Stefan Zweig: Brasilien - Stefan Zweig - E-Book

Stefan Zweig: Brasilien E-Book

Zweig Stefan

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Beschreibung

*Brasilien: Ein Land der Zukunft* entstand 1941 während Stefan Zweigs Exil in Brasilien. Das Werk spiegelt seine Suche nach einer Gesellschaft wider, in der Völkerverständigung und kulturelle Vielfalt möglich sind. In seiner Analyse zeichnet Zweig den Wandel des Landes von der Kolonialzeit bis ins 20. Jahrhundert nach. Die Untersuchung zeigt, wie verschiedene Kulturen und Ethnien zu einer eigenständigen Identität innerhalb eines Staates finden können. Seine Darstellung umfasst die Natur Brasiliens ebenso wie dessen kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen. Wie in seinen biografischen Werken verbindet Zweig auch hier präzise Recherche mit der Fähigkeit, historische Wendepunkte in ihrer Bedeutung zu erklären.

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Stefan Zweig

Brasilien

Ein Land der Zukunft

Copyright © 2024 Novelaris Verlag

ISBN: 978-3-68931-116-2

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Geschichte

Wirtschaft

Blick auf die brasilianische Kultur

Rio de Janeiro

Einfahrt

Das alte Rio

Spazieren durch die Stadt

Die kleinen Straßen

Kunst der Kontraste

Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind

Gärten, Berge und Inseln

Sommer in Rio

Blick auf São Paulo

Besuch beim Kaffee

Besuch hei den versunkenen Goldstädten

Flug über den Norden

Bahia: Treue zur Tradition

Bahia: Kirchen und Feste

Besuch bei Zucker, Tabak und Kakao

Recife

Flug zum Amazonas

Daten zur Geschichte Brasiliens

Cover

Table of Contents

Text

Einleitung

In früheren Zeiten pflegten die Schriftsteller, ehe sie ein Buch an die Öffentlichkeit gaben, eine kleine Vorrede vorauszuschicken, in der sie redlich mitteilten, aus welchen Gründen, von welchen Gesichtspunkten aus und in welcher Absicht sie ihr Buch geschrieben. Es war eine gute Gewohnheit. Denn sie schuf durch den Freimut und die direkte Ansprache von vornherein ein richtiges Einverständnis zwischen dem Schreibenden und denen, für die es geschrieben war. Und so möchte auch ich in möglichster Redlichkeit sagen, was mich bewog, ein von meinem sonstigen Arbeitskreis scheinbar weitabgelegenes Thema mir vorzunehmen.

Als ich im Jahre 1936 zum Penklubkongreß in Buenos Aires nach Argentinien fahren sollte, fügte sich dem die Einladung bei, gleichzeitig Brasilien zu besuchen. Meine Erwartungen waren nicht sonderlich groß. Ich hatte die durchschnittliche hochmütige Vorstellung des Europäers oder Nordamerikaners von Brasilien und bemühe mich jetzt, sie zurückzukonstruieren: irgend eine der südamerikanischen Republiken, die man nicht genau voneinander unterscheidet, mit heißem, ungesundem Klima, mit unruhigen politischen Verhältnissen und desolaten Finanzen, unordentlich verwaltet und nur in den Küstenstädten halbwegs zivilisiert, aber landschaftlich schön und mit vielen ungenützten Möglichkeiten – ein Land also für verzweifelte Auswanderer oder Siedler und keinesfalls eines, von dem man geistige Anregung erwarten konnte. Zehn Tage daran zu wagen, schien mir genug für jemanden, der seinem Beruf nach weder fachmäßiger Geograph, Schmetterlingssammler, Jäger, Sportsmann oder Kaufmann war. Acht Tage, zehn Tage und dann rasch wieder zurück, so dachte ich, und ich schäme mich nicht, diese meine törichte Einstellung zu verzeichnen. Ich halte es sogar für wichtig, denn sie ist ungefähr dieselbe, die noch heute in unseren europäischen und nordamerikanischen Kreisen im Umlauf ist. Brasilien ist heute im kulturellen Sinne noch ebenso eine terra incognita, wie sie es den ersten Seefahrern im geographischen gewesen. Immer wieder bin ich von neuem überrascht, welche verworrenen und unzulänglichen Vorstellungen selbst gebildete und politisch interessierte Menschen von diesem Lande haben, das doch unzweifelhaft bestimmt ist, einer der bedeutsamsten Faktoren in der künftigen Entwicklung unserer Welt zu werden. Als zum Beispiel auf dem Schiff ein Bostoner Kaufmann ziemlich abfällig von den kleinen südamerikanischen Staaten sprach und ich ihn zu erinnern versuchte, dass Brasilien für sich allein größeres Territorium umfasst, als die Vereinigten Staaten, glaubte er, dass ich spaße, und ließ sich erst durch einen Blick auf die Landkarte überzeugen. Oder ich fand in dem Roman eines sehr bekannten englischen Autors das amüsante Detail, dass er seinen Helden nach Rio de Janeiro gehen lässt, um dort spanisch zu erlernen. Aber er ist nur einer von Unzähligen, die nicht wissen, dass man in Brasilien portugiesisch spricht. Jedoch es steht mir, wie gesagt, nicht zu, anderen hochmütige Vorhaltungen wegen ihrer geringen Kenntnis zu machen; ich habe selbst, als ich das erste Mal von Europa abfuhr, nichts oder wenigstens nichts Zuverlässiges von Brasilien gewusst.

Dann kam die Landung in Rio, einer der mächtigsten Eindrücke, den ich zeitlebens empfangen. Ich war fasziniert und gleichzeitig erschüttert. Denn hier trat mir nicht nur eine der herrlichsten Landschaften der Erde entgegen, diese einzigartige Kombination von Meer und Gebirge, Stadt und tropischer Natur, sondern auch eine ganz neue Art der Zivilisation. Da war ganz gegen meine Erwartung mit Ordnung und Sauberkeit in Architektur und städtischer Anlage ein durchaus persönliches Bild, da war Kühnheit und Großartigkeit in allen neuen Dingen und gleichzeitig eine alte, durch die Distanz noch besonders glücklich bewahrte geistige Kultur. Da war Farbe und Bewegung, das erregte Auge wurde nicht müde zu schauen, und wohin es blickte, war es beglückt. Ein Rausch von Schönheit und Glück überkam mich, der die Sinne erregte, die Nerven spannte, das Herz erweiterte, den Geist beschäftigte, und so viel ich sah, es war nie genug. In den letzten Tagen fuhr ich ins Innere oder vielmehr – ich glaubte ins Innere zu fahren. Ich fuhr zwölf Stunden, vierzehn Stunden weit nach São Paulo, nach Campinas, in der Meinung, dem Herzen dieses Landes damit näherzukommen. Aber als ich zurückgekehrt dann auf die Karte blickte, entdeckte ich, dass ich mit diesen zwölf oder vierzehn Stunden Eisenbahnfahrt nur knapp unter die Haut gekommen; zum ersten Mal begann ich die unfassbare Größe dieses Landes zu ahnen, das man eigentlich kaum mehr ein Land nennen sollte, sondern eher einen Erdteil, eine Welt mit Raum für dreihundert, vierhundert, fünfhundert Millionen und einem unermesslichen, noch kaum zum tausendsten Teile ausgenützten Reichtum unter dieser üppigen und unberührten Erde. Ein Land in rapider und trotz aller werkenden, bauenden, schaffenden, organisierenden Tätigkeit erst beginnender Entwicklung. Ein Land, dessen Wichtigkeit für die kommenden Generationen auch mit den kühnsten Kombinationen nicht auszudenken ist. Und mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit schmolz der europäische Hochmut dahin, den ich höchst überflüssigerweise als Gepäck auf diese Reise mitgenommen. Ich wusste, ich hatte einen Blick in die Zukunft unserer Welt getan.

