Stark wie das Leben, flüssig wie die Liebe - Thomas Leoncini - E-Book

Stark wie das Leben, flüssig wie die Liebe E-Book

Thomas Leoncini

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Beschreibung

In einer Welt, die von Äußerlichkeiten und Schnelllebigkeit beherrscht wird – einer "Liquid World" – bleibt es ein unumstößliches Bedürfnis des Menschen, geliebt zu werden. Der 1985 geborene Leoncini entwickelt für seine Generation eine Lebensphilosophie, die sich gegen den scheinbar einvernehmlichen Abgesang auf die Liebesfähigkeit junger Menschen stellt. Ganz im Gegenteil sieht er die Liebe als einzige Antwort auf das unablässige Schützenfeuer der Aggression und Unverbindlichkeit aus dem Internet. Entlang der Ideengeschichte von Psychologie und Soziologie entsteht eine klare und kraftvolle Botschaft: ein Appell für Empathie und Heilung in einer von Profit und Technologie getriebenen Zeit.

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Seitenzahl: 196

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Thomas Leoncini

Stark wie das Leben,flüssig wie die Liebe

Aus dem Italienischenvon Sigrid Irimia

Titel der Originalausgabe:

Forte come la vita, liquid come l’amore

© 2021 RCS MediaGroup S.p.A., Mailand

Für die deutschsprachige Ausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: © CkyBe/Shutterstock

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timisoara

ISBN Print: 978-3-451-03377-3

ISBN E-Book: 978-3-451-82675-7

„Hast du Luftschlösser gebaut, so braucht deine Arbeit nicht verloren zu sein. Eben dort sollten sie sein. Jetzt lege das Fundament darunter!“

Henry David Thoreau

Inhalt

An meine jungen Brüder und Schwestern

Erster TeilFlüssig wie die Liebe (und die Schönheit)

Die Liebe ist woanders

Die unstete Wandlung der Liebe

Das fremde Herz

Frauen, die nicht geliebt wurden

Die Angst, nicht geliebt zu werden

Das Internet gibt uns nicht das Gefühl, geliebt zu werden (wie wir es gerne wären)

Das Heilmittel – Unser Bedürfnis nach Liebe zulassen

Flüssige Schönheit bleibt ewig jung – Die Zeit ist ein Dieb

Schönheit – Eine Form der Intelligenz

Der Weltkrieg des Neides – Du sollst deinen Nächsten beneiden!

Schönheit statt Verstand

Kinder bekommen und „alt“ werden

Unsere Kinder sind unsere Eltern

Liebe, die auf Likes beruht – Eine Belohnung

Die Suche nach dem „leeren Raum“

Zweiter TeilLiebe und Eigentum (Kann ich es haben, so will ich es auch)

Die Liebe ist außerhalb

Liebe ich nur, was ich besitze?

Besitz bereitet nur dann Freude, wenn ich ihn zeigen kann

Das glückliche Paar

Flüssige Liebe – Die Pflicht, auf der Stelle einen Menschen zu finden, den es nicht gibt

Bis dass die Entsorgung uns scheidet

Die Ewigkeit dauert fünf Jahre

Liebe wird nicht gefunden, sie wird erschaffen

Singles – Vom Markt heißbegehrte Kunden

Dritter TeilEine Gesellschaft, die die Liebe zerstört, zerstört die Demokratie

Der große Traum – Raus aus der Post-Armut!

Junge Menschen, vom Donner gerührt

Es gibt keine Arbeitslosigkeit, nur überschüssige Arbeitskraft

Die Gemeinschaft und das Gefühl, geliebt zu werden – Alles Einbildung (von „Wenn du willst, kannst du“ zu „Wenn du kannst, willst du“)

Die Politik als letzte Gemeinschaft in der Welt

Die Liebe zur Vergangenheit – Reine Illusion

Die Bürokratie ist der Hass des Staates auf uns

Das Böse als Unterhaltung

Glück – Ein trauriger Begriff

Willkommen in der Post-Freiheit

Zitierte und empfohlene Literatur

Über den Autor

An meine jungen Brüder und Schwestern

Ich freue mich sehr, mich auf Anregung Thomas Leoncinis an meine jungen Brüder und Schwestern in der Welt wenden zu können.

