Was der Schulmedizin fehlt - Leander Steinkopf - E-Book

Was der Schulmedizin fehlt E-Book

Leander Steinkopf

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Beschreibung

Wenn wir krank sind, zeigt unser Körper Symptome. Wir sind träge, müde, haben Fieber – die allseits bekannten Abwehrreaktionen unseres Organismus. Doch was, wenn diesen Krankheitsanzeichen noch eine andere Funktion zugrunde liegt, als nur gefährliche Erreger zu bekämpfen? Evolutionspsychologe Leander Steinkopf erklärt, welche Rolle menschliche Interaktion bei der Genesung spielt. Unsere Symptome sollen unseren Mitmenschen signalisieren, dass wir hilfsbedürftig sind. Erst, wenn wir Anerkennung für unser Leiden bekommen, können sie abklingen. Was wir daher brauchen, ist ein Gesundheitssystem, das diesem Heilungsprozess Rechnung trägt und die Arzt-Patienten-Beziehung ernstnimmt.

Das Buch erschien bereits 2018 unter dem Titel »Die andere Hälfte der Heilung« in gebundener Form im Mosaik Verlag.

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Seitenzahl: 212

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Buch

Wenn wir krank sind, zeigt unser Körper Symptome. Wir sind träge, müde, haben Fieber – die allseits bekannten Abwehrreaktionen unseres Organismus. Doch was, wenn diesen Krankheitsanzeichen noch eine andere Funktion zugrunde liegt, als nur gefährliche Erreger zu bekämpfen? Evolutionspsychologe Leander Steinkopf erklärt, welche Rolle menschliche Interaktion bei der Genesung spielt. Unsere Symptome sollen unseren Mitmenschen signalisieren, dass wir hilfsbedürftig sind. Erst wenn wir Anerkennung für unser Leiden bekommen, können sie abklingen. Was wir daher brauchen, ist ein Gesundheitssystem, das diesem Heilungsprozess Rechnung trägt und die Arzt-Patienten-Beziehung ernst nimmt.

Autor

Leander Steinkopf, geboren 1985, ist promovierter Evolutionspsychologe und lebt mit seiner Familie in München. Als freier Autor schrieb er bereits für zahlreiche Fachzeitschriften sowie für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Außerdem tritt er bei wissenschaftlichen Konferenzen als Redner auf.

LEANDER STEINKOPF

WAS DER

SCHULMEDIZIN

FEHLT

Wie Placebos wirken, wie Zuwendung heilt, und warum die Evolution dafür verantwortlich ist

Alle Ratschläge in diesem Buch wurden vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung des Autors beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.

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Dieses Buch ist bereits 2018 unter dem Titel

»Die andere Hälfte der Heilung« im Mosaik Verlag erschienen.

Vollständige Taschenbuchausgabe März 2022

Copyright © 2018 der Originalausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag

Copyright © 2022 dieser Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

GS ∙ IH

ISBN 978-3-641-27291-3V001

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INHALT

INHALT

EINLEITUNG

SYMPTOMSIGNALE

ERKENNBAR ERKÄLTET

SCHNELLER SEX UND LANGES LEBEN

SECHSTER SINN SUCHT SICHERHEIT

AU, AU – AYE, AYE!

NACHDENKEN, SEINLASSEN, AUFGEBEN

KRANKENSTAND UND UMWELTLAGE

AUSDRUCKSWEISEN VON AUSSICHTSLOSEN

BEHANDLUNGSBEDÜRFNISSE

HUSTEN, WIR HABEN EIN PROBLEM!

