigen Nachmittag beliefen, ein mindestens ebenso großes Blutbad wie die Schlacht von Gettysburg oder der erste Tag der Schlacht an der Somme. In der Vorstellung der Römer war ein weiteres Ereignis nahezu ebenso furchterregend: Von 73 bis 71 v. Chr. zeigte sich ein zusammengewürfelter Haufen ehemaliger Gladiatoren und entlaufener Sklaven unter der Führung von Spartacus einigen schlecht ausgebildeten Legionen mehr als gewachsen. Die Römer waren in Schlachten nie so unschlagbar, wie wir annehmen möchten oder wie sie sich gern darstellten. Aber 63 v. Chr. waren sie mit einem Feind im Inneren konfrontiert, mit einer terroristischen Verschwörung aus den Reihen der römischen Oberschicht.

Die Entwicklung dieser Krise lässt sich noch heute in allen Einzelheiten, Tag für Tag, teils sogar Stunde für Stunde nachvollziehen. Wir wissen genau, wo sie sich größtenteils abspielte, und können an manchen Stellen noch heute dieselben Bauwerke sehen, die damals das Bild beherrschten. Wir können verfolgen, wie Cicero durch verdeckte Ermittlungen seine Informationen über die Verschwörung erhielt und wie Catilina gezwungen wurde, zu seinem improvisierten Heer nördlich von Rom zu fliehen und es schließlich in eine Schlacht gegen offizielle römische Legionen zu führen, die ihn das Leben kostete. Wir bekommen auch einen Eindruck von manchen Debatten, Kontroversen und übergeordneten Fragen, die diese Krise aufwarf und noch immer aufwirft. Ciceros harte Reaktion – einschließlich der standrechtlichen Hinrichtungen – zeigte in krasser Form Probleme auf, die uns auch heute beschäftigen: Ist es legitim, »Terroristen« ohne reguläres Gerichtsverfahren zu beseitigen? Inwieweit darf man Bürgerrechte im Interesse der inneren Sicherheit opfern? Die Römer diskutierten endlos über »die Verschwörung des Catilina«, wie sie genannt wurde. War Catilina durch und durch böse, oder ließen sich Milderungsgründe für sein Tun vorbringen? Um welchen Preis wurde eine Revolution abgewehrt? Die Ereignisse von 63 v. Chr. und die damals geprägten Schlagworte haben durchweg in der westlichen Geschichte Resonanz gefunden. Einige Äußerungen, die in den heftigen Debatten nach Entdeckung der Verschwörung fielen, finden nach wie vor im genauen Wortlaut ihren Platz in unserer politischen Rhetorik und, wie wir sehen werden, bei modernen politischen Protesten auf Plakaten und Transparenten und sogar in Tweets.

Die »Verschwörung« führt uns, unabhängig davon, was daran richtig und falsch war, mitten in das politische Leben Roms im 1. Jahrhundert v. Chr., zu seinen Konventionen, Kontroversen und Konflikten. Damit ermöglicht sie es uns, den »Senat« und das »Volk von Rom« – also die beiden Institutionen, die in meinem Buchtitel SPQR (Senatus PopulusQue Romanus) enthalten sind – in Aktion zu erleben. Beide waren einzeln und manchmal in erbitterter Opposition die Hauptquellen politischer Autorität im Rom dieser Zeit. Zusammen standen sie für die legitime Macht des römischen Staates, und ihr Kürzel hielt sich durch die gesamte Geschichte Roms und in der Hauptstadt des heutigen Italien sogar bis in die Gegenwart. Der Senat (ohne das PopulusQue Romanus) war zudem namensgebend für moderne Gesetzgebungsorgane in der ganzen Welt, von den USA über Deutschland bis nach Ruanda.

1

Das »Tabularium« mit seinen wuchtigen Bögen und Säulen, die Michelangelo später in seinen Umbau zu einem Palazzo einbezog, prägt das Erscheinungsbild an einem Ende des Forum Romanum. Der Bau entstand nur zwanzig Jahre, bevor Cicero 63 v. Chr. Konsul wurde, und muss damals als eine der prachtvollsten architektonischen Neuentwicklungen erschienen sein. Weniger klar ist seine Funktion: Offenkundig handelte es sich um ein öffentliches Gebäude, aber es diente nicht zwangsläufig als »Staatsarchiv« (tabularium), wie häufig angenommen wird.

Unter den Beteiligten an dieser Krise finden sich einige der berühmtesten Persönlichkeiten der römischen Geschichte. Gaius Julius Caesar, damals Mitte dreißig, bezog in der Debatte über die Bestrafung der Verschwörer eine radikale Position. Marcus Licinius Crassus, der römische Plutokrat, der die berühmt-berüchtigte Behauptung aufstellte, niemand könne als reich gelten, wenn er nicht über die Mittel verfüge, eine Privatarmee auszurüsten, spielte eine mysteriöse Rolle hinter den Kulissen. Im Mittelpunkt der Gegner Catilinas stand jedoch eine Person, über die mehr bekannt ist als über jede andere in der gesamten antiken Welt. Ciceros Reden, Abhandlungen, Briefe, Scherze und Dichtungen füllen Dutzende von Bänden moderner Werkausgaben. Das öffentliche und private Leben keines anderen Menschen der klassischen Antike ist so gut dokumentiert, dass sich daraus eine plausible Biographie nach modernen Maßstäben rekonstruieren ließe. Das ist erst 450 Jahre später bei dem christlichen Heiligen, produktiven Theologen und gewissenhaften Selbsterforscher Augustinus der Fall. Bis heute nehmen wir die römische Welt des 1. Jahrhunderts v. Chr. und einen Großteil der Geschichte der Stadt Rom weitgehend durch Ciceros Schriften wahr, aus seinem Blickwinkel und mit seinen Vorurteilen. Das Jahr 63 v. Chr. war der Wendepunkt seiner Karriere: Nie wieder sollte es so gut für Cicero laufen. Seine Laufbahn endete zwanzig Jahre später mit einem Fehlschlag. Er war immer noch von seiner eigenen Bedeutung überzeugt und galt nach wie vor zuweilen als Persönlichkeit, mit der zu rechnen war, wenn auch nicht mehr in vorderster Reihe, als er in den Bürgerkriegen, die der Ermordung Julius Caesars 44 v. Chr. folgten, getötet wurde. Seinen Kopf und seine rechte Hand stellte man mitten in Rom zur Schau – und gab sie der Verstümmelung preis.

2

Noch immer ist in ganz Rom das Kürzel SPQR zu finden, auf Kanaldeckeln ebenso wie auf Abfallbehältern. Es reicht zurück bis zu Lebzeiten Ciceros und ist damit eine der Abkürzungen, die sich am längsten gehalten haben. Unweigerlich wurde sie auch verballhornt; sehr beliebt ist in Italien die Lesart: »Sono Pazzi Questi Romani«, »Die spinnen, diese Römer«.