Ihr jungen Menschen seid aufgerufen, eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung der Zukunft unserer Welt zu spielen. In den zunehmend fortschrittlichen und vernetzten Gesellschaften unserer Tage sind die alten indischen Ideale des Mitgefühls und der Gewaltlosigkeit (Karuna und Ahimsa) immer noch unentbehrliche Eckpfeiler. Wollen die Menschen glücklich zusammenleben, sind sie auf diese Eigenschaften angewiesen. Diese Prinzipien sind nicht nur auf logischer Ebene sinnvoll, sie sind auch von unmittelbar praktischem Nutzen, ganz gleich ob man religiös ist oder nicht. Sie sind für die weltliche Ethik unverzichtbar. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Welt ein besserer Ort wäre, schenkten wir alle in unserem Alltag dem Mitgefühl und der Gewaltlosigkeit mehr Beachtung.

In diesen Tagen beschäftigen sich die Menschen intensiv mit Gesundheitsfragen. Wir widmen uns aktiv unserer physischen Hygiene, um die Gesundheit unseres Körpers zu erhalten. Meiner Meinung nach sollten wir aber ebenso sehr auf unsere emotionale Hygiene achten, um inneren Frieden zu erlangen und ihn zu pflegen. Wir müssen lernen, mit Wut, Angst und Furcht umzugehen und sie einzugrenzen. Der Schlüssel dazu liegt in der Erhaltung unseres inneren Friedens.

Wenn mich junge Menschen fragen, wie man eine glücklichere und friedvollere Welt erschafft, antworte ich: Seid ehrlich, aufrichtig und selbstlos. Wenn ihr euch dem Wohlergehen anderer widmet, bleibt keine Zeit mehr für Lügen, Mobbing und Betrug. Wenn ihr aufrichtig seid, wird euer Leben eindeutig und vertrauenerweckend sein, was die Grundlage jeder Freundschaft ist. Wir alle sind mehr oder minder von Egoismus getrieben, doch die Kunst liegt darin, eine weise Form des Egoismus zu pflegen: Wir sollten nie vergessen, wie großartig Menschlichkeit ist, und die Interessen anderer stets in den Vordergrund stellen.

Die letzte Quelle von Frieden und Glück ist die Zuneigung, die in uns liegt. Als Menschen zeichnen wir uns durch Intelligenz aus. Verbindet sich diese Intelligenz mit unserer Zuneigung, dann entsteht Glück.

Mit meinen Gebeten und besten Wünschen,

Erster TeilFlüssig wie die Liebe (und die Schönheit)

Die Liebe ist woanders

Von klein an war ich überzeugt, ich sei schwindelfrei. Ohne jede Angst kletterte ich auf Leitern und war als Erster zur Stelle, wenn es eine durchgebrannte Glühbirne auszuwechseln gab. Auf der obersten Sprosse balancierend schälte ich sie aus der Verpackung. Mit einer Hand stützte ich mich gegen die Zimmerdecke, während ich meinen Körper auf einem Bein im Gleichgewicht hielt, als sei es ein Sockel, auf den ich, aus welchem Grund auch immer, rückhaltlos vertrauen konnte. Ich mochte es, Glühbirnen zu ersetzen.

Eines Tages war ich niedergeschlagen. An den Grund kann ich mich nicht mehr erinnern. Würde ich mir diesen jedes Mal merken, wenn ich in ein Tief gerate, wäre meine mentale Festplatte in wenigen Wochen voll. Der bewusste Grund für eine Depression ist wahrscheinlich stets ein Vorwand – frei nach William James: Zuerst kommt die Depression, dann suchen wir nach ihrer Ursache.