BETTRUHE ZUR STEINZEIT

LIEBESPERLEN UND ZUCKERPILLEN

BEISTAND UND BESSERUNG

THERAPEUTEN UNTER LEUTEN

BEDEUTUNG ALS BEHANDLUNG

TWO FOR THE SHOW

LINDERNDER SCHWINDEL

MENSCHENMEDIZIN

PRÄHISTORISCHE PERSPEKTIVE

GESÜNDERE GEGENWART

ZUGEWANDTE ZUKUNFT

ANHANG

WEITERFÜHRENDE LITERATUR

QUELLEN

DANK

REGISTER

EINLEITUNG

FRÜHER HABE ICH nur ein geduldiges Lächeln aufgesetzt, wenn mir jemand berichtete, wie Akupunktur gegen seine Schmerzen hilft. Ich habe mir eine Erwiderung verkniffen, wenn mir eine Bekannte sagte, ihre Darmprobleme seien endlich verschwunden – dank Homöopathie. Ich habe nervös meinen Nacken geknetet, wenn jemand meinte, es gehe ihm nun viel besser, da er einen Arzt gefunden hat, der sich Zeit für ihn nimmt. Ich wollte sie nicht mit meinem wissenschaftlichen Weltbild belästigen, das keinen Raum bot für die Lehren von Akupunktur und Homöopathie, das den Arzt als Experten für Diagnose und Therapie zeichnete und nicht als Beauftragten für zwischenmenschliches Geplänkel. Immer habe ich geschwiegen und mir gedacht: »Unsinn!« Aber meine Auffassung hat sich geändert. Ich blieb bei meinem rationalen Weltbild, aber ich bekam eine Idee, wie die Heilungserfahrungen meiner Bekannten wissenschaftlich erklärbar sind. Aber dafür musste ich es erst selbst erleben.

Der Orthopäde ließ das Röntgenbild an den Leuchtschirm schnalzen, das Licht flackerte auf, und dann zeigte er mir, wie er meinen Beckenknochen auseinandernehmen und wieder zusammensetzen würde, um mein Problem zu beheben. Wir waren uns wortkarg wie im Western begegnet, hatten nur ein paar Sätze gewechselt, dann der Schuss des Röntgengeräts. Ich war mit ungeklärten Schmerzen gekommen, nicht besonders schlimm, nun hatte ich Diagnose und Behandlungsplan, und meine Schmerzen waren stark wie nie. Ich hatte erfahren, wie schwer mein Problem war, und das spürte ich nun. Ich wollte eine zweite Meinung. Der nächste Arzt schlug vor, meinen Oberschenkelknochen zu durchtrennen und etwas zu verdrehen, eine Kleinigkeit im Vergleich zum ersten Vorschlag, gleich schon waren meine Sorgen und meine Schmerzen geringer. Ein dritter Arzt sollte mir Gewissheit geben. Ich fragte ihn, welche der zwei Operationen er durchführen würde. Er antwortete: »Beide!« Mein Schmerz und meine Besorgnis erreichten neue Höhen, und ich trug sie eine Weile mit mir herum, denn zu einem vierten Arzt wagte ich mich nicht mehr.

Dann bekam ich eine Empfehlung. Ich weiß nicht mehr von wem, aber womöglich war es eine der Personen, für deren Heilungserfahrungen ich früher nur Schweigen und höfliches Lächeln übrighatte. Dieser Arzt nun nahm sich Zeit für mich, er ließ mich erzählen und von meinen Sorgen berichten, den Diagnosen der anderen Ärzte, er betrachtete Röntgenbilder und untersuchte mich. Erst verwarf er die Diagnosen der anderen, dann zerstreute er jede einzelne meiner Sorgen, und schließlich sprach er sehr streng den Satz: »Sie sind gesund!« Ich sollte wieder Sport machen und mich beflissen dehnen. Gleich ging es mir besser und mit der Zeit noch umso mehr.

Mir ging es besser, doch ich war verwirrt. Letztlich waren es nur Worte von ärztlichen Autoritäten, bedeutsame Bilder, zwischenmenschliche Interaktionen, die mich immer tiefer in Sorge und Schmerz und dann wieder herausgeführt hatten. Das passte nicht in das theoretische Modell der Medizin: der Mensch als Maschine, die Krankheit als eine Fehlfunktion, der Arzt als Techniker, die Behandlung als Reparatur. Kranksein bedeutet dann, dass die Maschine unrund läuft, Ausschuss produziert, jedenfalls nicht ideal ihren Dienst tut, zurückzuführen auf eine spezifische biomechanische Fehlfunktion. Für die wiederum gibt es eine bestimmte Ursache, etwa Verschleiß wie bei Arthrose, Fehljustierungen wie bei Hormonmangel oder äußere Faktoren wie Krankheitserreger. Zur Behandlung der Krankheit muss diese Ursache angegangen, beseitigt und behoben werden, etwa die Erreger abgetötet, das verschlissene Teil ausgewechselt oder der fehlgesteuerte Mechanismus wieder justiert werden. Auf diesem Modell beruht doch der ganze medizinische Fortschritt, von dem wir heute so profitieren! Ich war verwirrt, und ich suchte nach Ordnung, ich suchte sie wieder in der Wissenschaft. Und ich erkannte, ich war nicht irrational und auch die anderen, die mir ihre Heilungsgeschichten erzählt hatten, waren es nicht.