Als dann das Schiff abfuhr – es war eine Sternennacht, und doch glänzte diese einzige Stadt mit ihren Perlenschnüren elektrischen Lichts schöner und geheimnisvoller als die Funken des Firmaments – war ich gewiss, dass ich diese Stadt, dieses Land nicht zum letzten Mal gesehen, und völlig im klaren auch, dass ich eigentlich nichts gesehen oder keinesfalls genug. Ich nahm mir vor, gleich im nächsten Jahr wiederzukommen, besser vorbereitet und um länger zu bleiben, um noch einmal und noch stärker dieses Gefühl zu empfinden, im Werdenden, Kommenden, Zukünftigen zu leben und die Sicherheit des Friedens, die gute gastliche Atmosphäre nun noch bewusster zu genießen. Aber ich konnte mein Versprechen nicht halten. Im nächsten Jahr war der Krieg in Spanien, und man sagte sich: warte ab bis zu einer ruhigeren Zeit. 1938 fiel Österreich, und wieder harrte man auf einen ruhigeren Augenblick. Dann, 1939, war es die Tschechoslowakei und dann der Krieg in Polen und dann der Krieg aller gegen alle in unserem selbstmörderischen Europa. Immer leidenschaftlicher wurde mein Wunsch, mich aus einer Welt, die sich zerstört, für einige Zeit in eine zu retten, die friedlich und schöpferisch aufbaut; endlich kam ich wieder in dieses Land, besser und gründlicher vorbereitet als zuvor, um zu versuchen, davon ein kleines Bild zu geben.

Ich weiß, dass dieses Bild nicht vollständig ist und nicht vollständig sein kann. Es ist unmöglich, Brasilien, eine so weiträumige Welt, vollkommen zu kennen. Ich habe ungefähr ein halbes Jahr in diesem Lande verbracht und weiß gerade jetzt erst, wieviel trotz allen Lerneifers und Reisens mir zu einem wirklich vollständigen Überblick dieses gewaltigen Reiches noch fehlt, und dass ein ganzes Leben kaum ausreichte, um sagen zu dürfen: ich kenne Brasilien. Ich habe vor allem eine Reihe Provinzen überhaupt nicht gesehen, deren jede so groß oder größer ist als Frankreich oder Deutschland, ich habe die selbst von wissenschaftlichen Expeditionen nicht ganz durchdrungenen Gebiete von Mato Grosso, Goiaz und die Wildnisse des Amazonenstroms nicht durchstreift. Ich bin also nicht vertraut mit dem primitiven Leben dieser in riesigen Räumen verstreuten Siedlungen und kann nicht die Existenz all dieser von der Kultur kaum berührten Berufsklassen anschaulich machen: nicht das Leben der barqueiros, die auf den Strömen schiffen, nicht das der caboclos im Amazonengebiet, nicht das der Diamantensucher, der garimpeiros, nicht das der Viehzüchter, der vaqueiros und gaúchos, nicht das der Gummiplantagenarbeiter im Urwald, der seringueiros oder das der sertanejos von Minas Gerais. Ich habe die deutschen Kolonien von Santa Catarina nicht besucht, wo in den alten Häusern noch das Bild Kaiser Wilhelms und in den neueren das Bild Adolf Hitlers hängen soll, nicht die japanischen Kolonien im Innern von São Paulo und kann niemandem verlässlich sagen, ob wirklich noch manche der indianischen Stämme in den undurchdringlichen Wäldern kannibalisch sind.

Auch von den landschaftlichen Sehenswürdigkeiten kenne ich manche der wesentlichen nur von Bildern und Büchern. Ich bin nicht zwanzig Tage lang die grüne, in ihrer Monotonie großartige Wildnis des Amazonas hinaufgefahren, nicht bis an die Grenzen Perus und Boliviens gelangt, ich habe es durch die Schwierigkeiten der Schifffahrt innerhalb der ungünstigen Jahreszeit versäumen müssen, die zwölftägige Fahrt auf dem Rio São Francisco zu unternehmen, Brasiliens mächtigem und historisch so bedeutsamem Binnenfluß. Ich habe den Itatiaia nicht bestiegen, den dreitausend Meter hohen Berg, von dem man das brasilianische Hochplateau mit seinen Gipfeln bis weit nach Minas Gerais und Rio de Janeiro überschaut. Ich habe nicht das Weltwunder des Iguassú gesehen, der in schäumendem Katarakt die gewaltigsten Wassermassen niederschmettert, und dessen Grandiosität nach den Aussagen der Besucher den Niagara weit übertrifft. Ich bin nicht mit Hacke und Messer in das dumpfe und schillernde Dickicht des Urwalds eingedrungen. Trotz allen Reisens, Schauens, Lernens, Lesens und Suchens bin ich nicht weit über den Rand der Zivilisation in Brasilien hinausgekommen und muß mich trösten mit dem Gedanken, dass ich kaum zwei oder drei Brasilianer traf, die behaupten konnten, die innere und fast undurchdringliche Tiefe ihres eigenen Landes zu kennen, und dass auch Eisenbahn, Dampfboot und Auto mich nicht viel weiter geführt hätten, auch sie machtlos gegen die phantastische Ausdehnung dieses Reiches. Auch endgültige Schlüsse, Voraussagen und Prophezeiungen über die wirtschaftliche, finanzielle und politische Zukunft Brasiliens zu geben, muß ich mir redlicherweise versagen. Wirtschaftlich, soziologisch, kulturell sind Brasiliens Probleme so neu, so eigenartig und vor allem infolge seiner Weiträumigkeit so unübersichtlich geschichtet, dass jedes einzelne einen ganzen Stab von Spezialisten zu gründlicher Erklärung forderte. Ein vollständiger Überblick ist unmöglich in einem Lande, das sich selber noch nicht vollständig überblickt und außerdem sich in einem so stürmischen Wachstum befindet, dass jeder Bericht und jede Statistik schon überholt ist, ehe die Information zur Schrift und diese Schrift zum gedruckten Wort wird. Aus der Fülle der Aspekte sei darum vor allem ein Problem in den Mittelpunkt gestellt, das mir das aktuellste scheint und im Geistigen und Moralischen heute Brasilien einen besonderen Rang unter allen Nationen der Erde gibt.

Dieses Zentralproblem, das sich jeder Generation und somit auch der unseren aufzwingt, ist die Beantwortung der allereinfachsten und doch notwendigsten Frage: wie ist auf unserer Erde ein friedliches Zusammenleben der Menschen trotz aller disparaten Rassen, Klassen, Farben, Religionen und Überzeugungen zu erreichen? Es ist das Problem, das an jede Gemeinschaft, jeden Staat immer wieder von neuem gebieterisch herantritt. Keinem Lande hat es sich durch eine besonders komplizierte Konstellation gefährlicher gestellt als Brasilien, und keines hat es – und dies dankbar zu bezeugen, schreibe ich dieses Buch – in so glücklicher und vorbildlicher Weise gelöst wie Brasilien. In einer Weise, die nach meiner persönlichen Meinung nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern auch die Bewunderung der Welt für sich fordert.