Auch an diesem Tag musste eine Glühbirne ausgetauscht werden. Die ausziehbare Leiter, so eine, wie man sie beim Umzug benutzt, war neu. Unbedacht zog ich sie weitmöglichst aus, machte einen Satz und fand mich eine Sekunde später auf der obersten Sprosse. Sobald mein Blick durch die aufgerissene Kunststoffpackung der Glühbirne hindurch auf die beigen Bodenfliesen unter mir fiel, spürte ich ein Kribbeln im Nacken, Schweißtropfen liefen an meinem Hals hinab, und meine Haare wurden feucht. Spontan schob ich die Verpackung aus meinem Blickfeld und schaute auf das, was unter mir lag. Sämtliche Formen überlagerten sich, ihre Konturen verschwammen, der Planet Erde, den ich unter mir gelassen hatte, war plötzlich ein völlig anderer: Es entbehrte jeder Logik und erzeugte in meinen Augen ein fremdartiges Schielen. Meine Sehorgane waren nicht mehr in der Lage, den Befehlen meines Gehirns zu gehorchen, sie folgten nur noch dem Willen des Chaos. Es fühlte sich an, als wäre mitten in meinen Pupillen ein Magnet eingelassen und jemand vor mir bewegte am Ende einer Angelschnur einen riesigen Eisenhaken hin und her. So etwas hatte ich noch nie gespürt.

Ich verletzte mich nur deshalb nicht beim Sturz von der Leiter, weil ich mich instinktiv auf das Bett fallen ließ, das meinen Aufprall abfing. An jenem Tag erfuhr ich, was ein Schwindelanfall ist. Was ich bis dahin mit der bagatellisierenden Unterstellung des Unwissenden als „Angst“ abgetan hatte – „Angst zu fallen“, „Angst, mir weh zu tun“, „Angst, auf dem Boden zu landen“, „Angst zu sterben“, „Angst, die Kontrolle zu verlieren“, „Angst, auf dem Rücken zu landen, die Beine in der Luft“ –, verwandelte sich in diesem Moment in etwas anderes. Das Schwindelgefühl war jetzt zu meinem „Wunsch“ geworden: „der Wunsch zu fallen“, „der Wunsch, mir weh zu tun“, „der Wunsch, auf dem Boden zu landen“, „der Wunsch zu sterben“, „der Wunsch, die Kontrolle zu verlieren“, „der Wunsch, auf dem Rücken zu landen, die Beine in der Luft“.

Hinter jeder Angst verbirgt sich ein Verlangen.

Heute kann ich wieder behaupten: Ich bin schwindelfrei, weil ich den Grund für meinen Schwindelanfall erkannt habe. Da ich meinen Impuls zur Selbstzerstörung kenne, sobald ich mich im sechsten oder im elften Stockwerk auf dem Balkon hinauslehne, sage ich mir: „Das ist der irrationale Wunsch, mich hinunterzustürzen und so jede Hoffnung, die ich bisher hegte, mein Leben stets neu beginnen zu können, Lügen zu strafen.“

Und so begann ich, davon zu sprechen, damit das Irrationale und die Wirklichkeit nicht zu weit auseinanderklafften; zumindest ist das eine Möglichkeit, dem zuvorzukommen. Der Selbstzerstörungstrieb ist typisch menschlich: Versuchen Sie nur, zusammen mit Ihren Katzen im einundzwanzigsten Stockwerk eines Wolkenkratzers auf der Terrasse zu leben. Sobald sich die Katzen mit der Örtlichkeit vertraut gemacht haben, werden sie sich ohne Zögern am höchsten Platz schlafen legen, dort, wo man über die ganze Stadt blicken kann. Kein Mensch würde hier jemals schlafen wollen. Katzen dagegen kennen keinen Schwindel aufgrund eines Verlangens, sterben zu wollen. Die Tiere selbst wissen nichts davon.