Unser Gefühl ist richtig, dass der Kranke mehr braucht als das passende Medikament. Wir empfinden zu Recht, dass ein guter Arzt mehr leisten muss als eine korrekte Diagnose. Dafür sprechen die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung. Da geht der grippale Infekt schneller vorüber, wenn die Ärzte einfühlsam zu ihren Patienten sind.1 Die Behandlung der Knieschmerzen von Arthritispatienten zeigt mehr Erfolge, wenn man die Ärzte in Kommunikation geschult hat.2 Nicht nur der Wirkstoff im Medikament bringt Linderung, sondern schon der bloße Akt der Medikamentengabe.3 Nicht nur der entscheidende Eingriff während der Operation bringt dem Patienten Besserung, sondern schon die bloße Tatsache des Operiertwerdens.4 Weil sich jemand kümmert. Unwissenschaftliche Alternativmedizin wie Akupunktur oder Handauflegen können Linderung bringen, weil sie ein überzeugendes Ritual bilden, weil sich jemand Zeit nimmt und Nähe gibt.5 Auf der anderen Seite können Symptome sich verschlimmern oder überhaupt erst entstehen, wenn jemand die entsprechende Sorge in uns weckt.6

Meine Verwirrung war gelindert, aber zufrieden war ich noch nicht. Wissenschaftliche Studien haben all diese Erkenntnisse erbracht, aber was sie nicht lieferten, war eine Erklärung, eine Begründung. Sie sagten nicht, warum. Aber ich hatte eine Idee. Mein jahrelanger Weg durch verschiedene wissenschaftliche Disziplinen ergab plötzlich Sinn. Ich wusste nun, wie ich diese Befunde in das wissenschaftliche Weltbild und das Modell der Medizin einfügen könnte. Ich wusste, warum.

Die Idee ist ganz einfach, doch verlangt sorgfältige Erklärung, und dafür schrieb ich dieses Buch. Wir Menschen sind soziale Wesen, denn wir haben eine lange Evolutionsgeschichte des Lebens in der Gruppe hinter uns. Dadurch, dass wir einander bei Krankheit helfen, formte uns die Evolution so, dass wir dieser Hilfe bedürfen und nach ihr verlangen. Diese biologisch festgelegten Bedürfnisse zu erfüllen ist notwendiger Bestandteil einer Behandlung. Zur spezifischen Intervention müssen Zuwendung und Sinn kommen – die andere Hälfte der Heilung. Diese andere Hälfte der Heilung bietet große Möglichkeiten, aber sie hat auch klare Grenzen. Sie wirkt nicht gegen physische Ursachen: Krebs, Keime, Knochenbrüche bekämpft sie nicht. Aber Symptome kann sie lindern, etwa Schmerz, Depressionen, Darmbeschwerden.

Wenn wir empfinden, dass ein Kranker mehr braucht als das passende Medikament, dass ein Arzt mehr bieten sollte als die korrekte Diagnose, dass Geduld und Einfühlung, Pflege und Fürsorge dazugehören, dann begehen wir keine sentimentale Menschelei, sondern blicken in das Funkeln einer entscheidenden Facette der menschlichen Natur. Kranksein ist nicht bloß das isolierte Problem des einzelnen Körpers, sondern ein soziales Phänomen, das auf zwischenmenschlicher Wechselwirkung beruht, genauso wie Paartanz, Fußball oder die Rede vor den Kollegen. Durch den evolutionären Blick dieses Buches werden wir nicht nur Kranksein und Heilung besser begreifen, sondern auch die Natur des Menschen ein bisschen besser verstehen.