Denn seiner ethnologischen Struktur gemäß müßte, sofern es den europäischen Nationalitäten- und Rassenwahn übernommen hätte, Brasilien das zerspaltenste, das unfriedlichste und unruhigste Land der Welt sein. Noch sind mit freiem Blick schon auf Straße und Markt die verschiedenen Rassen deutlich erkennbar, aus denen die Bevölkerung geformt ist. Da sind die Abkömmlinge der Portugiesen, die das Land erobert und kolonisiert haben, da ist die indianische Urbevölkerung, die das Hinterland seit unvordenklichen Zeiten bewohnt, da sind die Millionen Neger, die man in der Sklavenzeit aus Afrika herüberholte, und seitdem die Millionen Italiener, Deutsche und sogar Japaner, die als Kolonisten herüberkamen. Nach europäischer Einstellung wäre zu erwarten, dass jede dieser Gruppen sich feindlich gegen die andere stellte, die früher Gekommenen gegen die später Gekommenen, Weiße gegen Schwarze, Amerikaner gegen Europäer, Braune gegen Gelbe, dass Mehrheiten und Minderheiten in ständigem Kampf um ihre Rechte und Vorrechte einander befeindeten. Zum größten Erstaunen wird man nun gewahr, dass alle diese schon durch die Farbe sichtbar voneinander abgezeichneten Rassen in vollster Eintracht miteinander leben und trotz ihrer individuellen Herkunft einzig in der Ambition wetteifern, die einstigen Sonderheiten abzutun, um möglichst rasch und möglichst vollkommen Brasilianer, eine neue und einheitliche Nation zu werden. Brasilien hat – und die Bedeutung dieses großartigen Experiments scheint mir vorbildlich – das Rassenproblem, das unsere europäische Welt verstört, auf die einfachste Weise ad absurdum geführt: indem es seine angebliche Gültigkeit einfach ignorierte. Während in unserer alten Welt mehr als je der Irrwitz vorherrscht, Menschen »rassisch rein« aufzüchten zu wollen wie Rennpferde oder Hunde, beruht die brasilianische Nation seit Jahrhunderten einzig auf dem Prinzip der freien und ungehemmten Durchmischung, der völligen Gleichstellung von Schwarz und Weiß und Braun und Gelb. Was in anderen Ländern nur auf Papier und Pergament theoretisch festgelegt ist, die absolute staatsbürgerliche Gleichheit im öffentlichen wie im privaten Leben, wirkt sich hier sichtbar im realen Raume aus, in der Schule, in den Ämtern, in den Kirchen, in den Berufen und beim Militär, an den Universitäten, an den Lehrkanzeln: es ist rührend, schon die Kinder, die alle Schattierungen der menschlichen Hautfarbe abwandeln – Schokolade, Milch und Kaffee – Arm in Arm von der Schule kommen zu sehen, und dieses körperliche wie seelische Verbundensein reicht empor bis in die höchsten Stufen, in die Akademien und Staatsämter. Es gibt keine Farbgrenzen, keine Abgrenzungen, keine hochmütigen Schichtungen, und nichts ist für die Selbstverständlichkeit dieses Nebeneinanders charakteristischer, als das Fehlen jedes herabsetzenden Worts in der Sprache. Während bei uns von Nation zu Nation die eine für die andere ein Haßwort oder ein Hohnwort erfand, den Katzelmacher oder den Boche, fehlt hier im Vokabular völlig das entsprechende deprezierende Wort für den nigger oder den Kreolen, denn wer könnte, wer wollte sich hier absoluter Rassenreinheit berühmen? Mag Gobineaus verärgertes Wort, er habe nur einen einzigen Reinrassigen in ganz Brasilien gefunden, den Kaiser Dom Pedro II., Übertreibung sein, so ist doch außer den letzten Neueingewanderten gerade der echte, der rechte Brasilianer gewiss, einige Tropfen heimatlichen Bluts in dem seinen zu haben. Aber Zeichen und Wunder: er schämt sich dessen nicht. Das angeblich destruktive Prinzip der Mischung, dieser Horror, diese »Sünde gegen das Blut« unserer besessenen Rassentheoretiker ist hier bewußt verwertetes Bindemittel einer nationalen Kultur. Auf diesem Fundament hat sich seit vierhundert Jahren sicher und stetig eine Nation erhoben und – Mirakel! – die ständige Durchströmung und gegenseitige Anpassung unter gleichem Klima und gleichen Lebensbedingungen hat einen durchaus individuellen Typus herausgearbeitet, dem alle die von den Rassenreinheitsfanatikern großmäulig angekündigten »zersetzenden« Eigenschaften völlig fehlen. Selten kann man irgendwo in der Welt schönere Frauen und schönere Kinder sehen als bei den Mischlingen, zart im Wuchs, sanft im Gehaben; mit Freude sieht man in dem halbdunklen Gesicht der Studenten Intelligenz gepaart mit einer stillen Bescheidenheit und Höflichkeit. Eine gewisse Weichheit, eine linde Melancholie formt hier einen neuartigen und sehr persönlichen Gegensatz heraus zu dem schärferen und aktiveren Typus des Nordamerikaners. Was sich in dieser Mischung »zersetzt«, sind einzig die vehementen und darum gefährlichen Gegensätze. Diese systematische Auflösung der geschlossenen und vor allem zum Kampf geschlossenen nationalen oder rassischen Gruppen hat die Schaffung eines einheitlichen Nationalbewußtseins unendlich erleichtert, und es ist erstaunlich, wie vollkommen schon die zweite Generation sich nurmehr als Brasilianer empfindet. Immer sind es die Tatsachen in ihrer unableugbaren sichtbaren Kraft, welche die papiernen Theorien der Dogmatiker widerlegen. Darum bedeutet das Experiment Brasilien mit seiner völligen und bewußten Negierung aller Farb- und Rassenunterschiede durch seinen sichtbaren Erfolg den vielleicht wichtigsten Beitrag zur Erledigung eines Wahns, der mehr Unfrieden und Unheil über unsere Welt gebracht hat als jeder andere.