Neben der Höhenangst kann der Selbstzerstörungstrieb unzählige weitere Gestalten annehmen: Eine der geläufigsten ist die kranke, toxische Liebe, die uns auf den ersten Blick verletzt, unseren Selbstzerstörungstrieb jedoch viel zuverlässiger befriedigt als eine Leiter oder ein Balkon.

Die toxische Liebe ist unsere Lust zu fallen, zu sterben, ganz und gar zu kapitulieren. Sie ist unser Selbstzerstörungstrieb, der gepaart mit dem uns Vertrauten das Gift süß erscheinen lässt; denn dieser wohlbekannte Geschmack vermittelt uns ein Gefühl der Sicherheit. All das, was wir gewohnt sind, ist vorhersehbar: Je mehr wir uns auf uns selbst zurückgeworfen fühlen, unsicher, fließend, Teil einer fremden, ganz und gar unlogischen Welt, umso wertvoller wird für uns das Vertraute sein, ganz gleich wie es aussehen mag.

Das Vertraute, dieses Gift, das uns das Gefühl gibt, zu Hause zu sein, lähmt uns. Da wir uns heimisch fühlen, meinen wir, geliebt zu werden. In dieser Täuschung jedoch liegt einer der gefährlichsten Irrtümer unserer Gattung. Denn die Liebe ist woanders.

Die unstete Wandlung der Liebe

Nur was unsere unmittelbaren Bedürfnisse erfüllt, ist unserer Liebe wert. Und wenn es sie dauerhaft befriedigt bis hin zur wiederholten Erschöpfung des Verlangens, sind wir geneigt zu glauben, es habe eine allgemeingültige Bedeutung.

„Lieben“ war vermutlich schon immer das missverständlichste und individuellste Verb der Welt, auch weil wir Liebe vor allem dann erfahren, wenn wir ihre Abwesenheit spüren. Wenn Sie eine repräsentative Personengruppe aus mindestens zehn verschiedenen Ländern nach der Bedeutung von „Liebe“ fragen, werden Sie feststellen, wie sehr dieser Begriff kulturellen Schwankungen unterliegt, die in eben diesem Wort ihren maximalen Ausschlag erreichen.

Nicht einmal die großen Denker der Geschichte waren sich über die Bedeutung dieses äußerst gut erforschten und dennoch unfassbaren, unsteten, immerzu flüchtigen Begriffs einig.

Betrachten wir nur die berühmten Vorgänger unseres heutigen Denkens im antiken Griechenland, dort, wo alles seinen Anfang nahm. Da lesen wir in Platons Symposion über die Behauptung des Sokrates, die Liebe sei das Einzige, was er begreife. Und tatsächlich ist das Symposion ein grundlegender Text zu diesem Thema, den der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan nicht zufällig als ein Werk betrachtet, das das westliche Bild von der Liebe bestimmt hat.

Liebe ist für viele eine Art Seelenkrankheit, die man aufgrund der extremen Verstörung, die sie auslöst, meiden sollte. So beispielsweise sehen es Epikur und sein Schüler Lukrez, der die Liebe als „die einzige Sache“ betrachtet, „nach der die Brust umso heftiger in unheilvoller Begierde erglüht, je mehr wir davon besitzen.“

Vielleicht dachte Pascal daran, als er vor nicht allzu langer Zeit vorschlug, die Liebe aus dem Gedächtnis zu streichen und sie aus den Themen, über die man philosophiert, endgültig auszuschließen: „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.“

Halt, Schluss, aus.

Das ist ein nachvollziehbarere Grund, für einen Themenwechsel.

Doch in unserer Zeit passiert gerade etwas völlig anderes. In seinem Buch Thank you for being late beschreibt Thomas Friedman unsere Epoche als eine Zeit der Beschleunigung. So betrachtet liegt das Konzept der Liebe darin, leise und eindringlich eine der stärksten Beschleunigungen hingelegt zu haben.

