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Undercover in Nordkorea Washington D.C.: Niemand kennt das verbotene Land so gut wie Jenna Williams. Als die CIA sie für eine tödliche Mission in Nordkorea erwählt, will sie nur eins: Ihre Zwillingsschwester finden, die vor zwölf Jahren spurlos verschwand. Ein Dorf in der nordkoreanischen Provinz: Bäuerin Moon kämpft täglich ums Überleben. Sie hat schon alles gesehen, und sie hat nichts zu verlieren. Doch erst, als eine der Marktfrauen verhaftet wird, entwickelt sich Moon zur Stimme des Widerstands. Pjöngjang: Anlässlich einer Beförderung wird die Familiengeschichte des Parteifunktionärs Cho durchleuchtet. Was dabei ans Licht kommt, lässt den linientreuen Anhänger Kim Jong-Ils alles in Frage stellen, woran er jemals geglaubt hat. Drei Blickwinkel auf ein abgeschottetes Land. Drei Schicksale, die sich in einem explosiven Thriller verbinden.
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Seitenzahl: 617
D.B. John
Stern des Nordens
Thriller
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn und Sabine Längsfeld
Ihr Verlagsname
Washington, D.C., 2010: Zwölf Jahre ist es her, dass ihre Zwillingsschwester an einem Strand in Südkorea spurlos verschwand, ein Verlust, den Jenna Williams nie verwunden hat. Als die CIA die frischgebackene Agentin auf eine geheime Mission nach Nordkorea schickt, ist sie fest entschlossen, die Wahrheit über ihre Schwester herauszufinden.
Ein Dorf in der nordkoreanischen Provinz: Bäuerin Moon kämpft ums Überleben. Als sie ein Hilfs-Paket mit Lebensmitteln aus dem Ausland findet, macht sie den Inhalt auf dem Markt zu Geld. Für ihre Furchtlosigkeit wird sie von den anderen Frauen bewundert, von der Polizei argwöhnisch beobachtet. Als eine der Marktfrauen verhaftet wird, entwickelt sich Moon zur Stimme des Widerstands.
Pjöngjang: Anlässlich einer Beförderung wird die Familiengeschichte des Parteifunktionärs Cho durchleuchtet. Denn Karriere machen darf nur, wer über drei Generationen einen tadellosen Hintergrund nachweisen kann. Was dabei ans Licht kommt, lässt den linientreuen Cho alles in Frage stellen, woran er jemals geglaubt hat. Als er die Amerikanerin Jenna Williams kennenlernt, ahnt er nicht, dass sie undercover für die CIA im Einsatz ist. Und welche Ereignisse ihre Begegnung in Gang setzen wird ...
D.B. John wurde in Wales geboren, hat lange in Südkorea gelebt und als einer der wenigen Touristen aus dem Westen Nordkorea bereist. Gemeinsam mit Hyeonseo Lee veröffentlichte er den New-York-Times-Bestseller «Schwarze Magnolie: Wie ich aus Nordkorea entkam». D.B. John lebt in London.
In Erinnerung an Nick Walker
1970–2016
Dieser Roman erzählt eine erfundene Geschichte. Einige der darin vorkommenden Personen existieren wirklich, ihre Handlungen und Gespräche sind jedoch rein fiktiv. Alle anderen Figuren sowie die beschriebenen Orte und Ereignisse entstammen der Phantasie des Autors. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Orten ist rein zufällig.
Vieles an Nordkorea übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Das Land wird von einer marxistischen Erbmonarchie geführt, die ihr Volk von der Außenwelt abriegelt. Den Menschen wird weisgemacht, sie würden in Wohlstand und Freiheit leben, aber gleichzeitig werden Kinder für die geistigen Verbrechen ihrer Eltern in Gulags verbannt, und das Regime setzt Hunger als politisches Kontrollinstrument ein. Nordkorea hat über die Jahre ein Verhalten gezeigt, das für Außenseiter nur schwer zu glauben, geschweige denn nachzuvollziehen ist. Daher fragen sich die Leser dieses Romans vielleicht, welche Teile des Romans auf Tatsachen beruhen.
Als Antwort darauf sind am Ende des Buches Anmerkungen des Autors angefügt. Da diese die Handlung zum Teil vorwegnehmen, wird empfohlen, sie erst ganz zum Schluss zu lesen.
Insel Baengnyeong
Südkorea
Juni 1998
Das Meer war ruhig an dem Tag, als Soo-min verschwand.
Sie sah dem Jungen zu, wie er aus Treibholz ein Lagerfeuer baute. Die einsetzende Flut brachte hoch aufgetürmte, aschrosa schimmernde Wolken mit sich. Sie hatten den ganzen Tag über kein Boot gesehen, der Strand war menschenleer. Die Welt gehörte ihnen.
Sie hob den Fotoapparat und wartete, bis er ihr das Gesicht zuwandte. «Jae-hoon …?» Auf dem Foto würde später ein muskulöser Neunzehnjähriger mit einem schüchternen Lächeln zu sehen sein. Für einen Koreaner war er dunkel, auf seinen Schultern lag eine Salzkruste wie bei einem Perlentaucher. Sie gab ihm die Kamera, er machte ein Foto von ihr. «Ich war noch nicht so weit», sagte sie lachend. Auf dem Foto schob sie sich gerade das lange Haar aus dem Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen in purem Wohlbehagen.
Das Feuer brannte inzwischen, Holz knarzte und knackte. Jae-hoon stellte eine zerbeulte Pfanne auf drei Steinen über die Flammen und goss Öl hinein. Dann legte er sich neben sie in den weichen, warmen Sand oberhalb der Flutlinie, stützte sich auf einen Ellbogen und sah sie an. Er betrachtete ihre Halskette, die später mit so viel Trauer und Erinnerungen verbunden sein würde. Eine dünne Silberkette mit einem winzigen silbernen Anhänger in Tigerform, das Symbol Koreas. Er berührte ihn mit der Fingerspitze. Soo-min drückte seine Hand an ihre Brust, sie küssten sich. Er roch nach Meer und grüner Minze und Tintenfisch und Marlboros. Sein dünner Bart kratzte an ihrem Kinn. All diese Details, jede kleine Einzelheit, würde sie ihrer Schwester in einem Luftpostbrief erzählen, den sie im Geiste bereits schrieb.
Das Öl spritzte in der Pfanne. Jae-hoon briet einen Tintenfisch, den sie mit Chilipaste und Reisbällchen aßen, während sie zusahen, wie die Sonne am Horizont versank. Die Wolken hatten sich in Flammen und Rauch verwandelt, und das Meer glich einer riesigen violetten Glasfläche. Nach dem Essen nahm er seine Gitarre und begann, mit leiser, klarer Stimme «Arirang» zu singen, seine Augen glänzten im Feuer. Das Lied nahm den Rhythmus der Brandung auf, und sie spürte, dass sie diesen Moment niemals vergessen würde.
Sein Gesang brach ab. Angespannt starrte er aufs Meer hinaus. Dann ließ er die Gitarre fallen und sprang auf.
Soo-min folgte seinem Blick. Im Licht des Feuers wirkte der Sand zerfurcht und aufgerissen wie eine Mondlandschaft. Sie konnte nichts erkennen. Nur die Wellen, die donnernd mit heller Gischt brachen und auf dem Strand ausliefen.
Dann sah sie es. Kurz hinter den Schaumkronen, knappe hundert Meter vom Strand entfernt, begann das Meer zu brodeln und zu kochen, das Wasser wurde zu blassem Schaum gerührt. Eine Fontäne wie von einem Wal stieg auf, im Dämmerlicht gerade noch erkennbar. Soo-min stand auf und griff nach Jae-hoons Hand.
Vor ihren Augen teilte sich das brodelnde Wasser, als würde das Meer aufgerissen, und enthüllte ein schwarzes, glänzendes Objekt.
Soo-min spürte, wie sich ihr Magen umdrehte. Sie war nicht abergläubisch, doch sie hatte das Gefühl, der Manifestation des Bösen beizuwohnen. Alles in ihr schrie nach Flucht.
Plötzlich wurde sie geblendet. Ein heller Lichtstrahl, umgeben von einem orangefarbenen Rand, richtete sich vom Meer aus auf sie.
Soo-min wandte sich um und zog Jae-hoon mit sich. Stolpernd hasteten sie durch den weichen, tiefen Sand, ihre Sachen ließen sie zurück. Doch schon nach wenigen Schritten blieben sie abrupt stehen.
Aus den Schatten der Dünen tauchten schwarz maskierte Gestalten auf und rannten mit Seilen in den Händen auf sie zu.
Datum: 22. Juni 1998, AZ: 734988/220598
PER FAX
BERICHT der Polizei von Jincheon auf Anfrage der Bundespolizei, Seodaemun-gu, Seoul
Der Befehl lautete, herauszufinden, ob die beiden vermissten Personen, die zuletzt am 17. Juni um 14:30 Uhr gesehen wurden, vor ihrem Verschwinden die Insel Baengnyeong verlassen haben. Mit ehrerbietigen Grüßen, Inspektor Ko Eun-tek
Aufnahmen der am Fähranleger der Insel Baengnyeong installierten Sicherheitskameras legen nahe, dass niemand, der den vermissten Personen ähnlich sähe, zur fraglichen Zeit eine der ablegenden Fähren bestiegen hat. Schlussfolgerung: Die Vermissten haben die Insel nicht per Fähre verlassen.
Die Küstenwache hat zur Zeit des Verschwindens der beiden vermissten Personen keine anderen Schiffe im Gebiet registriert. Aufgrund der unmittelbaren Nähe zu Nordkorea ist der Schiffsverkehr hier stark eingeschränkt. Schlussfolgerung: Die Vermissten haben die Insel nicht auf einem anderen Schiff oder Boot verlassen.
