6,99 €
Feldwebel Franz Mayer gehört zu den 200.000 deutschen Soldaten, die Ende 1942 in Stalingrad eingekesselt werden. Ihnen droht der Tod durch Verhungern, Erfrieren und sowjetische Kugeln. Franz Mayer aber will sich mit seinem Schicksal nicht abfinden – er will sich und seine Kameraden retten. Also trifft er eine folgenschwere Entscheidung … »Stalingrad – Flucht aus dem Kessel« ist ein packender historischer Roman über das Schicksal eines deutschen Soldaten. Es handelt sich hierbei um die Übersetzung von »The Letter« aus der Feder des britischen Ex-Soldaten Barry Cole. Sein Roman entfaltet die tragische Geschichte eines deutschen Soldaten, der inmitten der Schrecken des Krieges dem Schicksal ins Auge blickt. Barry Cole, der in seiner aktiven Dienstzeit intensiv mit Angehörigen der Bundeswehr zusammengearbeitet hat, beweist tiefes Verständnis und Einfühlungsvermögen für die Lage deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Seine Zeilen erwecken die Figuren zu pulsierendem Leben und tragen das erbitterte Ringen in den Ruinen Stalingrads direkt in das Kopfkino der Leserinnen und Leser. Barry Coles Roman ist eine emotionale Achterbahnfahrt und erzählt von Kampf, Liebe, Verlust und Hoffnung … Welches Schicksal erwartet Franz Mayer? Finden Sie es heraus, indem Sie mit dem E-Book gleich in die dramatische Geschichte eintauchen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Barry Cole
Stalingrad – Flucht aus dem Kessel
Historischer Roman über das Schicksal eines deutschen Soldaten im 2. Weltkrieg
EK-2 Militär
Tragen Sie sich in den Newsletter von EK-2 Militär ein, um über aktuelle Angebote und Neuerscheinungen informiert zu werden und an exklusiven Leser-Aktionen teilzunehmen.
Als besonderes Dankeschön erhalten Sie kostenlos das E-Book »Die Weltenkrieg Saga« von Tom Zola. Enthalten sind alle drei Teile der Trilogie.
Klappentext: Der deutsche UN-Soldat Rick Marten kämpft in dieser rasant geschriebenen Fortsetzung zu H.G. Wells »Krieg der Welten« an vorderster Front gegen die Marsianer, als diese rund 120 Jahre nach ihrer gescheiterten Invasion erneut nach der Erde greifen.
Deutsche Panzertechnik trifft marsianischen Zorn in diesem fulminanten Action-Spektakel!
Band 1 der Trilogie wurde im Jahr 2017 von André Skora aus mehr als 200 Titeln für die Midlist des Skoutz Awards im Bereich Science-Fiction ausgewählt und schließlich von den Lesern unter die letzten 3 Bücher auf die Shortlist gewählt.
»Die Miliz-Szenen lassen einen den Wüstensand zwischen den Zähnen und die Sonne auf der Stirn spüren, wobei der Waffengeruch nicht zu kurz kommt.«
André Skora über Band 1 der Weltenkrieg Saga.
Link zum Newsletter:
https://ek2-publishing.aweb.page
Über unsere Homepage:
www.ek2-publishing.com
Klick auf Newsletter rechts oben
Via Google-Suche: EK-2 Verlag
Liebe Leser, liebe Leserinnen,
zunächst möchten wir uns herzlich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie dieses Buch erworben haben. Wir sind ein kleines Familienunternehmen aus Duisburg und freuen uns riesig über jeden einzelnen Verkauf!
Mit unserem Label EK-2 Militär möchten wir militärische und militärgeschichtliche Themen sichtbarer machen und Leserinnen und Leser begeistern.
Vor allem aber möchten wir, dass jedes unserer Bücher Ihnen ein einzigartiges und erfreuliches Leseerlebnis bietet. Daher liegt uns Ihre Meinung ganz besonders am Herzen!
Wir freuen uns über Ihr Feedback zu unserem Buch. Haben Sie Anmerkungen? Kritik? Bitte lassen Sie es uns wissen. Ihre Rückmeldung ist wertvoll für uns, damit wir in Zukunft noch bessere Bücher für Sie machen können.
Schreiben Sie uns: [email protected]
Nun wünschen wir Ihnen ein angenehmes Leseerlebnis!
Jill & Moni
von
EK-2 Publishing
Er hatte sich oft gefragt, wohin Soldaten wie er gingen, wenn sie starben. Nach all dem Töten, das sie angerichtet hatten, hoffte er, dass es nicht die Hölle war, denn dort war er schon gewesen.
Sie wurde Stalingrad genannt.
Potsdamer Bahnhof – Ende Dezember 1945
Gegen die klirrende Kälte des Berliner Winters gewappnet, räumte eine Gruppe älterer Männer mit behelfsmäßigen Holzschaufeln den über Nacht gefallenen Schnee von dem breiten Bahnsteig weg. Das geschwungene Glas- und Schmiedeeisendach, das den Bahnhof überspannte, war nur noch ein Gerippe aus verknotetem Metall – das Räumen des Schnees war eine tägliche Aufgabe geworden. Wenige Augenblicke später fuhr zischend wie eine Schlange eine DRB-Lokomotive der Baureihe 50 in den Bahnhof ein, deren rostiger Kessel von Rußschichten bedeckt war. Der Dampf, der aus den Zylindern austrat, hüllte alles in eine weiße Wolke. Kaum war der Zug zum Stehen gekommen, öffneten sich die Waggontüren und die Fahrgäste, meist ältere Männer und Frauen, strömten auf den Bahnsteig, ihr Hab und Gut in Pappkartons und ramponierten Koffern verstaut. In Abständen entlang des Bahnsteigs standen bewaffnete sowjetische Soldaten in ihren warmen Mänteln und beobachteten desinteressiert, wie die Zuginsassen wie eine Schafherde zusammengedrängt schweigend in Richtung der gläsernen Buchungshalle am anderen Ende des Bahnsteigs schlurften.
Der Lokführer saß in seinem Führerhaus und wischte sich mit einem Lappen den Schweiß und den Schmutz aus dem Gesicht, während er die geordnete Reihe der Fahrgäste unter ihm vorbeiziehen sah. Es schien, als ob das ganze Land in Bewegung war. Die Überreste einer besiegten Nation. Jede Person eilte wie ein Teil in einem riesigen Puzzle zurück an den ihr zugewiesenen Platz, in der Hoffnung, dass es Deutschland wieder ganz machen würde.
Die Chancen dafür stehen schlecht, dachte er bei sich und band sich das Stück Stoff um den Hals. Aber jetzt, wo der kleine Gefreite tot und der Krieg endlich vorbei war, gab es wenigstens etwas Hoffnung, dass sein geliebtes Deutschland wie ein Phönix aus der Asche wieder auferstehen würde.
Ein Junge, der einen schweren Koffer trug, der an den Seiten mit einem Lederriemen gesichert war, sprang mit einem zu langen Mantel und einem um den Hals geschlungenen roten Wollschal auf den Bahnsteig. Er stellte den Koffer ab, drehte sich zur offenen Tür und half seiner vierjährigen Schwester mit ausgestreckten Armen aus dem Waggon. Der Name des Jungen war Wolfgang und er war elf Jahre alt. Seine Schwester, gekleidet in einen langen doppelreihigen Mantel, dessen breiter Samtkragen hochgeschlagen war, um ihre Ohren vor der Kälte zu schützen, hieß Trudel.
Die Frau, die ihnen folgte, zögerte einen Moment lang und starrte auf den Bahnsteig, der weit unter ihr lag. Obwohl sie erst Ende zwanzig war, sah sie viel älter aus. Ihre einst runden Wangen hatten viel von ihrer Festigkeit verloren, ihre Haut war blass und glanzlos. Um ihren Teint aufzuhellen, hatte sie einen dunkelroten Lippenstift auf ihren Mund aufgetragen. Ein blumengemustertes Seidenkopftuch bedeckte ihr schulterlanges kastanienbraunes Haar. Sie trug einen langen Wollwintermantel, dessen Stoff an den Manschetten ein wenig alt war. Ihre knielangen Stiefel waren zwar stark abgenutzt und müssten poliert werden, aber sie waren aus gutem Leder. An ihrer Brust trug sie ein Baby, grade einen Monat alt, eingewickelt in einen handgestrickten Schal mit winzigen Primeln an den Rändern, ein Geschenk ihrer freundlichen Nachbarin Frau Junker. In der anderen Hand trug sie einen schweren Koffer. Der Name der Frau war Hannah und sie war die Mutter der Kinder.
Als er sie zögern sah, grinste ein junger sowjetischer Soldat von einem Ohr zum anderen und nahm ihr den Koffer ab, um ihr auf den Bahnsteig zu helfen. Hannah war gerührt von dieser Geste und belohnte seine Freundlichkeit mit einem Lächeln. Der Soldat quittierte dies mit einem einfachen Kopfnicken und kehrte auf seinen Posten zurück. Mit schrägen Augenlidern beobachtete er, wie Hannah und ihre beiden Kinder sich der Menschenmenge anschlossen, die zum Ausgang ging.