Ciceros grausiger Tod kündigte eine noch tiefgreifendere Umwälzung im 1. Jahrhundert v. Chr. an, die mit der Ausübung politischer Macht durch das Volk begonnen hatte, auch wenn es sich dabei nicht um eine »Demokratie« im eigentlichen Sinne handelte, und mit der Inthronisierung eines Alleinherrschers für das Römische Reich endete. Cicero mochte zwar 63 v. Chr. »den Staat gerettet« haben, aber in Wirklichkeit sollte der Staat, wie er ihn kannte, nicht mehr lange bestehen bleiben. Am Horizont zeichnete sich eine andere Revolution ab, die erfolgreicher verlaufen sollte als die Catilinas. Zu dem »Senat und Volk von Rom« kam schon bald die anmaßende Position des »Kaisers« hinzu, verkörpert von einer Reihe autokratischer Herrscher, die jahrhundertelang als fester Bestandteil der westlichen Geschichte umschmeichelt oder beschimpft und deren Weisungen befolgt oder ignoriert werden sollten. Dazu kommen wir jedoch erst später. Zunächst wenden wir uns einem der denkwürdigsten, bedeutendsten und aufschlussreichsten Momente in der gesamten römischen Geschichte zu.

Cicero gegen Catilina

In dem Konflikt zwischen Cicero und Catilina prallten politische Ideologien und Ambitionen aufeinander, aber auch Männer von äußerst unterschiedlicher Herkunft. Beide standen in der politischen Führungsriege Roms, aber damit endeten ihre Gemeinsamkeiten auch schon. Tatsächlich veranschaulichen ihre gegensätzlichen Karrieren lebhaft, wie vielschichtig das politische Leben im Rom des 1. Jahrhunderts v. Chr. sein konnte.[1]

Catilina, der Möchtegern-Revolutionär, hatte den konventionelleren, privilegierteren und scheinbar sichereren Start ins Leben wie auch in die Politik. Er kam aus einer angesehenen Patrizierfamilie, die ihre Abstammung über Jahrhunderte hinweg bis zu den mythischen Gründungsvätern Roms zurückführte. Sein Urahn Sergestus war angeblich nach dem Trojanischen Krieg zusammen mit Aeneas aus Kleinasien nach Italien geflüchtet, noch bevor Rom auch nur existiert hatte. Zu seinen blaublütigen Vorfahren zählte sein Urgroßvater, der sich im Krieg gegen Hannibal als Held hervorgetan und zusätzliche Berühmtheit erlangt hatte, weil er als erster bekannter Träger einer Handprothese in den Kampf gezogen war – vermutlich handelte es sich nur um einen Metallhaken als Ersatz für seine rechte Hand, die er in einer früheren Schlacht verloren hatte. Catilina machte schon früh erfolgreich Karriere und wurde in eine Reihe nachgeordneter politischer Ämter gewählt, stand aber 63 v. Chr. kurz vor dem Bankrott. Ihm wurden einige Verbrechen angelastet, vom Mord an seiner ersten Frau und seinem Sohn bis hin zum Geschlechtsverkehr mit einer jungfräulichen Priesterin. Selbst wenn er kostspieligen Lastern gefrönt haben mochte, erwuchsen seine finanziellen Probleme teils aus seinen wiederholten Versuchen, sich zum Konsul wählen zu lassen, also in das mächtigste politische Amt der Stadt.

Wahlkämpfe in Rom konnten teuer werden. Im 1. Jahrhundert v. Chr. erforderten sie eine großzügige Freigiebigkeit, die nicht so leicht von Bestechung zu unterscheiden ist. Es ging um viel. Die Wahlsieger hatten die Chance, durch manche Vergünstigungen ihres Amtes ihre Auslagen legal oder illegal wieder hereinzuholen. Die unterlegenen Kandidaten – und wie bei den militärischen Niederlagen gab es davon in Rom mehr, als gemeinhin eingeräumt wird – versanken noch tiefer in Schulden.

In dieser Lage befand sich Catilina, nachdem er bei den jährlichen Wahlen der beiden Konsuln 64 und 63 v. Chr. unterlegen war. Obwohl es gewöhnlich heißt, er habe schon vorher in diese Richtung tendiert, blieb ihm nun kaum etwas anderes übrig, als sich in »Revolution«, »direkte Aktion« oder »Terrorismus« zu flüchten, wie immer man es auch nennen mag. Gemeinsam mit anderen, ähnlich bedrängten Oberschicht-Desperados suchte er die Unterstützung unzufriedener Armer in der Stadt und stellte außerhalb von Rom ein improvisiertes Heer auf. Unermüdlich wiederholte er seine leichtfertigen Versprechungen eines Schuldenerlasses (in den Augen der römischen Grundbesitzer die verwerflichste Form von Radikalismus) und seine tollkühnen Drohungen, die führenden Politiker zu beseitigen und die ganze Stadt in Brand zu stecken.

So fasste zumindest Cicero, der meinte, zu denen zu gehören, die vernichtet werden sollten, die Motive und Ziele seines Gegners zusammen. Er war aus ganz anderem Holz geschnitzt als Catilina. Wie alle hochrangigen römischen Politiker stammte auch er aus einer wohlhabenden Grundbesitzerfamilie. Aber seine Wurzeln lagen außerhalb der Hauptstadt in Arpinum, das gut hundert Kilometer – bei der Reisegeschwindigkeit in der Antike also mindestens eine Tagesreise – entfernt war. Lokal muss seine Familie zwar eine bedeutende Rolle gespielt haben, doch in Rom hatte sich vor ihm noch keiner seiner Verwandten jemals auf der politischen Bühne hervorgetan. Da Cicero nicht über Catilinas vorteilhafte Herkunft verfügte, setzte er auf seine angeborenen Talente: auf die sorgsame Pflege hochrangiger Beziehungen und auf seine Redegewandtheit. Einen Namen machte er sich vor allem als Staranwalt an den römischen Gerichten, und seine Berühmtheit und die prominenten Unterstützer, die er so gewann, sorgten dafür, dass er ebenso mühelos wie Catilina nacheinander in die erforderliche Abfolge nachgeordneter Ämter gewählt wurde. Während Catilina jedoch 64 v. Chr. mit seiner Kandidatur für das Konsulat des Folgejahres scheiterte, gelang es Cicero, die Wahl zu gewinnen.