Ein Inselbewohner entdeckte gestern neben einem heruntergebrannten Lagerfeuer am Strand Condol eine Gitarre, Schuhwerk, Kleidungsstücke, einen Fotoapparat sowie 2 Portemonnaies mit Bargeld, Fährfahrkarten, Ausweisen und Büchereikarten, die den beiden Vermissten gehörten. Die Ausweise entsprachen den von der Universität Sangmyung übermittelten persönlichen Angaben. Sie gehörten:
Park, Jae-hoon; männlich, 19, wohnhaft im Doksan-Distrikt von Seoul, Mutter lebt auf der Insel Baengnyeong.
Williams, Soo-min; weiblich, 18, US-Bürgerin, seit März im Land und als Studentin eingeschrieben.
Ab 07:00 suchte die Küstenwache das fragliche Seegebiet im Umkreis von 5 Seemeilen per Helikopter ab. Die vermissten Personen wurden nicht gefunden. Schlussfolgerung: Beide Personen sind bei einem Badeunfall ertrunken. Das Meer war ruhig, doch laut Küstenwache ist die Strömung ungewöhnlich stark gewesen. Die Leichen sind inzwischen vermutlich weit hinausgetrieben.
Mit Ihrem Einverständnis werden wir die Helikoptersuche einstellen und empfehlen höflich, die Familien der vermissten Personen zu informieren.
Die Saat der Klassenfeinde, wer auch immer sie sind, muss bis in die dritte Generation ausgerottet werden.
Kim Il-sung, 1970
im Jahr 58 des Juche-Kalenders
Georgetown
Washington, D.C.
Oktober 2010
Jenna wachte davon auf, dass ihre Kehle einen Schrei herauspresste. Sie atmete keuchend, die Bilder des Albtraums verzerrten ihren Blick. In den wirren Sekunden zwischen Traum und Erwachen konnte sie keinen Muskel rühren. Erst allmählich nahmen die Dinge im dunklen Zimmer Gestalt an. In den Heizkörpern zischte leise der Dampf, in der Ferne schlug der Glockenturm die volle Stunde. Jenna seufzte und schloss wieder die Augen. Ihre Hand lag an ihrem Hals, auf der dünnen Silberkette mit dem winzigen silbernen Tiger, die sie Tag und Nacht trug. Sie schlug die Decke zurück, kühle Luft strich sanft über ihren verschwitzten Körper.
Geräuschlos dellte sich neben ihr die Matratze ein. Im Dämmerlicht blitzten gelbgrüne Augen auf. Cat, ihr Kater, war wie aus dem Nichts aufgetaucht, aus einer anderen Dimension, wie von den Glocken herbeigerufen. «Hallo, du», sagte sie und kraulte ihn am Kopf.
Der Radiowecker sprang an.
«… Außenministerin bezeichnete den Raketenstart als höchst provokativen Akt, der die Sicherheit der Region gefährde …»
Die Küchenfliesen unter ihren nackten Füßen waren eiskalt. Jenna goss Milch für Cat ein, wärmte den kalten Kaffee aus der Kanne in der Mikrowelle auf und trank ihn, während sie sich für die auf ihrem Telefon angestauten Nachrichten wappnete. Dr. Levy hatte angerufen, um den Neun-Uhr-Termin zu bestätigen. Außerdem der Herausgeber von East Asia Quartely, der die Veröffentlichung ihres Beitrags besprechen wollte und sich mit unheilvoller Stimme erkundigte, ob sie heute Morgen schon Radio gehört hätte. Die älteren Nachrichten waren auf Koreanisch und stammten von ihrer Mutter. Sie drückte eine nach der anderen weg, bis sie die erreichte, die sie suchte – eine Einladung zum Mittagessen in Annandale am Sonntag. Die Stimme ihrer Mutter klang zugleich würdevoll und verletzt, und Jenna bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Mit der Kaffeetasse in der Hand starrte sie in den düsteren Hinterhof hinaus, sah im Glas aber nur die Spiegelung der farbigen Kücheneinrichtung und musste sich wohl damit abfinden, dass die hohlwangige, magere Dreißigjährige, die ihr entgegenblickte, sie selbst war.
Aus dem Kleiderhaufen unter dem Klavierhocker zog sie ihre Laufschuhe und die Jogginghose hervor, band sich die Haare nach hinten und trat in die Kälte der O Street hinaus, wo der Postbote sie unfreundlich ansah. Doch, doch, guter Mann, ich bin schwarz und wohne in dieser Gegend. Sie joggte durch die grauen Schatten der Bäume in Richtung des Treidelpfads. Georgetown sah an diesem Morgen aus wie die Kulisse eines Gruselfilms. Ein kalter Nordostwind wirbelte Blätter in den stahlgrauen Himmel auf. An Fenstern und Türen lauerten Kürbisse. Ohne richtig aufgewärmt zu sein, setzte sie zum Sprint an, die Böen vom Kanal fegten ihr den bösen Traum aus dem Kopf.
Dr. Levy lächelte sie müde an. «Wenn Sie nicht mit mir reden, kommen wir nicht weiter.» Hinter der Ermunterung nahm Jenna Überdruss wahr. In das Notizbuch auf seinen Knien kritzelte er nur noch Bildchen. Sie konzentrierte sich auf einen Krümel, der am rechten Mundwinkel in seinem Bart hing. «Sie haben also immer den gleichen Albtraum?»
Sie atmete langsam aus. «Es gibt Variationen, aber im Grunde ist es der gleiche Traum. Wir haben schon so oft darüber geredet.» Instinktiv berührte sie die Kette an ihrem Hals.
«Solange wir ihn nicht entschlüsseln, wird der Traum immer wiederkommen.»
Ihr Kopf kippte auf die Sofalehne. Sie suchte die Decke nach Worten ab, fand aber keine.
Er rieb sich unter der Brille den Nasenrücken und sah sie mit einer Mischung aus Verzweiflung und Erleichterung an, als hätte er den Rand der Landkarte erreicht und könnte die Reise jetzt guten Gewissens abbrechen. Er schlug das Notizbuch zu.
«Ich frage mich, ob Sie bei einem Trauerberater nicht besser aufgehoben wären. Vielleicht liegt da das Problem? Sie haben den Verlust noch immer nicht verwunden. Ich weiß, es ist zwölf Jahre her, aber manche Wunden heilt die Zeit nur sehr langsam.»
«Danke, kein Interesse.»
«Was machen wir dann heute?»
«Mir ist das Prazosin ausgegangen.»
«Wir haben das besprochen», sagte er betont geduldig. «Prazosin löst nicht die eigentliche Traumatisierung, den Grund für Ihre …»
Jenna stand auf und nahm ihre Jacke. Sie trug ihre Arbeitskleidung, weißes Hemd und enge schwarze Hose. Das schwarze Haar war zu einem losen Knoten gebunden. «Tut mir leid, Mr. Levy, ich muss gleich unterrichten.»
Seufzend nahm er den Rezeptblock vom Tisch. «Alle meine Patienten nennen mich Don, Jenna», sagte er, während er schrieb.
Es war, als würde man aus einem Fenster im Universum auf die Erde schauen. China bestand aus Millionen von Lichtpunkten, die neuen Metropolen grelle Ballungen aus Halogen und Neon. Zahllose Städte und Dörfer glitzerten wie Diamanten auf Anthrazit. Rechts unten im Bild erhellten die Werften und Containerhäfen von Nagasaki und Yokohama den Nachthimmel mit glühendem Orange. Zwischen dem Japanischen Meer und dem Gelben Meer lag, von blinkenden Küstenadern gesäumt, Südkorea, die riesige Hauptstadt Seoul eine strahlende Chrysantheme. Die Bildmitte war dunkel. Doch dies war kein Meer, sondern ein Land, ein bergiges Land, lichtlos und voller Schatten, in dem nur die Hauptstadt leicht glimmte, wie Glut in der Asche.
Die Studierenden, die in halbkreisförmigen Reihen vor dem Vortragspult saßen, betrachteten schweigend das Satellitenbild.
«Wie Sie heute Morgen bestimmt gehört haben», sagte Jenna, «haben die Nordkoreaner gestern eine weitere Unha-3-Rakete abgeschossen. Sie behaupten, die Technik sei für friedliche Zwecke bestimmt und der Kwangmyongsong-Satellit wurde nur in den Orbit geschickt, um die Ernte zu kontrollieren. Jedenfalls ist dies der Anblick, den ihr Land ihnen bei Nacht bietet …»
«Kwangmyongsong, heller Stern?»
Jenna knipste die Pultlampe an. Die Frage kam von einer Studentin, die Halbkoreanerin war. Der Name war wirklich pure Ironie. In der Lichtergalaxie auf der Leinwand bildete Nordkorea ein schwarzes Loch.
«Ja, leuchtender Stern oder Leitstern», sagte Jenna. «In Nordkorea ist das ein sehr symbolischer Name. Weiß jemand, wieso?»
«Der Kult der Kims», sagte ein Junge mit einer Red-Sox-Cap – ebenfalls Koreaner, ein Überläufer, den Jenna für ein Stipendium empfohlen hatte.
Sie drehte sich wieder zur Leinwand um und zappte durch Aufnahmen von leeren Straßen in Pjöngjang, von Triumphbögen und Massenveranstaltungen, bis sie das Bild fand, das sie suchte. Lachen war zu hören, doch die Studierenden blieben aufmerksam. Das Foto zeigte eine Menge grau gekleideter Menschen, die sich vor dem lebensgroßen Porträt eines dicklichen, lächelnden Mannes in einer stramm sitzenden beigen Freizeitjacke mit passender Hose verbeugten. Das Bild war von roten Begonien eingefasst, darunter stand in roter Schrift auf Koreanisch die Losung: KIM JONG-IL IST DER LEITSTERN DES 21. JAHRHUNDERTS!
«Gemäß der offiziellen Staatsmythologie», sagte Jenna, «wurde der Geliebte Führer 1942 in einer geheimen Guerilla-Festung geboren, als Korea von den Japanern besetzt war. Die Geburt wurde durch das Erscheinen eines neuen hellen Sterns über dem Berg Paektu angekündigt. Daher der Name Leitstern – kwangmyongsong.»
