Sternenstürme - Michael McCollum - E-Book

Sternenstürme E-Book

Michael McCollum

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Beschreibung

Auf Feindfahrt

Es ist das 24. Jahrhundert: Die Menschheit hat die ersten Schritte in die Tiefen der Galaxis unternommen. Da stoßen ihre Erkundungsraumer auf zwei Alien-Raumschiffe – Abgesandte eines gigantischen Sternenreichs, millionenfach größer als das der Menschen. Und dieses Sternenreich ist nicht friedlich: Die Broa unterjochen eine Vielzahl von Planeten und verhindern, dass ihre Bewohner die Raumfahrt entwickeln. Sollten die Broa die Menschen entdecken, droht eine Invasion. Eine kleine Gruppe wagt sich ins Herz des Imperiums, um zu ergründen, was es mit den geheimnisvollen Sternentoren auf sich hat und ob die Menschheit sie im Ernstfall als Fluchtweg benutzen kann.

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HEYNE 〈

DAS BUCH

Wir schreiben das 24. Jahrhundert irdischer Zeitrechnung. Die Menschheit ist ins All aufgebrochen. Da stößt das interstellare Erkundungsschiff Magellan im Neu-Eden-System auf ein erschreckendes Geheimnis: Nicht allzu weit entfernt befindet sich ein galaktisches Imperium, zahllose Planeten, beherrscht von den mysteriösen Broa, die es keiner anderen Spezies erlauben, sich im Weltraum auszubreiten. Eines dieser Wesen kann nach einer Raumschiffkollision in Gewahrsam genommen werden. Es zeigt sich gehorsam und sehr gelehrig. Doch Mark Rykand, dessen Schwester bei der Kollision ums Leben gekommen ist, traut dem Alien nicht und macht es sich zur Aufgabe, Näheres über die Broa und ihre seltsamen Sternentore zu erfahren. Mit dem reparierten Broa-Schiff durchstreifen er und seine Mannschaft als Händler getarnt das All, um das Geheimnis dieser Sternentore zu ergründen. Denn sollte die Erde eines Tages von den Broa entdeckt werden, könnte das für die Menschheit die totale Unterjochung bedeuten – daher ist der Zugang zu intergalaktischen Fluchtwegen von entscheidender Bedeutung …

Mit »Sternenstürme« setzt Michael McCollum, der preisgekrönte Autor von »Der Antares-Krieg«, seine neue atemberaubende Science-Fiction-Saga fort, die mit »Sternenfeuer« begann.

DER AUTOR

Michael McCollum wurde 1946 in Phoenix, Arizona, geboren und studierte an der University of Arizona Luft- und Raumfahrttechnik. Seit seinem Abschluss ist er als Raumfahrtingenieur tätig und hat an beinahe allen militärischen und zivilen Raumfahrzeugtypen mitgearbeitet, die heute gebaut werden. Daneben hat er sich einen Namen als Autor zahlreicher Science-Fiction-Romane gemacht.

Von Michael McCollum sind im Wilhelm Heyne Verlag außerdem erschienen: Sternenfeuer, Der Antares-Krieg, Lebenssonden.

Inhaltsverzeichnis

HEYNE 〈DAS BUCHDER AUTORPrologTEIL 1 - Die Heimkehr
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4
Copyright

Prolog

»In einem Zornesausbruch hat Deutschlands ›Eiserner‹ Kanzler, Prinz Otto von Bismarck, einmal konstatiert: ›Die Vorsehung beschützt Kinder und Idioten, Betrunkene – und die Vereinigten Staaten von Amerika.‹

Bismarcks Ausspruch erlangt gerade auch in unserer jetzigen Situation wieder große Aktualität. Wie, wenn nicht durch einen Akt der Vorsehung, hätten wir von den Broa erfahren sollen, bevor sie uns ihrerseits entdeckten? Doch wo wir nun von ihrer Existenz Kenntnis haben, was sollen wir mit diesem Wissen anfangen?

Wie sollen wir unsere Zukunft gegen eine Spezies sichern, die jedes Sternsystem versklavt, dessen sie ansichtig wird? Sollen wir unsere eigenen Kolonien zwischen den Sternen aufgeben, uns auf die Erde zurückziehen und beten, dass die Oberherren der Galaxis uns noch für ein paar Generationen übersehen? Oder sollen wir so weitermachen wie bisher und die sofortige Auslöschung riskieren?

Diese Zwickmühle ist als die ›Große Debatte‹ bekannt geworden. Obwohl die Antwort im Rückblick feststeht, war sie damals alles andere als eindeutig.

Diejenigen, die vor dieser Entscheidung standen, befanden sich insofern im Nachteil, als sie nicht wussten, was wir heute wissen. Aber dass wir überhaupt eine Wahl hatten, grenzte schon an ein Wunder.

Wäre nämlich eine broanische Flotte über eine unserer interstellaren Kolonien gestolpert, hätten wir erst dann davon erfahren, wenn ihre Kriegsflotte an unserem Himmel erschienen wäre und unsere Kapitulation verlangt hätte.

In Anbetracht der menschlichen Natur hätte unsere Spezies freilich nicht klein beigegeben. Unser erster – und zugleich auch letzter – Impuls wäre Widerstandsgeist gewesen. Die Broa hätten die Erde in eine ausgebrannte, radioaktive Hölle verwandelt; und diejenigen von uns, die sich zuvor lautstark unserer früheren Siege gerühmt hatten, wären nurmehr Staub in einem heißen Wind.

Halten Sie, liebe Gäste, wenn Sie heute Abend feiern, deshalb für einen Moment inne und bedenken Sie, wie es nämlich auch hätte kommen können …«

Aus einer Siegesansprache der Sehr Ehrenwerten Samantha Ries-Morgan an das Weltparlament Oktober 2356

TEIL 1

Die Heimkehr

1

Die Morgensonne war schon ein Drittel des Wegs am Himmelsgewölbe emporgestiegen, als das silberfarbene Torpedo-Auto in Sichtweite des Bodensees kam. Das spitznasige Fahrzeug jagte durch eine schweizerische Landschaft mit malerischen ›Dörflis‹ inmitten grüner Weingärten und schoss unter Missachtung der Schwerkraft mit weiten Sätzen durch die Trasse der gestaffelten elektromagnetischen Beschleunigungsringe. Mit 500 km/h hinterließ das Auto beim Durchgang durch die feuchte Sommerluft einen Kondensstreifen.

Im Innenraum des Autos kuschelten Mark Rykand und Lisabeth Arden sich auf einem breiten Sitz aneinander und sahen die Welt draußen am Fenster vorbeiziehen. Nach mehr als drei Jahren im Raum übten die Grün-, Braun-und Blautöne der Erde eine Faszination aus, für die keiner von ihnen auf Anhieb eine Erklärung parat gehabt hätte.

»Schau mal, Mark, da liegt der See!«, sagte Lisa beim Anblick der blauen Weite, die mit einer Traube weißer Segel garniert war. Lisa war eine niedliche Blondine mit grünen Augen und einem Stupsnäschen. Sie hatte einen Mund wie Julia Roberts und Grübchen, wenn sie lächelte. Die dauerhafte Bräune war nach dem dreijährigen Aufenthalt im Vakuum verblasst, und es war wieder der natürlich blasse Teint zutage getreten, der den Frauen von den britischen Inseln nun einmal zu eigen ist.