Liebe wird immer mehr als eine Folge von Neuanfängen betrachtet, die nie einen logischen Schluss finden. In ihnen kann sich die Gefühlsspannung nicht nur nicht erschöpfen; sie muss sogar, wenn es denn geschieht, sofort durch eine ebenso starke Emotion ersetzt werden. Dabei tauscht man die beteiligte Person aus und behält als Konstante den Liebesbegriff.

Wir leben vermutlich weder in der Zeit der Monogamie noch und erst recht nicht in der der Polyamorie, dennoch leben wir in einer neuen Zeit: in der Ära der flüssigen Liebe, in der Treue bloß in unserer Vorstellung von der „Liebe“ existiert; hier erleben und empfinden wir eine Veränderung des Liebesziels – gelegentlich auch des Partners – nicht als Betrug gegenüber einer Person, sondern als ein Zeichen des Respekts gegenüber unserer individualistischen Spannung, die wir immer häufiger für Liebe halten und somit der Möglichkeit berauben, uns zu befriedigen.

Könnte die flüssige Liebe sprechen, würde sie vermutlich sagen: „Wenn ich dich hätte, wärst du mir nicht genug: Ich ziehe es vor, mir bei jedem Schritt, bei jedem Herzschlag und bei jedem Atemzug ein Bild von dir zu machen. Wenn ich dich haben könnte, würdest du mir in meinem Alltag noch viel mehr fehlen; ich würde jenen Teil von dir vermissen, den ich, je mehr er mir entglitt, als mein Eigen empfand.“

Anscheinend durchläuft unsere Vorstellung von der Liebe eine individualistische Verwandlung, wobei sie sich vom Gegenüber befreit als von jemanden, der sich vom Ich unterscheidet. Das Ich eignet sich in der Liebe schrittweise den anderen an, jedoch nur in dem, was seinem eigenen Wesen gleicht.

So entwickelt sich die Liebe in jeder Hinsicht zu einem individualistischen Konzept: Sie ist ein privates Problem, das öffentlich danach verlangt, sich selbst aufzulösen.

In einer stark vernetzten Welt wie der unseren, in der wir alle über Nacht entdecken können, dass wir zum VIP geworden sind – zu einer Person also, die wegen ihrer Berühmtheit berühmt wurde, nicht etwa wegen einer besonderen Eigenschaft, die sie von anderen unterscheidet –, in einer Welt, in der Privatheit nur noch eine Illusion ist, wird die Liebe zur Schau gestellt und mit dem Ziel geteilt, einen Profit daraus zu schlagen, der dem Marktwert entspricht.

Nicht zufällig verwalten jüngere Menschen ihre Liebesbeziehungen, als wären diese Aktienportfolios und sie selbst abgeklärte Broker.

Kurz vor seinem Freitod schrieb Cesare Pavese, man nehme sich nicht wegen einer Frau das Leben, sondern weil eine, und zwar jede beliebige Liebe, uns in unserer eigenen Nacktheit und unserem Elend, in unserer Hilflosigkeit und Nichtigkeit bloßstellt.

Wir sind zu Sklaven des befristeten Besitzes geworden, doch wir idealisieren und erträumen ihn uns weiter als etwas Endgültiges; besonders beunruhigend ist dabei die Tatsache, dass wir diesen begrenzten Zustand für „Liebe“ halten.

Das ist unser Los, seitdem sich der Individualismus offiziell gegen den Gemeinschaftsgedanken durchgesetzt hat und den Menschen nun vorgaukelt, sie könnten zumindest scheinbar auf Zusammenhalt und Gemeinschaft verzichten – Konzepte, die früher als eine Notwendigkeit galten.