Dieser krönende Erfolg stand keineswegs von vornherein fest. Trotz seiner Berühmtheit hatte Cicero den Nachteil, ein »neuer Mann« (homo novus) zu sein, wie die Römer Männer ohne politischen Stammbaum nannten, und offenbar hatte er trotz Catilinas zweifelhaftem Ruf zeitweise sogar ein Wahlbündnis mit ihm in Erwägung gezogen. Da das römische Wahlsystem den Stimmen der Reichen unverhohlen und schamlos mehr Gewicht einräumte, müssen viele von ihnen Cicero für die bessere Alternative gehalten haben, obwohl sie ihm als »Neuling« eigentlich eine snobistische Verachtung entgegenbrachten. Manche seiner Rivalen bezeichneten ihn lediglich als »Zugereisten« in Rom (inquilinus), dennoch belegte er bei der Wahl den ersten Platz.[2] Catilina landete auf dem undankbaren dritten Platz. Zweiter Konsul wurde Gaius Antonius Hybrida – Onkel eines berühmteren Antonius (Marcus Antonius) –, dessen Ruf sich als nicht besser als der Catilinas erweisen sollte.

Im Sommer 63 v. Chr. erfuhr Cicero offenbar, dass von Catilina, der erneut sein Glück als Kandidat versuchte, ernstliche Gefahr drohte. Er nutzte sein Amt als Konsul, um die nächste Wahl zu verschieben, und als er sie schließlich abhalten ließ, erschien er zur Abstimmung mit bewaffneten Leibwächtern und deutlich sichtbarem Brustharnisch unter der Toga – eine theatralische Demonstration, die in der Verbindung von ziviler und militärischer Aufmachung ebenso beunruhigend unangemessen war, wie wenn ein moderner Politiker im Anzug und mit Maschinenpistole über der Schulter ins Parlament käme. Aber es wirkte. Diese Einschüchterungstaktik und Catilinas lautstark populistisches Programm sorgten dafür, dass er erneut unterlag. Mit seiner Strategie, sich als Verelendeten zu inszenieren, der für andere Verelendete eintrat, hatte er sich bei Oberschichtwählern wohl kaum beliebt gemacht.

Kurz nach der Wahl, irgendwann im Herbst, erreichten Cicero eindeutigere Erkenntnisse über eine Gewaltverschwörung. Lange hatte ihn die Freundin eines »Komplizen« von Catilina, eine Frau namens Fulvia, die mehr oder weniger als Doppelagentin fungierte, mit spärlichen Informationen versorgt. Dank eines weiteren Verrats auf der gegnerischen Seite hatte Cicero nun durch Vermittlung des wohlhabenden Marcus Crassus ein Bündel Briefe in der Hand, die sich auf das geplante furchtbare Blutbad bezogen und Catilina unmittelbar belasteten – Informationen, die schon bald durch eindeutige Berichte erhärtet wurden, dass sich nördlich der Stadt Truppen zur Unterstützung des Aufstands sammelten. Nachdem Cicero dank einer Warnung Fulvias einem für den 7. November geplanten Mordversuch entgangen war, berief er für den folgenden Tag den Senat ein, um Catilina offiziell anzuprangern und zum Verlassen der Stadt zu bewegen.

Bereits im Oktober hatten die Senatoren einen Beschluss gefasst, der Cicero als Konsul aufforderte (oder ermächtigte), er möge »achtgeben, dass der Staat keinerlei Schaden nehme« – also die antike und ebenso umstrittene Version moderner Notstands- oder Antiterrorgesetze.[3] Am 8. November hörten sie nun zu, als Cicero die Vorwürfe gegen Catilina in einer glühenden, gut untermauerten Angriffsrede vorbrachte. Es war eine wunderbare Mischung aus Zorn, Empörung, Selbstkritik und scheinbar harten Fakten.[4] In einem Augenblick erinnerte er die Versammlung an Catilinas berüchtigte Vergangenheit, im nächsten täuschte er Bedauern vor, dass er selbst nicht schnell genug auf die Gefahr reagiert habe – um dann präzise Details der Verschwörung aufzulisten: in wessen Haus sich die Verschwörer an welchen Tagen getroffen hatten, wer daran beteiligt war und was sie im Einzelnen geplant hatten. Catilina war persönlich erschienen, um sich den Vorwürfen zu stellen. Er forderte die Senatoren auf, nicht alles zu glauben, was man ihnen sagte, und mokierte sich über Ciceros bescheidene Herkunft im Vergleich zu seinen eigenen angesehenen Vorfahren und deren herausragenden Leistungen. Ihm muss jedoch die Hoffnungslosigkeit seiner Lage klargeworden sein, denn noch in der Nacht verließ er die Stadt.

Im Senat

Diese Konfrontation zwischen Cicero und Catilina im Senat ist der entscheidende Moment der ganzen Geschichte: Die beiden Gegner standen sich in einer Institution gegenüber, die das Zentrum der römischen Politik bildete. Aber wie können wir uns diese Szene bildlich vorstellen? Der berühmteste neuzeitliche Versuch, uns vor Augen zu führen, was an jenem 8. November geschah, ist das Gemälde des italienischen Künstlers Cesare Maccari aus dem späten 19. Jahrhundert (siehe Farbtafel 1 und Ausschnitt Abb. 3). Das Bild entspricht vielen unserer vorgefassten Vorstellungen über das antike Rom und sein öffentliches Leben – grandios, weiträumig, förmlich und elegant.

3

Cesare Maccari zeigt in seinem Gemälde »Ciceros Rede gegen Catilina« Cicero im Senat, als er gerade frei und offenbar ohne Notizen seine Rede hält. Das Bild fängt anschaulich eine der prägenden Bestrebungen der römischen Elite ein: ein »tüchtiger, redegewandter Mann« zu sein (vir bonus dicendi peritus).

Ohne Zweifel hätte es Cicero gefallen. Catilina sitzt isoliert mit gesenktem Kopf da, als ob niemand es wagen würde, in seine Nähe zu kommen, geschweige denn mit ihm zu sprechen. Dagegen ist Cicero der Star der Szene, er steht neben einer rauchenden Feuerschale vor einem Altar und spricht zu den aufmerksam lauschenden Senatoren, die in die Toga gekleidet sind. Die Alltagskleidung der Römer – Tuniken, Umhänge und gelegentlich sogar Hosen – war wesentlich bunter und vielfältiger. Die Toga war jedoch die förmliche Nationalkleidung: Römer definierten sich gelegentlich als gens togata, als »das Volk in der Toga«, während manche außenstehenden Zeitgenossen sich über dieses seltsame, unpraktische Kleidungsstück lustig machten. Eine Toga war weiß und bei Inhabern öffentlicher Ämter mit einer purpurnen Borte eingefasst. Von der toga candida, der besonders weißen Toga, die Römer während eines Wahlkampfs trugen, um die Wähler zu beeindrucken, leitet sich unser heutiges Wort Kandidat her. In einer Welt, in der die gesellschaftliche Stellung zur Schau gestellt werden musste, gingen die Feinheiten der Kleiderordnung sogar noch weiter: Auch die Tunika, die sie unter der Toga trugen, war mit einer purpurroten Borte versehen, die bei Senatoren breiter und bei »Rittern«, der zweithöchsten Rangstufe der römischen Gesellschaft, schmaler war, und für beide Ränge gab es jeweils spezielle Schuhe.