»Wird jetzt nicht mehr lange dauern«, erwiderte er und streichelte ihre Wange. Mark hatte eine durchschnittliche Körpergröße, einen sandfarbenen Haarschopf und ein Lachen, das immer etwas schief geriet. Seine kräftige Statur hatte an Bord des Schiffs einen leichten Muskelschwund erlitten, obwohl er dreimal wöchentlich im beengten Fitnessraum in der Technischen Abteilung trainiert hatte. Trotzdem war der Körper noch immer ›knackig‹ und zeigte auch nicht den Bauchansatz, den er mit aller Macht zu unterdrücken versuchte.

Auf der anderen Seeseite erschien streiflichtartig die Pyramide aus Glas und Stahl des Sternenforschungs-Hauptquartiers, bevor die von Beschleunigungsringen gekrönte Linie der Pylonen hinter einem niedrigen Hügel abtauchte. Der Anblick erinnerte ihn an das letzte Mal, als er diese besondere Reise unternommen hatte.

Es war jedoch keine schöne Erinnerung.

Für Mark hatte das Abenteuer beziehungsweise die Odyssee vier Jahre zuvor begonnen, als er eines Tages spät in der Nacht von einer Party zurückkehrte und eine Notfall-Nachricht auf dem Telefondisplay in seinem Apartment blinkte. Mark rief die Nachricht ab und schaute in die Augen eines Fremden.

Der Mann identifizierte sich als Offizier vom Dienst im Sternenforschungs-Hauptquartier in Deutschland und bat um sofortigen Rückruf. Ein Anruf von der Sternenforschung konnte indessen nur eins bedeuten – Jani war etwas zugestoßen!

Mark hatte seine Schwester zuletzt vor einem Vierteljahr im Raumfahrtzentrum White Sands gesehen, als er sie zu ihrer letzten Mission für die Sternenforschung verabschiedet hatte. Jani hatte die ganze Zeit, während sie aufs Zubringerboot zum Schiff warteten, gescherzt und gelacht. Dann hatte sie ihm noch von der Passagierbrücke aus zugewinkt, und ihre wilde kupferrote Mähne hatte im Wind geflattert.

Er musste gleich zwei Anwahlversuche unternehmen, so stark zitterten ihm die Hände. Und dann dauerte es nur noch ein paar Sekunden, um seinen Verdacht zu bestätigen. »Es tut mir leid, Herr Rykand«, eröffnete der Offizier vom Dienst ihm. »Ihre Schwester ist vor drei Wochen auf einer Mission im Neu-Eden-System bei einem Unfall ums Leben gekommen.«

Trauer schlug über Mark zusammen wie eine Woge aus schwerem Schlick. Diese Trauer war jedoch in Argwohn umgeschlagen, als der Beamte sich nicht in der Lage sah, ihm nähere Einzelheiten bezüglich des Todes von Jani mitzuteilen. Nach einer schlaflosen Nacht buchte er einen Suborbital-Flug nach Zürich und fuhr von dort mit ebendiesem Torpedo-Auto nach Meersburg zum Hauptquartier der Sternenforschung.

»Was ist denn, mein Schatz?«, fragte Lisa und schmiegte sich an ihn. Sie wunderte sich über seine plötzliche Schweigsamkeit. Der Duft ihres blonden Haars und die vertraute Wärme ihres weichen Körpers riss Mark wieder aus seinen Gedanken.

»Ich habe mich nur ans letzte Mal erinnert, als ich diese Strecke gefahren bin.«

»Ach so«, erwiderte sie und drückte ihm die Hand. Nachdem sie sich geliebt hatten, tauschten sie in der Dunkelheit ihrer Kabine oft im Flüsterton Intimitäten aus – wie Liebespaare es seit undenklichen Zeiten getan haben.

Sie sprachen manchmal auch über die Tragödie, durch die Mark in ihr Leben getreten war.

Nachdem er zu der Schlussfolgerung gelangt war, dass die Sternenforschung ihn belog, recherchierte Mark in den Informationsnetzen nach Meldungen über die Magellan. Er war auch nicht überrascht, als er von der Rückkehr des Sternenschiffs zum Sonnensystem erfuhr. Wie sonst hätte die Sternenforschung Kenntnis von Janis Tod erlangen sollen?

Was ihn jedoch überraschte, war die Position der Magellan. Das Schiff lag nicht etwa an der Hochstation, dem ›Sprungbrett‹ für Sternenschiffe der Sternenforschung. Vielmehr hatte sie an PoleStar angedockt, dem umlaufenden Spiegel des Wetterdirektorats, der den dunklen nördlichen Regionen im Winter Licht spendete.

Nachdem der Keim des Zweifels erst einmal gesät worden war, wuchs er sich alsbald zu einer mächtigen Eiche des Verdachts aus. Zum Glück war Mark auf seiner Suche nach Antworten nicht ohne Ressourcen. Seitdem seine Eltern bei einem Luftauto-Unfall ums Leben gekommen waren, hatte Mark sein Erbe verprasst und dem Müßiggang gefrönt. Die Nächte schlug er sich hauptsächlich im Cattle Club um die Ohren und dezimierte die Schnapsvorräte. Und bei einem dieser Saufgelage brütete Mark schließlich einen Plan aus, um die Wahrheit über den Tod seiner Schwester herauszufinden.

Gunter Perlman war ein berühmter Solarregatta-Segler, und Mark war hin und wieder bei ihm mitgesegelt. Indem er sich bereit erklärte, die Frachtkosten zu übernehmen, bewog er Gunter dazu, mit seiner Jacht zur Polarbahn zu fliegen – angeblich zu dem Zweck, vor der nächsten Mond-Regatta noch ein neues Sonnensegel zu testen.

Mark verging schier vor Ungeduld, während er und Gunter die eisigen Pole abwechselnd unter der Steuerkapsel der Jacht vorbeiziehen sahen. Gleichzeitig richteten sie ständig das Segel neu aus, um aus der kreisförmigen Bahn in eine schräge Ellipse zu wechseln.

Endlich erschien die Raumstation auf ihrem Bildschirm. Und dann wurde das Funkgerät lebendig: »Raumjacht, hier spricht die Magellan. Sie nähern sich einem Sperrgebiet. Identifizieren Sie sich!«

Gunter entgegnete, dass er von keinem Sperrgebiet in diesem Sektor wüsste. Daraufhin entspann sich eine kurze Diskussion, in deren Verlauf er schließlich einen Notfall meldete. Dann trat Perlman den Rückzug an und neigte das Segel, um den langen spiralförmigen Abstieg zurück in den niedrigen Orbit einzuleiten, während Mark einen Raumanzug anzog und die Luftschleuse verließ.

Er hatte sich kaum von der Jacht entfernt, als sein Helm mit der Aufforderung zu stoppen widerhallte. Weil er aber nicht antwortete, schickte das Sternenschiff drei Raumfahrer aus, um ihn abzufangen. Ein tödliches Katz- und Maus-Spiel folgte.

Ob durch Glück oder Können – auf jeden Fall gelang es Mark, das Stationshabitat noch vor seinen Verfolgern zu erreichen. Er landete auf der Hülle und verbarg sich im Irrgarten aus Wärmeaustauschern, Funkantennen und anderen Auswüchsen. In der Deckung dieses Dickichts strebte er einem Punkt direkt unter dem nahe gelegenen Sternenschiff entgegen. Von dort wollte er zur Magellan springen und – sobald er an Bord war – unter Berufung auf seinen Status als einziger Verwandter von Jani Antworten verlangen. In der Hoffnung, welche zu bekommen, bevor er in Handschellen abgeführt wurde.