Wie der Rest des Bahnhofs hatte auch die beeindruckende Empfangshalle unter den ständigen Bombenangriffen der Alliierten gelitten. Die Stirnwand hatte am meisten gelitten und war von oben bis unten durch einen vertikalen Riss gespalten, der groß genug war, um eine Faust hineinzustecken. Um sie vor dem völligen Einsturz zu bewahren, war ein massives Holzbrett horizontal über die gesamte Breite gelegt worden, das von zwei schweren Holzbalken gestützt wurde. Ein dritter Balken war zwischen dem Boden und einem Dachbalken eingekeilt worden, um die durchhängende Decke zu stützen. Dank der schweren hölzernen Fensterläden waren die Glasscheiben der meisten Fenster des Gebäudes unversehrt geblieben. Diejenigen, die gesprungen waren, wurden von braunen Klebebandstreifen zusammengehalten. Im Inneren sah es anders aus. Die kunstvolle Nussbaumvertäfelung und die breite Sockelleiste, die den Raum ausgekleidet hatten, waren verschwunden, von den Wänden abgetragen und das Mauerwerk, das sie einst verdeckt hatten, war freigelegt. Auch die Kassenhäuschen mit ihren verzierten Bogenfenstern und die Schalter, die sich von einer Seite des Raumes zur anderen erstreckten, fehlten. Alles wurde abgerissen und abtransportiert. Jedes Stückchen Holz wurde von Menschen, die in einem bitteren Winter, in dem Kohle mehr als Gold wert war, verzweifelt nach Brennholz suchten, mitgenommen.
An der Stirnwand stand ein großer gusseiserner Ofen, der aus dem Büro des Bahnhofsvorstehers gerettet worden war und eine ausreichende Heizquelle darstellte. Daneben stand eine alte Frau mit einem Schal, den sie wie einen Turban um den Kopf gewickelt hatte, und stillte ihren Appetit auf Brennmaterial aus einem Stapel gehackten Holzes, ohne sich um die Hitze zu kümmern. Das einzige Mobiliar des Raums war ein zehn Fuß langer Tisch und ein Paar hochlehnige Sessel. Auf dem bequemeren der beiden Sessel saß ein russischer Offizier. Ein stämmiger, muskulöser Mann Anfang vierzig, glatt rasiert, das pomadisierte Haar im Stil von Rudolph Valentino zurückgeschnitten. Die charakteristische olivgrüne Uniform, die er trug, und ihre einzige Reihe goldener Knöpfe schimmerte hell im Schein einer von der Decke hängenden Glühbirne. Auf dem Tisch vor ihm lag seine Schirmmütze, deren lackiertes Abzeichen, ein einzelner roter Stern mit dem Zeichen von Hammer und Sichel, für jeden, der sich dem Tisch näherte, gut sichtbar war. Eine Erinnerung daran, wer das Sagen hatte. Auf dem Stuhl neben ihm saß ein älterer, dünnhäutiger Mann, der die Uniform eines Reichsbahnbeamten trug. Verräterische Flecken aus verblasstem Material und Fadenreste verrieten, wo Ärmel und Schulterklappen ihrer Nazi-Abzeichen beraubt worden waren. Auch von der Mütze, die er trug, waren das Abzeichen und die Goldborte entfernt worden.
Schließlich wurden Hannah und ihre Kinder nach einer unerträglich langen Zeit plötzlich in die Buchungshalle geführt. Als sie die Tür passiert hatten, stieß ein russischer Soldat, der in seinem dicken Mantel schwitzte, Hannah mit dem Lauf seines Gewehrs nach vorne. Gehorsam ging Hannah auf den Schalter zu. Sie stellte ihren Koffer ab, griff in eine Manteltasche und zog ein gefaltetes Stück Papier heraus. Nervös und mit gesenktem Kopf legte sie es vor den russischen Offizier, der ihr auf der anderen Seite des Tisches gegenüber saß. Der Offizier saß mit vor der Brust verschränkten Armen da und blickte auf den Zettel hinunter. Verwirrt darüber, warum er es nicht aufgehoben hatte, zwang sich Hannah, aufzublicken und seinem Blick zu begegnen. Doch der Mann starrte sie nur mit steinerner Miene an, und obwohl sie wusste, dass ihr Dokument in Ordnung war, liefen es ihr plötzlich eiskalt den Rücken hinunter.
Dann, wie eine Katze, die es leid ist, mit der Maus zu spielen, die sie gefangen hat, lenkte der Beamte mit einer leichten Kopfbewegung seinen Blick auf das Papier und nickte. Sie verstand augenblicklich. Hannah streckte eine Hand aus, hob das Papier auf und legte es schnell entfaltet zurück auf den Tisch. Ein Lächeln zerrte spielerisch an den Mundwinkeln des Offiziers. Der Punkt war gemacht worden. Er nahm die Reiseerlaubnis in die Hand und begann sie zu prüfen, wobei er die einzelne Seite durchlas, als sei er entschlossen, eine Unregelmäßigkeit zu finden. Gelegentlich, nur für ein paar Sekunden, sah er zu Hannah auf, wobei sein Blick einen Moment auf ihrem Gesicht verweilte. Gespannt, mit klopfendem Herzen, wartete Hannah darauf, dass die Befragung begann. Aber er sprach nicht.
Der Offizier, Major Anatoli Borowkow, saß nun schon seit vier Stunden an diesem Tisch. Sein Hintern war wie betäubt und die Absurdität dieses bürokratischen Unsinns langweilte und erzürnte ihn in gleichem Maße. Am meisten ärgerte ihn jedoch, dass er Straße für Straße bis ins Herz dieser verfluchten Stadt gekämpft hatte, dass er sogar auf den Stufen des zerstörten Reichstags gestanden hatte, während Männer seiner eigenen Einheit auf dessen Dach geklettert waren und die Fahne des siegreichen Vaterlandes gehisst hatten, und dass dies seine Belohnung sein sollte.
In diesen vier langen Stunden waren Hunderte von Menschen, Männer und Frauen, vor ihm vorbeigegangen. Jedes Gesicht sah so erbärmlich aus und war so vergesslich wie das vorherige. Aber diese hier war anders. Selbst mit den dunklen Schatten unter ihren Augen war sie sehr attraktiv. Der Lippenstift war natürlich ein Fehler, aber trotzdem war sie sehr schön und angenehm anzuschauen. Warum sollte er sich also nicht die Zeit nehmen? Er hatte doch einen Moment des Genusses verdient, oder nicht? Eine kleine Entschädigung dafür, dass er mit einer so undankbaren Aufgabe betraut war.
Er tat so, als wolle er die Identitäten überprüfen, wobei sein Blick auf die beiden Kinder fiel. Zuerst der Junge, der mit seinem verkniffenen, wütenden Mund dastand. Obwohl er ein wenig mager war, schien er gut genährt zu sein. Er hatte die Augen seiner Mutter, aber sonst wenig von ihr. Jungen ähneln eher ihren Vätern, erinnerte sich Anatoly. Wie sagte man doch immer so schön? „Wie der Vater, so der Sohn?“ Es könnte natürlich auch etwas ganz anderes bedeuten. Er konnte sich nicht sicher sein. Es war ein Sprichwort, das die Russen nicht sehr oft benutzten. Das Mädchen jedoch war anders. Sie hatte die blassblauen Augen des Jungen, aber mit ihrem ovalen Gesicht, der zierlichen, sommersprossigen Nase und den Schmetterlingslippen war sie ganz das Ebenbild ihrer Mutter. Sie würde eines Tages eine echte Schönheit sein, dessen war er sich sicher. Eine Herzensbrecherin, ganz sicher. Erfreut über diesen Gedanken und mit einem letzten Blick auf die Frau, reichte Major Borowkow das Blatt Papier dem Mann, der neben ihm saß, und bedeutete Hannah mit einer Handbewegung, weiterzugehen.
Der Reichsbahnbeamte nahm den Passierschein mit seinen nikotinverschmierten Fingern in die Hand und drückte den frisch eingefärbten Stempel auf die vorgesehene Stelle des Papiers. Zufrieden mit dem Ergebnis streckte er, ohne aufzublicken, den Arm aus und reichte ihn Hannah. Überwältigt von Erleichterung nahm Hannah den Passierschein entgegen und steckte ihn zur sicheren Aufbewahrung in ihre Manteltasche. Dann schob sie die beiden Kinder vor sich her, hob ihren schweren Koffer auf und ging mit der kleinen Familie in Richtung der Ausgangstüren.
Auf der Rückseite des Gebäudes war ein Bereich durch eine provisorische Barrikade abgesperrt worden, die mit einer Gruppe bewaffneter russischer Soldaten besetzt war. Sie hatten die Kragen ihrer langen Mäntel hochgeschlagen und ihre Pelzmützen über die Ohren gezogen. Hinter dieser Barriere eingepfercht, musterten die Passagiere ängstlich die Gesichter der Wartenden auf der anderen Seite. Plötzlich ertönten Stimmen. Ein Name wurde laut gerufen, ein Arm gehoben, als ein Freund oder Familienmitglied von jemandem in der wartenden Menge erkannt wurde. Die Glücklichen drängten sich mit ihren spärlichen Habseligkeiten an den vorderen Teil der Absperrung. Der verantwortliche Unteroffizier sah im Schutz der Gebäudewand zu und zog einen weiteren Schluck des nikotinhaltigen Zigarettenrauchs in seine Lungen. Er atmete ihn wie ein feuerspeiender Drache durch seine Nasenlöcher aus und bellte einen Befehl. Sofort eilten zwei Soldaten zur Absperrung und rissen ein Stück davon beiseite.
Als sie aus dem Gebäude in das schwindende Tageslicht trat, zog Hannah instinktiv den Schal fest um ihr Kind, bevor sie sich in die Menschenmenge begab. Die Zahl der Passagiere lichtete sich bereits, als weitere Personen durch die Barrikade gelassen wurden. Sie warfen sich in die Arme ihrer wartenden Angehörigen, während die Luft von Freudenschreien und gedämpften Schluchzern der Erleichterung erfüllt war.