In nur wenigen Jahren sind wir von einer Produktions- zu einer Konsumgesellschaft geworden, in der sogar ein altes originäres Konzept wie das der Liebe den Vorstellungen von Konsum, Abfall und Recycling nachgibt, welche die Gewohnheit ersetzen, abgenutzte und mit der Zeit vermutlich beschädigte Gegenstände möglichst zu „reparieren“ – dies gilt insbesondere für Menschen, die im Zeitalter der flüssigen Liebe, das heißt ab den 1980er-Jahren geboren sind.

Offenbar erbringen in der westlichen Gesellschaft nicht Zuverlässigkeit und Vertrauen in ein Produkt den höchsten Gewinn, sondern vielmehr das Tempo, mit dem man sich frei fühlt, dieses Produkt zu entsorgen und sich ein besseres anzuschaffen. Auf diese Weise entartet allmählich die Vorstellung von Vertrauen. Denn sie begreift sich immer mehr als ein Vertrauen in die Freiheit: die Freiheit, die Abhängigkeit zu überwinden, die im Vertrauen selbst liegt.

Das fremde Herz

Weshalb macht uns die Liebe so große Angst? Kann sie uns noch furchtbarer erscheinen als der Tod? Es ist einzigartig, wie ohnmächtig wir uns gegenüber der Liebe fühlen.

Ich möchte an dieser Stelle eine Geschichte über Tierliebe erzählen, denn ich finde es zu einseitig, auf der rein menschlichen Ebene zu bleiben, selbst wenn es sich um unterschiedliche Formen der Liebe handelt: Ich hatte einen wunderschönen Kater namens Tino. Mit seinem langen schwarzen Fell strotzte er sichtlich vor Gesundheit. Er streunte im Garten herum und empfing mich jeden Abend, glücklich über meine Heimkehr und in freudiger Erwartung der streichelnden Hände und selbstverständlich der Leckereien, die ich für ihn bereithielt. Eines Tages sah er eine farbenprächtige Katze vorsichtig über den Rasen schlendern. Nach kurzer Zeit brachte sie fünf schwarze Junge zur Welt, Lebendkopien meines Katers, doch leider überlebte sie die Geburt nicht. Ab diesem Zeitpunkt war Tino nicht mehr derselbe: Er war rastlos, wartete abends nicht mehr auf mich, um mich freudig zu begrüßen, und er aß fast nichts mehr. Vermutlich hatte er noch die himmlischen Gefühle im Kopf – weshalb sollte man die Liebe zwischen Tieren auf Sex reduzieren? –, die er mit der Katze erlebt hatte und wieder erleben wollte, konnte jedoch nicht verstehen, dass die Mutter der Kätzchen nicht mehr lebte. Eines Tages lag mein Kater tot auf der gefährlichen Straße, die er vermutlich auf der Suche nach seiner Katze ständig überquert hatte. Seine einzige Schuld lag darin, seiner Sehnsucht gefolgt zu sein. War es die Sehnsucht nach Liebe? Die Sehnsucht nach sexueller Erfüllung durch dieselbe Katze? Wer kann das wissen!

Und genau hier liegt das Problem: Wir Menschen haben immer Angst vor der Liebe, wir fürchten sie wie eine Krankheit, weil wir nicht lieben können, was wir möchten oder zu lieben entscheiden, sondern nur das, was wir begehren. Der Wille ist eine menschliche Eigenschaft, die Sicherheit verleiht: Unser Ich liebäugelt mit unseren Vorsätzen und treibt uns dazu, sie zu verwirklichen; zudem kann sich unser Wille auf den Verstand berufen. Können wir beispielsweise einen unserer Wünsche nicht erfüllen, dann vermag es unsere Ratio – unterstützt von unserem psychischen Immunsystem –, die Macht unseres Wunsches, etwas oder jemand „zu sein“ oder „zu werden“, mit der Zeit zu mildern; oder aber sie hilft uns dabei, Abkürzungen beziehungsweise ähnliche Wege zu finden, die zielführender sind. Die Wurzeln der Begierde dagegen wachsen stets im Dunkeln. Wir können ihrer Triebkraft, der unser Ich und unsere Eigenliebe meist hilflos ausgeliefert sind, nichts entgegensetzen.