ERSTER TEIL

SYMPTOMSIGNALE

ERKENNBAR ERKÄLTET

STELLEN SIE SICH vor, Sie fangen sich eine Erkältung ein, einen Rhinovirus, das Übliche, so wie es vielen jedes Jahr wieder passiert. Ihr Körper setzt sich sogleich gegen diesen Eindringling zur Wehr. Er erhöht die Körpertemperatur, um ihm die Bedingungen zu erschweren und die eigene Immunabwehr zu begünstigen. Die Schleimproduktion in den Atemwegen wird verstärkt, um den Erreger nach draußen zu befördern, auch Husten und Niesen dienen dazu. Die typischen Symptome einer Erkältung sind also Verteidigungsreaktionen des Körpers.

Worüber wir uns üblicherweise beklagen, wenn wir erkältet sind, nämlich Husten, Schnupfen, Fieber, ist nicht das Werk des Virus, sondern die Antwort des Körpers auf den Virus, seine Art der Abwehr.1 Und nun, da Sie diese Verteidigungsreaktionen zeigen, würde man sagen, Sie sind erkältet. Kaum jemand würde sich die Mühe machen, einen Nachweis zu führen, dass da tatsächlich dieser Rhinovirus in ihren Körper eingedrungen ist; die Symptome sind Information genug, und andere Menschen werden ihr Verhalten danach ausrichten.

Stellen Sie sich vor, Sie gehen in diesem Zustand zur Arbeit. Sie besteigen morgens den fast vollen Bus, finden noch einen Fensterplatz. An der nächsten Haltestelle steigt eine attraktive Person ein und setzt sich auf den Gangplatz neben Ihnen. Sie würden nun gern ein Gespräch beginnen, aber Sie wissen, dass Ihre Stimme rau ist und Ihre Nase verstopft, deswegen verhalten Sie sich ruhig. Doch nun müssen Sie niesen und suchen nach einem Taschentuch. Die Person neben Ihnen bemerkt nun Ihr vom Fieber gerötetes Gesicht, die leicht glasigen Augen und wendet sich schon etwas ab. Und dann niesen Sie. Und wenn Sie dabei nicht Ihre Augen geschlossen hätten, würden Sie sehen, wie sich das Gesicht der Person neben Ihnen vor Ekel verzerrt. Sie können gar nicht mehr aufhören zu niesen. Ihr Sitznachbar sucht sich einen gemütlichen Stehplatz am anderen Ende des Busses. Sie wissen nicht, warum die Person aufgestanden ist, vermuten bloß, dass sie bei Ihrem Niesen Ekel empfand, vielleicht hatte sie den Gedanken, dass die Gefahr einer Ansteckung besteht, vielleicht auch beides. Wohlgemerkt hat diese Person keinen Virus gesehen. Was sie stattdessen gesehen hat – und gehört und vielleicht sogar gespürt –, sind Verteidigungsreaktionen Ihres Körpers. Ihr Fieber und Ihr Niesen waren die Informationen, nach denen die Person ihr Verhalten ausrichtete.

Sie sind nun in der Arbeit angekommen, Sie nicken Ihrem Kollegen am Schreibtisch gegenüber nur knapp zu, dann schauen Sie, was es heute zu tun gibt. Es stehen einige Telefonanrufe an, und Sie fragen sich, wie Sie das mit verstopfter Nase und rauer Stimme erledigen sollen. Sie seufzen, und davon müssen Sie husten. Ihr Kollege schaut auf, sieht Ihr gerötetes Gesicht und kommentiert Ihren Husten mit: »Das hört sich aber nicht gut an!« Er sagt Ihnen, dass Sie besser nach Hause gehen sollten und erst wiederkommen, wenn es Ihnen besser geht. Sie erzählen ihm von den unaufschiebbaren Telefonaten, die für heute anstehen, und er erwidert: »Kein Problem. Das übernehme ich für dich.« Auch Ihr Kollege hat keinen Virus gesehen, er hat Ihren Husten bemerkt, hat die Veränderung Ihrer Stimme gehört, die von der Entzündung und der erhöhten Schleimproduktion kommt, mit der Ihr Körper das Rhinovirus bekämpft. Wieder sind es Verteidigungsreaktionen des Körpers, die diesmal Ihrem Kollegen als Information dienen. Und er zeigt ein gewisses Verhalten aufgrund dieser Information. Er entbindet Sie von Ihren Verpflichtungen, nimmt Ihnen die dringende Arbeit ab. Das ist wirklich nett von ihm. Sie kennen einander auch schon sehr lange. Die fremde Person heute Morgen im Bus wandte sich einfach ab und ging, ohne ein Wort zu sagen.