Maccari hat die eleganten Togen gut dargestellt, auch wenn er die bezeichnenden Borten offenbar vergessen hat. Aber in nahezu jeder anderen Hinsicht gibt das Gemälde lediglich eine verlockende Phantasie dieses Ereignisses und ihres Rahmens wieder. Es stellt Cicero als weißhaarigen älteren Staatsmann dar und Catilina als verdrossenen jungen Schurken, obwohl beide damals bereits Mitte vierzig zählten und Catilina zwei Jahre älter war als Cicero. Zudem ist die Versammlung viel zu spärlich besucht. Sofern der Betrachter sich nicht vorstellen soll, dass noch weitere Personen außerhalb des Blickfeldes sitzen, hören kaum fünfzig Senatoren sich die wichtige Rede an.

Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. umfasste der Senat gut sechshundert Mitglieder, ausnahmslos Männer (Frauen hatten im antiken Rom keine politischen Ämter inne), die zuvor ein politisches Amt bekleidet hatten. Jeder der zwanzig Quästoren, die alljährlich gewählt wurden, erhielt automatisch auf Lebenszeit einen Sitz im Senat. Dieses Gremium trat regelmäßig zusammen, debattierte, beriet die Konsuln und fasste Beschlüsse, die praktisch meist befolgt wurden – da sie jedoch keine Gesetzeskraft besaßen, bestand immer die heikle Frage, was passieren würde, wenn ein Senatsbeschluss missachtet oder schlicht ignoriert würde. Sicher schwankte die Teilnahme an den Senatssitzungen, dürfte aber bei dieser besonderen Gelegenheit recht hoch gewesen sein.

Was den Rahmen angeht, so wirkt er durchaus römisch, ist aber mit der gewaltigen Säule am linken oberen Bildrand und der opulenten Marmorverkleidung der Wände viel zu grandios für nahezu sämtliche römischen Bauwerke dieser Periode. Unser heutiges Bild der antiken Stadt als übervoll von großflächig verarbeitetem, glänzendem Marmor ist nicht ganz falsch, entspricht aber einer späteren Entwicklung in der römischen Geschichte, die erst mehr als dreißig Jahre nach der Catilinarischen Verschwörung mit der Alleinherrschaft der Kaiser und der systematischen Ausbeutung der Marmorsteinbrüche im norditalienischen Carrara begann.

Zu Ciceros Zeit war Rom mit seinen gut einer Million Einwohnern noch überwiegend von Bauten aus Backstein und regionalem Naturstein geprägt, ein Gewirr aus gewundenen Straßen und finsteren Gassen. Ein Besucher aus Athen oder Alexandria, wo es zahlreiche Bauwerke im Stil des Maccari-Gemäldes gab, hätte die Stadt als wenig beeindruckend, um nicht zu sagen verwahrlost empfunden. Sie war eine solche Brutstätte von Krankheiten, dass ein römischer Arzt später schrieb, man brauche keine Lehrbücher zu lesen, um Malaria zu erforschen – sie sei überall in Rom zu finden. Mietshäuser in den Elendsvierteln boten den Armen trostlose Behausungen, aber den gewissenlosen Hauseigentümern lukrative Gewinne. Cicero selbst hatte viel Geld in minderwertige Immobilien investiert und scherzte einmal – mehr aus Überheblichkeit als aus Verlegenheit –, selbst die Ratten hätten eines seiner baufälligen Mietshäuser verlassen.[1]

Einige wenige der reichsten Römer erregten zu dieser Zeit gerade Stirnrunzeln mit ihren vornehmen Privathäusern, die nur so strotzten von kunstvollen Gemälden, anmutigen griechischen Statuen, eleganten Möbeln (einbeinige Tische lösten besonders viel Neid und Unbehagen aus) und sogar importierten Marmorsäulen. Vereinzelt gab es auch grandiose öffentliche Bauwerke aus Marmor oder mit Marmorverkleidung, die einen Vorgeschmack auf das verschwenderische Erscheinungsbild der zukünftigen Stadt boten. Damit hatte der Versammlungsort des Senats am 8. November 63 v. Chr. jedoch keinerlei Ähnlichkeit.

Cicero hatte die Senatssitzung in einem Tempel anberaumt, wie es oft der Fall war. Diesmal handelte es sich um einen bescheidenen alten Bau, der dem Gott Jupiter geweiht war, im Stadtzentrum in der Nähe des Forums stand und den üblichen rechteckigen Grundriss aufwies, nicht etwa das Halbrund aus Maccaris Phantasie – wahrscheinlich war das Innere klein und nur spärlich mit Lampen und Fackeln beleuchtet, die das Fehlen von Fenstern kaum ausgleichen konnten. Wir müssen uns vorstellen, dass sich mehrere hundert Senatoren in einen stickigen, überfüllten Raum zwängten, manche auf provisorischen Stühlen und Bänken saßen, andere standen und sich unter einer altehrwürdigen Jupiterstatue zusammendrängten. Ohne Zweifel war es ein wichtiges Ereignis der römischen Geschichte, aber ebenso sicher ist, dass es wie vieles in Rom in Wirklichkeit wesentlich weniger vornehm zuging, als wir es uns gern ausmalen.

Triumph – und Demütigung

Die folgende Entwicklung wurde nicht von bewundernden Malern nachempfunden. Catilina verließ Rom und stieß zu seinen Anhängern, die außerhalb ein Heer zusammengekratzt hatten. Unterdessen betrieb Cicero geschickte verdeckte Ermittlungen, um die in der Stadt zurückgebliebenen Verschwörer zu überführen. Diese hatten – unbedacht, wie sich herausstellte – versucht, in den Putschversuch eine Delegation aus Gallien einzubeziehen, die nach Rom gekommen war, um sich über die Ausbeutung durch die römischen Provinzstatthalter zu beschweren. Diese Gallier beschlossen, aus welchen Gründen auch immer – vielleicht nur aus dem Instinkt heraus, sich auf die Seite des Siegers zu schlagen –, insgeheim mit Cicero zusammenzuarbeiten, und konnten erdrückende Beweise mit Namen, Orten, Plänen und einige Briefe mit weiteren belastenden Informationen beschaffen. Es kam zu Verhaftungen und den üblichen wenig überzeugenden Ausreden. Als man im Haus eines Verschwörers ein Waffenlager fand, beteuerte dieser seine Unschuld und behauptete, er sammele Waffen.