Eingezwängt in die wartende Menschenmenge beobachtete ein großer, breitschultriger Mann die aus der Buchungshalle kommenden Fahrgäste. Er war wahrscheinlich Anfang sechzig, gekleidet in eine schwarze wattierte Jacke mit aufgenähten Flicken an den Ellbogen und trug eine fettverschmierte Lokführermütze. Als er Hannah und die Kinder entdeckte, begann er, sich durch die wogende Menge zu drängeln. Seine starken Arme streckten sich vor ihm aus wie der Bug eines Bootes. Als er die Absperrung erreicht hatte, bahnte er sich einen Weg zu einem Punkt gegenüber von Hannah. Dann hob er einen Arm in die Luft und begann ihn hin und her zu schwenken. Zugleich rief er mit lauter Stimme: „Hallo!“
Angelockt durch die Gesten des Mannes und den Klang seiner Stimme, die sich von dem Trubel abhob, schaute Hannah zu ihm. War sie es, der er zuwinkte, oder eine andere Familie? In der Gewissheit, dass er ihr ein Zeichen gab, nahm Hannah ihren Koffer und ging mit wachsender Besorgnis auf ihn zu. Erleichtert, dass sie ihn entdeckt hatte, blickte der Mann zu einem der Soldaten hinüber. Als er den Blick des Mannes erhaschte, bedeutete er ihm mit einer Geste, zu ihm zu kommen und die Absperrung zu entfernen. Doch der Soldat sah ihn nur desinteressiert an. Der Mann gestikulierte erneut, diesmal eindringlicher. Der Soldat starrte ihn finster an und für einen schrecklichen Moment befürchtete der Mann, dass er ihn unwissentlich irgendwie verärgert hatte. Man konnte nie wissen, in welcher Stimmung sich diese verdammten Russen befanden. Zu seiner Erleichterung wurden die Gesichtszüge des Soldaten weicher. Er schulterte sein Gewehr und schlenderte zu ihm hinüber. Getrennt durch die Absperrung, starrten sich die beiden Männer in die Gesichter. Sie wägten sich gegenseitig ab wie zwei streitlustige Elefantenbullen. Dann, ganz unerwartet, stieß der Soldat ein schallendes Gelächter aus, verzog die Lippen zu einer beeindruckenden Reihe von Goldzähnen, packte die Absperrung mit beiden Händen und zog sie zur Seite.
Die Kinder vor sich herschiebend, ging Hannah durch die Lücke in der Absperrung und stand bald vor jemandem, der ihr völlig fremd war. Der Mann spürte ihre Unsicherheit und streckte ihr mit einem warmen Lächeln eine große, handschuhlose Hand entgegen. „Frau Meyer?“, sagte er mit einem unverkennbaren Berliner Akzent.
Sein Akzent war ihr zwar etwas fremd, aber sein jugendlicher Tonfall entsprach ganz und gar nicht dem, was sie von einem so großen, schroff aussehenden Mann erwartet hatte, ebenso wenig wie die Wärme seines Lächelns. Von beidem beruhigt, schüttelte sie ihm die Hand.
„Ja, ich bin Frau Mayer.“
„Ich bin Herr Neusch. Otto Neusch. Willkommen in Potsdam.“
„Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie sich mit uns treffen“, sagte Hannah und setzte ihren schweren Koffer ab.
„Unsinn! Wir sind so froh, dass Sie gekommen sind. Hatten Sie eine gute Reise?“
„Ja. Die Reise war gut, danke.“
„Ausgezeichnet!“, sagte Herr Neusch. Er drehte sich zu dem Jungen um, der neben ihr stand: „Und das ist wohl der junge Wolfgang?“
„Ja, Sir“, antwortete Wolfgang, sichtlich beeindruckt von der Tatsache, dass der Mann eine Lokführermütze trug.
„Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Wolfgang Mayer“, sagte Herr Neusch und streckte seine Hand aus.
Erfreut über diese erwachsene Geste streckte Wolfgang seine eigene Hand mit der offenen Handfläche aus und beobachtete mit einiger Sorge, wie sie von der riesigen Faust des Mannes verschlungen wurde. Nach einem ordentlichen Händedruck, der ihm ein breites Lächeln entlockte, richtete Herr Neusch seinen Blick auf Trudel: „Und wen haben wir denn da?“
Ohne auf den Mann zu achten, umklammerte Trudel den Mantel ihrer Mutter und verschwand schnell hinter Hannahs Beinen aus dem Blickfeld.
„Sie heißt Trudel“, sagte Wolfgang, um für seine jüngere Schwester zu sprechen. „Sie ist ziemlich schüchtern.“
Herr Neusch ließ enttäuscht den Kopf hängen und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Schal. Mit einem Finger zog er vorsichtig eine Ecke zurück und schaute auf den schlafenden Säugling hinunter.
„Ich habe ihn Franz genannt“, sagte Hannah und wusste, dass der Mann es verstehen würde.
„Es ist ein schöner Name, Frau Mayer. Ein guter deutscher Name.“
Erfreut über die Worte des Mannes, lächelte Hannah schwach.
„Aber komm“, sagte Herr Neusch mit heiterer Stimme, „wir müssen dich nach Hause bringen. Frau Neusch wird den Zug gehört haben und sie wird sich Sorgen machen, dass du nicht dabei warst.“ Mit diesen Worten hob er Hannahs Koffer auf, als ob er nur Federn enthielte, drehte sich um und führte seine Schützlinge durch die sich auflösende Menge in die angrenzende Straße.
Als sie um die Ecke in die Straße „Zum Wasserturm“ einbogen, wurden sie von Trümmerfrauen begrüßt. Sie kletterten mit staubbedeckten Gesichtern und Kleidern die auf beiden Seiten der Straße aufgetürmten Mauerreste hinunter. Sie waren eine Mischung aus alt und jung. Das Alter war kein Unterscheidungsmerkmal. Wer arbeiten konnte, arbeitete auch. Natürlich wurden sie bezahlt. Nicht viel, aber in diesen Tagen war es alles. Jedenfalls genug, um ihre Kinder zu ernähren, bis ihre Männer nach Hause kamen. Diejenigen, die heimkamen. Wie in den meisten deutschen Städten gab es auch in Berlin eine ganze Reihe von Witwen. Jede Frau trug einen Schal oder eine Mütze. Ihre schlanke Gestalt war in verschiedene Kleidungsschichten oder knopflose Mäntel gehüllt, die mit einem Gürtel oder Riemen in der Mitte zusammengebunden wurden. Einige trugen eine Männerjacke, die zur Isolierung mit alten Zeitungen oder Pappstücken gepolstert war, aber alle trugen ein Paar unförmiger Handschuhe. Alles, um den bitteren Wind abzuhalten, der die Straße entlang peitschte.
Über ihnen ragten die fensterlosen Fassaden von Wohnhäusern auf, deren Verputz von Einschüssen und Granatenlöchern zerfressen und vernarbt war. Aus den Trümmerhaufen wuchsen verrostete Metallträger zu bizarren Skulpturen empor, die die Fassaden einst verstärkt hatten. In der Mitte der Straße war eine schmale Allee angelegt worden, die gerade breit genug war, um von einem einzigen Fahrzeug befahren zu werden. In Abständen entlang der Straße waren wiederverwendete Ziegel, die vom alten Mörtel gereinigt waren, zu Stapeln aufgeschichtet. Alle waren ordentlich in hüfthohen, rechteckigen Blöcken gestapelt und warteten geduldig darauf, ihren Teil zum Wiederaufbau einer vom Krieg verwüsteten Stadt beizutragen. An der Kreuzung mit der Straße „Am Stellwerk“ hatte sich eine Schlange junger blondhaariger Kinder gebildet, die an der Wasserstelle anstanden. Jedes von ihnen hielt irgendein Gefäß in der Hand, um die kostbare Flüssigkeit aufzufangen; hauptsächlich Eimer, die meisten ohne Henkel, oder Töpfe und Pfannen in verschiedenen Formen und Größen. Einer von ihnen, ein schlaksiger Junge mit einer Hose, die zu kurz für seine langen, dünnen Beine war, trug eine Gießkanne. Der Ausguss mit dem Schwanenhals war flach gehämmert, so dass beim Füllen kein Wasser entweichen konnte.
Im Gänsemarsch lief Hannah mit Herrn Neusch an der Spitze, dicht gefolgt von Wolfgang und Trudel, den schmalen Straßenstreifen entlang. Währenddessen warf Hannah einen Blick auf die Reihe der Frauen, die in der entgegengesetzten Richtung vorbeigingen, ihre ausdruckslosen, von Erschöpfung gezeichneten Gesichter, die Augen ohne Leben. Die meisten ignorierten sie. Andere begegneten ihrem Blick und warfen ihr einen wütenden Blick zu. Gelegentlich schenkte ihr jemand ein freundliches Lächeln. Schließlich saßen sie alle im selben Boot. Einige zogen einen kleinen Karren oder schoben einen ramponierten, haubenlosen Kinderwagen, dessen Räder jedes Mal abzufallen drohten, wenn sie auf ein Hindernis stießen. Jeder von ihnen war mit Gegenständen beladen, die sie von den Trümmerhaufen erbeutet hatten, mit allem, was auf dem Schwarzmarkt gehandelt werden konnte. Selbst ein einziges Paar abgetragener Schuhe hatte seinen Wert. Ein Wagen enthielt ein altes Grammophon mit einem Horn aus Bakelit, das wie durch ein Wunder noch ganz war. Ein anderer war mit einem Stapel gefalteter Leintücher gefüllt, die aus einem Schrank geplündert worden waren, den wohl niemand jemals wieder benutzen würde. Gelegentlich stießen ein paar Glückliche in den Trümmern auf einen Schatz, vielleicht einen kleinen silbernen Bilderrahmen oder ein fein graviertes Zigarettenetui, was alles schnell in einer Tasche versteckt wurde. Die weniger Glücklichen trugen einen Arm voll Holz mit sich, das sie aus den Ziegel- und Putzhaufen aufgesammelt hatten: Stuhlbeine, Dielenbretter, alles, was ihren Ofen für ein oder zwei Stunden füttern würde. Manchmal wurde auch eine Leiche aus den Trümmern gezogen. Das war selten, aber es kam vor. Erst zwei Tage zuvor hatten sie in den Trümmern die Leiche eines jungen Mädchens entdeckt, begraben in einem Schrank im Untergeschoss, in den sie sich vor den Bomben geflüchtet hatte. Ihre Lieblingspuppe hielt sie noch immer in den Armen.