Hinten im Saal fragte jemand: «War seine Mutter Jungfrau?» Die anderen kicherten.
In dem Moment ging flackernd das Deckenlicht an, und der Dekan kam herein. Professor Runyon, Jennas Boss, war Mitte fünfzig, doch die gebeugten Schultern, die Krawatte und das Cordjackett ließen ihn eher wie siebzig wirken und die brüchige, kurzatmige Stimme wie achtzig.
«Habe ich einen Witz verpasst?», fragte er und blickte über die Brille hinweg in den Saal. Dann sagte er leise zu Jenna: «Ich unterbreche nur ungern, Dr. Williams. Aber würden Sie bitte mitkommen?»
«Jetzt?»
Draußen auf dem Gang sagte er: «Der Hochschulleiter hat mich gerade angerufen. Wir haben einen Besucher von … einer Regierungsbehörde.» Er warf ihr ein verblüfftes Lächeln zu. «Er möchte Sie sehen. Können Sie sich das erklären?»
«Nein, Sir.»
Das gotische Gewölbe der Riggs Library mit ihren alten Büchern war menschenleer. Lediglich ein Mann im dunkelgrauen Anzug, der ihnen das Profil zuwandte und einen Kaffeebecher in der Hand hielt, stand am Fenster und sah einem spontanen Fußballspiel draußen auf dem Rasen zu.
Als Professor Runyon sich räusperte, drehte sich der Mann um, trat vor und schüttelte Jenna fest die Hand. «Charles Fisk», sagte er. «Vom Institute for Strategic Studies.» Er war groß, kräftig gebaut und Anfang sechzig. Seine Nase war leicht knollig und an der Spitze gefurcht, das Haar silbrig und kraus.
«Dr. Williams ist lediglich Assistenzprofessorin an der School of Foreign Service», setzte Runyon an. «Wir haben erfahrenere Mitarbeiter, die vielleicht von größerem …»
«Vielen Dank, Sir, das wäre alles», sagte der Mann und drückte ihm den Kaffeebecher in die Hand.
Runyon starrte den Becher einen Moment lang an, neigte dann leicht den Kopf, als hätte er ein Kompliment erhalten, und schlurfte rückwärts zur Tür wie ein chinesischer Höfling.
Jenna nahm an, dass sie wohl irgendwie in Schwierigkeiten steckte. Fisk betrachtete sie mit einem merkwürdig eindringlichen Blick. Alles an ihm – die Kavalleristenhaltung, der knochenbrechende Händedruck – deutete darauf hin, dass sie ein Mitglied des Militärs vor sich hatte.
«Entschuldigen Sie, dass ich Sie aus Ihrem Seminar geholt habe», sagte er mit tiefer und gleichmäßiger Stimme. «Darf ich Jenna sagen?»
«Darf ich fragen, worum es geht?»
Er lächelte und runzelte gleichzeitig die Stirn. «Sagt Ihnen mein Name nichts? Hat Ihr Vater mich nie erwähnt?»
Ihr Blick blieb neutral, ausdruckslos, doch sie spürte eine leichte Unruhe, wie immer, wenn jemand auch nur geringste Kenntnisse über ihre Familie an den Tag legte.
«Nein, ich erinnere mich nicht, dass mein Vater je einen Charles Fisk erwähnt hätte.»
«Ich habe mit ihm in der elektronischen Aufklärung gearbeitet. Eigth U.S. Army in Seoul. Das war … na ja … vor vielen Jahren, vor Ihrer Geburt. Er war der höchstrangige Afroamerikaner in der Garnison. Wussten Sie das?»
Sie sagte nichts, hielt seinem Blick stand. In ihrem Hinterkopf regte sich eine Erinnerung. An ihren Onkel Cedric, den Bruder ihres Vaters, wie er Erde auf den Sarg warf, der gerade in die Grube hinabgelassen worden war, wie sie selbst ihre laut weinende Mutter umschlungen hielt. Die Luft roch nach feuchtem Laub, und in respektvollem Abstand zur Trauergesellschaft standen Männer in langen Militärmänteln, die die Hüte abnahmen, als das Horn ertönte, und sie danach wieder tief in die Gesichter zogen. Fisk war unter ihnen gewesen, daran erinnerte sie sich jetzt.
Im Turm schlug die Glocke. Sie sah auf die Uhr.
«Sie haben bis drei keine weiteren Kurse», sagte er. «Ich habe den Hochschulleiter gebeten, Ihre Seminare zu verschieben.»
«Sie haben was?»
«Ich habe ihm gesagt, dass ich in einer Frage der nationalen Sicherheit Ihren Rat benötige.»
Jenna war zu überrascht, um sich zurückhalten zu können. «Blödsinn.»
Er bedachte sie mit einem gütigen Blick, ganz der weise Großonkel einer eigensinnigen Nichte. «Ich erkläre es Ihnen beim Mittagessen.»
Jenna folgte Fisks breitem Rücken, als der Kellner sie zu ihrem Tisch führte. Das Restaurant lag an der 26th Street und war mit Reiterantiquitäten und Limoges-Porzellan vollgestopft. Porträts der Gründerväter wachten über einen holzgetäfelten Speiseraum, in dem das Gemurmel vornehmlich männlicher Stimmen zu hören war. Jenna kam sich fehl am Platz vor und war sauer. Dieser Mann, der behauptete, ihren Vater gekannt zu haben, dieser völlig Fremde, hatte ihren Tag auf den Kopf gestellt und ihre Einwände mit einer Beiläufigkeit weggewischt, die klarmachte, dass er es gewohnt war, immer seinen Willen zu bekommen.
«Der Hummer aus Maine ist sehr gut», sagte er, schlug seine Serviette auf und lächelte sie an, als hätten sie etwas zu feiern.
«Ich habe eigentlich keinen Hunger …»
«Fangen wir mit einem Dutzend Austern an.»
Der Kellner wurde zu den Vorzügen spezieller Saucen befragt, eine Flasche Saint-Émilion wurde bestellt, probiert und ausgeschenkt (und ihr Widerspruch wieder mit einem Lächeln abgetan). Jenna fragte sich, wie viel von dieser Show darauf abzielte, sie zu beeindrucken. Doch nachdem sie vorsichtig am Wein genippt hatte, musste sie sich eingestehen, dass es dumm wäre, solch überwältigende Großzügigkeit auszuschlagen, und allmählich wich ihre Verärgerung der Neugier.
«Mein Vater hat nie von Freunden oder Kameraden bei der Armee gesprochen. Ich habe immer angenommen …»
«Er war ein sehr zurückhaltender Mann, wie Sie wissen», sagte Fisk.
War dies ein Trick, um ihr Vertrauen zu gewinnen?
«Wie gut kannten Sie ihn?»
«Gut genug, um sein Trauzeuge zu sein.»
Das war eine Überraschung. Vor ihrem inneren Auge tauchte sofort das Bild der trostlosen protestantischen Backsteinkirche in Seoul auf, in der ihre Eltern geheiratet hatten. Sie hatte immer gedacht, nur ihre Eltern und der Pfarrer wären anwesend gewesen. Die Familie ihrer Mutter war nicht gekommen und hatte sich geweigert, eine zweite, koreanische, Hochzeit für sie auszurichten, wie es Sitte war, danach hatte es jahrelang keinen Kontakt gegeben.
«Als er mit Ihrer Mutter nach Virginia zog, bin ich mit ihm in Verbindung geblieben. Später haben wir wieder gemeinsam in Fort Belvoir gedient …»
Er begann, in Erinnerungen zu schwelgen, erzählte ihr Geschichten und Anekdoten über ihren Vater aus der Zeit vor und ganz kurz nach ihrer Geburt. Einige waren ihr bekannt, andere hatte sie nie gehört, aber ganz offensichtlich wusste dieser Mann eine Menge. Sogar mit der neueren Familiengeschichte war er vertraut, er wusste von dem stetigen Abstieg – von der Alkoholsucht ihres Vaters und seiner Entlassung aus der Armee – und dass ihre Mutter ein kleines Unternehmen als Hochzeitsplanerin betrieb, um über die Runden zu kommen. All das erzählte er in dem mitfühlenden Ton eines alten Freundes der Familie und warf ihr gelegentlich einen Blick zu, während er eine Auster mit Weinessig und Zitronensaft beträufelte, bevor er sie an den Mund setzte und herunterschluckte. Als sie begriff, wohin das alles führte, stieg Panik in ihr auf. Er kam immer näher, bewegte sich in langsamen, enger werdenden Kreisen auf das Ereignis zu, von dem sie niemals sprach, auf den Abgrund, in den sie niemals schaute.
Er bemerkte ihre Unruhe, hielt mit der Gabel auf halbem Weg zum Mund inne, lehnte sich seufzend zurück und lächelte verlegen, als hätte es keinen Sinn mehr, sich zu verstellen. Sanft sagte er: «Sie haben Angst, dass ich Ihre Schwester erwähne.»
Die Worte polterten wie Felsbrocken aus seinem Mund. Jenna regte sich nicht. Das Gesprächsgemurmel und das Klackern von Silberbesteck auf Porzellan verklangen im Hintergrund. Sie hörte sich atmen.
Der nächste Gang kam, doch Jenna wandte den Blick nicht von Fisk ab.
«Wissen Sie», sagte er ruhig, «die wirklich wichtigen Dinge im Leben scheinen mir die zu sein, über die wir partout nicht reden wollen.»
Um einen neutralen Tonfall bemüht, fragte sie: «Wer sind Sie?»