Er erreichte die Magellan nie. Während er sich einen Weg um das Habitat herumbahnte, stieß er auf ein erleuchtetes Sichtfenster. Er versuchte das Hindernis zu umgehen, wobei sein Blick in die Kabine fiel. Was er dort sah, lenkte ihn von seinem eigentlichen Ziel ab.

Die unter ihm liegende Kabine war mit Lisa Arden besetzt. Die Stationskontrolle hatte sie mit der Meldung, dass ein Eindringling sich auf der Hülle herumtrieb, unter der warmen Dusche hervorgeholt und sie angewiesen, ihr Sichtfenster einzutrüben. Tropfnass und ohne Handtuch stieß sie sich in der Mikrogravitation durch die Kabine ab, um der Anweisung Folge zu leisten. Sie erreichte das Sichtfenster ein paar Sekunden später.

Als Mark ihrer ansichtig wurde, glaubte er eine Vision zu haben: die der Kleidung und Schwerkraft ledigen Brüste, der Schimmer der nassen Hüften. Der Anblick hätte ihn unter normalen Umständen in den Bann gezogen. Stattdessen verlor er schlagartig das Interesse an Lisa, als er ihren Begleiter erblickte.

Das Wesen war etwa anderthalb Meter groß und mit einem braunen Pelz bedeckt. Aus dem kugelförmigen Kopf ragten zwei runde Ohren, die dem Geschöpf die Anmutung einer Comicfigur verliehen.

Zuerst hielt er es für einen Affen. Doch ein Blick in diese großen gelben Augen genügte, um zu erkennen, was die Sternenforschung da verbarg.

Aus der erleuchteten Kabine schaute ein Alien zu ihm herauf, in dessen Blick sich eine genauso hohe Intelligenz spiegelte wie die von Mark.

Plötzlich wurde es dunkel um das Torpedo-Auto, als es in den Tunnel einfuhr, der sie unterm See hindurchführen würde. Es knackte in Marks Ohren, als das dahinrasende Auto die Luftsäule vor sich komprimierte wie ein Korken, der in einen Flaschenhals gedrückt wurde.

Eine halbe Minute später flutschte das Auto auf der deutschen Seite des Sees wieder aus dem Tunnel heraus. Es erklomm einen niedrigen Hügel, auf dem in akkuraten Reihen Weinstöcke angepflanzt waren. Auf dem Kamm drehten die Beschleunigungs-Pylonen dann in einer sanften Biegung nach Meersburg ein.

Kapitän Landon von der Magellan war fuchsteufelswild geworden – es war einem um seine Schwester trauernden Bruder gelungen, so tief in seinen Sicherheitsbereich einzudringen, bis er dem größten Geheimnis im Sonnensystem von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Weil man Mark aber auch nicht einsperren und für immer unter Verschluss halten konnte, tat man das Naheliegende. Man weihte ihn in die Sache ein und verpflichtete ihn dann für die gesamte Dauer der Mission.

Die Magellan hatte gerade Neu-Eden umkreist, als der Großvater aller Gravitationswellen die Hülle durchdrungen hatte. Kurz darauf entdeckten Sensoren zwei unbekannte Raumschiffe, von denen eins das andere mit Energiestrahlen beharkte. Unter Beschuss und anscheinend unfähig, das Feuer zu erwidern, suchte das passive Mitglied des Duos Zuflucht beim nahe gelegenen Planeten.

Zu der Zeit kam das Scout-Boot Nummer drei der Magellan vom Mond von Neu-Eden zurück. Die Position des Pfadfinders brachte ihn ein paar tausend Kilometer näher an die Duellanten heran als die Magellan selbst. Jani Rykand, die Pilotin des Pfadfinders, berichtete, dass auch sie die Gravitationswelle gespürt hätten, und übertrug Szenen des Kampfs, bis sie selbst in die Gefechtszone gerieten. Als das kleinere unbekannte Raumschiff sich Scout Drei schließlich auf die geringste Entfernung angenähert hatte, schoss es einen Energiestrahl gegen den Scout ab und pulverisierte im nächsten Moment das Boot und die acht armen Seelen an Bord.

Während er mit eigenen Augen ansehen musste, wie seine Besatzungsmitglieder ermordet wurden, suchte Dan Landon verzweifelt nach einer Möglichkeit, das Schiff zu verteidigen, das – bis auf ein paar Jagdgewehre und leichte Maschinengewehre – unbewaffnet war. In seiner Not schickte er dem Angreifer eine interstellare Nachrichten-Sonde entgegen.

Nachrichtensonden sind Miniatur-Sternenschiffe und wie ihre größeren Brüder nicht konzipiert, tief im Schwerefeld eines Planeten zu operieren. Die Sonde verschwand also im Hyperraum und tauchte dann als expandierende Schuttwolke wieder im Normalraum auf.

Diese Wolke raste mit 60% der Lichtgeschwindigkeit frontal auf den Angreifer zu. So schnell, dass das menschliche Auge nicht zu folgen vermochte, wurde das kleinere der beiden UFOs in eine Kugel aus glühendem Plasma verwandelt, die sich gegen die Dunkelheit des Raums abhob.

Da sein Peiniger nun zerstört war, stellte das größere UFO die erratischen Flugmanöver ein und ging in den freien Fall über. Kapitän Landon schickte ihm einen seiner überlebenden Scouts hinterher. Als die Mannschaft des Pfadfinders das aufgegebene Schiff enterte, fanden sie luftlose Gänge vor, die mit den Leichen von zwei verschiedenen Arten von Aliens angefüllt waren. Und sie fanden auch noch einen einzigen Überlebenden, der eine dritte Art verkörperte. Der Überlebende hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit einem irdischen Affen.

Lisa Arden war ins Projekt involviert worden, als sie von ihrer Linguistik-Professur an der Multiversität von London zum PoleStar-Habitat abgeordnet worden war. Nachdem sie in der Polarbahn angekommen war, wurde ihr bedeutet, dass sie einen Weg finden sollte, mit dem Überlebenden ins Gespräch zu kommen.

Der Name des Überlebenden war Sar-Say, und obwohl sie eigentlich beabsichtigte, seine Sprache zu lernen, erwies er sich als ein gelehriger Schüler und lernte seinerseits Standard. Schließlich begannen sie gebrochen und mit vielen Missverständnissen zu kommunizieren. Sar-Say gab sich als Angehöriger einer Rasse namens ›Taff‹ aus. Er sagte, dass er ein Händler sei und nicht wisse, weshalb man sein Schiff überhaupt angegriffen habe. Innerhalb weniger Wochen verbesserten sich seine Sprachkenntnisse bis zu dem Punkt, wo Lisa befand, dass sie über die ›Ich Tarzan, du Jane‹-Phase hinaus waren. Zumal sie unter starkem Druck von der Erde stand, den immer dickeren Fragenkatalog zu beantworten. So geschah es, dass Sar-Say und Lisa zur ersten von vielen Befragungen zusammentrafen.

Und dann erzählte Sar-Say ihnen von den Broa.