Am 5. Dezember berief Cicero erneut den Senat ein, um zu beraten, was mit den mittlerweile festgenommenen Männern geschehen sollte. Dieses Mal fand die Sitzung im Tempel der Concordia statt, der Göttin der Eintracht – ein untrügliches Zeichen, dass im Staat alles andere als Eintracht herrschte. Julius Caesar machte den gewagten Vorschlag, die inhaftierten Verschwörer im Gefängnis zu behalten, und zwar bis man sie nach Beendigung der Krise in einem ordentlichen Gerichtsverfahren verurteilen könnte (laut einer Darstellung) oder lebenslang (nach einer anderen Version). Haftstrafen waren in der Antike nicht üblich, Gefängnisse hatten kaum eine andere Funktion, als Kriminelle bis zu ihrer Hinrichtung einzusperren. Das gängige Repertoire an Strafen bestand in Rom aus Geldbußen, Verbannung und Hinrichtung. Wenn Caesar sich 63 v. Chr. tatsächlich für lebenslange Gefängnisstrafen aussprach, schlug er sie damit wahrscheinlich erstmals in der westlichen Geschichte als Alternative zur Todesstrafe vor – allerdings erfolglos. Gestützt auf die »Notstandsbeschlüsse« und die lautstarke Unterstützung zahlreicher Senatoren ließ Cicero die Männer hinrichten, ohne auch nur einen Schauprozess abzuhalten. Triumphierend verkündete er einer jubelnden Menge ihren Tod mit einem berühmten Euphemismus, der nur aus einem einzigen Wort bestand: vixere – »sie haben gelebt«, sprich: »Sie sind tot«.

Innerhalb einiger Wochen besiegten römische Legionen Catilinas Heer der Unzufriedenen in Norditalien. Catilina kämpfte mit seinen Männern tapfer an der Front, bis er fiel. Am Tag der Entscheidungsschlacht übergab der römische Oberbefehlshaber, Ciceros Mitkonsul Antonius Hybrida, angeblich wegen eines Fußleidens das Kommando an seinen Stellvertreter – was in manchen Kreisen Zweifel aufkommen ließ, welcher Seite seine Sympathien galten. Er war nicht der Einzige, dessen Motive in Frage gestellt wurden. Schon seit der Antike kursierten alle möglichen wilden, eindeutig unbewiesenen Spekulationen, welche weitaus erfolgreicheren Männer insgeheim Catilina unterstützt haben mochten. War er in Wirklichkeit ein Agent des verschlagenen Marcus Crassus? Und welche Position vertrat Caesar in Wahrheit?

Dennoch war Catilinas Niederlage ein eindeutiger Sieg für Cicero, und seine Anhänger ehrten ihn mit dem Beinamen pater patriae, »Vater des Vaterlandes« – in einer durch und durch patriarchalischen Gesellschaft wie der römischen einer der glanzvollsten und befriedigendsten Titel. Aber schon bald verkehrte sich sein Erfolg ins Gegenteil. Bereits an seinem letzten Tag als Konsul verhinderten zwei seiner politischen Rivalen, dass er die übliche Abschiedsrede an das römische Volk hielt, und meinten, »demjenigen, der andre ungehört bestraft habe, dürfe man selbst nicht die Möglichkeit geben, zu Gehör zu kommen«.[1] Einige Jahre später, 58 v. Chr., beschloss das römische Volk, allgemein jeden zu verbannen, der ohne Gerichtsverfahren den Tod eines Bürgers herbeigeführt hatte. Cicero verließ Rom, kurz bevor ein weiteres Gesetz verabschiedet wurde, das ihn namentlich ächtete.

Bislang spielte das Volk von Rom – Populus(Que) Romanus – keine herausragende Rolle in dieser Geschichte. Dieses »Volk« war ein erheblich größeres und amorpheres Gebilde als der Senat und bestand politisch aus allen männlichen Bürgern Roms – Frauen besaßen keine formalen politischen Rechte. Das waren 63 v. Chr. etwa eine Million Männer, die in der Hauptstadt, in Italien und teils in anderen Regionen lebten. Praktisch umfasste es gewöhnlich wenige Tausende oder einige Hunderte Bürger, die sich jeweils zu Wahlen, Abstimmungen oder Versammlungen in Rom einfanden. Über die Frage, wie viel Einfluss das Volk hatte, bestanden in der römischen Geschichte schon immer – selbst in der Antike – heftige Kontroversen, aber zwei Dinge stehen fest: Zu dieser Zeit war es die einzige Instanz, das öffentliche Ämter vergeben konnte. Ganz gleich, wie blaublütig ein Mann auch war, konnte er nur Konsul werden, wenn das römische Volk ihn wählte. Und nur das Volk konnte im Gegensatz zum Senat Gesetze verabschieden. Ciceros Gegner argumentierten 58 v. Chr., mit der Hinrichtung der Anhänger Catilinas hätte er gegen das Grundrecht eines jeden römischen Bürgers auf ein ordentliches Gerichtsverfahren verstoßen, ganz gleich auf welche Autorität er sich nach dem »Notstandsbeschluss« des Senats berufen habe. Daher müsse das Volk ihn verbannen.

Der einstige »Vater des Vaterlandes« verbrachte ein elendes Jahr in Nordgriechenland (sein erbärmliches Selbstmitleid ist nicht gerade einnehmend), bis das Volk beschloss, ihn zurückzuholen. Unter dem Jubel seiner Anhänger kehrte er nach Rom zurück. Mittlerweile war sein Stadthaus jedoch zerstört und auf dem Grundstück ein Tempel für die Göttin Libertas, die Personifikation der Freiheit, erbaut worden, als ob man die politische Botschaft hätte unterstreichen wollen. Ciceros Karriere erholte sich nie völlig von diesem Schlag.

Aufzeichnungen

Dass wir über diese Geschichte so eingehend Bescheid wissen, hat ganz einfache Gründe: Die Römer schrieben selbst viel darüber, und ein Großteil dieser Schriften ist erhalten geblieben. Häufig beklagen moderne Historiker, dass uns über manche Aspekte der antiken Welt kaum etwas bekannt sei. »Man bedenke nur, wie wenig wir über das Leben der Armen oder über die Sicht der Frauen wissen«, lamentieren sie. Diese Haltung ist ebenso anachronistisch wie irreführend. Die Verfasser römischer Literatur waren nun einmal fast ausschließlich Männer, zumindest sind nur sehr wenige Werke von Frauen überliefert (die Autobiographie Agrippinas, der Mutter Kaiser Neros, zählt zu den bedauerlichsten Verlusten der antiken Literatur). Diese Männer waren nahezu ausnahmslos wohlhabend, auch wenn manche römischen Dichter vorgaben, in winzigen Dachstuben zu hungern, wie es Dichter noch heute gelegentlich tun.