Vor uns bog Herr Neusch in einen engen Durchgang zwischen zwei Gebäuden ein. Über die Schulter rief er: „Wir sind fast da.“
Der Durchgang, der nicht einmal für ein Pferdegespann breit genug war, führte sie schnell in den „Bodelschwingh-Weg“, eine schmale Seitenstraße zwischen den hoch aufragenden Mauern der Wohnhäuser auf der einen Seite und den Rangierbahnhöfen auf der anderen. An der Straßenseite, die noch mit Betonplatten und umgestürztem Mauerwerk verstopft war, befanden sich die Haustüren von acht Reihenhäusern. Die dreistöckigen Häuser mit Mansardendach waren für die Eisenbahner und ihre Familien gebaut worden. Jedes Haus verfügte über einen kleinen, von einer niedrigen Backsteinmauer umschlossenen Garten hinter den Metallschienen, die sich zum nahe gelegenen Bahnhof schlängelten. Wie durch ein Wunder hatte die Reihe der hübschen Backsteinhäuser die täglichen Bombenangriffe auf die Stadt ohne ernsthafte strukturelle Schäden überstanden, obwohl bei allen ein paar Ziegel fehlten. Zwar hatten zwei von ihnen ihre Schornsteine verloren, und mehrere Hauswände waren nur noch ein Haufen zerbrochener Ziegelsteine, aber alles in allem hatte der „Bodelschwingh-Weg“ den Krieg im Gegensatz zu den Gebäuden in den umliegenden Straßen relativ unbeschadet überstanden.
Das Haus von Herrn Neusch, das ganz am Ende der Reihe stand, hatte am wenigsten Schaden genommen, obwohl eines der Fenster im zweiten Stock nun mit Brettern vernagelt war und die Fassade wie ein Gesicht mit einer Augenklappe aussah. Sogar drei der vier Fensterkästen, die Herr Neusch aus ein paar alten Paletten gebastelt hatte, standen noch auf den jeweiligen Fensterbänken. Obwohl einige Ziegelsteine fehlten, war sogar die Vorderwand noch in einem Stück. Dahinter führte ein schmaler, gepflasterter Weg bis zur Haustür. Es war eine gute, solide Holztür, frisch gestrichen mit Lokomotivschwärze aus einer Dose, die Herr Neusch in den Ruinen des Lokschuppens gefunden hatte.
„Hier sind wir“, sagte Herr Neusch und deutete mit der freien Hand auf das Haus. „Home sweet home.“ Dann stieß er das Tor auf und geleitete sie hinein. Er lächelte zufrieden, als das Tor mühelos in seinen neuen Messingscharnieren aufschwang. Die Scharniere hatte er sich kürzlich von einer beeindruckenden Mahagonitür angeeignet, die zu dem verfallenen Wohnhaus gegenüber gehörte. Als sie sich der Haustür näherte, wurde Hannah durch eine plötzliche Bewegung an einem der Fenster im Erdgeschoss abgelenkt. Als sie dorthin blickte, erkannte sie das Gesicht einer älteren Frau, die durch eine der Fensterscheiben hinausschaute. Einen Moment später war die Person verschwunden. Der Vorhang fiel zurück an seinen Platz.
Bevor Wolfgangs knochige Faust die Haustür erreichen konnte, wurde sie plötzlich aufgerissen und die imposante Gestalt von Frau Neusch stand in der Tür. Fast so breit wie hoch, mit einem Busen wie eine schmollende Taube, schaute sie mit kleinen wässrigen blauen Augen auf Wolfgang herab. Erschrocken starrte Wolfgang sie an. Mit ihrem grauen Haar, das sie zu einem Dutt gebunden und mit einem Schildpattkamm gesichert hatte, ihrem schlichten, knöchellangen schwarzen Kleid mit Spitzenkragen und Manschetten sah sie genau so aus wie die böse Hexe aus Hänsel und Gretel. Wäre Frau Neusch nicht in ein freundliches Lächeln verfallen, hätte Wolfgang womöglich seinen Koffer fallen lassen und die Flucht ergriffen. Aber sie lächelte, und so war alles gut.
„Hereinspaziert! Kommen Sie rein.“ Sie sagte: „Ich habe mir Sorgen gemacht, dass Sie nicht im Zug sein könnten.“ Daraufhin warf Herr Neusch Hannah einen „Ich hab‘s dir ja gesagt“-Blick zu. Freudig gehorchend trat Wolfgang, gefolgt von Trudel, in den langen, fensterlosen Flur. Der Raum wurde von verblassten Tapeten mit Geißblattmuster, die die Wände säumten, und einem abgenutzten Läufer, der in der Mitte des gefliesten Bodens verlief, geschmückt. Es gab zwei Türen, die beide geschlossen waren. Eine auf der linken Seite und eine am anderen Ende. In der Mitte führte eine schmale Treppe zu den Stockwerken hinauf, deren Stufen mit abgenutztem Linoleum belegt waren. Die linke Tür führte in ein spärlich möbliertes Wohnzimmer mit einem zweisitzigen Sofa, über dessen Armlehnen jeweils eine Zierdecke drapiert war. Der kleine, frisch polierte Rosenholztisch war teilweise mit einem Spitzentischtuch bedeckt. In einer der beiden Nischen stand ein kunstvoll geschnitzter Schrank mit zwei Glastüren und einem Messingschlüssel, der eine Reihe von Porzellanfiguren schützten. Ein verblichener afghanischer Teppich bedeckte den größten Teil des Parkettbodens. Über dem leeren Kamin hing in einem schweren Rahmen ein Bild einer bayerischen Landschaft mit Märchenschloss.
„Stell deinen Koffer auf die Treppe, Wolfgang“, rief Herr Neusch. „Wir werden dich nach dem Essen in dein neues Zimmer bringen.“
Gehorsam stellte Wolfgang seinen Koffer auf die unterste Stufe, nahm Trudel an die Hand und folgte Frau Neusch durch die Tür am anderen Ende.
Sobald sie die Küche der Familie Neusch betraten, wurden die Kinder sofort von einer Wolke aus warmer Luft umhüllt, in der es nach Essen duftete. Der köstliche Geruch kam aus einer großen, deckellosen Emaillepfanne, die auf einem kohlebefeuerten Herd an der Rückwand stand. Die Eisenbeschichtung war bis auf den letzten Zentimeter geschwärzt. Zur Wärme des Raumes trug auch ein kleines offenes Feuer bei, in dessen gusseisernem Rost die Kohleklumpen glühten wie im Inneren eines Stahlwerksofens. In der Mitte des Raumes stand ein länglicher Holztisch, dessen Oberfläche gebleicht und geschrubbt war, bis sie weiß wurde. Um ihn herum standen verschiedene Stühle. Die beiden robusten Stühle mit gepolsterten Armlehnen gehörten eindeutig vor das Feuer. Die beiden leichteren hatte Herr Neusch früher an diesem Tag aus einem der Schlafzimmer heruntergetragen. Der verbleibende Stuhl war in Wirklichkeit ein hoher Hocker. Er wurde von Herrn Neusch auf dem Schwarzmarkt im Austausch gegen eine alte Leica-Kamera erworben, die er nicht mehr benutzte. Seine vier verchromten Beine und die gepolsterte Sitzfläche waren in erstaunlich gutem Zustand, wenn man bedenkt, dass er aus einem zerbombten Gebäude geborgen worden war. Vor jedem von ihnen standen ein blauer Porzellan-Suppenteller und ein Silberlöffel. Das war alles, was von dem Besteckset übrig geblieben war, das Herr Neusch seiner Frau zur Silberhochzeit geschenkt hatte. Die Messer und Gabeln waren gegen Lebensmittel getauscht worden. In Zeiten des Krieges ist die Not größer als die Gefühle. Zu dem erkennbaren Aroma des gekochten Gemüses gesellte sich der berauschende Geruch von sechs dicken Scheiben Corned Beef, die mit einem cremigen Teig aus Eichelmehl bestrichen waren und in einer großen Pfanne mit Kupferboden auf der angrenzenden Kochplatte sanft brutzelten. Er wurde gleichzeitig mit dem Hocker im Tausch gegen einen Sack mit ein paar kostbaren Kohleklumpen erworben.
Die Rückwand der Küche wurde von einer massiven Holztür beherrscht, die mit einem eindrucksvollen Eisenriegel und einem metallenen Kleiderhaken versehen war, über den sich Frau Neusch immer beklagte, da er zu hoch für sie sei. Ein rechteckiges Fenster mit einem durchgehenden Vorhang auf beiden Seiten, der von einem Fensterflügel zurückgehalten wurde, gab den Blick auf einen kleinen Garten frei, der mit einem Teppich aus frisch gefallenem Schnee bedeckt war. Auf der breiten Fensterbank stand ein Terrakotta-Pflanztopf mit einem kleinen Zweig, den Frau Neusch liebevoll mit Lametta und kleinen bunten Kerzen in einen Weihnachtsbaum verwandelt hatte.
Herr Neusch, der als letzter die Küche betrat, zog seine wattierte Jacke aus und stellte sich mit dem Rücken zum Feuer, um mit stiller Genugtuung zu beobachten, wie Hannah seiner Frau den Säugling reichte, während sie ihren Mantel und ihr Halstuch ablegte. Er lächelte über den Ausdruck der Freude auf dem Gesicht seiner Frau, als sie das schlafende Baby sanft in ihren Armen hin und her wiegte. Wolfgang hatte seinen Mantel bereits ausgezogen. Indem er sich auf die Zehenspitzen stellte und die Arme ausstreckte, hatte er es geschafft, ihn an den Haken neben Herrn Neuschs Jacke zu hängen.