Sie haben es sich zu Hause auf der Couch bequem gemacht, aber bequem fühlt es sich nicht an, denn Sie sind krank. Am frühen Abend kommt Ihr Partner nach Hause. Ihr Partner merkt sofort, dass etwas mit Ihnen nicht stimmt, denn normalerweise liegen Sie um diese Tageszeit nicht auf dem Sofa, zugedeckt mit einer Wolldecke. Dann klingt Ihre Stimme auch noch anders als sonst, und beim Versuch eines Kusses setzt der Husten wieder ein. Ihr Partner sagt: »Du bleibst hier liegen! Ich mache dir eine Kanne Tee, und während du sie trinkst, gehe ich in den Supermarkt. Du brauchst eine Hühnersuppe.« Ihr Partner hat nichts von dem Rhinovirus gesehen, aber die Verteidigungsreaktionen Ihres Körpers bemerkt, die Entzündung der Atemwege, den Husten, Ihre körperliche Schwäche. Und Ihr Partner nimmt das zum Anlass, sich um Sie zu kümmern. Sie sollen nur liegen bleiben, Ihr Partner macht Tee und später noch Hühnersuppe. Das ist sehr nett.

Sie liegen nun allein auf dem Sofa und denken über das Kranksein nach. Wären Sie nicht krank, die attraktive Person im Bus hätte nicht ihren Platz verlassen, Ihr Kollege im Büro hätte Sie nicht nach Hause geschickt und Ihre Arbeit übernommen, Ihr Partner hätte Ihnen nicht Faulheit verordnet und wäre nun nicht damit beschäftigt, Sie zu umsorgen. Ihr Kranksein ist eine wichtige Information für andere. Dabei haben sie den bösen Rhinovirus nicht einmal gesehen. Sie haben nur bemerkt, wie sich Ihr Körper gegen ihn verteidigt.

Jetzt schauen Sie an sich selbst hinunter, besser gesagt, Sie schauen an sich selbst entlang, schließlich befinden Sie sich schon eine Weile in der Horizontalen. Ja, Ihr Kranksein ist eine wichtige Information für andere, die ihr Verhalten darauf abstimmen. Aber als Erstes ist das Kranksein eine Information für Sie selbst. Und wie die anderen verändern auch Sie Ihr Verhalten. Allerdings müssen Sie sich dafür nicht niesen hören und im Spiegel betrachten, Ihr Körper kennt da direktere Wege. Da es nämlich eine Menge Energie braucht, um so einen Virus zu bekämpfen, spart der Körper an anderen Stellen. Sie werden träge, Sie verlieren die Lust an Aktivitäten, die Ihnen sonst Spaß machen, wie etwa Sex und Essen. Ihre Muskeln fühlen sich schwach an, damit Sie keine Lust haben, sie zu gebrauchen. Auch das Denken fällt Ihnen schwerer, sodass man es lieber lässt. Krankheit hat eine motivationale Komponente, würden Forscher sagen, aber diese motivationale Komponente ist vor allem demotivierend.2 Sie können sich damit trösten, dass Sie nicht allein sind. Dieses Programm aus Trägheit, Lustlosigkeit und Kraftlosigkeit wird kurz »Krankheitsverhalten« genannt, und es ist nicht nur eine typisch menschliche Antwort auf Infektion und Verletzung, man findet es ziemlich ähnlich auch bei anderen Säugetieren, Vögeln, Amphibien, sogar bei Insekten.3 Ihr Körper jedenfalls lässt Sie nicht einfach weitermachen wie gehabt, er hat seine Mittel und Wege, Sie davon zu überzeugen, dass Sie jetzt anderes bleiben lassen, was den Körper bei der Krankheitsbekämpfung stören würde.

