Stalker - Louise Voss - E-Book

Stalker E-Book

Louise Voss

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Beschreibung

Alex Parkinson ist wie vom Blitz getroffen, als er seine Dozentin aus dem Schreibkurs zum ersten Mal sieht. Siobhan ist wunderschön, intelligent und teilt auch noch seine große Leidenschaft: das Schreiben. Niemals zuvor hat er jemanden so sehr geliebt. Doch wie kann er Siobhan davon überzeugen, dass sie zusammengehören? Besessen von der Idee, sein Leben mit ihr zu teilen, findet Alex heraus, wo Siobhan wohnt, verliert seinen Job für sie, macht ihr Geschenke, kümmert sich um ihre Katze, liest in ihrem Tagebuch. Alex würde alles für Siobhan tun – bis plötzlich eine junge Frau tot vor ihrem Haus liegt …

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Zum Buch

Alex Parkinson ist wie vom Blitz getroffen, als er seine Dozentin aus dem Schreibkurs zum ersten Mal sieht. Siobhan ist wunderschön, intelligent und teilt auch noch seine große Leidenschaft: das Schreiben. Niemals zuvor hat er jemanden so sehr geliebt. Doch wie kann er Siobhan davon überzeugen, dass sie zusammengehören? Besessen von der Idee, sein Leben mit ihr zu teilen, findet Alex heraus, wo Siobhan wohnt, verliert seinen Job für sie, macht ihr Geschenke, kümmert sich um ihre Katze, liest in ihrem Tagebuch. Alex würde alles für Siobhan tun – bis plötzlich eine junge Frau tot vor ihrem Haus liegt …

Zu den Autoren

LOUISE VOSS sah MARK EDWARDS in einer Dokumentation über aufstrebende Autoren, daraufhin kontaktierte sie ihn. Das war der Grundstein ihrer schriftstellerischen Zusammenarbeit. Ihre ersten beiden Thriller »Fieber« und »Stalker« wurden direkt Sensationserfolge, zunächst online im Eigenverlag und schließlich auch in den Printausgaben. Louise Voss und Mark Edwards leben mit ihren Familien im Süden von London.

Louise Voss & Mark Edwards

Stalker

THRILLER

Aus dem Englischen von Beate Brammertz

Die englische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Killing Cupid«bei Harper, einem Imprint von HarperCollins Publishers, London.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © Mark Edwards und Louise Voss 2011Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: semper smile, MünchenCovermotiv: © Shutterstock/Gordan; Madlen; Prajak PoonyawatpornkulSatz: Uhl + Massopust, AalenAH · Herstellung: scISBN 978-3-641-20937-7V002
www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlagBesuchen Sie auch unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de

Für Sara

Prolog

Alex

Es war das Geräusch von Kathy, die auf Beton traf, das mir in den folgenden Nächten den Schlaf raubte. Es klang wie ein hart gekochtes Ei, das von großer Höhe auf einen Holzboden knallte. Ein gedämpfter Schlag, ein Splittern, ein Knacken. Und dann die allumfassende Stille.

Von meinem Platz auf der Feuertreppe konnte ich sie nicht sehen. Der Mond war hinter eine Wolke geglitten. Ich spähte hinab auf die schwarzen Umrisse, glaubte, etwas über die schwarze Mauer huschen zu sehen – eine Katze, ein kleiner Fuchs? –, und dieses flüchtende Geschöpf weckte mich aus meiner Benommenheit und trieb mich weiter. Mir blieb nur noch eines übrig.

Panik.

Die Metallstufen waren glitschig vom Regen, der am Nachmittag gefallen war, und als ich die Feuertreppe rückwärts nach unten eilte, rutschte ich aus und schlug mir das Knie auf, schürfte mir die Haut auf und zischte einen Fluch, der wie ein Echo widerhallte. Mit Tränen in den Augen stand ich kerzengerade da und ließ den Blick über London schweifen, diesem Durcheinander aus unterschiedlichen Formen, die sich am Horizont abzeichneten. Die Stadt sah nun anders aus. Gefährlicher. Ein weiteres Geheimnis – meines, mein jüngstes – glitt durch die Stadt und gesellte sich zu denen Millionen anderer, die sich in den tiefsten Winkeln und Kellern und Herzen Londons verbargen.

Wieder zurück in Kathys Apartment versuchte ich meine Gedanken zu sammeln und mir zu überlegen, was als Nächstes zu tun sei. Hatte ich Fingerabdrücke hinterlassen? Was hatte ich berührt? Ich war vom Pub hergekommen, hatte am Fenster gestanden und das Bier entgegengenommen, das mir meine zeitweilige Gastgeberin gereicht hatte, gekühlt und geöffnet, mit einem dünnen Dunstfaden, der sich aus dem Flaschenhals schlängelte.

Da war die Flasche, die auf dem Tisch am Fenster stand. Ich nahm sie an mich und steckte sie mir in die Jackentasche. Hatte ich sonst noch etwas angefasst? Irgendetwas? Meine Gedanken überschlugen sich in meiner Panik. Ich musste verschwinden. Ich zog mir den Ärmel über die Hand, öffnete die Wohnungstür und spähte ins Treppenhaus, ohne das Licht anzuschalten. Gewiss konnten die Nachbarn mein Herz hören. Ich vernahm ein Geräusch durch die Wand und erstarrte. Dann, bei dem vergeblichen Versuch, mich schwerelos zu machen, setzte ich meinen Weg die Treppe hinab fort, hinaus in die Nacht.

Ich blieb am Tor stehen. Ihr Leichnam lag genau um die Ecke. Würde ich ein paar Schritte nach rechts machen, könnte ich ihn wahrscheinlich sehen. Ich … verdammt, woher wusste ich, dass es wirklich »ein Leichnam« war? Vielleicht hatte sie den Sturz überlebt. Das wäre möglich. Sie könnte bloß gelähmt sein. Bloß. Ich musste es herausfinden. Nach einem weiteren Blick über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass niemand kam, schleppte ich meine schweren Beine – es fühlte sich an, als trüge ich antike Taucherstiefel – zum Ende der Hausmauer und spähte um die Ecke. Dort sah ich sie am Boden – eine dunkle Gestalt, reglos, etwa vier Meter entfernt. Es gab keinerlei Geräusche, kein Wimmern, kein schwerfälliges Atmen, Geräusche, die mir verraten hätten, dass sie noch lebte. Allerdings könnte sie bewusstlos sein. Ich meine, verflucht noch mal, wäre sie noch am Leben, wäre sie natürlich bewusstlos.

Ich schlich mich näher, und nach ein paar Schritten ging mit einem Mal die Sicherheitsbeleuchtung an, tauchte die gesamte Welt in ein strahlendes Licht und zeigte mit einem flackernden Finger auf mich. Hallo ihr da draußen, hier ist Alex. Hier drüben.

Ich machte einen Satz nach hinten, knallte gegen die Mauer, taumelte und wäre beinahe gefallen. Doch während ich herumwirbelte, sah ich alles, was ich sehen musste: ihr Kopf, in einem unnatürlichen Winkel verdreht, der Hals gebrochen – es war eindeutig –, und ihre Augen, offen, ins Leere starrend. Mich anstarrend. Mir drehte sich der Magen, aber ich kämpfte den Brechreiz nieder. Das wäre das Schlimmste, was ich tun könnte – den Innenhof mit meinem Abendessen und meiner DNA vollzuspritzen. Ich drehte mich um und marschierte, den Kopf eingezogen, die Augen halb geschlossen, in der unsinnigen Hoffnung, wenn ich andere nicht sehen kann, können sie mich auch nicht sehen, hinaus auf den Bürgersteig und die Straße entlang. Ich zwang mich, nicht zu rennen, obwohl der Drang übermächtig wurde und ich nichts mehr auf der Welt wollte, als zu flüchten, zu sprinten, so viel Abstand wie möglich zwischen mich und diese tote Frau zu bringen. Aber ich konnte mir bildlich vorstellen, wie ein neugieriger Nachbar einen Blick auf einen Mann erhaschte, der vom Tatort davonlief, einen Mann, auf dessen Hilfe die Polizei bei ihren Ermittlungen angewiesen wäre. Weshalb ich mich zwang, ruhig zu gehen; wie ein Kerl auf seinem Heimweg vom Pub. Ich spazierte den ganzen Weg nach Hause.

Als ich dort ankam, schloss ich meine Zimmertür hinter mir und zermarterte mir den Kopf, ob ich einen Fehler begangen hatte. Aber vor allem dachte ich darüber nach, wie Siobhan sich fühlen würde, sollte sie es herausfinden. Denn das war, was für mich am meisten zählte.

Siobhan. Die Liebe meines Lebens. Die Frau, für die ich sterben würde.

Die Frau, für die ich töten würde.