Und nun weiß man auch, warum sich einem die Seele so entlastend entspannt, kaum man dieses Land betritt. Erst vermeint man, diese lösende, beschwichtigende Wirkung sei nur Augenfreude, beglücktes In-sich-Aufnehmen jener einzigartigen Schönheit, die den Kommenden gleichsam mit weich gebreiteten Armen an sich zieht. Bald aber erkennt man, dass diese harmonische Disposition der Natur hier in die Lebenshaltung einer ganzen Nation übergegangen ist. Erst wie etwas Unglaubwürdiges und dann als unendliche Wohltat begrüßt einen, der eben der wahnwitzigen Überreiztheit Europas entflüchtet ist, die totale Abwesenheit jedweder Gehässigkeit im öffentlichen wie im privaten Leben. Jene fürchterliche Spannung, die nun schon seit einem Jahrzehnt an unseren Nerven zerrt, ist hier fast völlig ausgeschaltet; alle Gegensätze, selbst jene im Sozialen, haben hier bedeutend weniger Schärfe und vor allem keine vergiftete Spitze. Hier ist noch nicht die Politik mit all ihren Perfiditäten Angelpunkt des privaten Lebens, nicht Mittelpunkt alles Denkens und Fühlens. Es ist die erste und dann täglich glücklich erneute Überraschung, kaum man dieses Land betritt, in wie freundlicher und unfanatischer Form die Menschen innerhalb dieses riesigen Raums miteinander leben. Unwillkürlich atmet man auf, der Stickluft des Rassen- und Klassenhasses entkommen zu sein in dieser stilleren, humaneren Atmosphäre. Zweifellos, es ist hier mehr Lässigkeit in der Lebensführung. Die Menschen entwickeln unter dem unmerklich erschlaffenden Einfluß des Klimas weniger Stoßkraft, weniger Vehemenz, weniger Dynamik, also gerade die Eigenschaften, die man heutzutage in tragischer Überschätzung als die moralischen Werte eines Volkes anpreist; aber wir, die wir die fürchterlichen Folgen dieser psychischen Überspannungen, dieser Gier und Machtwut am eigenen Schicksal erfahren, genießen diese lindere und gelassenere Form des Lebens als eine Wohltat und ein Glück. Nichts liegt mir ferner als vortäuschen zu wollen, dass alles in Brasilien sich heute schon im Idealzustand befinde. Vieles ist erst im Anbeginn und Übergang. Noch liegt die Lebenshaltung eines Großteils der Bevölkerung weit unter der unseren. Noch sind die technischen, die industriellen Leistungen dieses Fünfzig-Millionen-Volks nur etwa mit denen eines europäischen Kleinstaats zu vergleichen. Noch ist die Verwaltungsmaschinerie nicht ganz eingespielt und zeitigt oft ärgerliche Stockungen. Noch reist man mit ein paar hundert Meilen ins Innere gleichzeitig ins Primitive um ein Jahrhundert zurück. Wer neu in das Land kommt, wird sich im täglichen Leben an kleine Unpünktlichkeiten und Unzuverlässigkeiten, an eine gewisse Laxheit erst anpassen müssen, und gewisse Reisende, die nur vom Hotel und vom Auto aus die Welt sehen, können sich noch den Luxus leisten, mit dem hochmütigen Gefühl zivilisatorischer Überlegenheit zurückzureisen und vieles in Brasilien rückständig oder unzulänglich zu finden. Aber die Ereignisse der letzten Jahre haben unsere Meinung über den Wert der Worte »Zivilisation« und »Kultur« wesentlich geändert. Wir sind nicht mehr willens, sie kurzerhand dem Begriff »Organisation« und »Komfort« gleichzustellen. Nichts hat diesen verhängnisvollen Irrtum mehr gefördert als die Statistik, die als mechanische Wissenschaft berechnet, wieviel in einem Lande das Volksvermögen beträgt, und wie groß der Anteil des einzelnen daran ist, wie viele Autos, Badezimmer, Radios und Versicherungsgebühren pro Kopf der Bevölkerung entfallen. Nach diesen Tabellen wären die hochkultiviertesten und hochzivilisiertesten Völker jene, die den stärksten Impetus der Produktion haben, das Maximum an Verbrauch und die größte Summe an Individualvermögen. Aber diesen Tabellen fehlt ein wichtiges Element, die Einrechnung der humanen Gesinnung, die nach unserer Meinung den wesentlichsten Maßstab von Kultur und Zivilisation darstellt. Wir haben gesehen, dass die höchste Organisation Völker nicht verhindert hat, diese Organisation einzig im Sinne der Bestialität statt in jenem der Humanität einzusetzen, und dass unsere europäische Zivilisation im Lauf eines Vierteljahrhunderts zum zweiten Male sich selber preisgegeben hat. So sind wir nicht mehr gewillt, eine Rangordnung anzuerkennen im Sinne der industriellen, der finanziellen, der militärischen Schlagkraft eines Volkes, sondern das Maß der Vorbildlichkeit eines Landes anzusetzen an seiner friedlichen Gesinnung und seiner humanen Haltung.

In diesem – meiner Meinung nach dem wichtigsten – Sinne scheint mir Brasilien eines der vorbildlichsten und darum liebenswertesten Länder unserer Welt. Es ist ein Land, das den Krieg haßt und noch mehr: das ihn soviel wie gar nicht kennt. Seit mehr als einem Jahrhundert hat mit Ausnahme jener Paraguay-Episode, die von einem tollgewordenen Diktator sinnlos provoziert wurde, Brasilien alle Grenzkonflikte mit seinen Nachbarn durch gütliche Vereinbarungen und Appell an internationale Schiedsgerichte ausgetragen. Nicht Generäle sind sein Stolz und seine Helden, sondern die Staatsmänner wie Rio Branco, die durch Vernunft und Konzilianz Kriege zu verhindern wußten. Ganz in sich geschlossen, die Sprachgrenze eins mit der Landesgrenze, hat es keinerlei Eroberungswillen, keine imperialistischen Tendenzen. Kein Nachbar kann von ihm etwas fordern, und es fordert nichts von seinen Nachbarn. Nie ist der Friede der Welt durch seine Politik bedroht gewesen, und selbst in einer unberechenbaren Zeit wie der unseren kann man sich nicht ausdenken, dass dieses Grundprinzip seines nationalen Gedankens, dieser Wille zur Verständigung und Verträglichkeit sich jemals verändern könnte. Denn dieser Wille zur Konzilianz, diese humane Haltung ist nicht zufällige Gesinnung einzelner Herrscher und Führer gewesen; er ist hier das natürliche Produkt eines Volkscharakters, der eingeborenen Toleranz des Brasilianers, die sich im Laufe seiner Geschichte immer wieder bewährt hat. Als einzige der iberischen Nationen hat Brasilien keine blutigen Religionsverfolgungen gekannt, nie haben hier die Scheiterhaufen der Inquisition geflammt, in keinem Lande sind die Sklaven verhältnismäßig humaner behandelt worden. Selbst seine inneren Umstürze und Regierungsänderungen haben sich beinahe unblutig vollzogen. Der König und die zwei Kaiser, die sein Wille zur Selbständigkeit aus dem Lande drängte, haben es ohne jede Behelligung und darum ohne Haß verlassen. Selbst nach niedergeschlagenen Aufständen und Putschen haben seit Brasiliens Selbständigkeit die Anführer den Preis nicht mit ihrem Leben bezahlt. Wer immer dieses Volk regierte, war unbewußt genötigt, sich dieser inneren Konzilianz anzupassen; es ist kein Zufall, dass es – unter allen Ländern Amerikas jahrzehntelang die einzige Monarchie – als Kaiser den demokratischsten, den liberalsten aller gekrönten Regenten gehabt hat und heute, da es als Diktatur gilt, mehr individuelle Freiheit und Zufriedenheit kennt als die meisten unserer europäischen Länder. Darum beruht auf der Existenz Brasiliens, dessen Willen einzig auf friedlichen Aufbau gerichtet ist, eine unserer besten Hoffnungen auf eine zukünftige Zivilisierung und Befriedung unserer von Haß und Wahn verwüsteten Welt. Wo aber sittliche Kräfte am Werke sind, ist es unsere Aufgabe, diesen Willen zu bestärken. Wo wir in unserer verstörten Zeit noch Hoffnung auf neue Zukunft in neuen Zonen sehen, ist es unsere Pflicht, auf dieses Land, auf diese Möglichkeiten hinzuweisen.

Und darum schrieb ich dieses Buch.

Geschichte

Tausende und tausende Jahre liegt das riesige brasilianische Land mit seinen dunkelgrünen, rauschenden Wäldern, seinen Bergen und Flüssen und dem rhythmisch anklingenden Meer unbekannt und namenlos. Am Abend des 22. April 1500 leuchten mit einemmal einige weiße Segel am Horizont; breitbäuchige, schwere Caravellen, das portugiesische Rotkreuz auf den Segeln, nahen heran, und am nächsten Tage legen die ersten Boote an dem fremden Strande an.