„Schön warm, ja?“, sagte Herr Neusch in die Runde. „Hier braucht man keinen Mantel“, und fügte erklärend hinzu, „einem Lokführer mangelt es nie an Kohle.“
Frau Neusch ärgerte sich über die prahlerischen Worte ihres Mannes und gab Hannah das Baby zurück.
„Kommt, setzt euch. Ihr müsst alle hungrig sein nach einer so langen Reise.“
„Wir hatten etwas Brot und Käse zu essen, also war es nicht so schlimm“, sagte Wolfgang und setzte sich auf einen der Stühle im Schlafzimmer.
„Und Kuchen auch“, erinnerte Trudel ihren Bruder.
„Ja, aber ich bin immer noch hungrig“, fügte Wolfgang schnell hinzu, nur für den Fall, dass die alte Frau denken könnte, dass ihm der Appetit vergangen sei.
Frau Neusch lächelte, sichtlich erfreut, Kinder in ihrer Küche zu haben. Vor allem den Jungen. Während Trudel fröhlich auf ihrem hohen Schemel saß, ging Frau Neusch zum Herd und nahm einen Holzlöffel, um den Inhalt des Topfes ein letztes Mal umzurühren. Zufrieden und mit Händen, die scheinbar unempfindlich gegen Hitze waren, hob sie den schweren Topf an den Griffen hoch und trug ihn zum Tisch. Sie stellte ihn neben einem Weidenkorb ab, der mit grob geschnittenen Brotscheiben gefüllt war.
„Es ist nicht viel, fürchte ich“, sagte sie entschuldigend, „hauptsächlich Kartoffeln und Kohlrüben mit ein wenig geriebener Wurst.“
„Aber du vergisst das Corned Beef.“ Herr Neusch meldete sich ein wenig verärgert darüber, dass sie seinen Hauptgewinn übersehen hatte.
Frau Neusch warf ihrem Mann einen strengen Blick zu, bevor sie hinzufügte: „Ja, und ein bisschen Fleisch, das Herr Neusch von Gott weiß woher bekommen hat.“
Herr Neusch bemühte sich, sein Gesicht nicht zu verziehen, blickte zu Wolfgang hinüber und tippte ihm mit einem Finger auf die Nase, wobei er wissend zwinkerte. Frau Neusch schnaufte über die ärgerliche Geste ihres Mannes und begann, die dampfende, suppenartige Mischung in die Schüsseln zu schöpfen. Als alle Schüsseln bis zum Rand gefüllt waren, kehrte sie zum Herd zurück, nahm die Pfanne von der Herdplatte und wendete mit einem hölzernen Pfannenwender vorsichtig jede einzelne Frikadelle. Zufrieden, dass sie alle schön knusprig geworden waren, kehrte sie mit der Pfanne in der Hand zum Tisch zurück und legte vorsichtig eine in jede Schüssel. Mit Enttäuschung sah sie zu, wie ihre goldenen Köstlichkeiten, statt wie erhofft oben zu schwimmen, langsam unter die trübe Oberfläche der Brühe sanken.
Wolfgang war der erste, der seine Mahlzeit beendete. Nachdem er seinen Löffel ein letztes Mal abgeleckt hatte, was nicht unbemerkt bleib, stellte er ihn auf den Tisch. Frau Neusch hatte mit ihrem Mann einen verständnisvollen Blick ausgetauscht, bevor sie ihren Stuhl zurück schob, vom Tisch aufstand und zum Herd hinüberging. Als sie mit der Pfanne in der Hand zurückkam, schüttete sie mit einem Schwung des Spatels die letzten Frikadellen in Wolfgangs leere Schüssel, über die er sich freudestrahlend stürzte, als hätte er seit einer Woche nichts mehr gegessen. Glücklicherweise bemerkte er den missbilligenden Blick seiner Mutter, bevor der saftige Happen in seinen Mund gelangte.
„Danke“, murmelte er etwas entschuldigend.
Frau Neusch lächelte vergnügt und zerzauste mit ihrer freien Hand seinen Haarschopf.
In diesem Moment begann das Baby zu weinen. Ein Geräusch, das dem alten Ehepaar so fremd war, dass es sie völlig überrumpelte.
„Gibt es einen Ort, an den ich gehen kann?“, fragte Hannah. „Ich brauche nur …“
Bevor sie ihren Satz beenden konnte, wandte sich Frau Neusch an ihren Mann: „Sitzt doch nicht einfach so da wie ein dummer Ehemann!“ Herr Neusch machte keine Anstalten, sich zu bewegen. „Husch! Husch! Raus mit dir. Und nimm die Kinder mit.“
Herr Neusch befürchtete, dass die Bratpfanne, die seine Frau in der Hand hielt, für etwas anderes als zum Braten von Pfannkuchen verwendet werden könnte, und rappelte sich auf.
„Kommt, Kinder. Zeit für etwas frische Luft, denke ich.“
Damit nahm er seine Jacke und die Mäntel der Kinder vom Kleiderhaken, schob eine Hand in einen Ärmel und öffnete die Tür. Er führte die Kinder nach draußen, noch bevor sie Zeit hatten, ihre Mäntel anzuziehen.
Hannah lächelte über ihren pantomimischen Abgang und knöpfte ihr Kleid auf, indem sie die Körbchen ihres Büstenhalters herunterzog. Frau Neusch setzte sich auf einen Stuhl und betrachtete liebevoll das Baby, das zufrieden an Hannahs Brust saugte.
„Jetzt ist die ganze Familie satt.“
Hannah nickte. Sie lächelte über die Worte der alten Frau.
„Ihr wart beide so nett zu uns.“
„Unsinn“, sagte Frau Neusch und flatterte mit den Fingern, als würde sie eine lästige Fliege wegpusten. „Es ist nicht mehr, als ihr für uns getan hättet, wenn die Umstände anders gewesen wären. Außerdem gehörst du jetzt zur Familie und so wirst du auch behandelt werden.“
Vor lauter Rührung stiegen Hannah die Tränen in die Augen. Aber diese Tränen waren anders. Es waren Tränen des Glücks. Denn obwohl die Vergangenheit nie vergessen werden durfte, hatten sie und ihre Kinder nun ein neues Leben begonnen. In ihrem Herzen glaubte sie, dass es ein gutes sein würde. Da es nichts mehr zu sagen gab, drehten die beiden Frauen ihre Köpfe und starrten durch das Fenster hinaus.
Herr Neusch hatte es geschafft, Trudel in ihren Mantel zu bekommen, obwohl nicht alle Knöpfe das richtige Knopfloch besetzten. Wolfgang war inzwischen schon damit beschäftigt, eine Schneekugel durch den Garten zu rollen und zu beobachten, wie sie mit jeder Umdrehung größer wurde. Mit ein wenig Hilfe von Herrn Neusch begann Trudel ihren eigenen Schneeball zu formen. Schließlich begann Wolfgang, ohne auf die Kälte zu achten, den Schneeball in die Form eines Schneemanns zu bringen. Nachdem er die widerwillige Trudel davon überzeugt hatte, dass ihr Schneeball nun groß genug war, um seinen Kopf zu bilden, formte Herr Neusch ihn zu einer Kugel und setzte ihn vorsichtig auf den Körper des Schneemanns. Als er sich vergewissert hatte, dass er gerade saß, kramte der alte Lokführer in seiner Manteltasche und holte drei kleine Kohleklumpen hervor. Trudel lächelte vergnügt, als sie sah, wie ihr Bruder sie in den Kopf des Schneemanns schob. Ein Stück für jedes Auge und das größere für seine Nase. Dann klatschte sie vor Freude in die Hände, als Herr Neusch zum Schluss nach vorne trat und seine Mütze auf den Kopf des Schneemanns setzte.
„Nun, Wolfgang Mayer“, sagte Herr Neusch und bewunderte ihr Werk, „jetzt, wo wir uns so einen schönen Schneemann gebaut haben, könnten wir beide vielleicht ein Radio bauen?“
Stalingrad – Ende Dezember 1942
Hauptmann Schlesser schob seine Schirmmütze zurück, hob seinen Feldstecher ein zweites Mal und betrachtete den Boden vor sich. Ein Niemandsland, übersät mit den ausgebrannten Hüllen leerer Gebäude, deren geschwärzte, fensterlose Wände durch den monatelangen Dauerbeschuss zu Trümmerhaufen geworden waren. Ein Anblick, der ihn immer noch anwiderte und wütend machte. Eine einst pulsierende Stadt, die durch die Zerstörungskraft des Menschen zu einem apokalyptischen Ödland geworden war. Ein Angriff stand bevor. Er konnte ihn spüren, so wie ein wildes Tier die Gefahr spürt. Der Trick war zu wissen, wann. Normalerweise hätte er eine kleine Patrouille ausgesandt, um die feindliche Position zu erkunden. Aber da seine Kompanie von 180 auf 28 Mann geschrumpft war, konnte er sich einen solchen Luxus nicht mehr leisten. Im Norden war das unheimliche Heulen der Katjuscha zu hören, die von den deutschen Soldaten den Spitznamen „Stalinorgeln“ erhalten hatten. Hier war es die unheimliche Stille, die Hauptmann Schlesser beunruhigte.
„Es ist zu leise“, sagte er und wandte sich an den Soldaten, der neben ihm stand. „Für meinen Geschmack ist es einfach zu still.“
Ein halbes Lächeln umspielte das hagere, unrasierte Gesicht des Soldaten. Er war ein paar Zentimeter kleiner als sein Hauptmann, aber breiter in den Schultern. Er trug einen langen Mantel, der um die Taille gegürtet und dessen Kragen hochgeschlagen war. Obwohl die Schulterklappen verschwunden waren, trug der linke Ärmel noch immer das Abzeichen eines Oberfeldwebels. Der Name des Soldaten war Franz Mayer.