Erster Teil

1

Siobhan

Mittwoch, 22:30

Ich muss meine Kontaktlinsen herausnehmen, die kleben schon. Ich hasse diesen Moment, nachdem ich meine Linsen entfernt und meine Brille noch nicht gefunden habe – dann fühle ich mich so kurzsichtig und hilflos. Gestern Abend habe ich mir selbst einen solchen Schrecken eingejagt: Ich hatte meine Linsen im Badezimmer herausgenommen und mich dann erinnert, dass meine Brille neben dem Laptop im Wohnzimmer lag. Als ich hinaus auf den Flur trat, um sie zu holen, tauchte wie aus dem Nichts eine Gestalt auf. Ich habe mich fast zu Tode erschrocken und hätte beinahe geschrien – bevor ich bemerkte, dass ich vor meinem eigenen unscharfen Spiegelbild im Flur Angst hatte.

»Komm schon, Siobhan«, murmelte ich leise. »Reiß dich zusammen.«

Schon wieder Selbstgespräche … Wahrscheinlich habe ich mich immer noch nicht daran gewöhnt, allein zu leben. Ich werde nachts nervös, wenn die Wände sonderbare Geräusche von sich geben oder Stimmen von draußen hereinwehen. Oder wenn Biggles plötzlich miauend aufs Laken knallt, als wäre er irgendwie von der Decke herabgefallen. Es ist erbärmlich, ich weiß, sich vor nichts zu fürchten. Das Ergebnis einer höchst lebhaften Fantasie gepaart mit zu vielen TV-Thrillern. Doch das ist auch keine Entschuldigung für meine erstaunliche Eigenart, ständig etwas zu verlegen, die zweite Sache, die mich im Moment an mir selbst nervt.

Es war schlimm genug, als ich meine Schlüssel letzte Woche stundenlang draußen im Türschloss vergessen hatte – eigentlich Moms Spezialgebiet: mich in Tränen aufgelöst anzurufen und zu jammern, sie hätte das ganze Haus auf den Kopf gestellt und könnte sie nirgends finden, bis ich sie frage, ob sie an der Tür nachgesehen hat. Weshalb ich mich ebenfalls aufgemacht und mein Glück versucht habe – oh nein, ich verwandle mich in meine Mutter!

Habe endlich meine Brille gefunden. Sie war in meiner Manteltasche.

Wie dem auch sei, der Kurs für kreatives Schreiben … Ich hätte nie gedacht, dass er so angsteinflößend sein könnte. Ich meine, ich habe Lesungen und solches Zeug gehalten, aber Verantwortung für deine eigenen Schüler zu übernehmen ist irgendwie viel heftiger, auch wenn es nur ein Abendkurs am hiesigen College ist. Was sie wohl von mir halten? Ich habe versucht, Autorität und Selbstbewusstsein auszustrahlen, obwohl meine Fingernägel Halbmonde in meine Handflächen gebohrt haben.

»Okay, es wäre wohl eine gute Idee, wenn wir uns alle vorstellen würden«, sagte ich und hatte sogleich Mitleid mit ihnen. Irgendjemand hatte es einmal als den schleichenden Tod beschrieben. Man sitzt dort, wartet und wiederholt in Gedanken, was man sagen will, während der Kelch immer näher kommt und du endlich an der Reihe bist … Zumindest war ich als Lehrerin als Erste dran.

Ich wollte schon loslegen, da fing ich den Blick eines der beiden männlichen Teilnehmer auf. Er fläzte ganz hinten, wie ein Schuljunge, zwei Reihen hinter allen anderen. Am liebsten hätte ich laut gelacht, wie er mich so schräg angrinste, irgendwie selbstgefällig, als wollte er sagen: »Schau mich nur an, bin ich kein echter Rebell?«

Was für ein Idiot, dachte ich, und bat ihn nach vorne zum Rest der Gruppe. Er schlurfte näher und bedachte mich mit einem, wie er offensichtlich glaubte, glühenden Blick, was jedoch im Grunde aussah, als würde er einen Rülpser unterdrücken. Obwohl, als ich ihn genauer musterte, stellte ich fest, dass er gar nicht so übel aussah.

Ich gab meinen einstudierten Text zum Besten, darauf bedacht, meine Rede spontan klingen zu lassen.

»Hi, ich heiße Siobhan, und das ist mein erster Kurs für kreatives Schreiben, also seid bitte nachsichtig mit mir.« Sie alle lachten leise, was mir half, mich etwas zu entspannen. »Ich wohne hier in der Nähe, ich bin fünfunddreißig …«

»Kinder?«, fragte eine ältere Dame in der ersten Reihe.

»Keine Kinder, kein Ehemann, nur eine Katze«, sagte ich nur zu bereitwillig, Informationen preiszugeben. Als würde sie die Katze interessieren! Ich bin überrascht, dass ich ihnen nicht noch freiwillig meine Verhütungsmethode oder meine Abneigung gegen Anchovis offenbart habe …

Ich konnte allerdings nicht widerstehen, ihnen zu erzählen, dass ich Schriftstellerin bin – wobei das relevant ist, weshalb ich keine Gewissensbisse habe. Und dass ich vor ein paar Jahren ein Buch veröffentlicht habe. Vermutlich hoffte ich, dass zumindest einer von mir gehört hatte, aber sie sahen mich allesamt verdutzt an, woraufhin ich einfach fortfuhr:

»… Und jetzt schreibe ich gelegentlich als freie Journalistin Artikel, vor allem für Frauenmagazine. Ich spiele Tennis und habe eine Schwäche für Achtzigerjahre-Musik … Oh, das ist hart, ich weiß!«, lächelte ich gekünstelt und zwang mich, die Klappe zu halten. »Will jemand weitermachen?« Bevor ich euch von dem widerlichen Scheidenpilz erzähle, den ich letzten Monat hatte, oder dem Ameisennest hinter der Küchenzeile …

Dann waren die anderen an der Reihe. Da war Barbara, eine pensionierte Zahnarzthelferin; Jane, eine Stadtangestellte in einem teuren Kostüm; Mary, eine Frau mittleren Alters mit zwei erwachsenen Söhnen; Kathy, die uns unumwunden erzählte, dass sie lesbisch ist, vor allem – nehme ich an – weil sie wohl dachte, es würde die gutbürgerlichen Damen vor ihr schockieren. Sie hatte ein Glitzern in den Augen, das mich ansprach – auf eine nichtlesbische Art, wie ich schleunigst hinzufügen möchte.

Dann kam Brian. Er kratzte sich ständig am Kopf, und Unmengen an Schuppen rieselten auf die Schultern seiner Lederjacke. Der arme Kerl stottert auch leicht und hat die charmante Angewohnheit, sich die Nase zu reiben und die Hände dann an seiner Hose abzuwischen. Noch dazu hat er mir schöne Augen gemacht. Würg. Und er erklärte, dass er Fantasyromane schreibt. Würg.

Dann war der Rebell an der Reihe. Sein Name war Alex, und er war nicht gerade mitteilsam.

»Ich arbeite bei Bookjungle.com«, sagte er, »verkaufe die Bücher anderer Leute und wünschte, ich würde mein eigenes schreiben. Das ist alles.«

Also nur sechs Leute. Aber es könnte klappen. Jane war toll, sprühte vor Energie – ich wette, ihr Schreibstil ist gut. Und die Lesbe, Kathy, schien ganz interessant zu sein. Alex führt sich auf, als wäre er gegen alle anderen Studenten allergisch, jedenfalls sitzt er so weit wie möglich vom Rest entfernt und rümpft die Nase, sobald sie etwas sagen.

Aber Fehlanzeige, was anständige Männer betrifft. Ich muss gestehen, ich hatte mich der Fantasie über einen hinreißenden Enddreißiger mit herrlich pointierter Prosa und einem verruchten Lächeln hingegeben, der zugleich einfühlsam und bescheiden ist … Herrje, ich fürchte, meine beiden männlichen Studenten fallen in die Kategorie: »Bin ich nicht unglaublich toll?« Wie das bei Kerlen so häufig der Fall ist. Ein paar schwache Einzeiler – oder in Brians Fall sechstausend kopflose Snarkkrieger – und sie glauben, sie halten einen Bestseller in Händen.

Der arme skrofulöse Brian – wahrscheinlich wurde er schon »Armer Brian« getauft, der Gute. Ich bin sicher, er ist ein echter Schatz, trotz seines Glotzens und der Akne. Nicht dass Alex viel besser wäre – der hält sich für den Größten. Er hat mich ebenfalls angeglotzt, aber auf die Art, wie Männer das manchmal tun, wenn sie nicht im Entferntesten auf dich stehen, sie allerdings wollen, dass du auf sie abfährst.

Wie dem auch sei, ich habe ihnen aufgegeben, Tagebuch zu führen und eine bedeutsame Unterhaltung aufzuschreiben, die sie kürzlich hatten. Alex fragte, ob ich ihre Hausaufgaben lesen würde, woraufhin ich sagte: »Nein, das ist privat. Ihr könnt alles schreiben, was ihr wollt. Ihr könnt sogar über mich schreiben, wenn ihr wollt.«

Es war ein Witz, aber Alex kritzelte mit hochgezogenen Augenbrauen etwas in sein Notizbuch. Wehe dir, du kleiner Mistkerl!