Was Ihr Körper da anstellt: Nicht nur dass er alle möglichen Mechanismen in Bewegung setzt, um den Virus zu bekämpfen, er scheint sich auch noch Unterstützung anzufordern, wo er nur kann. Er überzeugt Sie, dass Sie nun in einen Verhaltens-Sparmodus wechseln sollten, um dem Immunsystem nicht die Energie abzugraben. Und wenn Sie Glück haben, überzeugt er andere, dass man Sie nun nicht mit weiteren Aufgaben belasten, ja, dass man Ihnen alle Arbeit abnehmen sollte, damit Ihr Körper sämtliche Kraft gegen den Erreger werfen kann. Und dann gelingt es Ihrem Körper möglicherweise auch noch, Kampfgenossen zu rekrutieren, wie etwa Ihren Partner, die mit ihrer Pflege und ihren Mittelchen die Verteidigung des Körpers unterstützen.

Was die Symptome, die Sie zeigen und unter denen Sie leiden, alles bewirken können: Vielleicht ist es kein Zufall, vielleicht sind die Verteidigungsreaktionen Ihres Körpers nicht nur an den Virus gerichtet, sondern auch an Sie und die Menschen, die Sie umgeben.4 Vielleicht sind Symptome nicht bloße Anzeichen einer Krankheit, sondern Signale, die Ihr Körper aussendet, um bei der Krankheitsbekämpfung soziale Unterstützung zu bekommen. Damit wäre das, was wir als Krankheit bezeichnen, nicht bloß die körperliche Störung des einzelnen Individuums, sondern auch die Botschaft, das ausgedrückte Bedürfnis an die Menschen, mit denen es sich umgibt. Und das Verhalten dieser umgebenden Menschen, ihre Entlastung und Hilfe oder aber ihre Abneigung und ihr Desinteresse, wirkte wieder auf das Symptome sendende Individuum zurück. Krankheit wäre somit kein individuelles, sondern ein soziales Phänomen. Und das würde bedeuten, dass eine vollständige Behandlung und Heilung nicht nur das körperliche Problem angehen sollte, sondern auch die zwischenmenschliche Zuwendung bieten, nach der der kranke Körper mit seinen Symptomen verlangt. Das Zwischenmenschliche am Akt der Heilung wäre somit nicht nur unvermeidliches Beiwerk, weil irgendwer nun einmal das Medikament verschreiben, die Akupunkturnadeln einstechen muss, sondern das Zwischenmenschliche wäre essentieller Bestandteil einer vollständigen Behandlung. Wenn wir aber in unserem Gesundheitssystem zwischenmenschliche Zuwendung nur als Einsparpotential betrachten, als verschwendete Arbeitszeit hochbezahlter Fachkräfte, die besser für Diagnosetechniken oder medizinische Interventionen eingesetzt wäre, dann behandelt unser Gesundheitssystem an der Natur des Menschen vorbei. Wir sind nicht bloß biologische Maschinen, unserer Biologie nach sind wir soziale Wesen.

Zugegeben, das ist ein verrückter Gedankengang, aber dieses Buch soll Ihnen zeigen, dass er gar nicht so abwegig ist. Wir werden im Folgenden betrachten, wie die Evolution solche Symptomsignale hervorbringen konnte. Wir werden also in die evolutionäre Vergangenheit des Menschen schauen, wir werden andere Tierarten betrachten, Gedankenexperimente durchführen, aktuelle Forschung befragen und ein paar Rätsel lösen, die ohne diesen verrückten Gedanken ungelöst blieben. Die wichtigste Botschaft dieses Buches soll schon jetzt verraten sein: Menschen sind soziale Wesen, wie wir wissen. Und auch Krankheit ist bei Menschen ein soziales Phänomen, bei dem es darum geht, Schwäche oder Stärke zu zeigen, Hilfe zu bekommen oder allein gelassen zu werden und die Pflichten gegenüber anderen mit der Wichtigkeit der eigenen Gesundheit abzuwägen. Krankheit, das ist nicht nur der Erreger in mir, das bin auch ich inmitten der Menschen, die mich umgeben. Um mehr über das Kranksein von Menschen unter Menschen zu erfahren, betrachten wir nun aber zunächst das Kranksein eines Finken unter Finken.