Der ungewöhnlichste Einzelaspekt der römischen Welt ist, dass so viele Schriften der Römer über zwei Jahrtausende hinweg erhalten geblieben sind. Wir haben nicht nur die bereits erwähnten Dichtungen, Briefe, Abhandlungen, Reden und Historien, sondern auch Romane, geographische Berichte, Satiren und Unmengen von Fachliteratur über alles Erdenkliche von der Wasserversorgung bis hin zu Medizin und Krankheiten. Ihre Überlieferung ist weitgehend dem Fleiß von mittelalterlichen Mönchen zu verdanken, die diejenigen Werke der Antike, die sie für die wichtigsten oder nützlichsten hielten, immer wieder handschriftlich kopierten, sowie dem bedeutenden, aber häufig vergessenen Beitrag islamischer Gelehrter, die im Mittelalter einige philosophische und wissenschaftliche Schriften ins Arabische übersetzten. Zudem gruben Archäologen in Ägypten Papyri aus dem Wüstensand und aus Abfallgruben aus, entdeckten in Nordengland hölzerne Schreibtafeln römischer Militärstützpunkte und im ganzen Imperium aussagekräftige Grabsteine, die Einblicke in das Leben und die Schriftzeugnisse einfacherer Einwohner der römischen Welt vermitteln: in die Heimat geschickte Briefe, Einkaufslisten, Rechnungsbücher und letzte Worte auf Gräbern. Obwohl das nur ein Bruchteil des einst existierenden Materials ist, steht uns mehr römische Literatur – und mehr an sonstigen römischen Schriftzeugnissen – zur Verfügung, als ein Einzelner im Laufe seines Lebens gründlich durcharbeiten kann.

Woher wissen wir nun über den Konflikt zwischen Catilina und Cicero Bescheid? Die Geschichte wurde auf verschiedenen Wegen überliefert, und gerade diese Vielfalt macht sie so interessant. In den Werken einiger römischer Historiker – die alle mindestens hundert Jahre nach diesem Ereignis verfasst wurden –, unter anderem in einer antiken Cicero-Biographie, finden sich kurze Berichte darüber. Wichtiger und aufschlussreicher ist eine lange Abhandlung mit einer eingehenden Schilderung und Analyse zum »Krieg gegen Catilina« oder Bellum Catilinae, wie der Titel nahezu mit Sicherheit in der Antike lautete. Gaius Sallustius Crispus, heute kurz Sallust genannt, schrieb sie nur zwanzig Jahre nach diesem »Krieg« um 41 v. Chr. Er war ein »neuer Mann« wie Cicero, ein Freund und Verbündeter Julius Caesars und politisch eine äußerst schillernde Gestalt: Seine Amtszeit als römischer Statthalter in Nordafrika war selbst nach römischen Maßstäben berüchtigt für Korruption und Erpressung. Doch trotz – oder vielleicht gerade wegen – seiner nicht sonderlich rühmlichen Karriere ist Sallusts Darstellung eine der schärfsten politischen Analysen, die aus der Antike überliefert sind.

Sallust schilderte nicht nur den Ablauf des Putschversuchs, seine Ursachen und sein Ergebnis, sondern stellte Catilina auch als Sinnbild für die allgemeineren Mängel im Rom des 1. Jahrhunderts v. Chr. hin. Nach seiner Ansicht hatten der Erfolg der Stadt sowie Wohlstand, Habgier und Machthunger, die dort seit der Eroberung des Mittelmeerraums und der Zerschlagung aller ernstzunehmenden Rivalen herrschten, die moralischen Grundlagen der römischen Kultur zerstört. Der entscheidende Augenblick lag demnach 83 Jahre vor dem Krieg gegen Catilina, als römische Heere 146 v. Chr. Karthago, Hannibals Heimatbasis an der afrikanischen Nordküste, endgültig zerstört hatten. Danach existierte keine ernsthafte Bedrohung mehr für die römische Vorherrschaft, meinte Sallust. Er gestand Catilina durchaus positive Eigenschaften zu, von Tapferkeit auf dem Schlachtfeld bis hin zu außerordentlichem Durchhaltevermögen: »Hunger, Kälte und Wachdienst ertrug er mit schier unglaublicher Ausdauer.«[1] Zugleich sah er in ihm jedoch ein Symbol für viele Defizite, die Rom zu seiner Zeit aufwies.

Sallusts Darstellung liegen andere anschauliche Dokumente zugrunde, die letztlich auf Cicero zurückgehen und dessen Version des Geschehens wiedergeben. In einigen Briefen an seinen engsten Freund Titus Pomponius Atticus – ein wohlhabender Mann, der nie ein politisches Amt bekleidete, aber häufig hinter den Kulissen die Strippen zog – erwähnte Cicero seine anfangs freundschaftlichen Beziehungen zu Catilina. Zwischen familiären Neuigkeiten über die Geburt seines Sohnes (»Dir kund und zu wissen, daß ich durch ein Söhnchen erfreut worden bin …«) und über zwei neue Statuen, die für sein Haus aus Griechenland eingetroffen waren, berichtete er Atticus 65 v. Chr., er überlege, Catilina in der Hoffnung auf eine spätere Zusammenarbeit vor Gericht zu verteidigen.[2]

Wie solche Privatbriefe an die Öffentlichkeit gelangten, ist ein Rätsel. Wahrscheinlich brachten Mitglieder aus Ciceros Haushalt nach seinem Tod Kopien der Briefe in Umlauf, die schon bald unter Anhängern und Gegnern eifrige Leser fanden. Veröffentlicht im heutigen Sinne wurde in der Antike nichts davon. Dennoch sind nahezu tausend Briefe erhalten geblieben, die dieser große Mann in den letzten gut zwanzig Jahren seines Lebens schrieb oder erhielt. Sie zeugen von seinem Selbstmitleid im Exil (»… der Kummer übermannt mich«) und von seinem Schmerz über den Tod seiner Tochter, die im Kindbett starb, befassen sich aber auch mit allen erdenklichen Themen von diebischen Mittelsmännern über Scheidungen in der Oberschicht bis hin zu den Ambitionen Julius Caesars und gehören damit zu den faszinierendsten Dokumenten aus dem antiken Rom, die wir besitzen.[3]

Ebenso faszinierend und vielleicht noch überraschender ist ein anderer überlieferter Text, Teil einer langen Dichtung, in der Cicero seine Leistungen als Konsul feierte.[4] Sie ist nicht mehr vollständig erhalten, war aber berühmt oder berüchtigt genug, dass Cicero selbst und andere antike Autoren mehr als siebzig Zeilen daraus in späteren Werken zitierten. Sie enthält einen der bekanntesten, gleichwohl anrüchigsten lateinischen Aussprüche, die das finstere Mittelalter überlebt haben: »O fortunatam natam me consule Romam« – ein Eigenlob, das besagt: »Du glückliches Rom, geboren, als ich Konsul war!«[5] Offenbar kam in dem Gedicht eine »Versammlung der Götter« vor, in der unser übermenschlicher Konsul mit dem göttlichen Senat auf dem Olymp diskutierte, wie er mit Catilinas Verschwörung umgehen solle – was man ihm als erheblichen, wenngleich leicht lächerlichen Mangel an Bescheidenheit auslegte.