Seine Miene wurde kühler, ernster. «Ich bin Spion, und ich habe Ihren Vater wirklich gekannt. Ich habe Sie schon seit langem im Blick. Schauen Sie nicht so überrascht.» Er brach ein Stück Brot ab und bestrich es mit Butter, ohne den Blick seiner steingrauen und beunruhigend eindringlichen Augen von ihr zu nehmen. «Sie sind Jahrgangsbeste, Ihre Studienergebnisse sind phänomenal. Sie sind National-Merit-Stipendiatin und haben den höchsten gemessenen IQ-Wert in ganz Virginia. Ihre Doktorarbeit war so herausragend, dass Ihnen zweifelsohne eine steile akademische Karriere bevorsteht. ‹Die Entwicklung der Arbeiterpartei als Machtinstrument der Kim-Dynastie von 1948 bis heute.› Ja, ich habe sie gelesen. Sie sind zweisprachig, in zwei Kulturen aufgewachsen. Letztes Jahr haben Sie drei Monate in der chinesischen Provinz Jilin verbracht, um sich den nordkoreanischen Dialekt anzueignen. Sie sind fit und sportlich, Sie joggen täglich. Sie waren Jugendmeisterin im Taekwondo. Sie leben zurückgezogen, Sie sind verschwiegen und äußerst selbständig. Eine solche Ansammlung von Fähigkeiten übersehen wir nicht.»
«Wer, wir?»
«Wir sind die Agency, Jenna. Die CIA.»
Jenna stöhnte. Sie hatte das Gefühl, reingelegt worden zu sein, und kam sich dumm vor, weil sie es nicht bemerkt hatte. Als ihr klarwurde, dass er die Erinnerungen an ihren Vater als Köder benutzt hatte, blitzte Wut in ihr auf.
«Sir …» Sie legte das Besteck neben ihrem fast unberührten Hauptgang ab. «Sie verschwenden sowohl Ihre Zeit als auch meine.» Sie tastete in der Tasche nach ihrem Handy und überlegte, ob sich die Änderungen in ihrem Seminarplan noch rückgängig machen ließen. «Ich muss zurück ins Institut.»
«Entspannen Sie sich», sagte er freundlich. «Wir unterhalten uns doch nur.»
Sie griff nach ihrer Handtasche und erhob sich. «Danke fürs Mittagessen.»
Obwohl er leise sprach, dröhnte sein Bass durch den gesamten Speiseraum. «Gestern um 06:00 Uhr koreanischer Zeit ist von der Raketenstartrampe Tonghae im Nordosten Nordkoreas eine Kwangmyongsong-Rakete gestartet, womit gleich eine ganze Reihe von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates verletzt wurden. Die Rakete trug keinen Satelliten. Die Technik war allein für kriegerische Zwecke bestimmt.»
Jenna erstarrte.
«Wir haben den Abschuss verfolgt. Die dritte Stufe der Rakete fiel in die Philippinensee und wurde von der U.S. Seventh Fleet eingesammelt, bevor die Nordkoreaner sie holen konnten. Sie haben damit den Hitzeschild für eine Langstreckenwasserstoffbombe getestet, die sie sehr bald auf unsere Westküste richten werden. Ihr Essen wird kalt.» Er kaute und schluckte. «Gegrillter Wolfsbarsch in Champagnersauce …» Er schloss die Augen. «Perfektion.»
Jennas Hirn spielte verschiedene Szenarien durch. Sie bekam kaum mit, dass sie sich wieder setzte. «Mein Gott», murmelte sie. Vor ihrem inneren Auge tauchte das Bild einer Sternschnuppe hoch über dem Pazifik auf. Kwangmyongsong. «Das heißt …»
«Ich will, dass Sie für mich arbeiten.» Er sprach mit vollem Mund. «An einer Geheimoperation.»
Sie blinzelte zweimal. «Ich … bin für die CIA nicht geeignet. Sie glauben, Sie wüssten alles über mich, aber Sie wissen nicht, dass ich jede Woche zu einem Psychiater gehe. Ich leide unter Albträumen und nehme Medikamente.» Als er grinste, begriff sie, dass er auch davon wusste.
«Ich rekrutiere seit Jahrzehnten neue Agenten. Man könnte sagen, dass ich eine gute Nase dafür habe. Sie, Dr. Williams, sind wahrscheinlich eine der vielversprechendsten Anwärterinnen, die mir je begegnet sind.» Er beugte sich vertraulich vor. «Sie sind nicht nur intelligent. Sie haben auch einen gewichtigen persönlichen Grund, Ihrem Land zu dienen.»
Sie sah ihn misstrauisch an.
«Sie wissen, wovon ich rede.» Wieder war seine Stimme mitfühlend. «Ich kann Ihnen keine Antworten geben. Vielleicht werden Sie nie erfahren, was damals am Strand mit Ihrer Schwester passiert ist. Aber ich biete Ihnen die Chance, dass sich vielleicht eines Tages eine Tür öffnet und Sie es herausfinden. Ihr Verschwinden lässt Ihnen keine Ruhe. Stimmt doch, oder? Kalt und einsam sind Sie deshalb geworden. Sie vertrauen nichts und niemandem, nur sich selbst.»
«Soo-min ist ertrunken», sagte sie leise. «Mehr gibt’s da nicht zu wissen.»
Seine Stimme wurde zu einem Raunen. «Die Leiche wurde nie gefunden. Vielleicht ist sie ertrunken …» Er betrachtete Jenna eindringlich. «Aber die andere Möglichkeit lässt sich nicht ausschließen …»
Jenna schloss die Augen. Ihrem heiligsten Glaubensgrundsatz wurde widersprochen. «Sie ist ertrunken. Ich bin sicher.» Sie seufzte. «Wenn Sie wüssten, wie viele Jahre ich gebraucht habe, um diese Worte sagen zu können …» Sie brach ab und schluckte, musste gegen die Tränen ankämpfen. Bevor Fisk sie aufhalten konnte, sprang sie vom Stuhl auf und floh aus dem Restaurant auf die Straße hinaus, atmete den Himmel in großen Zügen ein, rannte zum College zurück, während der Wind an ihren Haaren und ihrem Mantel zerrte und Blätter in Strudeln um sie herumwirbelte.
Landkreis Paegam
Provinz Ryanggang
Nordkorea
In derselben Woche
Der Ballon kam herunter, als Frau Moon gerade nach Matsutake-Pilzen suchte. Sie sah ihn zwischen den Bäumen herabschweben und lautlos auf einem Fuchspfad landen. Das Licht schien durch das glänzende Material hindurch, aber sie wusste sofort, dass es kein Geist war. Vorsichtig ging sie näher heran und erkannte, dass es sich um einen aufgeblasenen Plastikschlauch von ungefähr zwei Meter Länge handelte, an dem ein kleiner Beutel festgebunden war. Seltsam, dachte sie, während sie sich mit Mühe hinkniete. Dabei hatte sie schon mit so etwas gerechnet. In den letzten drei Nächten hatte am Himmel im Westen ein Komet gestanden, doch ob er Gutes oder Schlechtes verhieß, wusste sie nicht recht.
Sie horchte, um sicherzugehen, dass sie allein war. Nichts. Nur das Knacken des Waldes und eine plötzlich aufflatternde Taube. Frau Moon schlitzte den Plastikbeutel mit dem Pilzmesser auf und befühlte den Inhalt. Zu ihrem Erstaunen brachte sie zwei Paar neuer, warmer Wollsocken zum Vorschein, dann eine kleine Taschenlampe mit Kurbel zum Aufziehen, dann ein Paket Plastikfeuerzeuge. Und noch etwas: eine rote Schachtel, auf deren Deckel ein Schokoladenkeks abgebildet war. Sie enthielt zwölf Kekse in glänzend rot-weißer Verpackung. Sie hielt einen ans Licht und kniff die Augen zusammen. Choco Pie, las sie, ihre Lippen bewegten sich dabei. Hergestellt in Südkorea. Frau Moon wandte sich in die Richtung, aus der der Ballon gekommen war. Hatte der Wind dieses Ding den ganzen Weg aus dem Süden hergetragen? Ein paar ri weiter, und es wäre in China gelandet!
Im Osten sickerte aus dem Himmel blutrotes Licht durch die Baumwipfel, doch sie konnte keinen weiteren Ballon sehen, nur einen Gänseschwarm in Formation, der zum Winter eintraf. Das war mal ein gutes Omen. Der Wald wisperte und seufzte und sagte ihr, dass es Zeit zu gehen war. Sie betrachtete den Schokoladenkeks und konnte nicht widerstehen, sie öffnete die Verpackung und nahm einen Bissen. Der Geschmack von Schokolade und Zuckerschaum schmolz auf ihrer Zunge.
Oh, bei meinen lieben Vorfahren.
Sie drückte den Keks an ihre Brust. Er war wertvoll.
Vor Aufregung zitternd, steckte sie die Gegenstände schnell in den Beutel zurück und verbarg ihn unter Feuerholz und Farnkraut in ihrem Korb. Dann humpelte sie auf dem Waldpfad zurück und leckte sich die Lippen sauber. Als sie den Weg am Rand der Felder erreichte, hörte sie Gebrüll.
Drei Männer rannten querfeldein auf den Wald zu – der Leiter der Kooperative persönlich, gefolgt von einem der Ochsentreiber und einem Soldaten mit geschultertem Gewehr.
Ziegenscheiße.
Sie hatten den Ballon herabsinken sehen.
Den ganzen Tag lang arbeitete sie schweigend auf dem Feld, gemeinsam mit den anderen Frauen in ihrer Brigade zog sie entlang der mit roten Fahnen markierten Furchen Maisstängel aus dem Boden. «Am frühen Morgen sind am Himmel feindliche Ballons gesehen worden», sagte eine der Frauen. «Die Armee hat sie abgeschossen, und im Radio wird davor gewarnt, sie zu berühren.»
Von den Bergen fegte ein beißender Wind heran. Die Fahnen knatterten. Frau Moon tat der Rücken weh, und ihre Knie brachten sie schier um. Sie behielt den Korb dicht bei sich und sagte nichts. Am Feldrand sah sie nur einen einzigen Wachmann, der rauchte und sich langweilte. Ob die anderen auf der Suche nach dem Ballon waren?