Darin liegt der Kern unserer Angst vor der Liebe: Während ich begehren kann, was ich hasse, kann ich niemals wollen, was ich nicht will. Ein bekanntes Bonmot Woody Allens lautet: „Ich habe keine Angst vor dem Tod, ich möchte nur nicht dabei sein, wenn’s passiert.“ Ersetzen wir den Begriff „Tod“ durch „Liebe“, könnte dies eine gültige Maxime vieler Menschen sein.

Fénelon behauptete: „Das Feuer verzehrt alles, was nicht reines Gold ist.“

Es ist also eben diese Flamme, der wir gerne eine Richtung geben möchten, doch sie verbrennt uns rücksichtslos, als würden wir einem unsichtbaren Raubtier zum Opfer fallen.

Die Liebe lässt uns an das „Alien-Hand-Syndrom“ denken. Ich erinnere mich an den Bericht eines Mannes mittleren Alters, der mich sehr berührte. Als er nach einer Gehirnblutung von der besagten Symptomatik betroffen wurde, waren seine beiden Gehirnhälften komplett voneinander getrennt und vollkommen unfähig, miteinander zu kommunizieren. Was folgte daraus für seinen Alltag? Zum Beispiel war eine seiner Hände völlig abgespalten von seinem Willen und führte ein Eigenleben: Statt den Befehlen des Gehirns zu gehorchen, hatte sie sich die Freiheit genommen, ihre eigenen Bewegungen auszuführen. Stellen wir uns vor, wie es wäre, wenn wir eine Hand hätten, die eine solche Unabhängigkeit genießt! Eine Hand könnte der anderen kein Essen reichen, denn eine von ihnen wäre ja ganz unzuverlässig; wir könnten nicht in Ruhe in einer Zeitung blättern, denn wir müssten darauf achten, dass sie nicht von der „fremden Hand“ zugeschlagen wird; und genauso wenig könnten wir Auto fahren.

Ein anderer Betroffener berichtete, er könne nicht mehr rauchen, denn jedes Mal, wenn er dies versuche, schlage ihm eine Hand die Zigarette aus dem Mund und werfe sie zu Boden. Auch wenn diese Störung vielen hartgesottenen Rauchern von Nutzen wäre, so kann sie dennoch große Probleme bereiten. So erlebte es eine Frau, die nachts ständig aus dem Schlaf gerissen wurde, mit Schmerzen im Bereich der Luftröhre und sichtbaren Hautrötungen am Hals. Nach nicht allzu langer Zeit bestätigte sich der beängstigende Verdacht: Sobald die Frau einschlief, wurde die vom Gehirn unabhängige Hand aktiv und begann, sie bis hin zur Bewusstlosigkeit zu würgen. Von nun an sah sich die Frau gezwungen, ihre „fremde Hand“ vor dem Schlafengehen an den Bettpfosten festzubinden.

Liebe ist stets „ein fremdes Herz“. In ihrem verführerischen Gewand lässt uns die Begierde Gefühle, Leidenschaften und Schmerzen empfinden, die völlig irrational sind, ganz und gar abgehoben von dem, was uns unser Verstand signalisieren müsste. Sie gaukelt uns vor, in höheren Sphären einer anderen Welt zu weilen, um uns den Todesstoß zu versetzen, wenn wir es am wenigsten erwarten – so raubt uns die Begierde im wahrsten Sinne des Wortes den Atem. Vielleicht stoßen wir eines Tages in einem Medizinbuch – so wie im Falle der „fremden Hand“– auf ein Kapitel über das „Alien-Heart-Syndrom“.