Beide Männer waren kurz vor dem Einmarsch in Frankreich im Juni 1940 der 71. Infanteriedivision beigetreten und hatten seitdem gemeinsam im 211. gedient. Für Schlesser lag das Soldatentum im Blut. Sowohl sein Urgroßvater als auch sein Großvater hatten im Deutsch-Französischen Krieg gekämpft, und sein eigener Vater hatte in Verdun einen Arm verloren. Es war also so etwas wie eine Familientradition. Für Mayer war es ein Akt des Patriotismus. Ausgelöst durch den Wunsch des Führers, das Sudetenland dem Vaterland zurückzugeben. Doch zu seinem Leidwesen wollte Hitler mehr. Viel mehr. Zwei Männer mit sehr unterschiedlichem Hintergrund, die jetzt Waffenbrüder sind. Zusammen mit Teilen der 305. Infanteriedivision , unterstützt von Panzern der 4. Panzerdivision, waren sie Anfang September in Stalingrad einmarschiert und hatten vier zermürbende Monate lang darum gekämpft, die russischen Verteidiger zu vertreiben. Sie kämpften verbissen um jedes Haus, jede Fabrik, jede Straße. Manchmal kämpften sie tagelang um ein einziges Gebäude. Hunderte von deutschen Soldaten wurden für ein paar Meter Boden geopfert. Doch selbst als der Feind bis an die Ufer der Wolga zurückgedrängt worden war, leisteten sie noch Widerstand und kämpften mit der Zähigkeit von Männern ohne jede Hoffnung. Ihr einziger Lohn war ein glorreicher Tod.
Dann kam der Winter mit seinen heulenden Schneestürmen und Minustemperaturen. Und mit dem Wechsel der Jahreszeiten kam eine weitere Veränderung. Unvorhergesehen. Unerwartet und für einige unwillkommen. Mitte November hatten fünf russische Armeen mit über einer halben Million Soldaten, angeführt von der 21. Gardearmee im Norden und der 62. Armee im Süden, die geschwächten deutschen Flanken druchbrochen und zogen in einer gigantischen Zangenbewegung durch die verschneite Steppe. Am 23. November hatten sie die Stadt eingekesselt. Die 6. Armee war in einem eisernen Ring gefangen. Als Berufsoffizier hatte Schlesser immer daran gezweifelt, ob es klug war, eine mobile Elitetruppe wie die sechste Armee für diese Art des urbanen Krieges einzusetzen. Seiner Meinung nach war es eine sträfliche Verschwendung von Männern und Maschinen. Vor allem, weil er Tag für Tag mit ansehen musste, wie die Stärke seiner Kompanie immer mehr abnahm. Seine Männer starben sinnlos im Kampf um jedes Gebäude und jeden Keller. Sie lieferten sich sogar tödliche Nahkämpfe in den Abwasserkanälen der Stadt. Rattenkrieg nannten es die Soldaten. Für ihn wurde dieser Kampf um eine taktisch unbedeutende Stadt allein schon wegen ihres Namens zu einer Besessenheit für Hitler. Und nun waren sie eingekesselt. Eine Armee von 330.000 Mann, gefangen in einem Kessel des Todes. Aber es war noch nicht alles verloren. Sie hatten immer noch die Fähigkeit und die Feuerkraft, sich mit Leichtigkeit durch die Umzingelung der Roten Armee zu schlagen, das wusste jeder Soldat. Doch gerade als sie wieder Hoffnung schöpften, erhielten Generalfeldmarschall Paulus und seine Generäle den verhängnisvollen Führerbefehl. „Es sollte keinen Ausbruch geben. Stalingrad muss um jeden Preis gehalten werden. Wenn nötig, müssen sie bis zur letzten Patrone kämpfen.“
Sie schlachteten zuerst die Kavalleriepferde. Dann die schweren Pferde, die zum Ziehen der Haubitzen und schweren Flakgeschütze verwendet wurden. Und wenn sie das Fleisch gegessen hatten, kochten sie aus den Knochen der Tiere eine dünne, wässrige Suppe. Am 19. November 1942 wies das Hauptbuch des stellvertretenden Quartiermeisters der 6. Armee eine Gesamtstärke von 330.000 Mann aus. Bis zum 6. Januar 1943 war diese Zahl auf 190.000 reduziert worden. In 51 Tagen waren 140.000 Mann verloren gegangen. Sie fielen im Kampf, verhungerten oder starben an ihren Wunden. Für die Lebenden bedeutete es ein wenig mehr Suppe in der Kantine. Ein paar Gramm Brot mehr. Ein bisschen länger zu leben, bevor man ebenfalls aus dem Register gestrichen wurde.
Kaum hatten die Worte Schlessers Lippen verlassen, ertönte außerhalb seines Blickfeldes ein Pfiff. Einen Herzschlag später erhob sich ein großes Gebrüll: „Hurra! Hurra! Hurra!“ Der markerschütternde Schlachtruf von Hunderten von russischen Soldaten. Wenige Augenblicke später folgte das Geräusch eines aufheulenden Motors.
„Sind die Männer in Position?“, fragte Schlesser, der die Antwort bereits kannte.
„Ja, Hauptmann“, antwortete Mayer ruhig.
Dies war der zweite Angriff der Bolschewiken innerhalb der letzten drei Tage, und jeder der 28 Männer, die von der 180 Mann starken Kompanie übrig geblieben waren, die in die Stadt eingedrungen war, wusste, was von ihm erwartet wurde. Die ständigen Kämpfe waren fast zur Routine geworden. Die allgegenwärtige Angst vor dem Tod schwebte über ihnen wie eine unsichtbare Wolke. Einige, die die entsetzlichen Zustände in den Feldlazaretten mit eigenen Augen gesehen hatten, wussten, dass die Keller mit einem endlosen Strom zerfetzter und blutender Leichen verstopft waren. Holzbretter, die als Operationstische benutzt wurden. Erschöpfte Chirurgen, gestärkt durch schwarzen Kaffee und Pervitin, operierten mit Skalpell und Säge. Sie schnitten das Fleisch auf, um ein Stück Schrapnell zu entfernen. Sie sägten Arme und Beine ab wie Äste von einem Baum. Und überall der Gestank von eiternden Wunden; der Gedanke, verwundet zu werden, war schrecklicher als getötet zu werden. Für diejenigen, die beides fürchteten, war das Problem gelöst, indem man sich eine Waffe an den Kopf hielt und abdrückte. Und so warteten sie. Einige hatten einen Abschiedsbrief dabei, den sie sorgfältig gefaltet in ihr Soldbuch steckten. Ein Brief, von dem sie beteten, dass er nie abgeschickt werden würde. Andere, alte Soldaten wie Giebeler, hielten das für eine Herausforderung an das Schicksal. „Erzähle es ihnen, wenn du nach Hause kommst“, war seine Philosophie. Sie kämpften nicht mehr für den Führer und das Vaterland. Sie kämpften füreinander. Sie kämpften dafür, dass sie diesen Alptraum trotz aller Widrigkeiten irgendwie überleben würden. Dass sie aus diesem Höllenloch gerettet würden und sicher nach Hause zu ihren Lieben zurückkehrten.
Die Entfernungsmarkierung, ein harmloses Stück Holz, das aufrecht in einem Haufen Ziegelsteinschutt steckte, war auf fünfzig Meter eingestellt. Es sollte kein Schuss abgegeben werden, bevor der erste Feind es erreicht hatte. Selbst ohne sein Fernglas konnte Schlesser sie jetzt sehen. Noch nicht als Einzelne, sondern als eine massive Wand von Männern. Eine olivgrüne Flut, die nur mit dem Gedanken, zu töten, auf sie zustürmte. Mitten unter ihnen, mit rasselnden Ketten und tiefschwarzen Rauchschwaden aus dem Auspuff, stand ein Panzer.
„Es ist ein T-70!“, rief jemand von einer vorderen Position aus.
„Danke, Giebeler“, sagte Schlesser, als er die Stimme des Mannes erkannte.
„Gott sei Dank, ist es nicht einer ihrer T-34er, was, Hauptmann?“, rief ein anderer Soldat.
Schlesser lächelte. „Dann hätten wir auf jeden Fall ein Problem“, antwortete er, bevor er sich fragend an Mayer wandte. „Einer für Bauer und Kaufmann, glaube ich.“
Mayer nickte und kletterte über den mit Schutt übersäten Boden zu zwei Soldaten, die hinter einem Dreieck aus Mauerwerk, das einmal eine Hausecke gewesen war, standen. Bewaffnet mit einer Panzerfaust und einer kleinen Tasche schlurften die beiden davon und verschwanden wenige Augenblicke später in dem entkernten Rohbau eines angrenzenden Gebäudes.
Das MG 42 eröffnete als erstes. 150 Schuss wurden in kurzen Salven von 20 bis 30 Sekunden abgefeuert, um zu beginnen. Sie bewegten sich von links nach rechts durch die vorderen Reihen der russischen Soldaten. Die 7,92-mm-Geschosse löschten Leben so leicht aus wie eine Kerze. Aber sie kamen trotzdem. Angestachelt von pistolenschwingenden Kommissaren, die ihre patriotischen Parolen brüllten. Diejenigen, die noch bei Verstand waren, suchten Schutz hinter dem T-70, der über die zerbröckelten Ruinen vorwärts rumpelte. Der Rest von Schlessers Männern, die alle mit einem Karabinergewehr bewaffnet waren, nahm den Kampf auf. Jeder wählte ein Ziel aus und nahm es ins Visier. Keine ausgefallenen Kopfschüsse. Die Munition war knapp. Jede Kugel war unbezahlbar und so genügte ein einziger Schuss in den Körper eines Feindes.