Als um achtzehn Uhr vom Wachturm die Sirene ertönte, eilte sie nach Hause. In der Ferne färbte sich die Spitze des Paektusan purpurrot, seine Felsen hoben sich schroff vor dem Abendhimmel ab, doch die Dorfhütten, die am Abhang im Tal lagen, waren in Schatten getaucht. Die Partei war allgegenwärtig – in den Buchstaben auf den Steintafeln, in einem Wandbild aus farbigen Glasstücken, das den Geliebten Führer in einem goldenen Weizenfeld stehend zeigte, auf dem hohen Obelisken, der vom ewigen Leben seines Vaters, des Großen Führers, kündete. Kohlenrauch stieg aus den Schornsteinen der sauberen, weiß getünchten Hütten mit den Ziegeldächern auf, hinter jeder lag ein kleines Gemüsebeet. Es war so still, dass sie auf der Kooperative den Ochsen brüllen hörte. Die Temperatur sank rapide. Ihre Knie waren geschwollen und schmerzten.
Sie stieß die Tür auf und fand Tae-hyon im Schneidersitz auf dem Boden vor, wie er eine Selbstgedrehte aus schwarzem Tabak rauchte. Unter der nackten Glühbirne wirkte sein Gesicht so zerfurcht und ausgelaugt wie ein abgeerntetes Feld.
Sie wusste, dass er den ganzen Tag lang nichts getan hatte. Aber da ihr Mann nicht das Gesicht verlieren sollte, lächelte sie und sagte: «Ich bin so froh, dass ich dich geheiratet habe.»
Tae-hyon senkte den Blick. «Zum Glück ist wenigstens eine von uns fröhlich.»
Sie stellte den Korb ab und zog die Gummistiefel aus. Da jeden Moment der Strom ausfallen konnte, zündete sie eine Petroleumlampe an und stellte sie auf den niedrigen Tisch. Der Betonboden war makellos sauber, die Schlafmatten zusammengerollt, neben dem Eisenherd standen in Reih und Glied ihre glasierten Kimchi-Töpfe, und die retuschierten Gesichter an der Wand, die Porträts der Führer, Vater und Sohn, waren mit dem besonderen Tuch abgewischt worden.
Tae-hyon beäugte den Korb. Frau Moon hatte im Wald nicht einen einzigen Pilz gefunden und konnte nur Farnkraut und Maisstängel in die Suppe geben, doch wenigstens an diesem Abend würde er nicht enttäuscht sein. Sie zog den Plastikbeutel aus dem Korb und zeigte ihn ihrem Mann. «An einem Ballon», sagte sie. «Aus dem Dorf unten.»
Tae-hyon bekam bei diesem Euphemismus für den Süden große Augen und ließ ihre Hand nicht aus dem Blick, während sie den Korb auspackte und alles vor ihm auf den Boden legte. Dann öffnete sie die Kekspackung und gab ihm die zweite Hälfte ihres Schokoladenkekses. Er kaute andächtig, genoss die Köstlichkeit, und als er ihre Hand ergriff, brach ihr schier das Herz.
Morgen würde sie den Berggeistern ein wenig Salz als Opfergabe hinstreuen, sagte sie, und dann nach Hyesan fahren, um die Kekse zu verkaufen. Mit dem Geld, das sie einnahm, könnte sie …
Es klopfte dreimal laut an die Tür.
Panik stieg in ihnen auf. Hastig schob Frau Moon die Gegenstände unter den niedrigen Tisch und öffnete. Vor ihr stand eine etwa fünfzigjährige Frau im Overall, in der Hand eine batteriebetriebene Lampe. Ihr Kopf war mit einem dreckigen Schal umwickelt, um den Oberarm trug sie eine rote Binde.
«Im Wald wurde ein feindlicher Ballon gefunden, der Inhalt fehlte», sagte sie. «Die Bowibu warnt uns davor, die Ballons zu berühren. Sie sind mit tödlichen Chemikalien gefüllt.»
Frau Moon verbeugte sich. «Wenn wir einen finden, Genossin Pak, werden wir es melden.»
Die harten Augen der Frau schwenkten von Frau Moon in den Raum und verengten sich verächtlich, als sie Tae-hyon auf dem Boden hocken sah. «Um acht Treffen für alle im Saal», sagte sie, während sie sich abwandte. Das Licht ihrer Lampe huschte über den Pfad. «Thema ist heute Abend die korrekte revolutionäre Einstellung am Arbeitsplatz …»
Frau Moon schloss die Tür. «Tödliche Chemikalien, dass ich nicht lache», murmelte sie.
Sie entfachte Feuer im Herd, um das Abendessen zuzubereiten, während Tae-hyon jeden einzelnen Gegenstand aus dem Ballon ans Licht hielt und genau betrachtete. Er befühlte die Socken und drückte die Wolle an seine Wange, er drehte die Kurbel der Taschenlampe und richtete den Lichtstrahl an die Decke, er strich mit dem Finger über die Beschriftungen und Markennamen aus jener geheimnisvollen Parallelwelt, dem Süden. Dann fiel sein Blick auf den Plastikbeutel.
«Da ist noch was drin.» Er öffnete ihn.
In ihrer Hast, den Wald zu verlassen, hatte Frau Moon das Bündel loser Flugblätter ganz unten übersehen. Tae-hyon nahm eins zur Hand. «An unsere Brüder und Schwestern im Norden, von euren Verwandten im Süden! Wir schließen euch in unsere Gebete ein. Wir vermissen euch und leiden mit euch. Mit Freude erwarten wir den Tag, wenn Norden und Süden durch die Liebe Unseres Herrn Jesus Christus wiedervereinigt …» Tae-hyon blinzelte. Große Vorsicht kroch in seine Stimme. «Treibt das Kommen dieses Tages voran. Erhebt euch gegen den Betrüger, der euch vormacht, ihr wäret wohlhabend und frei, während ihr in Wahrheit arm seid und in Ketten liegt. Brüder und Schwestern, Kim Jong-il ist ein Tyrann! Seine Grausamkeit und Machtgier kennen keine Grenzen. Während ihr hungert und friert, lebt er in Palästen, wie ein Kais…»
Bevor er weiterlesen konnte, wurde ihm der Zettel aus der Hand gerissen. Frau Moon keuchte. In einer einzigen Bewegung griff sie nach dem ganzen Bündel, durchquerte den Raum, öffnete die Herdklappe und stopfte die Flugblätter in die Flammen.
Mit offenem Mund blickte Tae-hyon auf zu den Porträts an der Wand, und in diesem Moment fiel der Strom aus. Im Flackern der Petroleumlampe schienen die Augen der Führer zu glühen, und Tae-hyons Miene wirkte wie die eines Verurteilten.
«Die Bowibu …», flüsterte er. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, eine Angewohnheit, die immer dann auftrat, wenn er sich in Not wähnte. «Sie werden es erfahren …» Seine Stimme war heiser. «Sie werden wissen, dass wir diese Worte gelesen haben. Sie werden es unseren Gesichtern ansehen. Sie werden uns zwingen zu gestehen …» Mit dem Blick eines gehetzten Tieres sah er seine Frau an. «Bring diese Dinge dahin zurück, wo du sie gefunden hast …»
Doch Frau Moon starrte in die Flammen hinter dem kleinen Glasfenster des Herds, wo die Flugblätter schwarz wurden und sich aufrollten.
Etwas in jenen Worten hatte sie auf eine Reise durch die Zeit geschickt. Eine Ewigkeit war vergangen, seit sie den Namen gehört hatte, mindestens fünfzig Jahre. Unser Herr Jesus Christus … ein Name, der aus der Geschichte gelöscht worden war. Plötzlich tat sich die Erinnerung auf wie eine geheime Schublade: ihre Mutter und eine Gruppe Erwachsener in einem Raum, Tür und Fenster geschlossen, ein Vers, der aus einem dicken Buch vorgelesen wird, eine Kerze brennt, und Stimmen erklingen. Leiser, sanfter Gesang.
Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld
Der Welt und ihrer Kinder …
Aus langer Gewohnheit drängte sie die Erinnerung zurück ins Dunkel und verschloss sie dort mit vielen anderen. Sie wandte sich um zu ihrem Mann, der die Hände vors Gesicht geschlagen hatte.
«Niemand wird davon erfahren», sagte sie.
Sie öffnete die Haustür und trat hinaus in die Kälte. Sterne funkelten am Himmel, und dort, über den Bergen im Westen, glühte hell der Komet mit dem doppelten Schweif.
Annandale
Virginia
Jennas Mutter lebte nach wie vor in dem Haus, in dem Jenna und ihre Schwester aufgewachsen waren. Die Reihe ausgeblichener, schindelgedeckter Häuser lag ein Stück zurückgesetzt an einer Straße, die von alten Kastanienbäumen gesäumt war. Der Rasen vor dem Haus war verwildert und voller Laub, aber am Mast hing die Flagge, der Stolz aller Amerikaner erster Generation.
Als Jenna auf die Einfahrt fuhr, erschien Hans rundliche Gestalt in der Haustür. Sie trug eine Souvenirschürze von der Insel Jeju und hatte einen neuen fuchsienroten Lippenstift aufgetragen, die krause Dauerwelle komplettierte den Look, sodass sie insgesamt einer Topfpflanze ähnelte. Jenna beugte sich zum Begrüßungskuss vor und schnupperte einen Hauch von Frangipani.
«Du bist dünn wie ein Essstäbchen», tadelte Han und nahm Jennas Gesicht in beide Hände. Einen Moment lang musterte sie ihre Tochter, suchte wohl nach Anzeichen – andere Kleider, eine schickere Frisur, ein Hauch von Make-up –, die darauf hindeuteten, ob Jenna glücklich war oder, genauer gesagt, «jemanden gefunden» hatte.
Das ganze Haus roch nach gegrilltem Rindfleisch und Ingwer und etwas Karamellisiertem.
«Omma, es duftet herrlich», sagte Jenna und ging ins kleine Esszimmer hinüber. «Du hättest dir nicht solche …»
Plötzlich schrillten all ihre Alarmglocken.