Es ist die portugiesische Flotte unter dem Kommando des Pedro Álvares Cabral, die im März 1500 von der Mündung des Tajo ausgefahren ist, um die unvergeßliche, von Camões in den »Lusiaden« besungene Fahrt Vasco da Gamas, dieses feito nunca feito rings um das Kap der Guten Hoffnung nach Indien zu wiederholen. Angeblich haben widrige Winde die Schiffe von Vasco da Gamas Wege längs der afrikanischen Küste so weit fortgetrieben zu dieser unbekannten Insel – denn Ilha de Santa Cruz nennt man diese Küste zuerst, deren Ausdehnung man noch nicht ahnt. Die Entdeckung Brasiliens scheint also – sofern man die Reisen Alfonso Pinzons, der in die Nähe des Amazonenstromes kam, und die zweifelhafte Vespuccis nicht als Vorentdeckung rechnet – bloß durch eine absonderliche Fügung von Wind und Wellen Portugal und Pedro Álvares Cabral zugefallen zu sein. Die Historiker sind freilich längst nicht mehr geneigt, diesem »Zufall« Glauben zu schenken, denn Cabral führte den Piloten Vasco da Gamas mit sich, der genau den nächsten Weg kannte, und die Fabel von den widrigen Winden wird hinfällig durch das Zeugnis des an Bord anwesenden Pêro Vaz de Caminha, der ausdrücklich bestätigt, sie seien vom Kap Verde weitergesegelt, sem haver tempo forte ou contrario. Es muß also, da kein Sturm sie so weit nach Westen hinübertrieb, dass sie plötzlich statt am Kap der Guten Hoffnung in Brasilien landeten, eine bestimmte Absicht oder – was noch wahrscheinlicher ist – ein geheimer Befehl seines Königs Cabral veranlaßt haben, den Kurs so weit nach Westen zu nehmen; dies legt die Wahrscheinlichkeit nahe, dass die portugiesische Krone schon lange vor der offiziellen Entdeckung von der Existenz und der geographischen Lage Brasiliens geheime Kenntnis gehabt hat. Hier liegt noch ein großes Geheimnis verborgen, dessen Dokumente durch die Vernichtung der Archive bei dem Erdbeben von Lissabon für alle Zeiten verschwunden sind, und die Welt wird wahrscheinlich nie den Namen des ersten und wirklichen Entdeckers wissen. Anscheinend war sofort nach der Entdeckung Amerikas durch Columbus ein portugiesisches Schiff auf Erkundung dieses neuen Erdteils ausgeschickt worden und mit neuer Botschaft zurückgekommen; oder – auch dafür gibt es gewisse Anhaltspunkte – schon ehe Columbus Audienz nahm, wusste die portugiesische Krone mehr oder minder Bestimmtes von diesem Lande im fernen Westen. Aber was immer Portugal wusste, hütete es sich wohl, den eifersüchtigen Nachbarn bekanntzugeben; im Zeitalter der Entdeckungen behandelte die Krone jede neue Nachricht über nautische Erkundungen als militärisches oder kommerzielles Staatsgeheimnis, auf dessen Verlautbarung an fremde Mächte Todesstrafe stand. Karten, Portolane, Schiffsrouten, Pilotenberichte wurden ebenso wie Gold und Edelsteine als Kostbarkeiten in der Tesouraria, der Schatzkammer Lissabons, verschlossen, und besonders in diesem Falle war eine vorzeitige Verlautbarung untunlich, denn nach der päpstlichen Bulle Inter caetera gehörten noch alle Gebiete hundert Meilen westlich von Kap Verde rechtmäßig den Spaniern zu. Eine offizielle Entdeckung jenseits dieser Zone hätte zu dieser frühen Stunde nur den Besitz des Nachbarn, nicht den eigenen gemehrt. Es lag also keineswegs im Interesse Portugals, eine solche Entdeckung (wenn sie tatsächlich stattgefunden hat) vorzeitig zu melden. Erst mußte rechtmäßig gesichert sein, dass dieses neue Land nicht Spanien, sondern der portugiesischen Krone gehöre, und dies hatte sich mit auffälliger Voraussicht Portugal durch den Vertrag von Tordesillas gesichert, der am 7. Juni 1494, also kurz nach der Entdeckung Amerikas, die portugiesische Zone von den ursprünglichen hundert léguas auf 370 westlich von Kap Verde hinausschob – gerade soviel also, um die angeblich noch nicht entdeckte Küste Brasiliens okkupieren zu können. Wenn dies ein Zufall gewesen, so war es jedenfalls einer, der sich merkwürdig mit der sonst unerklärlichen Abweichung Pedro Álvares Cabrals von dem natürlichen Kurse paart.

Diese Hypothese mancher Historiker von einer früheren Kenntnis Brasiliens und einer geheimen Instruktion des Königs an Cabral, derart weit nach Westen abzuschwenken, damit er dort durch einen »wunderbaren Zufall« – milagrosamente, wie er an den König von Spanien schreibt – das neue Land entdecken könne, gewinnt überdies viel an Glaubwürdigkeit durch die Art, mit der der Chronist der Flotte, Pêro Vaz de Caminha, dem König von der Auffindung Brasiliens Bericht erstattet. Er äußert keinerlei Erstaunen oder Begeisterung, unvermutet auf neues Land gestoßen zu sein, sondern verzeichnet bloß trocken die Tatsache als eine Selbstverständlichkeit; ebenso äußert der zweite, unbekannte Chronist nur che ebbe grandissimo piacere. Kein Wort des Triumphes, keine der bei Columbus und seinen Nachfolgern üblichen Vermutungen, dass man damit Asien erreicht hätte – nichts als kalte Notiz, die eher ein bekanntes Faktum zu bestätigen als ein neues anzukündigen scheint. So kann Cabral sein Ruhm, als erster Brasilien entdeckt zu haben, der ihm ohnehin durch Pinzons Landung nördlich des Amazonenstroms schon streitig gemacht wird, vielleicht noch durch späteren dokumentarischen Fund endgültig entzogen werden; solange uns dieses Dokument fehlt, muß jener 22. April 1500 als der Tag des Eintritts dieser neuen Nation in die Weltgeschichte gelten.

Der erste Eindruck des neuen Landes auf die gelandeten Seeleute ist ausgezeichnet: fruchtbare Erde, milde Winde, frisches, trinkbares Wasser, reichliche Früchte, eine freundliche, ungefährliche Bevölkerung. Wer immer in den nächsten Jahren in Brasilien landet, wiederholt die hymnischen Worte Amerigo Vespuccis, der, ein Jahr nach Cabral dort eintreffend, ausruft: »Wenn irgendwo auf Erden das irdische Paradies existiert, so kann es nicht weit von hier gelegen sein!« Die Einwohner, die den Entdeckern im Unschuldskleid der Nacktheit in den nächsten Tagen entgegentreten und ihre unbedeckten Körper »com tanta innocencia como o rostro«, mit ebensoviel Unbefangenheit wie ihr Gesicht darbieten, bereiten ihnen freundlichen Empfang. Neugierig und friedlich drängen die Männer heran, aber insbesondere sind es die Frauen, die durch ihre Wohlgebautheit und (auch von allen späteren Chronisten dankbar gerühmte) rasche und wahllose Gefälligkeit die Seefahrer die Entbehrungen vieler Wochen vergessen lassen. Zu einer wirklichen Erforschung oder Besetzung des inneren Landes kommt es vorläufig noch nicht, denn Cabral muß nach Erfüllung seines geheimen Auftrags möglichst rasch an sein offizielles Ziel, nach Indien weiter. Am 2. Mai, nach einem Aufenthalt von im ganzen zehn Tagen, steuert er nach Afrika hinüber, nachdem er Gaspar de Lemos Befehl gegeben, mit einem Schiff die Küste nordwärts entlangzukreuzen und dann mit der Nachricht über das aufgefundene Land und einigen Proben seiner Früchte, Pflanzen und Tiere nach Lissabon zurückzukehren.