Sobald ich mit ihnen den leidigen Papierkram durchgegangen war, den das College benötigt – Anmeldung, Beurteilungsbogen, Lehrplan etc. – war die Zeit fast um. Der Unterricht endete für mich mit einem kleinen Dämpfer, nämlich mit der Frage, die ich seit der Erwähnung, ich sei Schriftstellerin, befürchtet hatte: Mary wollte wissen, wann mein nächstes Buch veröffentlicht werden würde.

Als wäre das Schreiben Fließbandarbeit. Ich brachte es nicht über mich, ihnen zu erklären, dass ich nur einen Vertrag für ein Buch erhalten hatte und kein zweites folgen würde. Irgendwann werde ich es ihnen eingestehen müssen, wenn wir bei dem Punkt angelangt sind, wo wir über das Einschalten eines Agenten und all dieses Zeug sprechen, aber vorläufig habe ich ihr erklärt, dass es langsam voranschreitet. »Dieser schwierige zweite Roman …« Ein Klischee, aber ach so wahr.

Donnerstag

Heute Morgen fühle ich mich so niedergeschlagen. Bisher habe ich es nicht erkannt, aber was ich beim Singledasein am meisten hasse, ist, allein aufzuwachen. Ich vermisse Phils Körper im Bett neben mir. Ich vermisse ihn, wenn ich nachts aufstehe, um mir ein Glas Wasser zu holen, dann wieder zurück ins Bett schlüpfe und keiner da ist, um den ich meine kalten Beine schlingen kann. Ich habe seine breite Brust geliebt, die, schwer vom Schlaf, geradezu glühend heiß gewesen war. Seine Haut fühlte sich im Schlaf irgendwie weicher an, und sein Atem war gleichmäßig und beruhigend, auf eine Weise, wie es Biggles flatteriger kleiner Katzenatem nie ist.

Später. Bin für einen Soja Decaf zu Starbucks in die High Street gegangen – ich hatte einfach solche Lust auf einen –, und wem verdammt noch mal laufe ich da in die Arme? Phil, natürlich. Er spazierte gerade herein, als ich aus der Tür kam.

»Ich dachte, du boykottierst Starbucks«, sagte er.

»Tue ich auch«, sagte ich, und wir starrten beide auf den Kaffee in meiner Hand. Er schafft es immer noch, mir das Gefühl der moralischen Unterlegenheit zu geben. »Grundsätzlich schon. Und Gap. Mein eigener kleiner antikapitalistischer Protest. Es ist nur so, ich entgifte gerade, weshalb ich keine Milchprodukte zu mir nehme, und sie haben keinen Soja-Cappuccino bei dem kleinen Italiener um die Ecke.«

Phil lächelte einfach auf seine entsetzlich herablassende Art, und ich dachte mir im Stillen, kein Wunder, dass ich ihn nur vermisse, wenn er schläft. Er ist viel zu blasiert, wenn er wach ist. Schlafend: schrecklich lieb; wach: nur noch schrecklich.

Um das Thema zu wechseln, fragte ich ihn in meiner Verzweiflung, wie es Lynn gehe.

»Gut«, sagte er. »Wir fliegen nächste Woche nach Portugal.«

Jäh blitzte ein Bild von den beiden in meinem Kopf auf, wie sie an einem weißen Sandstrand liegen und Phil ihr den Rücken mit Sonnenmilch einschmiert. Hoffentlich bekommen sie einen so schlimmen Sonnenbrand, dass sie nicht miteinander schlafen können. Aber Sonnenbrände vergehen, nicht wahr? Im Gegensatz zu … oh, hör auf, Siobhan, hör gefälligst auf! Sei stark. Denk an das Bild mit Phil und dem Sonnenbrand. Sehr schön. Und jetzt stell dir vor, wie du ihm einen Klaps auf die wunde Stelle gibst.

2

Alex

Mein freier Tag. Simon und Natalie waren in der Arbeit und ich allein zu Hause, ohne etwas zu tun zu haben, ich kam mir vor wie ein Eisbär im Zoo. Ich schlenderte von einem Zimmer ins andere, unfähig, mich zu entspannen oder mich auf irgendetwas zu konzentrieren. Ich verbrachte Stunden damit, mich durch Fotos von Menschen zu klicken, die ich oberflächlich auf Facebook kenne, und blieb hie und da an einer Seite hängen, wenn eine attraktive Freundin eines Freundes meine Aufmerksamkeit erregte. Ich war so gelangweilt, dass ich entschied, etwas Hausarbeit zu erledigen, und stellte eine Waschmaschine an.

Als ich die Taschen meiner Jeans durchsuchte, bevor ich sie in die Maschine stopfte, fand ich einen zusammengefalteten Zehner. Ein Zeichen Gottes, damit ich meinen gelangweilten dürren Arsch hochbekam und endlich etwas tat. Irgendetwas. Ich entschied, die U-Bahn zu nehmen und mich treiben zu lassen.

Auf dem Weg zum U-Bahnhof kehrten meine Gedanken zum Schreibkurs zurück. Während der letzten paar Tage habe ich lange darüber nachgedacht. Ich bin froh, den Sprung gewagt und mich eingeschrieben zu haben. Die Stunden bei der Arbeit vergehen rascher, seitdem ich etwas habe, worauf ich mich freuen kann. Okay, sie verfliegen nicht gerade, aber bislang sind sie wie ein verwundeter Soldat verstrichen, der mühsam über das Schlachtfeld kriecht. Indem ich dieses Tagebuch schreibe, geht es mir auch besser. Meine Gedanken auf Papier zu bringen – oder besser gesagt, auf den Computerbildschirm (Papier ist so altmodisch) – hindert sie daran, in meinem Kopf zu Eitergeschwüren zu wuchern.

Ich frage mich, worüber die anderen im Kurs in ihrem Tagebuch schreiben. Es ist nicht schwer, sich das auszumalen. Brian wird seines aus der Perspektive eines der Wesen aus seinen Fantasygeschichten schreiben: Brian, der blutige Schrecken, der über das Land zieht und die lüsternen Jungfrauen mit seinem magischen Stab beglückt. Kathy wird in ihrem Tagebuch ihre lesbischen Affären in epischer Breite beschreiben: Stoß um Stoß oder Lecken um Lecken, detaillierte Darstellungen ihrer sapphischen Eskapaden. Das würde ich sehr gerne lesen. Barbara wird Fotos ihrer Enkelkinder in ihres kleben, da sie ein Tagebuch mit einem Poesiealbum verwechselt, und lange Gedichte über Des Lynam verfassen. Ich kann mich kaum an die Namen der anderen Kursteilnehmer erinnern, so unscheinbar waren sie.

Ganz im Gegensatz zu der Lehrerin.

Siobhan. Sie kam mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen in den Raum, streifte die Tasche von ihrer Schulter und ließ den Blick der Reihe nach über ihre neuen Schüler gleiten. Sie hat einen dieser kurzen, jungenhaften Haarschnitte, die mir so gefallen, und ihre Augen waren groß und strahlend, auch wenn ich ihre Farbe nicht ganz erkennen konnte. Sie schien sich zu verändern, während ich sie ansah: blau – nein, grau – nein, grün – nein, haselnussbraun. Sie sagte, sie wäre 35 – ich hatte schon immer das Gefühl, eine Vorliebe für ältere, erfahrenere Frauen zu haben. Sie meinte ebenfalls, sie hätte keinen Ehemann, und ich frage mich, ob sie womöglich geschieden ist. Sie ist zu attraktiv, um nicht irgendwann vom Markt weggeschnappt worden zu sein. Da war etwas in ihren Augen, das Kummer und Enttäuschung erahnen ließen. Aber sie wirkte selbstbewusst, wie sie vor uns stand, als hätten jedwede Schwierigkeiten, denen sie in ihrem Leben die Stirn geboten hatte, sie nur stärker gemacht. Ich mag das. Ich mag es, wenn Frauen stark sind. Intelligent. Die Sorte Frau, die sich nicht so leicht kleinkriegen lässt. Ich könnte mir nicht vorstellen, mit einem Hasenfuß zusammen zu sein. Ich hätte mir allerdings in die Hose gemacht, hätte ich vor einer Gruppe Fremder stehen – oder auf einem Tisch sitzen müssen –, aber Siobhan hat das bravourös gemeistert.

Ich bin sicher, ihre Augen haben einen Tick länger auf mir geruht, während sie sich in der Klasse umsah. Sie berührte ihren Nasenrücken, als wollte sie eine Brille hochschieben. Eine Teilzeit-Brillenträgerin, so wie ich. Die Geste machte auf mich den Eindruck, als wollte sie einen besseren Blick auf mich erhaschen, als würde sie mich eindringlich mustern. Als sie zu reden begann und sich vorstellte, war ihre Stimme melodiös, wenn auch leise. Ich musste mich vorbeugen und konzentriert lauschen, um zu verstehen, was sie sagte. Es glich einem Schlaflied. Ich bemerkte, wie Barbara an ihrem Hörgerät hantierte.