Der Tisch war für drei gedeckt. Das beste Geschirr und das schönste Tischtuch waren hervorgeholt worden, und ein Dutzend farbenfroher banchan-Beilagen aus Sprossen, Kimchi, Spinat, gerösteten Algen und winzigen Bratfischen füllten diverse Schüsseln. Als Jenna die gekühlte Flasche soju auf der Anrichte sah – Alkohol war in diesem Haus nur selten erlaubt –, wusste sie, dass sie in der Falle saß.
«Liebling …?» Han hatte die Schürze abgenommen, darunter trug sie eine modische Bluse und einen zu engen Rock. Sie hatte ihr Gastgeberin-Lächeln aufgesetzt und blickte über die Schulter ihrer Tochter hinweg ins Esszimmer. Jenna drehte sich um.
Neben dem Kirschholztisch mit den Familienfotos am anderen Ende des Zimmers stand ein etwa vierzigjähriger Mann. Als er sich verbeugte, wurde auf seinem Kopf eine kahle Stelle sichtbar.
«Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Jee-min yang», sagte er.
Jenna zuckte zusammen.
«Das ist Sung Chung-hee», sagte Han mit hoher, gekünstelter Stimme. «Er hat eine Immobilienfirma in Fairfax.» Sie nahm Jenna an der Hand und führte sie zu ihm. «Er hat sich freundlicherweise bereiterklärt, heute das Haus zu schätzen.»
«An einem Sonntag?»
«Ich habe Dr. Sung gebeten, zum Mittagessen zu bleiben.» Han nannte alle Leute «Doktor», bei denen sie sich einschmeicheln wollte. Laut flüsternd sagte sie: «Ich kannte Sung nims Tante in Seoul, sein jüngerer Bruder ist Großkundenbetreuer bei Samsung Electronics.»
«Ich würde mich sehr freuen», sagte der Mann. «Wenn Jee-min yang nichts einzuwenden hat.» Er sprach das Koreanisch der Heimat, nicht den schlampigen Dialekt der zweiten Generation, den Jenna normalerweise zu Hause benutzte, versetzt mit englischen Ausdrücken und Slang. Außer ihrer Mutter nannte niemand sie Jee-min.
Aus der Küche ertönte das Zischen von heißem Öl.
«Entschuldigen Sie mich», sagte Han und drehte das Gastgeberin-Lächeln noch ein paar Watt heller. «Ich muss nach dem Essen sehen. Jee-min, zeigst du bitte Dr. Sung das Haus?»
Wirklich perfektes Timing, dachte Jenna.
In der Stille, die Jenna sich nicht zu füllen bemühte, nahm er seine Brille ab und polierte sie mit einem Taschentuch.
«Ihre Mutter sagte, Sie hätten eine Souterrainwohnung in Georgetown. Die ist sicher klein und teuer.»
«Ich verdiene meinen Lebensunterhalt selbst, Mr. Sung, und meine Katze braucht nicht viel Platz.» Sie hatte nicht die angemessene formale Anrede benutzt, aber er schien es nicht zu bemerken. Stattdessen lächelte er.
«Vielleicht brauchen Sie ja bald ein größeres Zuhause. Kinder brauchen mehr Platz als eine Katze.»
Jenna spürte, wie eine regelrechte Depression sie überkam. «Im Moment konzentriere ich mich aufs Unterrichten.»
Der Blick des Mannes wurde hart, von nun an schwiegen sie.
Hätte man Jenna gefragt, welchen Typ Mann sie bevorzugte, hätte sie keine genaue Beschreibung abgeben können, aber ganz sicher waren es nicht die Mr. Sungs dieser Welt – ein Emigrant mit dem gesamten patriarchalen Familienballast im Gepäck. Sie fühlte sich nur zu wenigen Männern hingezogen, aber durch irgendein dummes Gesetz der umgekehrten Proportionalität fühlten sich viel zu viele Männer zu ihr hingezogen, Verehrer, die ihre Nach- und Vorteile abwägten, eine frigide Halbkoreanerin von bereits dreißig Jahren.
Aus den Fotos auf dem Tisch traf sie der Blick ihrer Schwester, wie eine Warnung. Die Silberkette glitzerte auf der Haut des Mädchens, die viel dunkler war als der Porzellanteint ihrer Mutter Han, die neben ihr im Bild stand.
Mr. Sung folgte ihrem Blick. «Ihre Schulabschlussfeier», sagte er und bückte sich, um das Foto zu betrachten.
Sie wollte ihn eigentlich berichtigen, sagte jedoch: «Mr. Sung, meine Mutter meint es gut. Sie macht sich Sorgen um mich und empfindet es als ihre Pflicht, mir Bekanntschaften zu vermitteln … aber es ist nun mal so … ich möchte Ihre Zeit nicht vergeuden.»
Überraschung zuckte über sein Gesicht, fast konnte sie hören, wie er sich selbst daran erinnern musste, dass sie nicht in Korea waren. Er nickte nur, bereit, ihr entgegenzukommen.
«Sie sprechen geradeheraus mit mir, das schätze ich. Ich habe keine Geduld mit Frauen, die ihr Lächeln hinter der Hand verbergen und alles hinnehmen, was Männer sagen. Aber, Jee-min yang, wenn ich ebenso geradeheraus sein darf …»
In der Tasche ihrer Jeans klingelte ihr Handy. Sie wusste, dass es als respektlos galt, den Anruf anzunehmen. Sie nahm ihn an. Und erkannte die Stimme von Charles Fisk. «Stellen Sie Channel NewsAsia an … sofort!» Er legte auf.
«Ich möchte nicht unverblümt sein», sagte Mr. Sung, «aber in Hinblick darauf, dass Sie eine wünschenswerte Verbindung zu einer angesehenen Familie knüpfen könnten, werden Sie mir gestatten, darauf hinzuweisen, dass es bestimmte Faktoren gibt, die in Anbetracht …»
Sie griff zur Fernbedienung, stellte den Fernseher an und zappte durch die Sender, bis sie Channel NewsAsia gefunden hatte.
«Sie sind keine reinrassige Koreanerin …»
Auf dem Bildschirm war eine grauhaarige Asiatin in einem hellblauen Kostüm bei einer Pressekonferenz zu sehen. Aufgereihte Mikrophone, Kamerablitze, kein Lächeln.
Ein Moderator sagte: «Mrs. Ishido wird morgen vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen hier in Genf aussagen. Es ist davon auszugehen, dass sie den Ermittlern berichten wird, dass unter den Opfern Hunderte von Ausländern aus mindestens zwölf Nationen sind, und den Rat auffordern wird, den Druck auf das Kim-Regime zu erhöhen, damit die Opferfamilien vom Schicksal ihrer Angehörigen erfahren …»
Die Frau hielt ein Foto eines Jungen in Schuluniform hoch und gab eine Erklärung auf Japanisch ab. Ein Dolmetscher sprach in mit französischem Akzent gefärbtem Englisch über sie hinweg.
«Mein Sohn war vierzehn, als er an einem Strand nahe unseres Heimatortes verschwand … Wir wissen jetzt, dass er entführt wurde … und nach Nordkorea verschleppt worden ist …»
Mrs. Ishido sah von ihrer Erklärung auf und blickte in die Kameras.
«… in einem U-Boot.»
Die Luft um Jenna herum wurde dünn. Plötzlich existierten nur noch sie und die Frau im Fernseher, deren Bemühen, die Tränen zurückzuhalten, ein erneutes Blitzlichtgewitter auslöste.
Geräusche drangen wie von fern zu ihr durch. Ein Klimpern, als ihre Mutter ein Tablett mit drei kleinen Gläsern hereinbrachte. Eine zuschlagende Haustür, ein anfahrendes Auto.
«Omma …», flüsterte Jenna, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden. Der Dolmetscher sprach mit seltsam entrückter Stimme weiter.
«Ich glaube, mein Sohn … ist am Leben … in Nordkorea …»
«Was ist passiert?», fragte Han. «Warum ist der Fernseher an?»
Jenna hörte ihre Mutter das Tablett absetzen und aufs Sofa sinken. Als sie sprach, klang ihre Stimme verblasst, kraftlos. «Ich will dir doch nur helfen. In deinem Alter sind die meisten koreanischen Mädchen längst verheiratet. Ich will nur, dass du einen erstklassigen Mann kennenlernst … Ich möchte, dass du eine Hochzeit bekommst, wie ich sie nie hatte.»
Jenna starrte unverwandt auf den Bildschirm, zu geschockt, um sich rühren zu können. Der Bericht ging dem Ende zu. Dann verschwand die Frau, Mrs. Ishido.
«… Ein Empfang im Shilla Hotel, ein Bankett wie bei Königen, eine Limousine, ein seidenes hanbok-Kleid, eine Trockeneismaschine, das ganze Programm.»
«Omma.» Sie drehte sich um zu ihrer Mutter. Alle Kraft war aus ihrer Stimme gewichen. «Als Soo-min verschwand …»
Han hob den Kopf, und zum ersten Mal fiel Jenna auf, wie alt sie unter dem Make-up geworden war.
«Soo-min ist von Gott verborgen. Willst du mich denn noch mehr aufregen?»
Zu Hause holte Jenna die alte Keksdose unter dem Bett hervor, die sie jahrelang nicht geöffnet hatte, und breitete die darin befindlichen Gegenstände auf dem Bett aus: Soo-mins Portemonnaie mit ihrer Büchereikarte, koreanischen Münzen, einer Rückfahrkarte für die Fähre und einem Automatenfoto von ihnen beiden zusammen, sechzehn Jahre alt und Grimassen schneidend. Außerdem Soo-mins Kameratasche mit den weißen Sandkörnern darin und ihr Fotoapparat, von dem die Polizei die zwei Fotos hatte.
Das von Soo-min war leicht verschwommen. Ihre Augen waren geschlossen, sie lachte. Über dem Ausschnitt ihres T-Shirts war die Silberkette sichtbar, die jetzt Jenna trug. Im Hintergrund erstreckten sich die rötlich golden schimmernden Dünen, in der oberen rechten Ecke ging der Mond auf. Das zweite Foto zeigte den Jungen, dessen Name Jae-hoon lautete, wie Jenna später erfahren hatte. Er kniete im Sand, hatte nur eine Badehose an und sah in die Kamera, während er dabei war, einen Fisch zu zerschneiden. Sein Gesicht lag halb im Schatten, die andere Hälfte war von den Strahlen der Abendsonne vergoldet. Links im Bild lag ein Gitarrenkoffer im Sand, im Hintergrund ruhte der dunkle Ozean.