Die Meldung, daß die Flotte Cabrals dieses neue Land, sei es in Erfüllung geheimen Auftrages, sei es durch bloßen Zufall erreicht hat, wird im königlichen Palast wohlgefällig, aber ohne richtige Begeisterung aufgenommen. Man meldet sie in offiziellen Briefen an den König von Spanien weiter, um sich den Rechtstitel des Besitzes zu wahren, jedoch die Mitteilung, daß dies neue Land sem ouro nem prata, nem nenhuma cousa de metal sei, gibt dem Funde zunächst wenig Wert. Portugal hat in den letzten Jahrzehnten so viele Länder entdeckt und einen so gewaltigen Teil des Weltalls in Besitz genommen, daß die Aufnahmsfähigkeit des kleinen Landes eigentlich völlig erschöpft ist. Der neue Seeweg nach Indien sichert ihm das Gewürzmonopol und damit allein schon unermeßlichen Reichtum; man weiß in Lissabon, daß in Calicut, in Malakka die seit Hunderten von Jahren sagenhaft gewordene Pracht an Edelsteinen, kostbaren Stoffen, Porzellan und Spezereien für einen kühnen Zugriff bereitliegt, und die Ungeduld, mit einem Ruck diese ganze Welt überlegener Kultur und orientalischer Pracht an sich zu reißen, treibt Portugal zu einer Anspannung des Wagemuts und des Heroismus, wie sie in der Weltgeschichte kaum ihresgleichen hat. Selbst die »Lusiaden«, dieses Heldengedicht, vermögen kaum dieses Abenteuer, diesen neuen Alexanderzug begreiflich zu machen, den eine Handvoll Menschen unternimmt, um mit einem Dutzend winziger Schiffe gleichzeitig drei Erdteile und noch dazu den ganzen unbekannten Ozean zu erobern. Denn das kleine arme Portugal, kaum zweihundert Jahre erst der arabischen Herrschaft entrungen, besitzt kein bares Geld, immer wenn er eine Flotte ausrüstet, muß der König im voraus den Ertrag Wechslern und Händlern verpfänden. Es hat außerdem nicht genug Soldaten, um gleichzeitig die Araber, die Inder, die Malaien, die Afrikaner, die Wilden, zu bekriegen und an allen Orten der drei Erdteile Niederlassungen und Festungen zu errichten. Und doch, wie durch ein Wunder holt Portugal aus sich alle diese Kräfte heraus. Ritter, Bauern und, wie Columbus einmal ärgerlich klagt, sogar »Schneider« verlassen ihre Häuser, ihre Frauen, ihre Kinder, ihre Berufe und strömen aus dem ganzen Land zu den Häfen, und es schreckt sie nicht, daß nach Barros’ berühmtem Wort »der Ozean das häufigste Grab der Portugiesen« wird. Denn das Wort Indien hat magische Macht. Der König weiß, ein Schiff, das von diesem Golkonda zurückkehrt, zahlt für zehn, die verlorengehen, ein Mann, der die Stürme, die Schiffbrüche, die Kämpfe, die Krankheiten übersteht, ist reich für sich und seine Nachfahren. Nun, da die Tür gesprengt ist zur Schatzkammer der damaligen Welt, will keiner in der pequena casa des Vaterlands zurückbleiben, und die Einhelligkeit dieses Willens gibt Portugal eine Ekstase der Kraft und des Muts, die für ein Jahrhundert das Unmögliche möglich, das Unwahrscheinliche zur Wahrheit macht.

In diesem Tumult der Leidenschaften wird ein so welthistorisches Geschehnis wie die Entdeckung Brasiliens kaum bemerkt, und nichts ist für die Geringschätzung dieser Tatsache charakteristischer, als daß Camões in seinem Heldengedicht unter den Tausenden von Zeilen nicht mit einer einzigen der Auffindung oder Existenz Brasiliens überhaupt Erwähnung tut. Die Seeleute Vasco da Gamas haben kostbare Stoffe mitgebracht, Juwelen, Edelsteine und Gewürze und vor allem die Nachricht, daß tausendmal und tausendmal mehr an solcher Beute in den Palästen der Zamorins und der Radjahs bereitliegt. Wie arm dagegen ist die Beute des Gaspar de Lemos – ein paar bunte Papageien, einige Proben Holz, ein paar Früchte und die ernüchternde Kunde, daß man den nackten Menschen dort nichts nehmen könnte. Er hat kein Staubkörnchen Gold gebracht, keinen einzigen Edelstein, keine Gewürze, nichts von diesen Kostbarkeiten, von denen eine Handvoll wertvoller ist als ganze Wälder Brasilholz, Schätze, die sich mit ein paar Schwerthieben, ein paar Kanonenschüssen leicht erraffen lassen, während die Baumstämme erst gefällt werden müssen, ehe man sie versägen, verschiffen und dann verkaufen kann. Wenn diese Ilha oder Terra de Santa Cruz Reichtümer enthält, so können es nur potentielle sein, Reichtümer, die in jahrelanger mühsamer Arbeit der Erde entrungen werden müssen. Aber Portugals König braucht raschen, greifbaren Gewinn, um die Schulden zu zahlen. Erst also Indien, Afrika, die Molukken, den Orient! So wird Brasilien die Cordelia dieses König Lear, die mißachtete der drei Schwestern Asien, Afrika und Amerika und doch die einzige, die ihm in der Stunde der Not die Treue halten wird.

Es entspricht also nur der harten Logik der Notwendigkeiten, daß sich das von seinen phantastischen Erfolgen berauschte Portugal zunächst kaum um Brasilien kümmert; der Name dringt nicht ins Volk, er beschäftigt nicht die Phantasie. Die deutschen und italienischen Geographen zeichnen die Linie der Küste als Brassil oder Terra dos Papagaios auf gut Glück in ihre Landkarten ein, aber die Terra de Santa Cruz, dieses leere grüne Land hat nichts, um Anziehung auf Seeleute oder Abenteurer zu üben. Doch wenn König Manuel weder Zeit noch Neigung hat, dieses neue Land richtig zu nützen und zu schützen, so ist er doch gleichzeitig nicht gewillt, auch nur einen Fußbreit dieser Erde andern zu gönnen, weil Brasilien ihm den Seeweg nach Indien schützt und weil vor allem Portugal in seinem Rausch von Glück und Eroberungslust mit seiner kleinen Hand am liebsten die ganze Erde decken möchte. Zäh, ausdauernd und geschickt kämpft er mit Spanien um die Anerkennung, daß dies Gebiet nach dem Vertrage von Tordesillas in seine Zone falle; beinahe kommt es zwischen den beiden Ländern zum Konflikt um eines Landes willen, das keines von ihnen wirklich will und braucht, denn beide wollen sie nur Edelsteine und Gold. Aber rechtzeitig sehen beide ein, wie sinnlos es wäre, gegeneinander die Waffen zu wenden, wo sie jeden Mann und jede Bleikugel benötigen, um die plötzlich ihnen vom Himmel zugefallenen neuen Welten auszuplündern. 1506 kommt es zu einer Einigung, die Portugal sein bisher bloß platonisch ausgeübtes Recht auf Brasilien bestätigt.

Von Spanien, dem mächtigen Nachbarn, ist nun keinerlei Gefahr mehr zu befürchten. Aber die Franzosen, die bei der Teilung der Erde zwischen Spanien und Portugal zu kurz gekommen sind, beginnen diesem noch unbesiedelten und unorganisierten Stück breiter, schöner Erde zusehends ihre Aufmerksamkeit zu widmen. Immer häufiger erscheinen Schiffe aus Dieppe und Le Havre, um Brasilholz zu holen, und Portugal hat in den Hafenplätzen noch keine Schiffe, keine Soldaten, um piratischen Eingriffen zu wehren. Sein Rechtstitel ist nur ein papierner, und mit einem einzigen raschen Handstreich, mit fünf, vielleicht sogar bloß mit drei bewaffneten Schiffen könnte sich Frankreich, wenn es wollte, der ganzen Kolonie bemächtigen. Um die weitgestreckte Küste zu verteidigen, tut also eines not: sie zu besiedeln. Wenn die Krone Brasilien zu einem portugiesischen Land machen und es sich als Krongut erhalten will, muß sie sich entschließen, Portugiesen hinüberzuschicken. Das Land mit seinem riesigen Raum, mit seinen unbeschränkten Möglichkeiten will Hände und braucht Hände, und jede neue, die kommt, winkt hinüber, um neue und neue zu fordern. Von Anfang an, durch die ganze Geschichte Brasiliens, wiederholt sich dieser Ruf: Menschen, mehr Menschen! Es ist wie die Stimme der Natur, die wachsen und sich entfalten will und zu ihrem wahren Sinn, zu ihrer Größe, den notwendigen Helfer, den Menschen, braucht.