Im 1. Jahrhundert v. Chr. hingen Ansehen und Ruhm in Rom nicht nur von Mundpropaganda ab, sondern auch von – zuweilen raffiniert bis peinlich inszenierter – Öffentlichkeitsarbeit. So ist bekannt, dass Cicero einen seiner Historikerfreunde, Lucius Lucceius, zu überreden versuchte, einen Jubelbericht über seinen Sieg über Catilina und dessen Folgen zu schreiben (»Ich bin rein versessen darauf«, schrieb er in einem Brief, »meinen Namen durch Deine Schriften verherrlicht und gefeiert zu sehen«).[6] Außerdem hoffte er, dass ein griechischer Dichter, den er in einem komplizierten Auswanderungsfall vor römischen Gerichten verteidigt hatte, zu diesem Thema ein würdiges Epos schreiben würde.[7] Wie die Dinge lagen, musste er die Eloge auf sich jedoch selbst dichten. Einige moderne Kritiker haben sich nicht sonderlich überzeugend bemüht, die literarische Qualität dieser Dichtung und sogar ihrer bekanntesten Zeile (»O fortunatam natam …«) zu verteidigen. Die meisten römischen Kritiker, deren Ansichten zu diesem Machwerk überliefert sind, machten sich sowohl über seine Eitelkeit als auch über seine Sprache lustig. Selbst einer der größten Bewunderer Ciceros, ein eifriger Student seiner rhetorischen Techniken, bedauerte dessen Eigenlob: »Wäre er doch nur in seinen Gedichten sparsamer damit gewesen.« Andere spotteten unverhohlen über das Gedicht oder parodierten es.[8]

Den unmittelbarsten Zugang zu den Ereignissen von 63 v. Chr. bieten uns jedoch einige der Reden Ciceros aus der Zeit des Aufstands. Zwei hielt er auf öffentlichen Versammlungen, bei denen er das römische Volk über den Fortschritt der Ermittlungen zu Catilinas Verschwörung informierte und den Sieg über die Dissidenten bekanntgab. Eine weitere war sein Beitrag zur Senatsdebatte am 5. Dezember über die angemessene Bestrafung der Inhaftierten. Seine berühmteste Rede aber war seine Anklage Catilinas vor dem Senat am 8. November; stellen wir uns vor, wie sie in Maccaris Gemälde gerade aus seinem Mund strömt.

Wahrscheinlich brachte Cicero schon bald, nachdem er diese Reden gehalten hatte, Abschriften in Umlauf, die ein kleines Heer von Sklaven mühsam angefertigt hatte. Im Gegensatz zu seinen Dichtungen wurden sie umgehend zu bewunderten und vielzitierten Klassikern der lateinischen Literatur und zu Vorbildern großer Rhetorik, die römische Schüler und angehende Redner während der gesamten restlichen Antike analysierten und imitierten. Sogar Menschen, die nicht fließend Latein sprachen, lasen und studierten sie. Das war eindeutig vierhundert Jahre später im römischen Ägypten der Fall. Die ältesten erhalten gebliebenen Abschriften dieser Reden fand man auf Papyri aus dem 4. oder 5. Jahrhundert n. Chr., die jedoch nur einen Bruchteil der ursprünglich erheblich längeren Texte enthalten. Neben dem lateinischen Original weisen sie eine wörtliche Übersetzung ins Griechische auf. Wir können uns vorstellen, dass ein griechischer Muttersprachler in Ägypten sich mit Ciceros Sprache abmühte und Hilfe brauchte, sie zu begreifen.[9]

Auch viele spätere Schüler hatten damit zu kämpfen. Diese vier Reden Gegen Catilina (In Catilinam) oder Catilinarien, wie man sie häufig auch nennt, fanden Eingang in die westlichen Bildungs- und Kulturtraditionen. Abschriften, die Klöster im Mittelalter anfertigten und verbreiteten, wurden genutzt, um Generationen von Schülern die lateinische Sprache einzupauken. In der Renaissance analysierten Gelehrte und Rhetoriker sie als literarische Meisterwerke, und noch heute haben die gedruckten Ausgaben ihren Platz im Lehrplan aller, die Latein lernen, und sie gelten nach wie vor als Musterbeispiele überzeugender Redekunst, deren Techniken die Grundlage für einige der berühmtesten modernen Reden etwa von Tony Blair oder Barack Obama bilden.

Es dauerte nicht lange, bis der erste Satz der Rede, die Cicero am 8. November hielt (1. Catilinarische Rede), sich zu einem der bekanntesten, unmittelbar erkennbaren Zitate der römischen Welt entwickelte: »Quo usque tandem abutere, Catilina, patienta nostra?« (»Wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld mißbrauchen?«). Dicht darauf, nur einige Zeilen später folgte ein griffiger, bis heute oft zitierter Ausspruch: »O tempora, o mores« (wörtlich: »Welche Zeiten, welche Sitten«, sprich: »In welchen Zeiten leben wir!«).[10] Der Ausdruck »Quo usque tandem …« muss bereits fest im literarischen Bewusstsein der Römer verankert gewesen sein, als Sallust nur zwanzig Jahre später seine Schilderung dieses »Krieges« schrieb, sogar so fest, dass er ihn in spitzzüngiger oder spielerischer Ironie Catilina in den Mund legen konnte. »Quae quo usque tandem patiemini, o fortissimi viri?« (»Wie lange wollt ihr diese Zustände denn noch ertragen, tapferste Kameraden?«), stachelt der Revolutionär bei Sallust seine Anhänger an, indem er sie an die Ungerechtigkeiten erinnert, die sie durch die Oberschicht erfahren haben.[11] Diese Äußerungen sind reine Erfindung. Antike Schriftsteller ließen ihre Protagonisten regelmäßig Reden halten, wie heutige Historiker ihren Charakteren Gefühle und Motive unterstellen. Der Witz ist, dass er Catilina, Ciceros erbittertstem Feind, den berühmtesten Satz seines Gegners in den Mund legte.

Das ist jedoch nur ein Beispiel für viele ironische Anspielungen und pointierte paradoxe »Falschzitate« in der Geschichte dieses geflügelten Wortes. Es schlich sich häufig in die römische Literatur ein, sobald es um Umsturzpläne ging. Nur wenige Jahre nach Sallust schrieb Titus Livius eine Geschichte Roms von den Anfängen der Stadt an, die ursprünglich 142 »Bücher« umfasste – ein umfangreiches Projekt, auch wenn ein Buch in der Antike den Textumfang bezeichnete, der auf eine Papyrusrolle passte und damit etwa einem heutigen Kapitel entsprach. Was Livius über Catilina zu sagen hatte, ist verlorengegangen. Doch als er die Unruhen schilderte, die sich hundert Jahre zuvor abgespielt hatten, besonders die »Verschwörung« eines gewissen Marcus Manlius, der angeblich im 4. Jahrhundert v. Chr. die arme Bevölkerung Roms zur Rebellion gegen die Unterdrückung durch die herrschende Oberschicht aufgewiegelt hatte, griff er auf eine Abwandlung der klassischen Worte zurück. »Quo usque tandem ignorabitis vires vestras?« (»Wie lange noch werdet ihr euch eurer eigenen Kräfte nicht bewußt werden?«), ließ er Manlius seine Anhänger fragen, damit ihnen klar würde, dass sie zwar arm, aber zahlenmäßig stark genug seien, den Sieg zu erringen.[12]