Kurz nachdem diese Fotos gemacht worden waren – wie kurz? Eine Stunde später? Eine halbe Stunde? Ein paar Minuten? –, waren ihre Schwester und dieser Junge verschwunden.
Jenna vergrub das Gesicht in der Bettdecke. Mein Gott. Hatte sie sich all die Jahre geirrt?
Sie hätte es nicht erklären können, aber sie spürte, dass ihre nächste Entscheidung endgültig sein würde.
Fisk hob die Stimme, um den Cocktailempfang im Hintergrund zu übertönen. Jenna hörte das Pianoklimpern, Stimmen und Gelächter. Sie wartete, während er einen ruhigeren Ort aufsuchte.
«Sie haben es gesehen?», fragte er.
«Diese Frau in Genf, Mrs. Ishido … Wieso haben Sie …?»
«Unter Hunderten, die von Verschleppungen durch Nordkorea berichten, ist sie die Einzige, die ein U-Boot erwähnt. Es würde erklären, warum … Ich dachte, Sie sollten es wissen.»
Jenna hatte das Gefühl, das Telefon an ihrem Ohr würde glühen.
Vorsichtig sagte er: «Wenn sie morgen vor der UNO ausgesagt hat, könnte ich Ihnen die Akte zeigen.»
«Nein», sagte Jenna. In Gedanken war sie auf der Insel Baengnyeong, an jenem entlegenen Strand an der Westseite, an den die Brandung donnerte. Nach zwölf Jahren war dies die erste zarte Spur zu Soo-min, eine Meeresbrise, die durch das Schlüsselloch einer vor langer Zeit verriegelten Tür wehte. Und Jenna würde nicht zulassen, dass irgendein Geheimdienst etwas filterte oder verwischte. «Ich muss Mrs. Ishido treffen», sagte sie entschieden. «Ich muss es mit eigenen Ohren hören.»
Kim-Il-sung-Platz
Pjöngjang, Nordkorea
65. Jahrestag der Gründung der Arbeiterpartei
Sonntag, 10. Oktober 2010
Der Mief chinesischer Luftverschmutzung lag über der Stadt, das Licht war so diffus, dass der Turm der Juche-Ideologie, der normalerweise die Blicke auf sich zog, nur als beiger Umriss zu erkennen war.
Cho Sang-ho betrachtete die Szenerie von den für seine Familie reservierten Sitzplätzen auf der Südseite aus. Sein Rang im Außenministerium entsprach dem eines Oberstleutnants, und die steife Ausgehuniform, selten getragen, kratzte unangenehm und ließ ihn schwitzen. Zur Linken hatte er eine gute Sicht auf die Große Studienhalle des Volkes und die Tribüne, auf der die Führung die Ehrenbezeugungen entgegennehmen würde. Er konnte bis zur Sungri-Straße sehen, die von einer schweigenden Menschenmenge gesäumt war, von hier würde später die Parade kommen. Auf dem großen Platz warteten Tausende von Soldaten der Bodentruppen, der Marine und der Luftwaffe sowie die Rote Garde, alle in strenger Formation, wie Kompanien auf einem Schlachtplan. Dahinter standen in vollkommen geraden Reihen fünfzigtausend Zivilisten. Sie hielten Papierblumen empor – die Kimilsungia, die Blume des Großen Führers, dessen Geist auf ewig fortlebte, und die Kimiljongilia, die Blume seines geliebten Sohnes – und bildeten damit ein Meer aus Rot und Rosa, das sich bis ans Ufer des Flusses Taedong erstreckte.
Cho spürte eine Hand auf der Schulter. Als er sich umwandte, blickte er in das breite Gesicht von General Kang, das sich zu einem riesigen goldgefüllten Lächeln verzog. Er saß neben seinen beiden halbwüchsigen Töchtern. Auf Englisch, mit schwerem Akzent, flüsterte er: «Guten Morgen, Oberstleutnant Cho. Wie geht es Ihnen diesen Tags?»
Seine Töchter kicherten hinter vorgehaltenen Händen. Kang, einer der dienstältesten Diplomaten im Ministerium, hatte zur Vorbereitung auf eine wichtige Mission in den Westen mit Cho Englisch geübt.
«Ich bin bei guter Gesundheit, Genosse General. Danke der Nachfrage.»
Chos Arm lag auf der Schulter seines neunjährigen Sohnes, den alle, infolge eines Scherzes, an den sich Cho nicht mehr erinnern konnte, Puzzle nannten. Der Junge trug das rote Halstuch der Jungpioniere. Er zählte die Formationen auf dem Platz und bewegte dabei die Lippen, bis er einen lauten Schluckauf bekam, über den Cho und seine Frau im Stillen lächelten. Von allen anwesenden Frauen in ihren farbenfrohen chima jeogori, der Nationaltracht, war seine Frau in Chos Augen die schönste. Ihr gepudertes Gesicht hatte die perfekte ovale Form, sie trug dunkelroten Lippenstift, der ihr Lächeln weniger schief wirken ließ, und im Haar eine Perlmuttspange, die er ihr aus Peking mitgebracht hatte.
«Vierundzwanzig Abteilungen», flüsterte Puzzle ihm zu. «Die Kapelle habe ich nicht mitgezählt. Wo ist Onkel Yong-ho?»
Der Platz rechts neben Cho war leer. Wo mochte Yong-ho sein? Da hatte er sich einen guten Tag ausgesucht, um zu spät zu kommen …
Die Stille wurde beklemmend. Plötzlich stob ein Taubenschwarm auf, lautes Flügelschlagen hallte über den Platz. Über den Köpfen der Menge wogten sechs große Ballons mit dem Stern der Landesfahne sanft im Wind. Vom Dach des Parteigebäudes aus, direkt über dem Porträt des Großen Führers, beobachteten Bowibu-Agenten in Zivil die Menschenmenge durch Ferngläser.
Rechts von Cho entstand Unruhe, und da näherte sich Yong-ho und entschuldigte sich vielmals bei einer mit Orden dekorierten Matriarchin einer großen Familie, deren Mitglieder beinahe die ganze Reihe besetzten und allesamt aufstehen mussten, um ihn durchzulassen. Er drängte auf Cho zu wie ein verspäteter Hochzeitsgast und strahlte unterwegs jeden in der Reihe an.
«Vergib mir, jüngerer Bruder», sagte er und setzte sich. «Du wirst nicht glauben, was ich zu erzählen habe …» Yong-ho war blass, seine Hände zitterten, was Cho beunruhigt hätte, wäre seinem Bruder die Freude nicht ins Gesicht geschrieben gewesen. Als Yong-ho sich dichter heranbeugte, roch Cho den süßen Duft von soju in dessen Atem. «Sie geben mir den Topjob.»
«Im Ernst? Erster Stellvertretender Direktor?»
Yong-ho gluckste. «Noch besser.» Er flüsterte in Chos Ohr. «Vor dir steht der neue Chef.»
In gespannter Erwartung schien die Menge den Atem anzuhalten. Der Kapellmeister im Zentrum des Platzes hatte seinen Stab erhoben. Auf dem Fluss leuchteten zwei riesige LED-Wände auf, die linke verkündete: LANG LEBE DIE ARBEITERPARTEI NORDKOREAS!, die rechte: KIM JONG-IL IST DER LEITSTERN DES 21. JAHRHUNDERTS! Hörner reckten sich in die Luft, die Kapelle setzte an zum «Lied vom General», das aus Lautsprechern von jedem Gebäude am Platz dröhnte, und die Zuschauer erhoben sich von den Sitzen. Der Applaus brandete zuerst an der Großen Studienhalle des Volkes auf und breitete sich dann donnernd über den gesamten Platz aus, Männer, Frauen und Kinder rissen die Arme hoch, klatschten und riefen aus voller Kehle: «MAN-SAE! – MAN-SAE! – MAN-SAE!» Der Lärm war überwältigend.
«Ich kann ihn sehen!», schrie Puzzle und zerrte an Chos Ärmel. «Da ist er!»
Die fünfzigtausend Zivilisten schwenkten rhythmisch ihre Blumen, eine schimmernde Woge aus Rot und Rosa. Hunderte von weißen Tauben wurden freigelassen und kreisten über der Menge.
Auf der Tribüne tauchte die Gestalt von Kim Jong-il auf, dahinter ein Gefolge von Politbüro-Mitgliedern, hochrangigen Parteikadern und Generälen in sandfarbenen Jacken mit Goldrand. Der Jubel wuchs zu einem ohrenbetäubenden Getöse an. Der große Mann grüßte die Massen mit einer kleinen Handbewegung, als würde er sie segnen, und Cho spürte seine Macht wie einen Sonnenpfeil. Geliebter Führer, Geliebter General. Wie bescheiden war dieser Mann in seiner einfachen Arbeiterkleidung! Wie zerbrechlich ob all der Mühsal, die er für das Glück seines Volkes auf sich genommen hatte. Tränen brannten Cho in den Augen, im selben Moment begannen fast alle um ihn herum zu weinen. Der Jubel mischte sich mit Schluchzen. General Kangs breites Gesicht war tränenüberströmt, er klatschte wie im Rausch, und seine Töchter weinten hysterisch.
Cho ging in die Hocke und ließ Puzzle auf seine Schultern klettern. Leicht, wie er war, bedeutete es keine Mühe, ihn hochzuheben. Mit erstickter Stimme rief Cho: «Wem verdankst du deine glückliche Kindheit?»
«Dem Großen Führer Kim Il-sung und seinem Sohn Kim Jong-il, dem General von Korea!», schrie Puzzle.