Als ich mit der Vorstellung an der Reihe war, zitterte meine Stimme vor Anspannung, und ich bekam nur einen einzigen Satz heraus, bevor ich innehalten musste. Ich bin allerdings sicher, dass Siobhan mir das nicht ankreidet. Sie ist Schriftstellerin: Sie steht fast mit Sicherheit auf einfühlsame Männer. Ich war traurig, als der Kurs zu Ende war, weil das bedeutete, dass ich mich für eine Woche von ihr verabschieden musste. Aber diese Woche ist nun fast vorüber. In ein paar Stunden werde ich sie wiedersehen.

Die U-Bahn blieb genau hinter Oxford Circus im Tunnel stecken. Die Lichter flackerten, und die Elektrizität summte im Wagen. Niemand sah irgendjemanden an, niemand sagte ein Wort.

Es folgte der knisternde, unverständliche Versuch einer Durchsage, und ich spürte, wie mir heiß wurde und ich mich versteifte. Niemand um mich herum schien auch nur bemerkt zu haben, dass wir stehen geblieben waren. Eine Szene aus The Rats – Sie sind überall formte sich vor meinem inneren Auge, wo die Fahrgäste durch die Tunnel flüchten und im Dunkeln von Nagetieren mit rasiermesserscharfen Zähnen zerfleischt werden.

Die Frau mir gegenüber warf mir einen Blick zu. Sie biss sich einen Moment auf die Lippe und sagte dann: »Bei Ihnen alles okay?« Sie war Amerikanerin.

»Mir geht’s gut.«

»Es ist nur so, dass Sie dieses Geräusch gemacht haben …«

Ich spürte, wie meine Wangen knallrot wurden.

Ich senkte den Kopf, konzentrierte mich auf den Abfall am Boden. Mit einem Mal setzte sich der Zug schleppend in Bewegung, und ich stieg beim nächsten Halt aus, wo ich auf dem Bahnsteig wartete, bis der nächste Zug eintraf.

Schließlich tauchte ich aus der Haltestelle Leicester Square wieder auf. Ich brauchte neuen Lesestoff und dachte sofort an die Secondhand-Buchhandlungen auf der Charing Cross Road. Ich durchforstete die Geschäfte, suchte die Tische mit den Augen ab, hob vergilbte Taschenbücher hoch, roch an ihnen und legte sie wieder zurück. Ich mag Secondhand-Buchgeschäfte, weil sie billig sind, aber gleichzeitig haftet ihnen etwas Widerliches an. Der Gedanke an all die schmierigen Hände, die diese Seiten schon angefasst hatten, die tote Haut, die sich im Falz angesammelt hatte. Als ich mir ein Buch genauer besah, fand ich eine zerquetschte Spinne zwischen den Seiten. Vielleicht hatte sie jemand als Lesezeichen benutzt.

Ich verbrachte zwei angenehme Stunden, in denen ich von einem Geschäft zum nächsten wanderte, bis ich mich in einem winzigen Buchgeschäft in der Nähe der U-Bahn-Station wiederfand. Wenn ich hier nichts finde, entschied ich, würde ich mein Geld für Alkohol ausgeben. Und genau in dieser Sekunde sprang mir etwas ins Auge.

Es lag auf dem Tisch. Der Titel lautete Tara Liegt Wach. Die Autorin, Siobhan McGowan. Meine Lehrerin. Ich bebte. Es kam einem heiligen Moment gleich. Ich hob das Buch mit scheuer Ehrfurcht auf und streichelte über den Rücken des Hardcovers, als wäre es ein geweihtes Artefakt. Siobhans Buch. Ich schlug den Deckel auf, suchte nach dem mit Bleistift hineingekritzelten Preis und sah, dass es nur 2 Pfund kostete. Ich hätte viel mehr dafür gezahlt. Ohne zu zögern, brachte ich es zum Ladentisch und schleuderte dem alten Kerl hinter der Kasse mein Geld hin.

»Hey, Ihr Wechselgeld …«, rief er mir hinterher, als ich die Tür aufstieß.

Draußen auf der Straße, das Wechselgeld nun sicher in meiner Tasche verstaut, betrachtete ich den Umschlag. Darauf war eine nackte Frau zu sehen – natürlich ästhetisch gemacht. Und da, auf der Innenseite des Schutzumschlags, blickte mir Siobhan höchstpersönlich entgegen. Sie war ein paar Jahre jünger, mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht, aber … nun, ich habe das Buch jetzt offen vor mir liegen. Sie sieht auf dem Foto nicht halb so gut aus wie in Wirklichkeit. Es sieht irgendwie gestellt aus, unnatürlich. Als sie vor uns im Klassenzimmer gestanden hat, war sie real, aber … ich weiß nicht so recht, wie ich es ausdrücken soll. Vermutlich will ich wohl sagen, dass, obwohl Siobhan auf dem Bild gut aussieht, sie jede x-beliebige Frau sein könnte. Doch die Frau, die letzte Woche vor uns im Klassenzimmer gestanden hat, war etwas Besonderes.

Auf dem Heimweg machte ich einen Abstecher zum Supermarkt und kaufte eine Flasche Wein, dann schloss ich mich mit dem Buch in meinem Zimmer ein und blieb den ganzen Abend dort.

Himmel, die Träume, die ich nach dem Lesen von Tara Liegt Wach hatte. Das Buch ist so sinnlich. So … sensuell. Gibt es das Wort überhaupt? Das muss ich nachschlagen. Will nichts Falsches sagen, wenn ich es mit der Autorin diskutiere. Wie auch immer, es ist verdammt sexy. Und wunderschön geschrieben. Sexy und wunderschön – und gewiss ist ein Buch ein Abbild der Autorin, oder nicht? Letzte Woche im Klassenzimmer habe ich einen Hauch davon gespürt, aber nur einen Hauch. Ich vermute, sie muss es vor den meisten Menschen verbergen. Eine solche Leidenschaft kann gefährlich sein. Man muss sie in Schach halten, eine Maske tragen. Doch ich habe das Gefühl, beim Lesen des Buches so viel über sie gelernt zu haben, und ich kann es kaum erwarten, bis sie mir ihr wahres Gesicht zeigt.

Siobhans Roman handelt von dieser Frau namens Tara, die Jungfrau ist, bis sie 21 ist. Sie hatte immer Angst vor Männern und Beziehungen, und dann trifft sie diesen Kerl namens Luke. Er ist verheiratet und älter als sie. Und sie vögeln. Verdammt, wie die vögeln! Ich bin in der Welt herumgekommen. Ich war in Bangkok, wo die Mädchen angeblich jeden Trick aus dem Kamasutra kennen. Aber ich wette, diese Thai-Mädchen haben von ein paar Dingen noch nicht einmal gehört, die Tara und Luke in Tara Liegt Wach miteinander anstellen. Das Buch ist aus Taras Perspektive geschrieben, nach dem Ende ihrer Affäre. Sie liegt im Bett, denkt über all das Zeug nach, was sie getan haben, und berührt sich selbst. Sie hat die Beziehung wegen seiner Frau beendet, aber sie verzehrt sich immer noch nach ihm. Und auf der letzten Seite ertönt ein Klopfen an der Tür.

Das ist der Schluss des Buches.

Oh Siobhan, du wirkst äußerlich so ruhig, so gelassen. Aber unter der Oberfläche … Ich weiß, was in dir schlummert.

Oh Siobhan.

Ich will in dir sein.

Wie begeistert sie sein wird, wenn ich heute Abend mit ihrem Buch aufkreuze. Nein – Augenblick, ich werde ihr Buch nicht mitnehmen. Das ist viel zu plump, und einer der anderen könnte mich fragen, ob er es sich ausleihen dürfte, und dann könnte ich schlecht Nein sagen. Ich will das Buch nicht aus den Fingern geben. Dafür habe ich eine viel bessere Verwendung. Was kann ich nur tun, um Siobhan glücklich zu machen?

Natürlich. Es ist so offensichtlich …

3

Siobhan

Nun. Das war vielleicht ein Abend!

Ich bin früh zum College gefahren – ich wollte lieber die Erste sein im Gegensatz zu letzter Woche, als ich gleichzeitig mit den anderen Kursteilnehmern eintrudelte. Ich will mehr Autorität ausstrahlen. Ich habe mich diese Woche auch etwas mehr herausgeputzt, obwohl ich nicht sicher bin, warum ich das getan habe. Vielleicht, da ich jetzt ein bisschen selbstsicherer bin, weil ich weiß, dass sie nicht der einschüchterndste Haufen der Welt sind. Also habe ich meine hohen Stiefel und meine Netzstrumpfhose angezogen. Habe mich gegen den Jeansminirock entschieden – zu nuttig mit der Netzstrumpfhose –, aber für meinen knielangen schwarzen Cordrock und einen Rollkragenpulli. Es ist wirklich wahr, dass Attraktivität allein etwas mit dem Selbstbewusstsein zu tun hat. Ich fühlte mich richtig gut.