2

Das Torpedo-Auto fuhr in die Transportstation des Hauptquartiers der Sternenforschung ein, nachdem es die Ruinen von Schloss Meersburg passiert hatte. Als das Fahrzeug sanft verzögerte, lösten Mark und Lisa sich voneinander und holten ihre Reisetaschen aus dem Staufach unterm Kabinendach. Sie wurden von den Doktoren Thompson und Morino – den beiden Wissenschaftlern, von denen sie begleitet wurden – mit gelindem Amüsement betrachtet.

Das Hauptquartier der Sternforschung war noch genauso, wie Mark es in Erinnerung hatte. Sie fuhren mit dem Aufzug von der Transportstation zur Hauptebene und betraten dann die Vorhalle. Das Foyer war ein so weiter offener Raum, dass in ihm ein eigenes Mikroklima geherrscht hätte, wären die Klimaanlagen nicht gewesen. Die Echos wurden von einem Anti-Hall-Feld geschluckt. Die Luft in der Halle wirkte stickig, wie wenn auf einem See Nebel aufkommt.

»Ah, Herr Rykand, willkommen zurück!«, ertönte eine Frauenstimme irgendwo hinter ihm. Mark drehte sich um und sah Frau Palan, die Assistentin des Direktors der Sternenforschung, zu ihrer Begrüßung durch die weite Halle auf sie zueilen. Frau Palan hatte ihn auch schon beim ersten Besuch empfangen.

Er schüttelte ihr die Hand und stellte sie dann seinen Begleitern vor. Als er damit fertig war, sagte sie: »Wenn Sie mir bitte folgen wollen, der Direktor und seine Gäste warten bereits.«

Sie führte sie an holografischen Panorama-Abbildungen verschiedener kolonialer Welten vorbei, die im letzten Jahrhundert besiedelt worden waren. Die interstellare Kolonisation war ein ebenso hartes wie gefährliches und noch dazu teures Geschäft, bei dem unterm Strich jedoch kein Gewinn erzielt wurde, denn jede neue Welt hatte ihre ganz speziellen Eigenheiten – sowohl positive als auch negative. Eine außerirdische Ökologie war so komplex, dass die Kolonisten oft erst nach Jahren die tödliche Krankheit entdeckten, die sie auslöschen würde oder den spezifischen Umweltfaktor, durch den der Planet seine Eignung für eine menschliche Besiedlung verlor.

Und es gab auch sehr viele Menschen auf der Erde, die der interstellaren Forschung überdrüssig geworden waren. Manche scheuten die hohen Kosten, während andere sich vorm Unbekannten fürchteten. Und wieder andere sahen schlicht und einfach keinen Sinn in der ganzen Sache.

Einer von ihnen war Mikhail Vasloff, der Gründer von Terra Nostra, einer Organisation, die sich der Beendigung des wirtschaftlichen Aderlasses durch die Sternenforschung und der Rückführung aller Kolonisten zur Erde verschrieben hatte.

Die Geschichte, die Sar-Say seinen Befragern erzählte, warf sogar bei glühenden Verfechtern der Kolonisierung die Frage auf, ob Vasloff nicht vielleicht doch recht haben könnte.

Laut Sar-Say waren die Broa eine Rasse fleischfressender Reptilien, die das Netzwerk aus Sternentoren kontrollierten und es als Werkzeug der Unterdrückung jeder intelligenten Spezies nutzten, der sie begegneten. Ohne eigene interstellare Kapazitäten waren die anderen Rassen ihnen hilflos ausgeliefert. Wenn sie einmal entdeckt worden war, hatte eine bewohnte Welt nur noch die Wahl: kapitulieren oder untergehen.

Auf diese Weise hatten die Broa ihr Territorium auf mehr als eine Million Sterne ausgedehnt! Nach etlichen Diskussionen einigten sich die Projektforscher schließlich auf den Namen ›Souveränität‹ als Chiffre für das broanische Territorium.

Nicht wenige Leute, die über den Inhalt von Sar-Says Befragungen informiert wurden, hielten das für eine hanebüchene Geschichte und sagten, der Pseudo-Affe sei so etwas wie ein geschwätziger schiffbrüchiger Seemann, der für die naiven Eingeborenen Seemannsgarn spann. Das Problem bestand also darin, wie man den Wahrheitsgehalt seiner Behauptungen ermitteln sollte. Und die Lösung bestand offenkundig darin, eine Expedition auszusenden, um der Sache auf den Grund zu gehen. Leider hatte die Sache einen Haken: Wo zwischen den Sternen sollte die Menschheit nach diesen galaktischen Oberherren suchen?

Die Reise durch ein broanisches Sternentor war nämlich etwas anderes als eine Reise in einem Raumschiff. Die Tore querten nicht etwa die riesigen Entfernungen zwischen den Sternen, sondern umgingen sie einfach. Wie ein Computernetzwerk hatte das System eine Topologie, die unabhängig von seiner Geografie war und die Broa von der Notwendigkeit entband, sich mit Astrogation zu befassen.

Ein Reisender bestieg in einem System ein Schiff und verließ es in einem anderen, wobei es ihm egal sein konnte, durch wie viele Lichtjahre die beiden Systeme getrennt waren.

Obwohl er schon mehr als 100 Welten besucht hatte, hatte Sar-Say keine Ahnung, wohin seine Reisen ihn überhaupt geführt hatten. Zumal es ohne ein gebräuchliches menschliches Koordinatensystem keine Möglichkeit gab, seine Beobachtungen in Informationen zu übertragen, mit denen die Menschheit etwas anzufangen vermochte.

Schließlich hatten die frustrierten Projekt-Astronomen doch noch eine Methode gefunden, um Sar-Says Behauptungen zu überprüfen. Sie hatten ihn um eine Beschreibung etwaiger ungewöhnlicher astronomischer Phänomene gebeten, die er gesehen hatte – in der Hoffnung, dass er ihnen bekannte galaktische Merkmale nannte.

Sar-Say hatte ein gutes Gedächtnis und erwies sich zudem als ein recht talentierter Künstler, nachdem Lisa ihn mit der Bedienung eines Zeichengeräts vertraut gemacht hatte. Er verbrachte die Stunden damit, nächtliche Szenen der Welten zu zeichnen, die er besucht hatte. Dabei rekonstruierte er einige Sternbilder, die aus hellen blauen Sternen bestanden. Die Astronomen programmierten ihre Computer dann darauf, sämtliche bekannten Sterne der Spektralklassen A und B abzusuchen, in der Hoffnung, eine Position und eine Perspektive zu finden, die mit Sar-Says Zeichnungen übereinstimmten. Aber ohne Erfolg. Die Ungenauigkeiten, die mit der Zeichnung von Sternbildern aus dem Gedächtnis einhergingen, waren einfach zu groß.

Eins von Sar-Says Gemälden zeigte indes die Ansicht eines düsteren außerirdischen Meers, über dem große und kleine Halbmonde drifteten. Und über den Monden schwebte wiederum eine komplexe Kugel aus Gas und Staub, die mit glühenden Fasern und dunklen Strängen marmoriert war. Sar-Say sagte ihnen, auf der fraglichen Welt sei dieser geisterhafte Nebel größer als der Vollmond auf der Erde und sein diffuses silbernes Glühen sei viel heller. Die Einheimischen bezeichneten die glühende Erscheinung als ›Himmelsblume‹.