Frauen, die nicht geliebt wurden

Als ich während meiner Grundschuljahre den Kommunionsunterricht besuchte, war ich danach jedes Mal verwirrt. Der Katechismus stieß mich in eine Art labyrinthische Paranoia, denn er weckte in mir fortwährend Fragen, auf die ich keine Antwort fand. Damals hatte ich eine platonische Beziehung zu einem Mädchen aus meiner Klasse: „Wir liebten uns“ und schienen füreinander geschaffen. Da sie sehr gläubig war und ich nicht die Chance verpassen wollte, sie zu sehen, entschied ich mich, begeistert in den Kommunionsunterricht zu gehen. Zugegebenermaßen war ich in der Schule eine riesige Nervensäge und stellte alles in Frage, was unsere Lehrerin mit Nonchalance erklärte, als handelte es sich um offenkundige Dinge von augenfälliger Evidenz. Ich erinnere mich, wie sie uns eines Tages ermahnte: „Lernt, denn wenn ihr es nicht tut, ist Gott unglücklich und bestraft euch; betet, denn wenn ihr es nicht tut, erkennt euch Gott nicht als seine Kinder an!“ Begreiflicherweise bestürzt, verfielen alle Kinder in eine Art mystischer Stille, die keiner zu unterbrechen wagte. Da ich damals schon die schlechte Angewohnheit hatte, Worte ernst zu nehmen, hakte ich nach mit einer Überlegung von der Sorte: „Ich kenne einen großen Jungen von mindestens 25 Jahren, der noch nie gebetet hat. Er ist drei Mal sitzengeblieben, aber es geht ihm blendend! Wie ist das möglich?“ Und ich fügte hinzu: „Aber, Frau Lehrerin, wie Leben denn die Kinder, die unseren Glauben nicht kennen? Sind sie alle Sünder und werden regelmäßig bestraft?“ Und schließlich: „Aber wie kann sich Gott alle Menschen merken, die er bestrafen will? Wie viele Köpfe hat er denn? Da können wir doch nicht nach dem Bilde Gottes geschaffen sein, sonst …“

Die Lehrerin, die nun nicht wusste, was sie darauf antworten sollte, nannte mich ungezogen und vorlaut und warf mich aus dem Klassenzimmer. Doch das machte die Sache für mich auch nicht klarer.

Dann kam der verhängnisvolle Tag, als die Lehrerin über die Zehn Gebote zu sprechen kam. Dazu möchte ich vorausschicken, dass ich mit meinen acht Jahren gegenüber dem Mädchen, in das ich platonisch verliebt war, ernste Absichten hegte.

Beim neunten Gebot, „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib!“, schaute ich voller Stolz zu Elena, als wollte ich sagen: „Wer begehrt schon andere Frauen! Ich habe dich und bei dir will ich bleiben.“ Verlegen erwiderte sie meinen Blick, worauf ich mich befriedigt in die mütterlichen Augen unserer Lehrerin flüchtete. Ich dachte für mich: „Bravo, Thomas, diesmal hast du sie tatsächlich beeindruckt! Elena hat deine Botschaft sofort verstanden. Hoffen wir, dass auch sie keine Frauen deines Nächsten begehrt …, ich meine: Männer deiner Nächsten.“ Ziemlich beunruhigt darüber, dass das andere Geschlecht vergessen worden war, suchte ich das Blatt mit den Geboten. Nein, ich hatte richtig verstanden: Das neunte Gebot war nur für Männer gemacht, als gäbe es gar keine Frauen. Und plötzlich verstand ich das genaue Gegenteil. Seitdem war ich überzeugt davon, dass Gott unbedingt eine Frau sein musste! Eine Frau, die alle Männer dieser Welt begehren wollte, ohne zu sündigen! Und die Zehn Gebote erschienen mir nun als eine ernste und ungerechte Gefahr für meine zukünftige Beziehung mit Elena. Ich versuchte, meiner Lehrerin Fragen zu stellen, fand mich deshalb aber nur wieder vor die Tür gestellt. Ich war ein nutzloser Revoluzzer.