Als ich an der Geschäftsstelle vorbeikam, rief mich Betty, die Sekretärin, zu sich: »Ms McGowan? Jemand hat das hier für Sie abgegeben.«

Sie griff über den Schreibtisch und reichte mir einen Umschlag, der tatsächlich mit einer pinkfarbenen Schleife umwickelt war. Ich meine, wer bindet eine Schleife um einen Brief? Ich dankte ihr, und sie bedachte mich mit einem wissenden Blick über den Rand ihrer Halbbrille. Ich wollte ihn nicht auf der Stelle öffnen, weshalb ich auf die Behindertentoilette ging und die Tür abschloss, bevor ich den Brief aufriss. Ich dachte, ich würde eine Karte vorfinden, weshalb es mich überraschte, dass ich ein einzelnes bedrucktes DIN-A4-Blatt mit einer dieser extravaganten Schriftarten herauszog, die wirken sollen, als sei sie handschriftlich geschrieben.

Noch überraschter war ich wegen der Überschrift: »Bookjungle.com«, hieß es. »Der Leser Aparkinson hat dieses Produkt mit ✪✪✪✪✪ bewertet.« Fünf Sterne. Es war eine Rezension für TLW.

»Ein unvergleichliches, erotisches Meisterwerk«, lautete die Zwischenüberschrift. Ich überflog rasch die Seite, wobei mir die Superlative regelrecht um die Ohren flogen. Es war eine überwältigende Rezension, so glühend, dass sie fast neonfarben leuchtete. Im Grunde – und ich hätte nie gedacht, dass ich das jemals sagen würde – war sie fast zu überschwänglich. Zufrieden, wie ich war, war es gleichzeitig ein wenig peinlich. Wie dieser sonderbare Typ im Fitnessstudio, der andauernd davon sprach, wie sexy meine Waden seien. Es ist nett, ein Kompliment zu bekommen, aber manchmal einfach ein bisschen zu viel des Guten.

Ich konnte mir nicht vorstellen, wer dieser Aparkinson war, bis ich die Notiz am Ende sah:

»Liebe Siobhan, ich habe dein Buch gelesen. Nur für den Fall, dass du nicht auf Bookjungle nachschaust.« (Als ob! Alle Autoren lesen bei Bookjungle mit.) »Ich dachte, du wüsstest meine Rezension zu schätzen. Ich fand es wirklich toll. Liebe Grüße! Wir sehen uns im Kurs. Alex.«

Alex – der jugendliche Rebell. Wie seltsam! Ich hätte ihn nicht für die Sorte Schwärmerischer-pinke-Schleifen-Mann gehalten. Aber ich hatte mich schon gefragt, ob er auf mich steht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hat ihm das Buch wirklich gut gefallen. Das ist sehr süß von ihm. Ich war nicht ganz sicher, wie ich reagieren sollte. Ich meine, was sollte ich schon sagen? Danke?

Ich las die Rezension nun langsamer durch. Ich kann nicht behaupten, ich hätte mich nicht wie eine Schneekönigin gefreut – es ist Jahre her, seit jemand eine Beurteilung für TLW abgegeben hat, nicht seit dem Mistkerl, der meinte: »Grottenschlecht – das mieseste Buch, das ich je gelesen habe«, und ihm keinen einzigen Stern gab.

Zugegebenermaßen, es war herrlich, eine solch nette Rezension zu bekommen und zu wissen, dass sie für aller Augen im Internet stand. Ich wünschte nur, er hätte seinen Namen nicht preisgegeben, sodass die anderen Kursteilnehmer, wenn sie mein Buch schließlich – und zwangsläufig – suchten, sie nicht übergehen würden, weil sie wussten, dass er mich kennt.

Ich kann nicht widerstehen, ein paar ausgesuchte Zitate aufzuschreiben:

»Die Protagonistin Tara ist eine strahlende Persönlichkeit, die auf jeder Seite vor Esprit sprüht, die Sorte Mensch, von der wir im realen Leben nur träumen können, sie eines Tages kennenzulernen, es aber selten tun. Es ist unmöglich, ihr nicht zu verfallen.«

Aah – wie lieb!

»Der Schreibstil ist satt und süß wie Marzipan, aber nie übertrieben, nie zu viel. Stattdessen sind wir zufrieden, uns an diesen köstlichen Worten zu laben, von dem Zucker trunken zu sein, ausgelassen wie ein mit Süßigkeiten berauschtes Kind.«

Hm, das ist vielleicht ein bisschen übertrieben.

»Sexszenen sind von Natur aus schwierig, aber McGowan verführt den Leser auf dieselbe Art, wie der gutaussehende Luke die liebreizende Tara verführt. Eine unerfahrene Erotik befeuchtet diese Seiten, so sexy wie die Hölle, so betörend wie der Himmel.«

Jawohl! Das ist gut.

Wie dem auch sei, ich schob die Rezension in den Briefumschlag zurück, steckte ihn samt Schleife (Biggles wird es lieben, mit ihr zu spielen) in meine Tasche und verließ die Toilette, dankbar, dass sich keine Schlange an Menschen im Rollstuhl draußen vor der Tür gebildet hatte.

Als ich das Klassenzimmer betrat, rechnete ich mit Alex, der großspurig auf meine Reaktion warten würde, doch der Raum war leer abgesehen vom »Armen Brian«. Es war lustig, denn als er meine Stiefel und die Strumpfhose erblickte, riss er die Augen so weit auf, man hätte glauben können, ich sei nackt gekommen.

»H-h-h-hallo«, sagte er und würgte wie eine Cartoonfigur, die buchstäblich einen Kloß im Hals hatte.

Wir plauderten eine Weile – ich befragte ihn ein wenig zu seinem Fantasyroman, doch ich muss gestehen, in meinen Ohren klang es, als redete er in einer Fremdsprache, mit all den Ortsnamen und sonderbaren Außerirdischen und diesem Zeug. Ich sagte, dass ich Der blinde Mörder liebe und dass in dem Roman eine Science-Fiction-Geschichte eingebettet sei, doch er hatte noch nicht einmal von Margaret Atwood gehört!

Dann spähte er zur Tür, und für einen Moment glaubte ich, er würde über mich herfallen – er hatte diesen beunruhigenden erwartungsvollen Ausdruck in den Augen. Oder Hals über Kopf verschwinden. Doch zu meiner Überraschung zog er eine Kopie von TLW heraus! Das hat nun meine jährlichen Verkaufszahlen verdoppelt. Ich fragte mich, ob sie alle losgezogen waren und es gekauft hatten? Das hoffte ich schwer. Aber ich war nicht sicher, was er von mir erwartete – er hielt es mir winkend unter die Nase.

»Willst du, dass ich es signiere?«, fragte ich, und er errötete dankbar und nickte. Ich signierte es gewissenhaft, und der arme Kerl sah aus, als würde er vor tiefer Verbundenheit sterben – allerdings war sein Verhalten viel ehrlicher als Alex’ große Geste.

Die anderen kamen alle gemeinsam herein, gerade in dem Moment, als ich Brian das Buch zurückgab. Ich lächelte Alex kurz an, stellte jedoch keinen Blickkontakt mit ihm her. Ich war ein wenig … nervös … nehme ich an. Als würde ich ihm jetzt etwas schulden – auch wenn das natürlich Blödsinn war. Ich weiß nicht, woran es lag, aber sobald ich ihn sah, fühlte ich mich beklommen. Während ich ihn ansah, dürr und noch eingebildeter als vergangene Woche, schienen die Rezension und die pinkfarbene Schleife unangemessen. Ich lehnte mich lässig zur Seite und schob beides ganz tief in meine Tasche, damit es gut versteckt war. Mit einem Mal wollte ich ihn im Unklaren lassen, ob ich den Brief bekommen hatte oder nicht, und ich entschied, die Sache einfach völlig zu übergehen, bis er mich direkt darauf ansprach. Vielleicht würde ich ihm nächste Woche danken, ohne großes Aufhebens.

Am Ende der Stunde bemerkte ich, wie Alex hinter den anderen herumtrödelte, die plaudernd nach draußen spazierten. Nur Kathy blieb zurück, weshalb ich zu ihrem Platz ging und ihr sagte, wie sehr mir ihr Beitrag gefallen hatte, den sie vorhin laut vorgelesen hatte.

»Ich bin so froh, dass es dir gefallen hat«, sagte sie, und ihr Gesicht begann zu leuchten. Sie sieht wirklich hübsch aus, wenn sie lächelt, selbst mit ihrem strengen, kantigen Haarschnitt. Geschickt drehte ich mich leicht zur Seite, bis ich mit dem Rücken zu Alex stand und er nicht mehr in meinem Blickfeld war – obwohl ich dennoch spürte, wie er verstohlen dort herumlungerte.