Bei diesem Objekt handelte es sich offensichtlich um die Überreste einer Supernova, und weil es seit Anbeginn der Geschichtsschreibung nur eine Handvoll Supernovae in der Nähe gegeben hatte, überprüften die Astronomen alle möglichen Kandidaten. Und sie fanden auch eine gute Entsprechung in Form einer Supernova, die ungefähr im Jahr 6000 v. Chr. im Sternbild des Stiers explodiert war. Das Licht dieser galaktischen Katastrophe hatte die Erde erst im Sommer des Jahres 1054 n. Chr. erreicht, wo es von chinesischen Astronomen beobachtet wurde.

Die Himmelsblume, so schien es, war das Messierobjekt Nummer eins – der Krebsnebel!

Die Gruppe betrat einen Privatlift, der sie lautlos zum Büro des Direktors der Sternenforschung brachte. Mark erkannte die Personen, die bereits um den Konferenztisch versammelt waren – einschließlich einer Person, über deren Anwesenheit er sich wunderte. Als er eintrat, stand Nadine Halstrøm, die Welt-Koordinatorin persönlich, auf und begrüßte ihn. Zu den anderen Anwesenden zählten Anton Bartok, Direktor der Sternenforschung, und Dieter Pavel, der Vertreter der Welt-Koordinatorin in PoleStar. Pavel war außerdem einmal ein Rivale um Lisa Ardens Zuneigung gewesen.

»Willkommen daheim, meine Damen und Herren«, sagte Bartok mit dröhnender Stimme. »Lange haben wir auf diese Besprechung gewartet. Wir haben Ihren Bericht gelesen oder zumindest die Zusammenfassung für die Regierung. Jedoch wollte die Koordinatorin Halstrøm aus erster Hand von Ihren Abenteuern hören. Wer ist der Sprecher?«

Mark hob die Hand und sagte: »Wir haben Strohhalme gezogen, und ich habe verloren.«

»Dann fahren Sie fort, Herr Rykand«, sagte die Koordinatorin.

»Jawohl, Madame. Wie Sie wissen, ist unsere Flotte gemäß Ihren Anweisungen zum Krebsnebel aufgebrochen, um zu sehen, ob wir Sar-Says Geschichten von der broanischen Souveränität zu verifizieren vermochten. Der Flug dorthin hat 375 Tage gedauert, und bei unserer Ankunft sind wir am System 104-2838 herausgekommen, das wir im Geiste der Mission auf den Namen Versteck tauften …«

Die Expedition zum Krebsnebel hatte eigentlich zum System eines veränderlichen G-Klasse-Sterns in einer Entfernung von ungefähr 50 Lichtjahren geführt. Auch acht Jahrtausende nach der gigantischen Explosion glühte der Nebel noch mit einer Energie, die 75 000 Sonnen entsprach. Der Dynamo, der ihn antrieb, war ein rotierender Neutronenstern – ein Pulsar –, bei dem es sich um die eigentlichen Überreste der Supernova handelte. Eine Raumschiffbesatzung, die das Pech hatte, in seiner Nähe in den Unterlichtbereich zurückzufallen, wäre binnen Sekunden von einem ganzen Sortiment an Strahlungsarten getötet worden.

Bei der Ankunft im Versteck-System stieß man nach einer kurzen Suche auf eine Welt mit dem doppelten Durchmesser der Erde, die in der gemäßigten Zone umlief. Man taufte sie auf den Namen ›Brinks‹. Brinks hatte einen Mond mit der dreifachen Größe von Luna, dem man den Namen ›Sutton‹ gab. Auf Sutton errichtete die Expedition dann ihre Basis. Die beiden Gasriesen im System wurden auf ›Bonnie‹ und ›Clyde‹ getauft.

Sobald die ersten Tunnels in Suttons Oberfläche gebohrt und versiegelt worden waren, suchte die Mannschaft den Himmel nach Anzeichen irgendeiner Zivilisation ab. Ein paar Monate vergingen erfolglos, bis sie schließlich eine Gravitationswelle entdeckten, die von einem nahen Stern ausging – eine Welle, die nur von einem Sternentor stammen konnte.

Wo sie nun gefunden hatten, wonach sie suchten, genehmigte Dan Landon eine Mission zur Erkundung des Zielsterns. Er übernahm selbst das Kommando der Kontaktgruppe und wählte Lisa als ausgewiesene Broa-Expertin aus. Und Mark schloss sich der Gruppe aus dem einfachen Grund an, weil er als Einziger über das notwendige Temperament und die Computerkenntnisse verfügte. Und zur allgemeinen Überraschung wählte Landon als viertes Mitglied Mikhail Vasloff aus, den Anti-Sternenforschungs-Aktivisten. Er wurde eigens aus dem Grund für die geheime Mission ausgewählt, weil Landon jemanden dabeihaben wollte, der die Dinge aus einer gegensätzlichen Perspektive betrachtete.

Nach einer ersten Erkundung nahm sie Kontakt mit den Einheimischen auf, die sich selbst als die Voldar’ik identifizierten und ihren Planeten als Klys’kra’t. Das Team gab sich als Vertreter einer Rasse namens Vulkanier vom Planeten Shangri-La auf der anderen Seite der Souveränität aus. Um ihre Herkunft zu verschleiern, reisten sie in Sar-Says instand gesetztem Transportschiff, einem broanischen Frachter vom Typ Sieben, der den Namen Ruptured Whale erhalten hatte.

Zur Tarnung hatten sie Interesse an Handelsware der Voldar’ik bekundet. In Wirklichkeit ging es ihnen jedoch darum, astronomische Daten über die Souveränität und ihr Netzwerk aus Sternentoren zu sammeln. Das war Marks Auftrag. Während der Rest des Teams die Gastgeber ablenkte, durchstöberte er die planetarische Datenbank von Klys’kra’t unter dem Vorwand, sie nach marktgängigen Produkten zu durchsuchen.

Für zwei Wochen verbrachte Mark jeden wachen Moment damit, vor einem außerirdischen Computer zu sitzen und mit der eigentümlichen broanischen Schrift Suchroutinen zu programmieren. Sein Handikap bestand darin, dass er seine wahren Motive nicht offenlegen durfte und allgemeine Anfragen bezüglich der Souveränität, der Broa sowie alle astronomischen Daten als Zufallsfunde darstellen musste.

Und selbst wenn er in der Lage gewesen wäre, die Abfragen offen durchzuführen, wäre die Aufgabe dennoch schier unlösbar gewesen. Die planetarische Datenbank war ein paar Mal größer als die irdische Datenbank der Kongressbibliothek. Ein ganzes Leben hätte nicht gereicht, alles zu finden, wonach sie suchten.

Während Mark sich also redlich mühte, führte Dan Landon zum Schein Verhandlungen über den Kauf einer Kopie der Datenbank und begründete sein Ansinnen damit, dass es ihnen bei der Auswahl der Waren helfen würde, wenn sie mit einem größeren Schiff zurückkehrten. In der Zwischenzeit füllte Mark den Speicher des tragbaren Aufzeichnungsgeräts dreimal mit interessanten Informationen, auch wenn sie nicht genau den Erwartungen entsprachen. In regelmäßigen Abständen kehrte er dann zur Ruptured Whale zurück, um die Ausbeute in die Bordcomputer hochzuladen.

Und auf dem dritten Flug traf er dann Effril, den Taff-Händler.