SCHNELLER SEX UND LANGES LEBEN

DIE MECHANISMEN, MIT denen sich der Körper gegen Keime wehrt, gleichen sich bei den Wirbeltieren, von A wie Anakonda bis Z wie Zebrafink. So bekommen auch männliche Zebrafinken Fieber und zeigen das besprochene Krankheitsverhalten, das wir von menschlichen Erkältungen kennen. Aber nur, wenn man sie in einem Einzelkäfig hält. Dann folgen auf eine von der Forscherin herbeigeführte Infektion verlässlich die Verteidigungsreaktionen des Körpers. Ganz anders, wenn man Finkenmännchen in einen Gruppenkäfig setzt, dann nämlich zeigen sie keine Krankheitssymptome, obwohl man ihnen die gleichen Bakterienbestandteile injiziert hat.1 Diese sogenannte Immunmodulation funktioniert sogar ganz minimalistisch, wie Patricia Lopes an der Universität Zürich zeigte.2 Da sitzt das Finkenmännchen kraftlos, lustlos, fiebrig in einer Ecke seines Einzelkäfigs. Es hüpft nicht, frisst nicht, singt nicht. Der Körper hat alle Energie dem süßen Leben entzogen, um sich ganz der Bekämpfung der Krankheit widmen zu können. Aber was ist auch sonst groß zu tun in einem Einzelkäfig, zu wem soll der Fink denn hüpfen, für wen soll er singen? Das ändert sich, wenn man die Käfigtür öffnet und ein Finkenweibchen in den Käfig setzt, welches das Finkenmännchen noch nicht kennt. Der eben noch Schwache und Kranke hüpft bald und singt und tut, was es braucht, um beim Weibchen zu landen. Es ist nicht so, dass mit der Ankunft des Weibchens seine Infektion verflogen ist, nach wie vor sind die Erreger in ihm, nur scheint die Bekämpfung der Infektion nun nicht mehr so wichtig zu sein. Gesundung ist zwar wichtig, aber die Liebe geht vor. Auch mit der Rückkunft des Finken zu seiner Gruppe in den Käfig ist der Erreger nicht besiegt, aber auch hier gibt es Wichtigeres zu tun, als hauptberuflich Erreger zu bekämpfen und deshalb Symptome zu zeigen. Hier warten andere Weibchen und auch Männchen, mit denen Dominanzkämpfe auszutragen sind, deshalb hat die Infektion keine Priorität.

Aus unserer persönlichen Perspektive würden wir wohl sagen, dass Gesundheit das Allerwichtigste ist. Wir geben viel Geld für sie aus, schränken uns ein und strengen uns an, um unser Wohlergehen zu sichern und lange zu leben. Aus der Sicht der biologischen Evolution sind Wohlergehen und ein langes Leben aber keine Werte an sich, sondern bloß ein Mittel zum Zweck.3 Bevor wir uns konkret dieser evolutionären Perspektive auf Krankheit und Heilung zuwenden, betrachten wir noch mal kurz, wie die biologische Evolution funktioniert.