Aber wie Kolonisten finden in dem kleinen, schon halb ausgebluteten Lande? Portugal hat zu Beginn seiner Eroberungszeit höchstens dreihunderttausend erwachsene Männer, davon sind ein gutes Zehntel, die stärksten, die besten, die mutigsten mit den Armadas und von diesem Zehntel neun Zehntel schon dem Meer, den Kämpfen, den Krankheiten zum Opfer gefallen. Immer schwerer wird es, obwohl die Dörfer schon entvölkert, die Felder verödet sind, Soldaten und Matrosen zu finden, und selbst unter der Gilde der Abenteuerlustigen will keiner nach Brasilien. Die vitalste, die tapferste Schicht des Landes, die Fidalgos, die Adeligen und Soldaten weigert sich; sie wissen, daß in der Terra de Santa Cruz kein Gold zu holen ist, keine Edelsteine, kein Elfenbein und nicht einmal Ruhm. Die Gelehrten wiederum, die Intellektuellen, was sollen sie tun dort im Leeren, abgeschnitten von aller Kultur, die Händler, die Kaufleute, was sollen sie handeln in einem Land mit nackten Kannibalen, was heimbringen in umständlichem Hin und Her, wo doch eine einzige Fracht von den Molukken tausendfach das Risiko lohnt? Selbst die ärmsten portugiesischen Bauern ziehen vor, die eigene Erde zu bestellen, statt sich in diese fremde und unbekannte der Kannibalen zu wagen. Kein Mann von Adel und Rang, von Reichtum und Kultur zeigt also die mindeste Neigung, sich nach diesen leeren Küsten einzuschiffen, und so sind, was in den allerersten Jahren in Brasilien haust, kaum mehr als ein paar gestrandete Seeleute, ein paar Abenteurer und Deserteure von Schiffen, die durch Zufall oder Trägheit dort zurückgeblieben sind und ihr Bestes zu einer raschen Besiedlung ausschließlich dadurch tun, daß sie dort unzählige Mischlinge, die sogenannten Mamelucos zeugen – einem einzigen werden dreihundert zugeschrieben; aber im ganzen bleiben sie doch nur ein paar hundert Europäer in einem Land, dessen bekanntes Ausmaß damals schon fast so groß ist wie Europa.

So ergibt sich zwingend die Notwendigkeit, der Einwanderung mit Gewalt und Organisation nachzuhelfen. Portugal wendet dafür die schon in Spanien erprobte Methode der Deportation an, indem alle Alcalden des Landes aufgerufen werden, Übeltäter nicht mehr zu richten, sofern sie sich bereit erklären, nach dem neuen Weltteil zu fahren. Wozu die Gefängnisse überfüllen und Verbrecher jahrelang auf Staatskosten verpflegen? Besser, man schickt die degregados auf Nimmerwiederkehr über das Meer in das neue Land; dort können sie am Ende noch nützlich sein. Wie immer ist es scharfer, nicht ganz reinlicher Dünger, der eine Erde am besten für künftige Ernte reif macht.

Die einzigen Kolonisten, die freiwillig kommen, nicht aus Ketten, ohne Brandmal und richterliches Verdikt, sind die Cristãos Novos, die frischgetauften Juden. Aber auch sie kommen nicht ganz freiwillig, sondern aus Vorsicht und Angst. Sie haben in Portugal mehr oder minder aufrichtig die Taufe genommen, um dem Scheiterhaufen zu entgehen, fühlen sich jedoch mit Recht im Schatten Torquemadas nicht mehr sicher. Besser also rechtzeitig hinüber in ein neues Land, solange die grimmige Hand der Inquisition noch nicht über den Ozean zu greifen vermag. Geschlossene Gruppen solcher getaufter und auch ungetaufter Juden lassen sich in den Hafenstädten nieder als die eigentlich ersten bürgerlichen Ansiedler; diese cristãos novos werden die ältesten Familien von Bahia und Pernambuco und gleichzeitig die ersten Organisatoren des Handels. Mit ihrer Kenntnis des Weltmarkts sorgen sie für die Fällung und Verschiffung des pau vermelho, des Brasilholzes, das damals den einzigen Ausfuhrartikel Brasiliens bildete, und dessen Handelskonzession einer der Ihren, Fernando de Noronha, vom König laut Vertrag auf längere Frist erworben hat. Nicht nur portugiesische, sondern auch ausländische Schiffe kommen jetzt ziemlich regelmäßig, um diese seltene Fracht zu holen, und allmählich bilden sich von Pernambuco bis Santos kleine Hafensiedlungen als Urzellen der künftigen Städte. Inzwischen sind in verschiedenen Expeditionen kleine und größere Flotten bis zum Rio de la Plata vorgestoßen und haben die Gemarkung der Küste vorgenommen. Aber noch immer liegt unbekannt und ohne Grenzen hinter dem schmalen Streifen, der für die damalige Welt Brasilien bedeutet, das ganze riesige Land.

Langsam geht es vorwärts in den ersten drei Jahrzehnten und gefährlich langsam. Immer mehr fremde Schiffe besuchen – nach der Auffassung Portugals: widerrechtlich – die neuen Häfen, um Holz zu holen. 1530 entschließt sich der König endlich, um Ordnung zu schaffen, eine kleine Flotte hinüberzusenden unter Martim Alfonso de Sousa, der sofort drei französische Schiffe in flagranti ertappt und als ersten Eindruck dem Könige meldet, was bisher jeder gemeldet: Brasilien muß besiedelt werden, sonst geht es der Krone verloren. Wie immer aber seit Beginn der heroischen Zeit sind die Kassen leer; die Besatzungen in Indien, die Festungen in Afrika, die Aufrechterhaltung des militärischen Prestiges, kurzum, der portugiesische Imperialismus zieht alles Kapital und alle Tatkraft an sich. So muß ein neues Experiment versucht werden, de povoar a terra, oder vielmehr eines, das sich auf den Azoren und Kap Verde bereits bewährt hat: die Förderung der Kolonisierung durch Privatinitiative. Das soviel wie unbewohnte Land wird in zwölf capitanias aufgeteilt und jede einem Manne mit vollem Erbrecht zugeteilt, der sich verpflichten muß – was schon in seinem eigenen Interesse liegt – diesen Strich Land oder vielmehr dieses Reich kolonisatorisch zu entwickeln. Denn was diese Capitane zugeteilt bekommen, sind wirkliche Reiche, jedes so groß wie Frankreich oder Spanien. Ein Adeliger, der in Portugal nichts besitzt, ein Offizier, der sich in den Kämpfen in Indien bewährt hat und Belohnung verlangt, ein Geschichtsschreiber wie João de Barros, dem der König Dank schuldig ist, sie alle erhalten jeder mit einem Federstrich ein Zwölftteil Brasilien, also eine phantastische Region, in der Erwartung, daß sie nun ihrerseits Menschen hinüberziehen würden und damit das verliehene Land wirtschaftlich kultivieren und indirekt dem Heimatland erhalten.