»Wann hat er Ihnen denn gesagt, dass er ein Taff-Händler sei?«

»Ehrlich gesagt, Madame, ich hätte mir fast in die Hose gemacht.«

»Ich vermute, er hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit Sar-Say?«

»Nein, Madame. Er war groß, blau und hatte einen Pelz. Ich versuchte ihm die Auskunft zu entlocken, ob es noch eine andere Spezies mit dem gleichen Namen gebe. Er sagte, dass ihm keine bekannt sei. Dann erläuterte ich ihm, dass ich von einer entfernten Welt käme und wegen meiner jungen Jahre noch nie einen Broa gesehen hätte. Ich bat Effril, mir einen zu beschreiben.

Und seine Beschreibung passte so gar nicht ins Bild, das Sar-Say uns von den galaktischen Oberherren vermittelt hatte. Vielmehr traf Effrils Beschreibung hundertprozentig auf Sar-Say selbst zu, bis hin zu seinen gelben Augen.«

3

»Dann ist Sar-Say also ein Broa?«, fragte Nadine Halstrøm.

»Ja, Madame«, erwiderte Mark.

»Und jeder Irrtum ist ausgeschlossen?«

»Wir haben ihn damit konfrontiert. Er hat es dann auch zugegeben.«

»Und wie hat er die Nachricht aufgenommen, dass er entlarvt worden war?«

Lisa lachte. »Er ist ein frecher kleiner Bastard. Er hat versprochen, uns zu seinen persönlichen Sklaven zu machen und ein Leben in Luxus in Aussicht gestellt, wenn wir nach Glücksgriff zurückkehrten. Wir haben ihm geraten, sich zum Teufel zu scheren.«

»Wenn er schon in Bezug auf die eigene Person gelogen hat, dann muss er auch in anderer Hinsicht Lügen erzählt haben«, sagte die Koordinatorin nachdenklich.

»Das glaube ich nicht, Madame«, erwiderte Lisa. »Was die Souveränität selbst betrifft, scheint er buchstäblich die Wahrheit gesagt zu haben.«

»Weshalb hätte er das tun sollen?«

»Weil das für ihn die einzige Möglichkeit war, herauszufinden, wie viel wir wussten. Er hätte es sich nicht leisten können, bei einer Lüge ertappt zu werden, weil wir sonst Zweifel an seiner vorgeblichen Identität angemeldet hätten. Und irgendwann war es dann zu spät, seine Geschichte noch zu ändern. Also hat er uns sonst in jeder Hinsicht die Wahrheit gesagt, um seine Identität zu verschleiern.«

»Und aus welchem Grund?«

»Er hat das alles von vornherein geplant, weil er uns veranlassen wollte, ihn zur Souveränität zurückzubringen. Er hoffte wohl, dass er von dort aus eine Nachricht an die erstbeste Spezies übermitteln konnte, auf die wir stießen. In seiner Eigenschaft als Oberherr hätte man unverzüglich jeden Befehl befolgt, den er erteilte. Fast hätte es auch geklappt.«

»Fassen wir also zusammen«, sagte die Koordinatorin mit einem Anflug von Resignation in der Stimme. »Wir sind mit dem schlimmsten möglichen Fall konfrontiert. Es gibt tatsächlich eine broanische Souveränität, und sie ist auch wirklich so groß und bösartig, wie Sar-Say behauptet. Wir hatten Glück bei Neu-Eden. Bei einem anderen Verlauf der Dinge hätten nämlich die Broa die Expedition losgeschickt. Wir haben vielleicht jetzt schon ihre Stiefel im Genick. Und es gibt verdammt noch mal nichts, was wir dagegen tun könnten!«

»Nein, Madame«, erwiderte Lisa.

»Wie bitte?«

»Es gibt doch etwas, das wir dagegen tun können.« Lisa drehte sich zu Mark um. »Erzähl ihr von deiner Idee, mein Schatz!«

Die Messe der Ruptured Whale war ein deprimierender Ort während dieser langen Reise von Klys’kra’t. Mark Rykand war besonders niedergeschlagen, denn nur er wusste, dass Sar-Says Plan um ein Haar Erfolg gehabt hätte …

Als Reaktion auf eine beiläufige Bemerkung von Lisa hatte er eine so kühne Eingebung gehabt, dass er im ersten Moment zu träumen glaubte. Doch auch jetzt, ein Jahr später, vermochte er sich immer noch nicht vorzustellen, weshalb seine Idee nicht funktionieren sollte … es sei denn, die Menschheit hatte nicht den Mut, es überhaupt erst zu versuchen.

In dem Moment, wo Lisa sich zu ihm umdrehte, schwand jedoch seine Zuversicht und wich dem Zweifel. Was, sagte er sich, wenn ich mich irre?

Wenn man drei Jahre lang mit jemandem zusammenlebt, bekommt man ein Gespür für seine Befindlichkeit. Lisa spürte Marks inneren Aufruhr, drückte ihm sanft die Hand und lächelte ihn an. Mark schöpfte neuen Mut, atmete tief durch und ließ den Blick über die erwartungsvollen Gesichter schweifen. Dann räusperte er sich und setzte zu der Rede an, die er im Geiste seit einem Jahr geprobt hatte.

»Madame Koordinatorin, sehr geehrte Herren. Die Broa sind wahrscheinlich die größte Bedrohung, mit der die menschliche Rasse jemals konfrontiert worden ist. Aus diesem Grund haben Sie uns siebentausend Lichtjahre weit ausgeschickt, um die Geschichten eines schiffbrüchigen Außerirdischen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Wenn auch nur die Hälfte von dem, was Sar-Say erzählt hat, der Wahrheit entsprach, hätten wir die Bedrohung auf keinen Fall ignorieren dürfen.

Wir überbringen nach unserer Rückkehr die Nachricht, dass die Souveränität höchst real und noch gefährlicher ist, als wir befürchtet haben. Dennoch sind wir nicht hilflos. Es gibt durchaus eine Handlungsmöglichkeit.«

»Dann lassen Sie sie uns hören!«, sagte Nadine Halstrøm ungeduldig.

»Jawohl, Madame. Damit das Ganze jedoch einen Sinn ergibt, muss ich ganz von vorn anfangen – also bei einem Ausflug, den Lisa und ich unternommen haben, als wir die Expedition planten.«

Die Planung für die Krebsnebel-Expedition hatte unter strengen Sicherheitsvorkehrungen auf der Erde in einem Ferienhotel an der nordafrikanischen Küste stattgefunden. Mark und Lisa waren Mitglieder von zwei verschiedenen Arbeitsgruppen – Mark bei der ›Astronomie‹ und Lisa bei ›Außerirdische Technologie‹. Am dritten Tag der Konferenz hatten sie frei. Also schlug Lisa vor, dass sie den nahen Felsen von Gibraltar besuchten, und fügte hinzu, dass einer ihrer Vorfahren die dortige britische Garnison während der Belagerung von 1782 befehligt hätte.

»Eine interessante Geschichte, Herr Rykand«, sagte Nadine Halstrøm, »aber was hat das mit unserer Situation zu tun?«

»Auf dem Rückzug von Klys’kra’t hatten ein paar von uns in der Messe gesessen und sich gegenseitig ihr Leid geklagt, als Lisa meinte, es sei eine Schande, dass wir keine unüberwindliche Festung wie Den Felsen hätten, um uns gegen die Broa zu verteidigen.