»Eigentlich«, sagte Kathy, nachdem wir uns eine Minute über ihren Text unterhalten hatten, »hatte ich mich gefragt, ob ich kurz mit dir sprechen könnte?«

Puh, dachte ich – ein guter Grund, um Alex abzuwimmeln. Doch als ich mich umdrehte, marschierte er schon ohne ein Wort des Abschieds aus dem Klassenzimmer.

Ich wandte mich wieder um, und da stand Kathy, mit einem Strahlen im Gesicht – und einer Ausgabe von TLW in den Händen! Ich konnte es nicht glauben und musste lachen.

»Bald werde ich mich mit meinen Tantiemen zur Ruhe setzen können«, sagte ich. »Es ist toll – ihr alle habt es gekauft! Ich wusste doch, es gab einen Grund, um die Stelle als Dozentin anzunehmen.«

Kathy lachte ebenfalls und reichte mir ausgelassen einen Kugelschreiber. »Ich fand’s brillant«, sagte sie. »Konnte es nicht aus der Hand legen.«

»Vielen Dank«, erwiderte ich und errötete. Ihr Lob fühlte sich irgendwie schlüssiger als Alex’ schwülstige Worte oder die gestammelten Komplimente des »Armen Brian« an, und ich fühlte mich töricht, wegen Alex’ Rezension – wenn auch nur in Gedanken – so euphorisch gewesen zu sein. Zumindest hatte ich keine Närrin aus mir gemacht, indem ich es auf irgendeine Weise angesprochen hatte. Und da drei der Teilnehmer mich auf das Buch angesprochen hatten, schwächte es den Eindruck definitiv ab, den sie bei mir hinterlassen hatte.

Ich frage mich, ob Kathy vielleicht ebenfalls ein Auge auf mich geworfen hat? Sie schien definitiv zu strahlen, als sie mit mir geredet hat. Aber vielleicht bin ich auch bloß schrecklich arrogant.

Auf meinem Heimweg vom College war ich so vergnügt wie schon lange nicht mehr, und die schmeichelnden Worte des Abends hallten in meinem Kopf wider. Vielleicht war es doch noch nicht zu spät, einen weiteren Vertrag zu ergattern. Ich muss ein gewisses Talent haben, um bei anderen eine solche Reaktion hervorzurufen. Ich hatte es nur vergessen, das war alles.

Entweder das oder ich habe drei neue Verehrer! Nicht schlecht, egal was von beidem es nun war.

4

Alex

Mittwoch

Ich habe den ganzen Nachmittag für meine Onlinerezension für Tara Liegt Wach verwendet. Ich habe sie auf der Website hochgeladen, ausgedruckt und das Papier geküsst, bevor ich es in den Briefumschlag steckte. Ich habe meine Festnetznummer auf den Ausdruck geschrieben (konnte mir kein neues Handy leisten, seit mir meines letzte Woche im Pub aus der Tasche geklaut wurde, und natürlich war es nicht versichert) und band die Schleife, die ich in Simons Zimmer gefunden hatte, um den Briefumschlag. Nat bastelt immer selbst Karten und stellt tolles Zeug mit Geschenken an, weshalb ich annehme, dass die Schleife ihr gehört. Ich bin sicher, es würde ihr nichts ausmachen, sie mir zu leihen.

Auf dem Weg zum Kurs habe ich mir ausgemalt, wie beeindruckt Siobhan wäre, sobald sie meine Rezension liest. Je länger ich darüber nachdachte, desto aufgeregter wurde ich. Mit einem Mal ging ich richtig schnell, marschierte im Gleichschritt zu meinem Herzschlag.

Ich war nicht ganz sicher, wie ich Siobhan meine Rezension übergeben sollte. Am liebsten wäre es mir gewesen, wäre sie einfach auf der Website darüber gestolpert, aber ich konnte nicht mit Gewissheit sagen, dass sie sie auch wirklich liest – Autoren checken anscheinend immer ihren eigenen Bookjungle-Verkaufsplatz, doch da das Buch vor so vielen Jahren veröffentlicht wurde, wäre es gut möglich, dass sie nicht mehr nachsieht. Ich wollte den Ausdruck nicht auf ihrem Tisch lassen, für den Fall, dass ein anderer Teilnehmer ihn fand. Und würde ich ihn ihr im Kurs überreichen, würden sich die anderen vielleicht fragen, ob zwischen uns etwas liefe. Aber das ging keinen von ihnen etwas an – das war etwas Privates zwischen Siobhan und mir.

Als ich das College betrat, sah ich die Sekretärin und entschied, es wäre das Beste, den Umschlag bei ihr zu hinterlegen, hauptsächlich weil es mich nicht die Bohne interessierte, was sie von mir hielt.

»Ist Siobhan McGowan schon da?«, fragte ich.

»Ich glaube nicht.«

»Könnten Sie ihr das geben, wenn sie kommt?«

Sie nahm den Umschlag und legte ihn beiseite.

»Sie werden es nicht vergessen, oder? Es ist sehr wichtig.«

Sie sah erst mich an, dann die pinkfarbene Schleife, die um den Brief gebunden war, und hob eine ordentlich gezupfte Augenbraue. »Nein, ich werde es nicht vergessen.«

»Danke schön.«

Anschließend musste ich eine Toilette aufsuchen. Ich war wohl länger als beabsichtigt dort drinnen geblieben, denn als ich das Klassenzimmer erreichte, waren alle, einschließlich Siobhan, schon da.

Ich öffnete die Tür und sah Siobhan, die mich von oben bis unten musterte. Ich schwöre, sie war beeindruckt. Und irgendwie gierig. Als wäre ich ein Mars-Riegel und sie Marianne Faithfull. Sie muss meine Rezension bereits gelesen haben und – nun, es machte den Anschein, als hätte ich keinen besseren Erfolg erzielen können. War es möglich, dass Lob sie scharfmacht? Sie die Person anziehend findet, die sie lobt?

Ist sie mir da so ähnlich?

Zu meiner Freude sah ich ein bisschen Pink aus ihrer Tasche lugen – die Schleife, die um den Briefumschlag, samt Karte und Rezension, gewickelt war. Demnach hat mich die Sekretärin nicht enttäuscht. Und als ich sah, was Siobhan anhatte … wow! Die Stiefel und darunter, wenn ich mich nicht täusche, Netzstrümpfe an ihren langen, sexy Beinen und mehr Make-up als letztes Mal – obschon nicht zu viel, keineswegs nuttig oder billig. Sie sah sensationell aus.

Sie bat mich, mich hinzusetzen, und ich konnte ihre Augen auf mir spüren, während ich zu meinem Stuhl schlenderte. Mein Magen und meine Brust schnürten sich zusammen, ein Gefühl, das einen überkommt, wenn gleich etwas sehr Aufregendes passiert. Ich habe versucht, Siobhan nicht zu eindringlich anzustarren, mich cool zu geben, ruhig zu bleiben. Und dann hat sie alle Lichter gelöscht.

Anfangs war es ein Schock, plötzlich mit einer Gruppe fast Fremder im Stockdunkeln zu sitzen. Aber sehr rasch gewöhnte ich mich daran. Ich habe sogar vergessen, dass die anderen dort waren, und es fühlte sich an, als wären nur ich und Siobhan anwesend. Brian kratzte sich nicht wie ein räudiger Hamster, Kathy warf mir keine hasserfüllten Vibes zu, nur weil ich ein Mann war, und Barbara schnarchte nicht. Es waren nur ich und Siobhan, Siobhan und ich, und es war so finster mit den heruntergelassenen Verdunklungsrollos, dass man die Hand nicht vor den Augen sehen konnte und niemand bemerkte, wie erregt ich war, während ich Siobhans berauschender, rauchiger Stimme lauschte.

Sie bat uns, an eine Figur zu denken, aber die einzige Figur, an die ich denken konnte, war sie, und dann waren da auf einmal zwei in der Geschichte in meinem Kopf, sie und ich. Ich konnte den Teil, in dem ich in meinem Zimmer in meiner Kindheit stand, nicht heraufbeschwören. Alles, was ich sah, war mein heutiges Zimmer und zerknäulte Bettlaken unter zwei eng umschlungenen Körpern.

Ich hatte das Gefühl, als würde sie mich mit ihren Worten liebkosen, die Hand durchs Zimmer zu mir ausstrecken und mir über die Haare und das Gesicht streicheln, meine Lider berühren und mit den Fingern an meinem Nacken herabgleiten, dann zu meiner Brust und – oh Gott! – meinem Schritt. Ich konnte sie riechen – ihre Haut und ihr Parfüm und ihre Haare –, und als das Licht wieder anging, wäre ich fast vom Stuhl gefallen in dem verzweifelten Versuch, meine Beine zu überschlagen.

Ich muss allerdings zugeben, dass die Stimmung ein wenig getrübt wurde beim Anblick des Sabbers auf Grandmas haarigem Kinn. Doch als sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnten, konnte ich nicht anders, als Siobhan anzustarren. Sie fing meinen Blick auf und sah dann rasch weg, schüchtern, süß, kokett.