Zur biologischen Evolution gehören zwei ineinandergreifende Prozesse: Variation und Selektion. Es entstehen Individuen mit neuen Eigenschaften, die sich mit diesen neuen Eigenschaften langfristig durchsetzen oder auch nicht. Die Variationen kommen daher, dass sich das Erbgut verändert. Das kann durch genetische Rekombination bei sexueller Fortpflanzung entstehen, wenn sich also bei der Befruchtung der Eizelle durch ein Spermium eine zufällige Hälfte des Erbguts des Vaters mit einer zufälligen Hälfte des Erbguts der Mutter zu einer völlig neuen Kombination vermischt. Variation entsteht aber auch durch zufällige, spontane Veränderungen des Erbguts, Mutationen also, wie sie jederzeit geschehen können, weil etwa Schäden auftreten, die nicht korrekt repariert werden, oder weil bei der Zellteilung Kopierfehler passieren. Es wäre aber einseitig, nur von Schäden und Fehlern zu reden, denn ohne diese zufälligen Erbgutveränderungen gäbe es keine Evolution und somit weder Artenvielfalt noch menschliche Einfalt. Durch Mutation und Rekombination entsteht ein Erbgut, das so noch nie da war. Dieses Erbgut wiederum ist Bauanleitung für ein Lebewesen, das es so noch nie gab, tatsächlich ein Individuum. Dieses Individuum hat nun gewisse Eigenschaften, längere Beine oder kürzere, kräftige Arme oder schwächere, ein ruhigeres Gemüt oder ein aufbrausendes. Und all diese Eigenschaften können in der jeweiligen Umwelt Vor- und Nachteile haben. Hier beginnt nun der zweite Prozess der Evolution: die Selektion. Nehmen wir ein klassisches Beispiel zur Hand, nämlich die Frage, warum die Giraffe so einen langen Hals hat. Die Antwort ist klar, denn der lange Hals hilft ihr offenbar, die Blätter hoher Baumkronen zu essen, sich also zu ernähren. Wie ist dieser lange Hals aber entstanden? Es war nicht so, dass sich Giraffenvorfahren beständig streckten, so ihren Hals verlängerten und diese erworbene Eigenschaft dann weitergaben. Stattdessen war es eine Geschichte von Variation und Selektion. Man kann sich kurzhalsige Giraffenvorfahren vorstellen, die durch Mutation einen Nachfahren hatten, dessen Hals nur ein Stückchen länger war und der dadurch mehr Blätter am Baum erreichen konnte. Die Halslänge verbesserte die Ernährungssituation, erhöhte so die Überlebenswahrscheinlichkeit, machte das wohlgenährte Individuum aber auch attraktiver für Sexualpartner und fruchtbarer. Dieses Individuum konnte sich also möglicherweise besser fortpflanzen als kurzhalsige Artgenossen und dadurch sein Erbgut verbreiten, mitsamt den Genen für längere Hälse. Und unter diesen Nachkommen ist möglicherweise nach Generationen wieder eine Mutation aufgetreten, die für einen noch etwas längeren Hals sorgte, der wieder Vorteile brachte, und deren Gene sich wieder durchsetzten. Was so abstrakt Selektion genannt wird, als wäre es eine magische Hand, die die Auswahl trifft, ist in Wirklichkeit die Wirkung von Vor- und Nachteilen gewisser Eigenschaften im Alltag, auf das Finden von Nahrung oder das Hungrigbleiben, das Überleben oder das Sterben, das Finden eines Partners oder das Alleinbleiben, die Geburt von gesunder Nachkommenschaft oder deren Ausbleiben.

Der evolutionäre Prozess ist meist unheimlich langsam, einerseits, weil Mutationen, die Vorteile bringen, sehr selten sind. Andererseits, weil die Veränderungen meist nur in ganz kleinen Schritten stattfinden. Wenn diese Variation Vorteile bringt, die sich durch bessere Überlebenswahrscheinlichkeit und Fruchtbarkeit zeigen, spricht man von höherer evolutionärer Fitness. Mit Fitness ist dabei selten körperliche Leistungsfähigkeit oder Trainingszustand gemeint, sondern, im eigentlichen Sinne des Wortes to fit in, die Passung in die jeweilige Lebenswelt. Es ist also ganz wichtig zu beachten, dass Vor- oder Nachteil einer Variation von den Anforderungen der jeweiligen Umwelt abhängt. Dem Löwen wäre bei seiner Lebensweise der lange Hals hinderlich. Die Giraffe wiederum könnte mit spitzen Reißzähnen nichts anfangen. Was bei einer Art die Passung erhöht, kann sie bei einer anderen Art senken. Die Evolution formt verschiedene Arten zu Experten für ihre spezifische Umwelt und Lebensweise, und sie macht das sehr langsam.