Diese Bemerkung brachte mich auf eine Idee. Ich wurde mir plötzlich bewusst, dass sie sich irrte. Wir haben nämlich eine solche Festung.«

»Ich bitte um Verzeihung, aber ich vermag Ihnen nicht zu folgen.«

»Die Broa herrschen über eine Million Sonnen, und soweit wir wissen, hat es seit Jahrtausenden noch keinen erfolgreichen Aufstand gegen sie gegeben.«

»Ich könnte mir vorstellen, dass Mikhail Vasloff genau das der Öffentlichkeit sagen wird. Wo ist Bürger Vasloff übrigens? Ich hatte erwartet, ihn hier zu sehen.«

»Er befindet sich in PoleStar in Quarantäne – auf Ihre Anweisung.«

»Auf meine Anweisung?«

Dieter Pavel räusperte sich. »Ich habe die Anweisung herausgegeben, Madame Koordinatorin. Ich hielt es für angebracht, ihn daran zu hindern, Unruhe zu stiften, bis Sie eine Gelegenheit hatten, den Expeditionsbericht zur Kenntnis zu nehmen.«

»Er ist aber nicht wirklich krank, oder?« »Sein Arzt glaubt, er hätte eine Erkältung. Ich sage immer, man kann gar nicht vorsichtig genug sein mit diesen Weltraum-Viren.«

»Sie werden es noch weit bringen in der Politik, mein Junge«, prophezeite sie ihrem Assistenten mit einem Lächeln. »Entweder das, oder Sie kommen aufs Schafott.« Dann wandte sie sich wieder an Mark: »Sie sagten, wir hätten eine unüberwindliche Festung, die uns schützt, Herr Rykand. Worum handelt es sich dabei?«

»Natürlich unsere Anonymität. Die Broa wissen nicht, wo wir zu finden sind. Sie wissen nicht einmal, dass wir überhaupt existieren. Das und der Sternenantrieb. Der Sternenantrieb verleiht uns Handlungsfreiheit.«

»Handlungsfreiheit, um was zu tun? Uns zu verstecken?«

»Nein, Madame. Uns zu verstecken geht überhaupt nicht.«

»Aber wir haben uns doch schon so lange versteckt.«

»Wir hatten nur Glück. Evan, möchten Sie das übernehmen?«

Dr. Evan Thompson, seines Zeichens Alien-Technologe, nickte und sprang als Referent ein. »Früher oder später werden die Broa unseren ›Krähwinkel‹ im Universum doch entdecken.«

»Und wie?«

»Es gibt mehrere Möglichkeiten. Vielleicht platzt eins ihrer Schiffe in unser System. In Neu-Eden ist das doch schon passiert. Und dann wäre da unser elektromagnetischer Fußabdruck.

Wir strahlen seit Jahrhunderten Radio-, Tele- und Holovisionswellen in alle Himmelsrichtungen ab. Was, wenn irgendein Broa eins der frühen TV-Programme auffängt? Dann dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis ihre Kriegsflotte hier erscheint.«

»Die broanische Souveränität ist 7000 Lichtjahre von hier entfernt. Wenn ich meine Physik-Hausaufgaben gemacht habe, bedeutet das, dass unsere Radiowellen sie erst dann erreichen werden, wenn wir fünfstellige Jahreszahlen schreiben.«

»Das wissen wir nicht«, erwiderte Thompson und schüttelte die zottige Mähne. »Der Krebsnebel ist 7000 Lichtjahre entfernt. Soweit wir wissen, markiert der Nebel die entferntesten Ausläufer der Souveränität. Also wäre es möglich, dass eine broanische Welt schon bald von unserer sich ausdehnenden Radio-Blase erfasst wird.«

»Kein sehr wahrscheinliches Szenario«, murmelte Anton Bartok.

»Möchten Sie die Existenz der menschlichen Rasse darauf verwetten?«, fragte Mark ihn im Bestreben, die ›Diskurshoheit‹ zurückzuerlangen.

»Wenn wir uns nicht verstecken wollen, was sollen wir dann tun?«, fragte eine konsternierte Nadine Halstrøm.

Mark schaute sie mit einem Ausdruck felsenfester Entschlossenheit an. »Madame Koordinatorin, wir können uns nicht ewig verstecken. Und sobald sie uns entdecken, ist sowieso alles verloren. Aber wir haben ein Zeitfenster, in dem wir handeln können.«

»Und wie sehen diese Handlungen aus?«

Mark zuckte die Achseln. »Das ist doch ganz einfach: Wir greifen sie an, bevor sie uns angreifen!«

Das Subjekt der Konferenz saß in seiner Zelle in PoleStar und sann über seine Zukunft nach.

Es war nun fünf Zyklen her, seit Sar-Say den Menschen in die Hände gefallen war. Nachdem er den Hinterhalt in seinem Schiff überlebt hatte, musste er zu seinem Entsetzen feststellen, dass seine Retter ihn nicht sofort erkannten. Dieser Schock hatte sich noch vertieft, als er sich bewusst wurde, dass sie überhaupt keine Diener waren. Die Zivilisation schien ihnen gar kein Begriff zu sein. Die Vorstellung, dass er der Gefangene wilder Aliens wäre, erschreckte ihn noch mehr als der Mordversuch, der ihn in diesen unbekannten Raumsektor verschlagen hatte.

Und was noch schlimmer war: Ihr Schiff hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den Schiffen, die er bisher gesehen oder von denen er auch nur gehört hatte. Es sprang nicht etwa durch Sternentore von einem Punkt zum andern. Stattdessen überquerte es die schwarzen Abgründe zwischen den Sternen, wie ein Schiff ein Meer befährt. Das allein war schon ein Beweis dafür, dass sie nicht der Zivilisation angehörten. Denn er vermochte sich keine andere Erfindung vorzustellen, die der natürlichen Ordnung so zuwidergelaufen wäre wie die Freizügigkeit zwischen den Sternen.

Er hatte viel Zeit zum Nachdenken auf dieser ersten Reise zum Heimatplaneten der Menschen. Als sie versuchten, Kontakt mit ihm aufzunehmen, stellte er sich taub. Wenn er ihre lauten Worte und pantomimischen Gesten irgendwann verstand, hätte er nämlich nur eine einzige Chance, ihnen seine Geschichte unterzujubeln.

Der Not gehorchend, war sein Plan ziemlich einfach. Sie durften ihn auf gar keinen Fall als einen Meister identifizieren. Sonst würden sie ihn vielleicht kurzerhand liquidieren. Die Aussicht auf lebenslängliche Käfighaltung behagte ihm freilich genauso wenig. Er musste sie irgendwie dazu bewegen, ihn nach Hause zurückzubringen, ohne dass sie sich dessen überhaupt bewusst wurden. Zu diesem Zweck musste er ihr Vertrauen gewinnen. Er gelangte zu dem Schluss, dass er ihnen in fast jeder Hinsicht die Wahrheit würde sagen müssen.

Sein Plan barg natürlich einige Risiken. In Unkenntnis der menschlichen Psychologie befürchtete er, die Wahrheit würde sie so sehr erschrecken, dass sie auf ›Tauchstation‹ gingen.

Diese Befürchtung war indes unbegründet, denn die Menschen reagierten mit der gleichen affenartigen Neugier, die auch seinem Volk zu eigen war. Nachdem sie die Himmelsblume identifiziert hatten, organisierten sie eine Expedition, um die Zivilisation ausfindig zu machen.