Dieser erste Versuch, in die ganz zufällige und zersplitterte Art der Besiedlung eine gewisse Methode zu bringen, ist großzügig gedacht. Die Vorteile für die donatários sind unermeßlich; außer dem Münzrecht sind ihnen bei geringen Pflichten alle Rechte eines souveränen Fürsten eingeräumt; wüßten sie wirklich ein Volk nach sich zu ziehen, so müßten ihre Kinder und Enkel gleichwertig sein allen Monarchen Europas. Aber die Beschenkten sind zumeist ältere Leute, die das Beste ihrer Energie längst in königlichem Dienst verbraucht haben; sie nehmen zwar das verliehene Land als Erbschaft für Kinder und Kindeskinder an, ohne es aber mit tatkräftiger Arbeit für sich selbst wertvoll zu gestalten. In den nächsten Jahrzehnten erweist es sich, daß nur zwei der Capitanias, die von São Vincente und Pernambuco – NovaLusitânia genannt – dank der rationellen Zuckeranpflanzung prosperieren. Die anderen geraten durch Gleichgültigkeit ihrer Besitzer, durch Mangel an Kolonisten, durch die Feindseligkeit der Eingeborenen und verschiedene Katastrophen zu Wasser und zu Land bald in einen anarchischen Zustand. Die ganze Küste droht in Stücke zu zerfallen; abgesondert voneinander, ohne Übereinkommen, ohne gemeinschaftliches Gesetz, ohne Kriegsmacht, ohne Befestigungen und Soldaten liegen die Capitanias jeder feindlichen Macht, ja sogar jedem einzelnen verwegenen Korsaren täglich zur Beute bereit. Und verzweifelt schreibt am 12. Mai 1548 Luís de Góis an den König: »Wenn Eure Majestät nicht in kürzester Zeit den Capitanias an der Küste zur Hilfe kommen, werden nicht nur wir unser Leben und unsere Besitzungen verlieren, sondern auch Eure Majestät das ganze Land.« Wenn Portugal nicht Brasilien einheitlich organisiert, ist Brasilien verloren. Nur ein entschlossener Vertreter des Königs, ein governador geral, der auch militärische Macht mit sich bringt, kann Ordnung schaffen und rechtzeitig die abbröckelnden Stücke in eine Einheit zusammenschweißen.

Es bedeutet eine große Entscheidung in der Geschichte Brasiliens, daß der König João III. den Hilferuf rechtzeitig erhört und als Gouverneur Tomé de Sousa, einen schon in Afrika und Indien bewährten Mann, am 1. Februar 1549 mit dem Auftrag entsendet, an irgendeiner Stelle, am besten in Bahia, eine Hauptstadt zu begründen, von der aus das ganze Land endlich einheitlich verwaltet werden soll.

Tomé de Sousa bringt außer der erforderlichen Beamtenschaft sechshundert Soldaten und vierhundert Degredados mit, die alle späterhin in der Stadt oder auf dem Lande sich ansiedeln werden. Auch das Nötigste an Material für den Aufbau der Stadt wird ausgeschifft, und sofort macht sich alles gemeinsam ans Werk; in vier Monaten wird eine Festungsmauer errichtet, um den Platz zu verteidigen, Häuser und Kirchen werden errichtet, wo vordem nur klägliche Lehmhütten gestanden. Eine koloniale und eine städtische Verwaltung wird in dem vorläufig noch höchst provisorischen Palácio do Governo eingerichtet und als sichtbarstes Zeichen einer endlich eingeführten und schon höchst notwendigen Justiz ein cárcere erbaut, erster mahnender Hinweis auf den Willen zu strenger künftiger Ordnung. Alle sollen fühlen, daß sie nicht mehr Ausgesetzte, Vergessene, Exilierte und Heimatlose sind jenseits von Recht und Pflicht, sondern angeschlossen an das heimische Gesetz. Mit der Gründung einer Hauptstadt und der Einsetzung eines Gouverneurs hat der bisher bloß amorphe Organismus Brasilien ein Herz und ein Hirn gewonnen.

Sechshundert Soldaten oder Matrosen und vierhundert Degredados nimmt Tomé de Sousa mit sich, tausend Männer im Harnisch oder rauhen Arbeitshemd; aber wichtiger als diese tausend Männer des Arms und der Kraft werden für das Schicksal Brasiliens die sechs Männer in schlichten dunklen Kutten sein, die der König zu geistiger Führung und geistlicher Beratung Tomé de Sousa mitgegeben. Denn diese sechs Männer bringen das Kostbarste, was ein Volk und ein Land zu seiner Existenz benötigt: eine Idee und zwar die eigentlich schöpferische Idee Brasiliens. Diese sechs Jesuiten haben eine neue und noch ganz unverbrauchte Energie, denn ihr Orden ist jung und voll heiligen Eifers, seinen besonderen Sinn zu bewähren. Noch lebt der Führer Ignacio de Loyola, der ihn begründet, noch gibt sein asketischer Wille, seine eherne Denkkraft, sein zielklarer Fanatismus ihnen sinnliches, sichtliches Beispiel der Selbstdisziplin; wie bei allen religiösen Bewegungen ist bei den Jesuiten die seelische Intensität, die sittliche Reinheit in den Jahren des Anfangs und vor dem eigentlichen Erfolg auf der höchsten Stufe. 1550 sind die Jesuiten noch keine geistliche, weltliche, politische, ökonomische Macht wie in den späteren Jahrhunderten – denn jede Form von Macht vermindert die moralische Reinheit eines Menschen wie einer Partei. Besitzlos in jedem Sinne der einzelne wie der Orden, verkörpern sie nur einen bestimmten Willen, also ein durchaus noch geistiges, noch nicht ins Irdische ganz eingemengtes Element. Und sie kommen zur besten Stunde, denn für ihre großartige Konzeption, durch geistige Kriegerschaft die religiöse Einheit der Welt wiederherzustellen, bedeutet die Entdeckung der neuen Erdteile einen unerhörten Gewinn. Seit 1519 der wilde Deutsche auf dem Reichstag von Worms den religiösen Weltkrieg entfachte, ist Europa schon zu einem Drittel und beinahe zur Hälfte von der Kirche abgefallen und der Katholizismus, einstmals die ecclesia universalis, eher in die Verteidigungsstellung gedrängt. Welcher Vorteil darum, wenn man die neuen Welten, die sich plötzlich aufgetan haben, rechtzeitig für den alten, den wahren Glauben erobern und damit gleichsam eine zweite und breitere Front hinter der ersten schaffen könnte! Da die Jesuiten nichts fordern, keine Besoldung, keine Bevorzugung, billigt der König João ihre Absicht, dies neue Land für den Glauben zu gewinnen und gestattet sechs dieser »Soldaten Christi«, die Expedition zu begleiten. Aber in Wirklichkeit werden diese Sechs nicht die Begleiter, sondern die Führer sein.

Mit diesen sechs Männern beginnt etwas Neues für Brasilien. Alle vor ihnen waren entweder auf Befehl oder aus Zwang oder auf der Flucht gekommen; wen bislang ein Schiff absetzte an diesem Strand, der wollte etwas aus diesem Lande herausholen, Holz oder Früchte oder Vögel oder Erze oder Menschen; keiner hatte daran gedacht, dem Lande etwas als Gegengabe zu bringen. Die Jesuiten, das sind die ersten, die nichts für sich und alles für das Land wollen. Sie führen Pflanzen und Tiere mit sich, um die Erde zu befruchten, sie bringen Medizinen, um die Menschen zu heilen, Bücher und Instrumente, um die Ungebildeten zu belehren, sie bringen ihren Glauben und die von ihrem Lehrer disziplinierte sittliche Zucht, sie bringen vor allem eine neue Idee, die größte kolonisatorische Idee der Geschichte. Vor ihnen bei den barbarischen Völkern und neben ihnen unter dem spanischen Regime bedeutet Kolonisieren entweder die Eingeborenen ausrotten oder zu Tieren machen; Entdeckung ist sonst für die Konquistadorenmoral des sechzehnten Jahrhunderts identisch mit Eroberung, Unterordnung, Unterjochung, Entrechtung, Versklavung. Sie dagegen als os únicos homens disciplinados do seu tempo