Hier geht es nicht nur um einen sprachlichen Widerhall oder um Catilina als Inbegriff des Schurken, obwohl er diese Rolle sicher oft genug in der römischen Literatur spielt. So wurde sein Name zum Synonym für unbeliebte Herrscher, und ein halbes Jahrhundert später gab Publius Vergilius Maro (oder Vergil, wie er heute gemeinhin genannt wird) ihm einen Gastauftritt in der Aeneis, wo er ihn als Gepeinigten in der Unterwelt darstellt, wie er »bebt vor der Furien Anblick«.[13] Wichtiger ist vielmehr, dass der Konflikt zwischen Catilina und Cicero als wirkmächtige Folie für das Verständnis von zivilem Ungehorsam und Aufständen in der gesamten römischen Geschichte und darüber hinaus diente. Wenn römische Historiker über Revolution schrieben, stand hinter ihren Schilderungen nahezu ausnahmslos das Bild Catilinas, selbst wenn es eine seltsame Umkehrung der Chronologie erforderte. Wie die sorgsam gewählte Formulierung bei Livius zeigt, war sein Patrizier Marcus Manlius, der eine zum Scheitern verurteilte Revolution des verarmten Pöbels anzettelte, weitgehend eine Rückprojektion Catilinas in die Frühgeschichte Roms.

Die andere Seite der Geschichte

Könnte die Geschichte nicht auch eine andere Seite haben? Durch die eingehende Darstellung, die wir aus Ciceros Feder – und Blickwinkel – besitzen, wird seine Sicht immer dominant bleiben. Das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass sie in einem schlichten Wortsinn der Wahrheit entspräche oder die einzig mögliche Sichtweise wäre. Jahrhundertelang haben sich Menschen gefragt, wie befrachtet Ciceros Schilderung eigentlich ist, und haben in seiner Version der Ereignisse gleich unter der Oberfläche alternative Ansichten und Interpretationen entdeckt. Sallust deutet so etwas an. Denn obwohl sich seine Darstellung auf Ciceros Schriften stützte, wollte er seine Leser möglicherweise daran erinnern, dass die Fakten und ihre Interpretation zumindest unsicher waren, indem er Ciceros berühmten Ausspruch Quo usque tandem Catilina in den Mund legte.

Eine Frage, die sich aufdrängt, ist, ob die 1. Catilinarische Rede tatsächlich wiedergibt, was Cicero am 8. November den versammelten Senatoren im Jupitertempel gesagt hat. Es ist kaum vorstellbar, dass er sie vollständig erfunden haben könnte. Wie hätte er damit durchkommen sollen, eine Version in Umlauf zu bringen, die keinerlei Ähnlichkeit mit seiner tatsächlichen Rede gehabt hätte? Aber eine wortwörtliche Übereinstimmung bestand nahezu mit Sicherheit nicht. Falls er anhand von Notizen und Stichworten redete, liegt der überlieferte Text irgendwo zwischen der tatsächlich gehaltenen Rede, soweit er sich daran erinnerte, und der Version, die er gern gehalten hätte. Selbst wenn er ein relativ vollständig ausgearbeitetes Manuskript verlesen haben sollte, hätte er es höchstwahrscheinlich vor der Verbreitung unter Freunden, Kollegen und allen, die er beeindrucken wollte, etwas ausgefeilt, lose Enden verknüpft und die eine oder andere geistreiche Formulierung eingefügt, die damals noch gefehlt hatte oder die ihm an jenem Tag entfallen war.

Viel hängt auch von dem Zeitpunkt ab, wann die Rede aus welchen Gründen in Umlauf gebracht wurde. Aus Ciceros Briefen an Atticus geht hervor, dass er die Abschriften der 1. Catilinarischen Rede im Juni 60 v. Chr. anfertigen ließ, als ihm durchaus klar gewesen sein muss, dass die Kontroverse über die Hinrichtung der »Verschwörer« sich wahrscheinlich nicht von selbst legen würde. Die Schriftfassung seiner Rede dürfte Cicero eine praktische und verlockende Gelegenheit zu seiner Verteidigung geboten haben, auch wenn dazu einige strategische Änderungen und Ergänzungen notwendig waren. So könnte Cicero in der überlieferten Textfassung mit den zahlreichen Stellen, an denen er Catilina als Feind (hostis) bezeichnet, durchaus auf seine Gegner reagiert haben: Indem er die Verschwörer als Staatsfeinde einstufte, unterstellte er, dass sie den Schutz des römischen Rechts nicht verdienten, da sie ihre Bürgerrechte (einschließlich des Rechts auf einen Gerichtsprozess) verwirkt hätten. Dieser Aspekt mag bereits ein Leitmotiv des mündlichen Vortrags der Rede am 8. November gewesen sein, erlangte jedoch in der endgültigen Schriftfassung erheblich größere Bedeutung – und wurde wesentlich nachdrücklicher hervorgehoben, wie ich stark vermute.

Diese Fragen veranlassen uns, nach anderen Versionen dieser Geschichte zu suchen. Ist es möglich, sich, abgesehen von Ciceros Sicht, eine Vorstellung zu verschaffen, wie Catilina und seine Anhänger die Ereignisse gesehen haben mögen? Ciceros Texte und Ansichten dominieren die gegenwärtig vorliegenden Zeugnisse für die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. Es lohnt jedoch immer einen Versuch, seine oder jede andere Version römischer Geschichte »gegen den Strich« zu bürsten, die kleinen Brüche in der Schilderung aufzutun und anhand vorhandener Bruchstücke anderer, unabhängiger Zeugnisse der Frage nachzugehen, ob andere Beobachter die Ereignisse vielleicht anders gesehen haben mögen. Waren die Männer, die Cicero als abscheuliche Schurken beschrieb, tatsächlich so niederträchtig, wie sie in seiner Schilderung erscheinen? In diesem Fall reichen die Hinweise aus, um einige Zweifel zu wecken, ob es tatsächlich so war.

Cicero stellt Catilina als Desperado hin, der allein durch seine Charakterschwächen unter erdrückenden Spielschulden litt. So einfach kann es jedoch nicht gewesen sein. In Rom kam es 63 v. Chr. zu einer Art Kreditklemme und zu größeren wirtschaftlichen und sozialen Problemen, als Cicero zuzugeben bereit war. Zu den Leistungen seines »großen Konsulats« gehörte unter anderem, dass er Bestrebungen im Keim erstickte, armen Römern Land in Italien zuzuteilen. Anders gesagt: Wenn Catilina sich wie ein Schurke verhielt, könnte er gute Gründe gehabt haben und zudem die Unterstützung vieler einfacher Menschen, die eine ähnliche Notlage zu verzweifelten Maßnahmen trieb.