Mit Kaufmann dicht hinter sich, die Panzerfaust über die Schulter geworfen, ging Bauer eine kurze Holztreppe hinunter in einen Keller. Die beiden gewöhnten sich schnell an das düstere Innere und kletterten über umgestürzte Mauerbrocken, um zur hinteren Wand zu gelangen. Sie kletterten einen Haufen Ziegelschutt hinauf und gelangten in eine höhlenartige Öffnung, die gerade hoch genug war, dass ein Mann hindurchkriechen konnte. Der freitragende Teil der Außenmauer des Gebäudes schwebte über ihnen wie die Klinge einer Guillotine. Augenblicke später hörten sie über dem Knistern der Gewehrschüsse und den rhythmischen Explosionen des MG 42 das unverwechselbare Brüllen des entgegenkommenden Panzers. Bauer ließ sich hinter einem Betonbalken, der einst ein Fenster im Erdgeschoss gestützt hatte, auf ein Knie fallen und zog die Panzerfaust von seiner Schulter. Er nahm die röhrenförmige Waffe in beide Hände, einen Finger über den Abzugshebel gelegt, und zielte durch die Öffnung vor ihm. Kaufmann kniete neben ihm, öffnete die Klappe des Rucksacks und begann, an dem primitiven Zeitzünder der Bombe herumzufummeln. Er richtete die Einstellung des Zünders nach der Zeit, die der Panzer brauchen würde, um die Stelle zu erreichen, an der er und Bauer auf der Lauer lagen. Die Informationen ergaben sich aus dem zunehmenden Motorengeräusch des Panzers und dem Klirren seiner Raupenketten, wenn sie über die verkümmerten Reste von Mauern und Gebäuden rumpelten. Es war keine exakte Wissenschaft, aber Erfahrung war ein guter Lehrer und Kaufmann hatte sich als würdiger Schüler erwiesen. Bauer und Kaufmann sahen zu, wie die Beine und Unterkörper der vorrückenden russischen Soldaten, die sich ihrer Anwesenheit nicht bewusst waren, an ihnen vorbeizogen, und zählten die Sekunden ab. Plötzlich kam der T-70 direkt gegenüber von ihnen in Sicht. Seine große Metallmasse war weniger als fünfzehn Meter entfernt. Diesmal ist das Visier nicht nötig, dachte Bauer und drückte den Abzugshebel nach unten.
Verdeckt durch ein teilweise eingestürztes Gebäude beobachtete Mayer mit Genugtuung, wie der Gefechtskopf der Panzerfaust in der Seite des russischen Panzers explodierte, Metallbrocken in die Luft schickte und das Fahrzeug zum Stillstand brachte. Einen Moment später sah er Kaufmann aus dem zerstörten Haus kommen. Er beobachtete, wie er über die Trümmer rannte und die Bombe unter den Bauch des Panzers warf. Sekunden später zerriss eine Explosion den T-70. Die Schockwelle hob Kaufmann von den Füßen und schleuderte ihn schneller zurück zur Öffnung in der Wand, als seine Beine ihn hätten tragen können. Mit einem erleichterten Lächeln beobachtete er, wie Kaufmann sich in Sicherheit brachte, und stützte sein Gewehr auf die Mauer vor ihm, um den Turm des Panzers anzuvisieren. Es dauerte nicht lange, bis der Lukendeckel aufgestoßen wurde und ein Mitglied der Besatzung herauskam. Die Kugel aus Mayers Karabiner steckte in seiner Brust, und wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt worden waren, kippte der Mann zur Seite und rutschte an der Seite des Panzers hinunter. Er war gestorben, bevor er den Boden erreichte. Mayer zog den Bolzen zurück, lud eine weitere Patrone und wartete. Als der zweite der zweiköpfigen Besatzung in der offenen Luke erschien, war er bereits eine menschliche Fackel. Ohne ein Flackern der Gefühle wandte sich Mayer ab. Schnell suchte er in den heranstürmenden Reihen der russischen Soldaten ein weiteres Opfer für seine nächste Kugel.
Und dann, so schnell wie es begonnen hatte, war es vorbei. Unfähig, dem Gemetzel länger standzuhalten, und taub gegenüber den beißenden Schreien der Soldaten. Verrückt vor Angst drehten erst zwei, dann Dutzende überlebenden russischen Männer um und flohen. Sie trampelten über die Leichen ihrer toten und verwundeten Kameraden und versuchten verzweifelt, dem Gemetzel zu entkommen. Als die letzte Kugel abgefeuert war, legte sich eine tiefe Stille über die Szene. Unterbrochen von den Schreien und dem Stöhnen der tödlich Verwundeten, die den mit Schutt übersäten Boden bedeckten. Die klägliche Stimme eines Sohnes, der zu seiner Mutter ruft. Worte, die sie niemals hören wollte. Nicht einmal in ihren dunkelsten Träumen.
Fluchend über seinen verstauchten Knöchel kletterte Kaufmann die Kellertreppe hinauf und machte sich, unterstützt von Bauer, auf den Weg zurück zu seiner Position, wo er von Mayer mit einem herzlichen Schulterklopfen begrüßt wurde. Gefolgt von einer bissigen Bemerkung: „Nicht mehr so flink, was Kaufmann? Ich nehme an, du erwartest jetzt von unserem geliebten Quartiermeister, dass er dir eine Krücke besorgt?”
Der Soldat warf ihm einen finsteren Blick zu. Dann fingen beide an zu lachen. Die beiden hatten lange Zeit Seite an Seite gekämpft und Kaufmann wusste, dass dies Mayers Art war, ihm Dankbarkeit zu zeigen. Ein kurzer Moment der Heiterkeit, der dazu beitrug, die düstere Stimmung, die über ihnen allen lag, aufzuheben. Es war immer das Gleiche, eine Art Müdigkeit gemischt mit Erleichterung. Erleichterung darüber, dass man nicht selbst wie diese armen bolschewistischen Bastarde da draußen lag und sein Lebenssaft in den Boden versickerte. Sie hatten überlebt, um an einem anderen Tag zu kämpfen. Das war etwas, wofür man dankbar sein konnte an einem Ort, an dem die Lebenserwartung nicht mehr in Tagen, sondern nur noch in Stunden und Minuten gemessen wurde.
Der Bunker der Kompanie befand sich in einem Keller. Das darüber liegende Gebäude war durch den Beschuss nur noch ein Haufen Ziegelbröckchen. Schütze Giebeler versicherte seinen weniger optimistischen Kameraden, dass die niedrige Decke, die aus einer dicken Betonschicht bestand und stellenweise stark gerissen war, nicht unmittelbar einsturzgefährdet war. Auf dessen Meinung konnte man sich immer verlassen. Zum Glück teilte Hauptmann Schlesser Giebelers Optimismus nicht und ordnete an, zwei dicke Hölzer als Grubenstützen zu verwenden, um für zusätzlichen Halt zu sorgen. Der Erdboden des Kellers war mit abgenutzten, farblosen Teppichstreifen ausgelegt. Eine kurze Treppe führte zum Eingang, der hinter einer Plane verborgen war. In einer Ecke stand ein kleiner gusseiserner Ofen, der auf Ziegeln aufgebaut war und dessen behelfsmäßiger Schornstein durch ein Loch in der Kellerwand nach oben verschwand. Am anderen Ende standen vier Holzpritschen, auf denen jeweils zwei Soldaten lagen, die alle tot waren. Drei weniger glückliche Seelen, deren rasierte Köpfe mit Schorf bedeckt waren und deren Augen vor Hunger glitzerten, kauerten um den Ofen herum. Die restlichen Möbel des Raums bestanden aus einem notdürftigen Tisch und einem kunstvoll geschnitzten Holzstuhl. An einem Nagel, der in jede der hölzernen Stützen geschlagen war, hingen ein paar Petroleumlampen, die ihr Bestes taten, um dem unterirdischen Raum ein wenig Licht zu spenden.
Am Schreibtisch sitzend, drehte Hauptmann Schlesser zum dritten Mal an der Kurbel des Feldtelefons und hielt sich den Hörer ans Ohr. Stille.
„Verdammt noch mal!” Das Schimpfwort wurde nicht laut ausgesprochen, aber die Frustration des Offiziers war offensichtlich. „Stabsgefreiter Deifel, gehen Sie und lösen Sie Oberfeldwebel Mayer ab. Sagen Sie ihm, dass ich ihn brauche.“
Widerwillig gab der Stabsgefreite seinen Platz am Ofen auf, schlug wortlos den Kragen seines Mantels hoch, stieg die Treppe hinauf und verschwand durch den Bunkereingang. Wenige Augenblicke später wurde die Plane zurückgezogen und Oberfeldwebel Mayer stieg die Treppe hinunter. Er zog seine Handschuhe aus, ging zum Tisch und beobachtete abwartend, wie der Offizier seine Aufzeichnungen beendete.
Hauptmann Schlesser legte seinen Stift beiseite, riss die Seite aus seinem Notizbuch und reichte sie Mayer.
„Die Telefonverbindung ist wieder gestört. Geh und schau, was du beim Quartiermeister zusammenkratzen kannst. Ich habe zwar aufgelistet, was wir brauchen, aber sieh zu, was du trotzdem bekommen kannst.“ Dann schaute er Mayer ins Gesicht und sagte betont: „Wir brauchen Munition.“
Mayer nahm ihm das Blatt Papier ab und schob es in eine Tasche.
„Jawohl.“
Dann zog er seine Handschuhe an, wandte sich ab und ging auf die Treppe zu.
„Nimm Neubauer mit“, fügte Schlesser hinzu. „Wer weiß, ob der alte Bastard vielleicht schwach wird, wenn er den Zustand des armen Kerls sieht, oder?“
Mit dem Fuß auf der ersten Stufe, bemüht, nicht zu lächeln, wandte sich Mayer dem Offizier zu: „Kann nicht schaden, nehme ich an, Hauptmann.“
Damit stieg er die restlichen Stufen hinauf und verließ den Bunker. Mit dem Bleistift in der Hand griff Schlesser wieder zu seinem Notizbuch. Es gab einen Bericht zu schreiben, in dem Kaufmanns Tapferkeit ebenfalls vermerkt werden musste.