Als ich niederschreiben sollte, was ich mir vorgestellt hatte, musste ich mir etwas aus den Fingern saugen. Ich konnte wohl kaum die Wahrheit sagen, oder? Dieses Tagebuch ist der einzige Ort, an dem ich vollkommen ehrlich sein kann.

Der Kurs endete, und die anderen begannen, im Gänsemarsch nach draußen zu marschieren. Brian stammelte ihr im Vorbeigehen etwas zu, und sie lächelte ihn mitleidig an. Ich blieb zurück, darauf wartend, dass alle verschwanden. Ich wollte mit Siobhan über ihr Buch und meine Rezension sprechen. Ich wollte ihr die Möglichkeit geben, mir zu sagen, wie erfreut sie wäre. Doch die blöde Kathy wollte nicht abhauen. Sie blieb wie angewurzelt auf ihrem Stuhl hocken und kritzelte etwas in ihren Block. Siobhan kam herüber und fing ein Gespräch mit ihr an. Es machte nicht den Anschein, als würde Kathy in Bälde verschwinden. Da ich erkannte, dass ich nicht länger herumlungern konnte, ohne wie ein Spinner zu wirken, schlich ich mich hinaus.

Aber ich machte mir keine allzu großen Sorgen, weil ich wusste, dass Siobhan lieben würde, was ich geschrieben hatte – und ich war überzeugt, dass sie mich anrufen würde, um mit mir darüber zu sprechen. Sie … verdammt, das Telefon klingelt.

Fehlalarm. Es war irgendjemand für Simon. Natürlich war das nicht sie. Sie würde sich den Anschein von Coolness geben, würde mich nicht wissen lassen, wie aufgewühlt sie gewesen war, als sie meine Worte verschlungen hatte. Vermutlich wird sie morgen anrufen, am Donnerstag. Ich wünschte, ich besäße noch mein Handy – ich hatte vergessen, wie es sich anfühlt, buchstäblich am Telefon auf einen Anruf zu warten.

Ich bezweifle, dass ich heute Nacht schlafen kann. Bin viel zu aufgeregt.

Donnerstag

Hatte einen schrecklichen Abend. Bin im Wohnzimmer gesessen, habe ferngesehen und darauf gewartet, dass das Telefon läutet. Im Fernsehen gab es nichts außer einer Dokumentation über Löwen: Alles, was sie zu tun scheinen, ist schlafen und vögeln. Habe mir den Umschlag von Siobhans Buch angesehen, die nackte Frau, Siobhans Foto, bis die beiden Bilder ineinander verschmolzen. Ich starrte zum Telefon. Es starrte zurück, verspottete mich. Es klingelte einmal, was mich wie von der Tarantel gestochen vom Sofa aufspringen ließ. Es war Si, der mich fragte, ob ich mit ihm und Nat auf ein Bierchen gehen möchte.

»Kann nicht.«

Er seufzte. »Du musst mehr ausgehen, Alex. Du konntest schon gestern nicht mit wegen deinem Schreibkurs. Du kannst nicht dauernd unsere Einladungen ausschlagen. Sonst sind wir beleidigt.« Im Hintergrund vernahm ich das Klirren von Gläsern, Lady Gaga aus der Jukebox. Ich legte rasch auf, besorgt, die Leitung besetzt zu haben.

Ich rauchte sechs Zigaretten und durchwühlte Simons Nachtkästchen auf der Suche nach seinem Dope-Vorrat. Nur ein paar harte Krümel. Ich aß sie. Sie hatten keinen Effekt.

Um zehn überprüfte ich den Telefonanschluss. Da erkannte ich, wie mitleiderregend ich war. Vielleicht sollte ich das Telefon ausstecken, dachte ich. Damit sie mich dann, wenn sie anrief, nicht erreichen könnte; es würde läuten und läuten, und sie säße dort und würde sich Sorgen machen, sich fragen, wo ich steckte. Ich kniete mich hin, um das Kabel aus der Wand zu ziehen. Doch ich konnte es nicht tun.

Ich wünschte, ich hätte die Gelegenheit gehabt, nach dem Kurs mit ihr zu reden. Vielleicht war ich zu subtil vorgegangen, indem ich einfach nur meine Telefonnummer hingeschrieben hatte. Vielleicht hätte ich eine »Ruf mich an«-Geste während der Stunden machen sollen. Aber das hätte mich wie einen Trottel aussehen lassen. Und ich bin sicher, Siobhan ist die Sorte Mensch, die Feinheiten versteht. Ihr Roman ist subtil. Warum hat sie dann den Fingerzeig nicht verstanden und mich angerufen? Hält sie mich für einen Loser, der nicht einmal ein Handy besitzt?

Oder womöglich ist sie schüchterner, als sie auf den ersten Blick scheint.

Freitag

Vielleicht hat sie meine Telefonnummer verloren. Das könnte der Grund sein. Sie könnte die Karte verloren haben, die ich ihr geschrieben habe. Vielleicht sogar ihre Tasche. Vielleicht hat sie ihre ganze Wohnung oder ihr Haus auf den Kopf gestellt, in dem immer verzweifelteren Bemühen, mich anzurufen, da sie besorgt war, ich könnte es ihr übel nehmen. Natürlich werde ich sie beschwichtigen, ihr sagen, es ist schon in Ordnung, lass uns auf einen Drink, ein Abendessen ausgehen, und wer weiß, was sich daraus ergibt.

Freitagabend und ich hocke in meinem Zimmer. Es ist halb zwölf und durch die dünnen Wände höre ich, wie Si und Nat wieder zu Gange sind und mehr für die anglofranzösischen Beziehungen tun als Concorde, Großmärkte und Julian Barnes zusammen. Ich habe Kopfhörer aufgesetzt, um die Geräuschkulisse auszublenden, aber wenn ich die Augen schließe, kann ich nichts weiter als nacktes Fleisch sehen.

Aber es ist nicht nur der Sex. Keineswegs. Nein, nein, ich habe keine schmutzigen Gedanken. Nicht wie damals, als Mom mich mit den Magazinen im Bad erwischte. Ich musste mich mit dem Bimsstein abreiben: die Hände abreiben und … nein, das gehört der Vergangenheit an. Ich will mich nicht daran erinnern.

Samstag

Immer noch kein Anruf. Ich habe einen Spaziergang gemacht, bis hinüber zum College. Ich war nicht sicher, ob Siobhan am Wochenende unterrichtet. Hatte die Hoffnung, ihr zufällig über den Weg zu laufen. Bin ich nicht.

Als ich nach Hause zurückkehrte, habe ich an Simons Tür geklopft.

»Betreten auf eigene Gefahr.«

Ich ging hinein. Das Zimmer roch nach Dope und Sex. Keine Spur von Natalie. Simon war an seinem iMac und schaute Pornos im Netz an. Das Mädchen auf dem Bildschirm wirkte sehr jung. Ich musste wegschauen.

»Hat jemand für mich angerufen?«, fragte ich.

Er griff nach seinen Zigaretten und zündete sich eine an. »Ja … jetzt, wo du mich fragst … irgendeine Tussi hat angerufen.«

»Was? Wann?«

»Gestern Nachmittag, als du in der Arbeit warst.«

»Was hat sie gesagt?«

Er grinste. »Sie hat gefragt, ob ich Geld sparen will bei meiner Heizrechnung?«

»Du Arsch!«

»Sie war aber nett. Vielleicht hätte ich ein Blinddate für dich arrangieren können.« Er lachte und hustete gleichzeitig.

In Gedanken packte ich seinen blöden, grinsenden Kopf und rammte ihn durch den Bildschirm seines Computers. In Wirklichkeit murmelte ich bloß »Wichser« und verließ das Zimmer.

»Sei nicht gleich so sauer, Alex«, rief er mir hinterher. »War doch nur ein Witz.«

Ich kam in mein Zimmer und knallte die Tür zu. Dann schaltete ich meinen eigenen PC ein und starrte den flackernden Bildschirm an, während er hochfuhr und die Festplatte mühsam zum Leben erwachte. Ich konnte mein Spiegelbild im Monitor sehen. Meine Haare standen zu allen Seiten ab, und meine Augen waren verquollen. Ich brauchte ein Bad.

Aber was, wenn das Telefon klingelte, während ich in der Wanne lag …

Ich loggte mich bei Facebook ein und tippte Siobhans Namen in die Suchleiste. Es gab fünf Siobhan McGowans in Großbritannien, plus ein paar in Irland und eine Seite voll in den Staaten. Zwei von ihnen waren beim Suchergebnis als in London lebend aufgelistet. Von den zweien hatte eine ein Foto von einem Baby als Profilbild, die andere das Foto einer Katze.