Chos Frau klatschte in die Hände, der Mascara hinterließ schwarze Streifen auf ihrem Gesicht. «Man-sae!», rief sie.
Die Sonne bahnte sich einen Weg durch den Dunst und glitzerte auf den Jacken der Generäle. Cho bemerkte eine dunkle Gestalt auf der Tribüne, die etwas seitlich von den anderen stand, ein stämmiger junger Mann in schwarzer Mao-Uniform, der jüngste Sohn des Geliebten Führers. Auch die Menge hatte ihn bemerkt, Geflüster entstand, der Applaus ebbte ab. Die Menschen tuschelten über den jungen Mann – sein Gesicht so rund und gelassen wie das eines Buddhas –, als wäre ihnen ein neuer Gott kundgetan worden.
«Appa, wer ist das?», fragte Chos Sohn.
«Ein großer Mensch, vom Himmel geboren», sagte Cho. «Eines Tages, wenn du älter bist, wird er dein Lehrer und Führer sein.»
Yong-ho beugte sich wieder an Chos Ohr. «Sie machen mich zum Stabschef des Privatsekretariats des neuen Jungen», sagte er mit einem Kopfnicken in Richtung des stämmigen Mannes auf der Tribüne, Sohn des Geliebten Führers. «Im Ehrenrang eines Oberst …»
Cho sah ihn erstaunt an und setzte Puzzle ab.
«Die Ernennung wird dieser Tage bekanntgegeben», sagte Yong-ho.
Die Kapelle spielte das «Rote-Fahne-Lied», und die erste Formation behelmter Truppen mit Regimentsbannern marschierte im Stechschritt auf die Große Studienhalle des Volkes zu. Das Knallen der Stiefel ließ den Boden erzittern. Trommeln gaben den Takt vor. Der Applaus war frenetisch.
«Das ist kein Witz, oder?», fragte Cho über den Lärm hinweg, lachte laut auf und schüttelte seinem Bruder fest die Hand. «Du bringst uns allen Ehre. Hast du es appa schon gesagt? Er wird vor Stolz vergehen.» Doch als Cho sich an seine Frau wenden und die gute Neuigkeit weitergeben wollte, packte Yong-ho ihn am Arm.
«Da ist nur eine Sache, jüngerer Bruder, und ich sage es dir jetzt, damit du dir keine Sorgen machst …» Sein Lächeln wankte. «Eine Ernennung auf dieser Ebene setzt voraus, dass meine Klassenherkunft makellos ist … die Bowibu wird eine gründliche Untersuchung durchführen.»
«Natürlich.» Kurz war Cho verwirrt. «Sie müssen mit omma und appa sprechen …»
Dann begriff er.
Nicht über ihre geliebten Adoptiveltern würde das Ministerium für Staatssicherheit, die Bowibu, Untersuchungen anstellen. Die Eltern mit vorbildlicher Klassenherkunft, die zwei bemitleidenswerte kleine Jungen aufgenommen und sie wie eigene Kinder aufgezogen hatten. Sondern ihre wirkliche Abstammung würde aufgedeckt werden. Die Eltern, die er und Yong-ho nie gekannt hatten. Kalte Angst sammelte sich in Chos Magengrube.
Er wandte sich wieder der Parade zu. Eine Abteilung der Volksmarine in weißen Uniformen und Mützen marschierte vorbei, präsentierte AK-74er mit arretierten Bajonetten und brüllte: «KIM JONG-IL! KIM JONG-IL!» Die Masse stimmte ein.
«Entspann dich», sagte Yong-ho. «Das Risiko ist gering.»
«Wir wissen nichts über unsere wahren Eltern und Großeltern. Wir wissen nicht, wessen Blut in uns fließt.» Cho konnte nicht glauben, dass er dies sagte. «Älterer Bruder, diese Untersuchung darf nicht geschehen. Du musst die Ernennung ablehnen.»
«Komm schon. Sieh uns an. Glaubst du ernsthaft, wir wären die Brut von Kapitalisten, von Kollaborateuren, von Verrätern, die für den Süden gekämpft haben?»
«Wir wissen es nicht.»
«Unser Geliebter Führer hat letztes Jahr im Vergnügungspark Mangyongdae selbst gesagt, dass die Revolution durch unsere Gedanken und Taten vorangetrieben wird, nicht durch unsere Abstammung. Die Zeiten ändern sich. Außerdem ist die Partei verdammt dankbar für das, was ich geleistet habe, und weiß, dass ich es verdient habe …»
Yong-ho verstummte, sein Gesicht verdunkelte sich. Er war ein hochgewachsener Mann mit einem leicht pockennarbigen Gesicht, harten, intelligenten Augen und bis aufs Blut abgekauten Nägeln. Der Schnitt seines chinesischen Anzugs verbarg den mageren Körper, der von einem regen Stoffwechsel zeugte. Seine Finger zitterten, verlangten nach einer Zigarette. Cho wusste, dass sein Bruder in der komplexen politischen Landschaft von Pjöngjang eine wichtige Rolle spielte, auch wenn er nie über seine Arbeit sprach. Auf Fragen hin bezeichnete er sich als Finanzvermittler.
«Falls du dich irrst», sagte Cho kühl, «ist dir klar, was das bedeutet?»
Yong-hos gute Laune war verflogen. «Man lehnt einen Posten, den einem der Führer gibt, nicht einfach ab, jüngerer Bruder. Ich habe doch gesagt, du sollst dir keine Sorgen machen. Ich werde beschützt.»
Cho dachte darüber nach. Es stimmte, Yong-ho gehörte zu den Anerkannten, einer Elitegruppe von geschützten Kadern. Aber eine zynische Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass niemand, nicht einmal auf dieser Ebene, vor dem Verbrechen, schlechtes Blut zu haben, geschützt war.
Die Kapelle spielte «Zehn Millionen Bürger werden zu Kugeln und Bomben». Eine Einheit der Frauenbrigade marschierte an der Tribüne vorbei, die Beine bewegten sich wie Teile einer einzigen großen Maschine. Es ist eine seltsame Tatsache, dachte Cho, dass Frauenkörper sich besser für diese Art Choreographie eignen als die von Männern. Hinter ihnen hatten diverse Kriegsgeräte – Panzer, Abschussrampen und Amphibienfahrzeuge – an der Sungri-Straße Stellung bezogen, um auf den Platz zu rollen.
Chos Frau bemerkte seinen Stimmungswechsel und hörte auf zu jubeln.
«Hier.» Yong-ho griff in die Tasche und reichte Cho eine kleine Geschenkschachtel aus hochwertiger weißer Pappe. «Hiermit kannst du auf deinen Auslandsreisen die weißen Teufel beeindrucken.»
Doch Cho war in Gedanken versunken. Er steckte die Schachtel ein, ohne hineinzusehen oder seinem Bruder zu danken.
Als nach der Parade Chos Fahrer in einer langen Schlange wartender Wagen feststeckte, gingen Cho, seine Frau und Puzzle die zwanzig Minuten zu ihrer Wohnanlage zu Fuß zurück. Die großen Prachtstraßen waren voller Zivilisten und Militärangehöriger. Die aufgekratzte Stimmung der Parade wirkte in der Stadt nach. Vor ihnen marschierten Hunderte Studenten der Kim-Il-sung-Universität in weißen Hemden mitten auf der Somun-Straße, schwenkten große Fahnen und sangen.
Ruhmreiches Korea! Dein Stern strahlt durch die Zeit.
Wir folgen dir zum Kampf, Geliebter Führer,
gib uns dein Geleit.
Im nachmittäglichen Herbstdunst schienen alle Gebäude triumphal zu leuchten. Puzzle plapperte über Helden, die gegen die Japaner gekämpft hatten, doch Cho blieb schweigsam. Im Geiste sah er Bowibu-Offiziere eine Akte aufschlagen, alte Geburtsurkunden hervorholen und Namen und Gesichter ans Tageslicht bringen, die er nie zuvor gesehen oder gehört hatte, seine wahre Familie. Wie lange würden sie dafür brauchen? Er hatte keine Ahnung. Angst zuckte in ihm auf.
Zu Hause schloss er die Tür seines Arbeitszimmers hinter sich, atmete tief durch und mahnte sich zur Ruhe. Yong-ho war einer der Anerkannten! Keines der Staatsorgane, weder die Geheimpolizisten der Bowibu noch die richtige Polizei oder die Armee kamen ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Führers höchstpersönlich an ihn heran. Und was konnte so schlimm sein an der Vergangenheit seiner echten Familie? Die Großeltern waren wahrscheinlich armselige Landarbeiter gewesen, die im Dreck herumscharrten, wie alle damals. Cho schenkte sich aus der Karaffe auf dem Sekretär einen Cognac ein und steckte eine Kassette in die Stereoanlage. Das Glas sanft schwenkend, setzte er sich in den Sessel und summte den Refrain von «Hey Jude» mit. Es gab eine kurze Liste von westlichen Liedern, die als harmlos eingestuft waren. Er hatte den Musikkurator in der Großen Studienhalle des Volkes bestochen, sie ihm aufzunehmen. Langsam entspannte er sich. Yong-hos Ernennung würde der Familie Ehre und Prestige bringen. Er machte sich unnötig Sorgen.
Plötzlich erinnerte er sich an Yong-hos Geschenk, holte es aus der Tasche seiner Uniformjacke und öffnete es. In der Schachtel lag, eingewickelt in Seidenpapier, eine Brieftasche aus weichem, genarbtem Leder, mit einem englischen Etikett. Hand-stitched in Italy. Sie war wunderschön. Wo hatte sein Bruder diesen Luxusgegenstand her? Er strich mit dem Finger über die überflüssigen Kartenschlitze – kein Nordkoreaner besaß eine Kreditkarte – und öffnete das Scheinfach. Darin entdeckte er drei amerikanische Hundert-Dollar-Scheine, so glatt, als wären sie gerade erst aus der Presse gekommen. Wie neu, dachte er, und als er sie ans Licht hielt, stieg ihm ein Hauch von frischer Tinte in die Nase.