Das am Heldenplatz gelegene Warenhaus war eines der neuesten und renommiertesten Gebäude Stalingrads. An der Kreuzung zweier breiter Alleen gelegen, ragte es mit seiner imposanten Fassade wie der Bug eines großen Überseedampfers auf den großen T-förmigen Platz hinaus und zog die Aufmerksamkeit auf sich. Es war vier Stockwerke hoch und wurde im monumentalen Baustil errichtet. Mit stuckierten Wänden, in die Reihen von schlichten, länglichen Fenstern eingelassen waren, wobei der erste und vierte Stock durch ein kunstvolles Geländer verziert waren. Auf der Spitze des Gebäudes befand sich ein beeindruckender quadratischer Turm, der mit fünf großen Urnen im griechischen Stil verziert war. Der geschwungene, ebenerdige Eingang, zu dem man über eine breite Treppe gelangte, wurde von acht großen Säulen getragen, wovon vier rund und vier quadratisch waren. Die Lücken zwischen ihnen ermöglichten den Zugang zu den fünf verglasten Flügeltüren, die in das geräumige, hell erleuchtete Innere des Ladens führten.
Das einst stolze Gebäude, das von der 71. Infanteriedivision als Hauptquartier genutzt wurde, war nur noch eine dachlose, vom Feuer verwüstete Höhle. Die rauchgeschwärzte Fassade war von Einschusslöchern und Raketengeschossen übersät. Wie durch ein Wunder hatten alle acht Säulen die Granatenflut, die viele der Nachbargebäude in Schutt und Asche gelegt hatte, überstanden. Davor war die weite, schneebedeckte Fläche des Heldenplatzes mit den ausgebrannten Fahrzeugen und Artilleriegeschützen übersät. Panzer, die auf zertrümmerten Gleisen lagen, deren Türme von Granaten durchlöchert waren. Haubitzen wurden aufgegeben, weil es keine Granaten für sie gab. Ein Paar Flugabwehrpanzer, deren verbogene Mündungen in einer verzweifelten Geste des Trotzes in den Himmel ragten. Am anderen Ende lag eine Junkers Ju 52 wie ein toter Vogel mit gespreizten Beinen auf dem Boden, ihr Rumpf war mit Einschusslöchern übersät.
Nachdem sie eine Lücke im Stacheldrahtring um den Platz gefunden hatten, kletterten Mayer und Neubauer über die Sandsackmauer an der Vorderseite des Gebäudes und öffneten eine der verbleibenden Vordertüren. Erleichtert übergaben die beiden Wachposten, die sich um eine behelfsmäßige Feuerstelle gekauert hatten, ihre Waffen an den neuen Wachtrupp, bevor sie sich rasch auf den Weg ins Gebäude machten. Unbestritten folgten Mayer und Neubauer ihnen durch die offene Tür, wobei die Glasscherben der zerbrochenen Fenster unter ihren Füßen knirschten, als sie den Marmorboden des Foyers überquerten. Von den Mahagoni-Vitrinen, die einst die Kunden beim Betreten des Ladens begrüßt hatten, war nichts mehr übrig. Ihr Holz war verkohlt, die Glasplatten waren zerbrochen. Alles, was an ihrer Stelle blieb, waren Trümmerhaufen und eine unheimliche Stille, die nur kurz durch das Geräusch der Stiefel des Wachmanns unterbrochen wurde, als sie die Steintreppe in den Keller hinunterstiegen. Mayer führte sie zur Treppe, die Türen, die einst den Eingang versperrten, waren bereits entfernt worden. Mit Neubauer im Schlepptau machten sich die beiden auf den Weg nach unten.
Als Mayer und Neubauer den Fuß der Treppe erreichten, waren die beiden Wachen bereits verschwunden. Vor ihnen lag ein breiter Korridor, der nach rechts und links abzweigte und von einer Reihe nackter Glühbirnen beleuchtet wurde, die in Abständen an einem einzigen Kabel hingen. Von irgendwoher aus dem Inneren des Gebäudes hallte das gleichmäßige Pochen eines Generators durch den Korridor.
„Hier entlang“, sagt Mayer und dreht sich in die Richtung, aus der das Geräusch kam. „Wir werden es hier unten versuchen.“
Als sie den unterirdischen Gang entlanggingen, öffnete sich plötzlich eine Tür, aus der ein Soldat mit einem Blatt Papier in der Hand erschien. Der Soldat warf den beiden einen flüchtigen Blick zu und verschwand wie ein Kaninchen in einem Loch in einem schmalen Seitengang. Als sie an der halb geöffneten Tür vorbeigingen, hörten sie das Knistern von Funkstörungen und das rhythmische Klappern einer Morsetaste aus dem Inneren. Ein paar Meter weiter im Korridor hörten sie gedämpfte Stimmen aus einem Raum ohne Tür. Ein Gewirr von Drähten schlängelte sich von dort aus in den Flur und verschwand durch ein Loch in der Decke. Als er Mayer und Neubauer kommen hörte, drehte sich einer der Telefonisten zu ihnen um.
„Wir brauchen die Vorräte“, sagte Mayer. „In welche Richtung?“
Der Telefonist hielt sich die Kopfhörer von den Ohren und starrte Mayer an. „Die Vorräte. In welche Richtung?“
Der Telefonist deutete in die Richtung, die die Soldaten bereits eingeschlagen hatten. Während Mayer dankend nickte, drehte sich ein zweiter Telefonist in seinem Stuhl um.
„Haben Sie einen Termin?“, erkundigte sich der Mann.
„Brauchen wir einen?“, fragte Mayer.
„Nein“, der Mann antwortete, bevor er sich abwandte. „Aber wenn du ohne einen reinkommst, sag mir Bescheid und ich sorge dafür, dass du für ein Ritterkreuz empfohlen wirst.“
Am Ende des Korridors befand sich eine Doppeltür. An einer war ein Schild angebracht, auf dem in fetten Buchstaben das Wort „Quartiermeister“ geschrieben stand. Mayer griff nach der Klinke und merkte schnell, dass die Tür verschlossen war. Verärgert ballte er die Faust und schlug sie fest gegen die Tür. Da er keine Antwort erhielt, hämmerte er ein zweites Mal gegen die Tür. Nichts. Er überlegte, ob er sein Gewehr benutzen sollte, doch bevor er den Gedanken in die Tat umsetzen konnte, hörte Mayer von der anderen Seite der Tür, dass sich jemand zurückzog. Einen Moment später wurde die Tür aufgerissen und ein junger Soldat mit einem blutverschmierten Verband am Kopf schaute heraus.
„Die Vorräte sind geschlossen. Keiner ist …“
Bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, streckte Mayer eine Hand aus, mit der er mit aller Kraft gegen die Tür drückte, schob den jungen Soldaten zur Seite und betrat dicht gefolgt von Neubauer den Raum.
Die hohen Holzregale, die einst als Lagerraum für Porzellan bis hin zu Alltagsgegenständen genutzt wurden, enthielten nun militärische Gegenstände. Stapel sauber gefalteter grauer Decken, Konserven und Kisten mit Munition und Granaten. Das oberste Regal war für Brotlaibe reserviert. Die Reihen waren wie Ziegelsteine übereinander gestapelt. Eine Vorsichtsmaßnahme gegen suchendes Ungeziefer. Was, wie sich herausstellte, völlig unnötig war, denn die Ratten, die es dort gab, waren schon vor Wochen getötet und gefressen worden. Der Inhalt jedes Regals war durch ein beschriftetes Etikett deutlich gekennzeichnet. In der hintersten Ecke standen ein paar mit Kartoffeln gefüllte Jutesäcke. Licht spendeten zwei große nackte Glühbirnen, die von der weiß getünchten Decke hingen. Ein Ölofen, der an eine Seitenwand gelehnt war, tat sein Bestes, um den Raum ein paar Grad über dem Gefrierpunkt zu halten. Darüber hing in einem Rahmen, der zuvor ein Foto des Führers enthalten hatte, ein Bild des Künstlers Raffael, auf dem eine Madonna mit Kind abgebildet war. Das Gemälde wurde aus einer Seite einer Zeitschrift gerissen, die jemand vergessen hatte, mit nach Hause zu nehmen, als er mit der Arbeit fertig war.
Strategisch platziert zwischen Tür und Regal stand ein großer Mahagoni-Schreibtisch im neoklassizistischen Stil, der aus den Fängen der zahlreichen Öfen des Gebäudes entkommen konnte und dadurch sowohl als Barrikade als auch als Tresen diente. Dahinter saß auf einem bequem aussehenden Stuhl Wilhelm Haussegger, der Quartiermeister des Regiments, der von allen liebevoll „Großer Willi“ genannt wurde. Ein Spitzname, der zweifellos auf seinen Körperbau zurückzuführen war. Schließlich war der Mann fast zwei Meter groß, kantig gebaut, mit breiter Brust und einem dicken Bauch, den seine Uniformhose nur schwer unterbringen konnte. Natürlich gab es einige namenlose Personen, die behaupteten, das Attribut beziehe sich eher auf die Größe seines Penis. Allerdings war keiner von ihnen mutig genug gewesen, um nachzuprüfen, ob dies der Wahrheit entsprach oder nicht. Mit seinem glatt rasierten Kopf und der Metallrandbrille auf dem Nasenrücken wirkte er wie ein Türsteher, der sich als jüdischer Geldverleiher ausgab. Vor ihm auf einem feinen Porzellanteller, der das letzte Überbleibsel eines Zwölfer-Sets war, lagen die Reste einer halb gegessenen Mahlzeit.
„Du hast gehört, was er gesagt hat. Die Vorräte sind geschlossen. Und jetzt verzieh dich.“
Sogar Quartiermeister Hausseggers Stimme war riesig. Ein tiefer Basston, mühelos vorgetragen.