Siobhan hatte kein Baby – aber ich erinnerte mich, dass sie uns von ihrer Katze erzählt hatte, als sie sich in der ersten Kursstunde vorgestellt hatte. Ich klickte mich durch die Seiten. Da mich ihre Datenschutzeinstellungen daran hinderten, ihr volles Profil zu sehen, kam ich nur an einen kleinen Teil ihrer Informationen heran, einschließlich des Umstands, dass sie 82 Freunde hatte. Doppelt so viele wie ich. Ich überflog ihre Liste. Keiner aus dem Kurs.

Mein Mauscursor glitt über den »Als Freund hinzufügen«-Button. Sollte ich es tun? Warum nicht? Immerhin waren wir Freunde, oder nicht? Sicherlich bessere Freunde als die Hälfte der Leute, die ich als Freunde aufgeführt hatte, der Großteil von ihnen Kollegen oder Menschen, die ich seit der Schulzeit nicht mehr gesehen hatte oder mit denen ich hätte reden wollen.

Ich klickte auf den Button und gab mich einem köstlichen kleinen Tagtraum hin, in dem ich mir vorstellte, wie lange es dauern würde, bis ich die Worte »In einer Beziehung mit Alex Parkinson« auf ihrer Seite sehen würde.

Die nächsten zwei Stunden aktualisierte ich die Seite immer wieder. Ich erfuhr, dass einem meiner »Freunde« langweilig war, ein anderer sich erkältet und einer von ihnen gerade die zweite Staffel von Prison Break zu Ende gesehen hatte. Aber Siobhan hatte mich noch nicht als Freund hinzugefügt. Ich klickte auf Twitter, doch alles, was ich fand, war ein Account auf den Namen Siobhan MacGowan mit einem einzigen Tweet, der vor sechs Monaten gepostet worden war: »Das also ist Twitter, hm? Ich frage mich, was der ganze Hype soll. Werde von nun an jeden Tag twittern.« Konnte unmöglich sie sein, außer sie hatte ihrem Nachnamen versehentlich ein zusätzliches »a« hinzugefügt – sehr unwahrscheinlich, würde ich meinen.

Montag

Habe heute Morgen entschieden, es sei an der Zeit, nicht länger zu Hause herumzuhocken und Trübsal zu blasen. Hör auf, so erbärmlich und passiv zu sein. Tu etwas, Alex! Ich bin mit einem Plan im Kopf, wenn auch einem gefährlichen, in die Arbeit gegangen. Ich würde eines der wenigen Vergehen verüben, für das man fristlos gekündigt werden konnte.

Ich hockte mich an meinen Schreibtisch und setzte das Headset auf. Meine Vorgesetzte Jackie sah zu mir herüber und stellte sicher, dass ich keine Zeit vertrödelte, bevor ich mich einloggte. Wie uns andauernd gesagt wird, ist Bookjungle der größte Onlinebuchhändler der Welt – nicht dass man das an unserem Gehalt ablesen könnte –, und wir müssten unsere Kunden bei Laune halten, indem wir zulassen, dass sie mit uns reden, als wären wir Dreck, und sie keinesfalls in Warteschleifen hängen lassen, wenn sie uns das sagen wollen.

Ich nahm ein paar Anrufe von Leuten entgegen, die sich über verspätete Lieferungen ihrer Bücher beschwerten, und tat dann das, was ich eigentlich nicht tun dürfte.

Nachdem ich mich überzeugt hatte, dass mir niemand zusah, klickte ich mich in das, was wir als »Back Office« bezeichnen, den Teil des Computersystems, auf den die Öffentlichkeit keinen Zugriff hat. Die Datenbank, in der wir die Details zu all unseren Kunden haben. Wir können sie gegebenenfalls aufrufen, um die Fragen der Anrufer zu beantworten: Wir sehen ihre Adresse und all die Bücher und CDs, die sie bestellt haben. Aber wir dürfen nur die Details von Kunden anklicken, mit denen wir gerade telefonieren, und auch nur dann, wenn die Informationen dringend für ihre Anfrage benötigt werden, zum Schutz, dass niemand die Angaben zu seinen Freunden und Feinden nachschlägt. Um uns abzuschrecken, macht der Computer wahllos Stichproben, was bedeutet, man muss seinem Vorgesetzten beweisen können, dass man mit dem Kunden am Telefon gesprochen hat, dessen Informationen abgefragt wurden. Diese Stichproben kommen nur bei einem von fünfzig Kunden vor, die wir nachschlagen, aber normalerweise ist es das Risiko nicht wert.

Heute jedoch war es das Risiko wert.

Insgeheim war ich überzeugt, dass Siobhan eine unserer Kundinnen wäre. Immerhin sind wir der größte Internethändler unserer Art und jeder, der viel liest, wie das bei Siobhan der Fall sein muss, hatte mit größter Wahrscheinlichkeit schon einmal ein Buch bei uns bestellt.

Ich tippte ihren Namen ein.

Es gab 13 Siobhan McGowans in der Datenbank. Die meisten wohnten in Irland, aber drei waren in London sesshaft, eine mehr als bei Facebook. Zwei von ihnen hatten eine Postleitzahl, die zu North London gehörte. Ich war nicht sicher, welche von beiden die richtige wäre, weshalb ich beide anklickte. Ich war nervös und schwitzte stark, während ich mich beeilte, mir die Details anzusehen. Die erste Siobhan McGowan hatte ein paar CDs gekauft (Norah Jones, Gareth Gates – oh Gott!) und ein Delia-Smith-Kochbuch. Das konnte doch gewiss nicht meine Siobhan sein? Ich wäre schrecklich enttäuscht, sollte dies zutreffen. Ich klickte auf die zweite Siobhan und besah mir ihren Warenkorb. Er war riesig. Rasch überflog ich die Liste: Ryan Adams, The Cure, Belle and Sebastian, Sting … nun, kein Mensch ist vollkommen. Und zwischen all den vielen Büchern gab es eines über das Lehren von kreativen Schreibkursen – und Tara Liegt Wach von Siobhan McGowan! Genau genommen hatte sie ihr eigenes Buch mehrmals bestellt. Ich klickte auf ein weiteres Symbol, und schon tauchten ihre persönlichen Daten auf. Ihre Festnetz- und Handynummer samt E-Mail-Adresse. Ich kopierte sie in eine E-Mail, verschickte diese dann an mich nach Hause und löschte die Nachricht aus meinem Gesendet-Ordner.

Den restlichen Tag konnte ich mich nicht konzentrieren.

Alles, woran ich denken konnte, war: Ich weiß jetzt, wo sie wohnt.

Victoria Gardens war eine hübsche kleine Straße: Nett und ruhig zweigte sie in einem Halbkreis von der Hauptstraße ab, eine kleine viktorianische Häuserreihe, sehr anheimelnd. Nah genug an Camden, um hipp zu sein, und nah genug an Hampstead, um anständig und sicher zu sein. Siobhan wohnte in Nummer 54. Ich spazierte die Straßenseite mit den ungeraden Zahlen hinab und versuchte, ungezwungen zu wirken und mir nicht anmerken zu lassen, dass ich die Zahlen auf den Häusern las. In dem düsteren Licht fiel es mir sowieso schon schwer genug, doch glücklicherweise hatte die Nummer 54 ein riesiges Messingschild an der Haustür. Siobhans Haus. Nur ein paar Meter entfernt.

Nah genug, um sie zu spüren.

Nach diesem ersten Erkundungsgang kam ich nach Hause, um zu überprüfen, ob es neue Nachrichten auf dem Anrufbeantworter gab. Fehlanzeige. Dann ging ich auf Google Maps und besah mir die Lage ihres Zuhauses. Es befand sich einen knapp dreißigminütigen Spaziergang von meiner Wohnung entfernt, wenn ich die Abkürzungen nahm, die ich mir zuvor sorgfältig aufgeschrieben hatte.

Ich konnte sie schlecht anrufen, weil sie dann wissen wollen würde, woher ich ihre Telefonnummer hätte. Oh, ich habe im Computer in der Arbeit ein wenig herumgeschnüffelt und gegen den Data Protection Act verstoßen, Siobhan. Nein. Das war unmöglich. Aus denselben Gründen konnte ich ihr nicht mailen. Aber ich konnte noch einmal an ihrem Haus vorbeispazieren und vielleicht, nur ganz vielleicht, hätte ich Glück. Sie würde nach draußen kommen und überrascht aussehen, und ich würde sagen: »Was für ein Zufall, ich habe einen Freund, der gleich am Ende der Straße wohnt. Ich habe ihn gerade besucht. Ja, eine Tasse Kaffee wäre toll. Du hast die Karte mit meiner Nummer verloren? Nein, kein Problem, das habe ich mir schon gedacht. Und, nebenbei bemerkt, ich habe ein Handy, es wurde mir nur kürzlich geklaut. Haha.«

Ich nahm ein Bad und trank ein paar Gläser Absolut auf ex. Nicht genug, um besoffen zu sein, nur um mir auf die feine englische Art Mut anzutrinken. Oder besser gesagt auf die feine schwedische Art.