Sie hatten ihn als Berater auf die Expedition mitgenommen, und er hatte die Menschen bekniet, an der Begegnung mit den einheimischen Dienern teilnehmen zu dürfen – vorgeblich, um ihre Tarnung zu unterstützen.

Und sein Plan hätte wohl auch funktioniert, wenn das Schicksal ihm nicht im letzten Moment noch einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Die Kontakt-Gruppe war eilig zum Schiff zurückgekehrt, und dann waren sie nach Klys’kra’t abgeflogen. Später konfrontierten sie ihn dann mit der Tatsache, dass sie über seine wahre Identität Bescheid wussten.

Falls die Gefangenschaft ihn etwas gelehrt hatte, dann war es Geduld. Er hatte ausgiebig Gebrauch vom Unterhaltungs-Monitor gemacht, den sie ihm bereitgestellt hatten. In dem Maß, wie er mit den Menschen vertraut wurde, gelangte er zu der Ansicht, dass die Erde – trotz ihrer Wildheit – eines Tages vielleicht eine erstklassige Kolonie abgeben würde, insbesondere mit ihm als Meister.

Also nahm Sar-Say trotz der herben Enttäuschung einen neuen Planungs-Anlauf für den Tag, da man ihm die Meisterschaft über die Erde zusprechen würde. Solange sie ihn in der Zelle an Bord ihres Orbital-Habitats eingesperrt hielten, vermochte er nichts zu tun. Sollte sich die Lage jedoch ändern, musste er bereit sein, jede Gelegenheit am Schopf zu packen, die sich ihm bot …

Lisa Arden stand auf dem Balkon des Ferienhotels am Bodensee und schaute zu, wie ein voller Mond über dem entfernten, von Bäumen gesäumten Horizont aufging. Unter ihr warf die Oberfläche des Sees die bunten Lichter des fernen Ufers zurück, während auf halber Strecke ein wie ein Christbaum illuminierter Vergnügungsdampfer Kurs auf Friedrichshafen nahm. Die leisen Klänge eines Streichquartetts trugen über das schwarze Wasser zu ihr herüber.

Lisa atmete tief ein, hielt die Luft für einen Moment an und stieß sie dann kraftvoll wieder aus. Es war gut, wieder auf der Erde sein! Heute Nacht war zumindest alles in Ordnung mit ihrer Welt. Die Brise war gerade so kühl, um belebend zu wirken. Drinnen hatte ihr Mann sich auf das breite Bett gefläzt und schnarchte leise, wie Männer das nach dem Liebesspiel oft tun. Der Mond ging auf und verwandelte die vom See reflektierten Lichter in ein buntes Kaleidoskop.

Am Himmel über ihr war Jupiter ein heller weißer Funken und Mars ein dunkler roter, und die Sterne funkelten, wie sie es seit Jahrmillionen getan hatten. In einer Nacht wie dieser hätte man sich leicht einzureden vermocht, dass die Sterne noch immer die gleichen wären wie seit Jahrtausenden: funkelnde Diamanten, die am nächtlichen Himmel für Liebende ausgestreut worden waren und nicht die Heimat einer wie Comicfiguren aussehenden Rasse größenwahnsinniger Affen.

Ihre Überlegungen wurden durch das Geräusch einer sich öffnenden Tür unterbrochen und dann durch zwei starke Arme, die sie umfassten, und durch warme Hände, die sich durch die Öffnung in ihrem Nachthemd schoben und das warme Fleisch darunter liebkosten. Sie lehnte sich zurück an eine nackte muskulöse Brust und seufzte, zufrieden mit der Welt.

»Guten Abend«, flüsterte eine leise Stimme ihr ins Ohr, und Lippen küssten ihr zerzaustes Haar.

Sie legte den Kopf in den Nacken und gab ihm einen Kuss. »Willkommen zurück bei den Lebenden, mein Schatz. Ich habe dich doch nicht etwa aufgeweckt, oder?«

Ein sanfter, durch ein glucksendes Lachen erzeugter Lufthauch drang in ihr Ohr, und Zähne knabberten am Ohrläppchen. »Willst du es herausfinden?«

»Noch nicht«, erwiderte sie. »Später vielleicht. Im Moment möchte ich einfach nur die Nacht genießen.«

»Sie ist wirklich wunderschön, nicht wahr?«

»Schöner als irgendetwas, das ich jemals gesehen habe. Wenn man im Weltraum ist, vergisst man allzu schnell, wie schön die Erde überhaupt ist.«

»Ja, das stimmt. Aber wieso bist du überhaupt nach draußen gegangen, mein Schatz? Hat mein Schnarchen dich etwa aufgeweckt?«

»Nein, ich genieße nur die Nachtluft … und frage mich auch irgendwie, ob wir heute richtig gehandelt haben.«

»Sie haben immerhin zugehört«, erwiderte Mark und strich ihr übers Haar. »Mehr konnten wir nicht erwarten.«

»Aber haben sie uns auch geglaubt?«

»Ich glaube, die Koordinatorin hat unsere Argumente nachzuvollziehen vermocht und sympathisiert vielleicht sogar mit uns; aber das wird uns natürlich auch nichts helfen, wenn die politische Opposition sich auf Vasloffs Seite schlägt.«

Sie seufzte. »Sie können ihn nicht ewig eingesperrt halten.«

»Zumal das auch keinen Sinn hätte. Viele Leute würden sich lieber in der trügerischen Sicherheit des Versteckspiels wiegen, als sich dem Risiko einer Gegenwehr auszusetzen. So ist das immer schon gewesen, und so wird es auch immer sein.«

»Aber wir müssen kämpfen, Mark. Weil uns das nämlich im Blut liegt.«

»Du und ich, wir hatten schon die Gelegenheit, das durchzuspielen«, erwiderte er plötzlich ernst und zog sie noch enger an sich. »Die Milliardenbevölkerung der Erde wird aber Zeit brauchen, um die Risiken abzuwägen. Wer weiß? Vielleicht gibt es doch einen Mittelweg zwischen den beiden Möglichkeiten, ein Loch zu graben und sich darin zu verstecken und einen Feldzug gegen die broanischen Horden zu führen.«

»Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Nein, glaube ich nicht. Aber viele andere werden es glauben.«

Sie verstummten und ließen für lange Minuten den Blick übers dunkle Wasser schweifen. Sie genossen die Gegenwart des jeweils anderen und die Nacht. Schließlich sagte Lisa: »Wir werden für den Rest unseres Lebens gegen die Broa kämpfen, nicht wahr, Mark?«

Er nickte in ihrem Haar. »Das wusstest du aber auch schon, als ich dir zum ersten Mal von meiner Vision von Gibraltar-Erde erzählt habe.«

»Stimmt wohl«, erwiderte sie. »Es ist nur so, dass man angesichts der Schwierigkeiten, die vor uns liegen, schier verzagen könnte.«

Er lachte. »Nenn mir mal eine Zeit, wo das nicht so gewesen wäre. Wenigstens wissen die Broa noch nichts von unserer Existenz. Und mit etwas Glück werden sie es erst herausfinden, wenn es zu spät für sie ist.«

4

Eine steife Brise wehte vom nahen azurblauen Meer ins Büro hoch über der größten Stadt auf der Hauptwelt des Salefar-Sektors. Das Büro befand sich in der Zinne eines goldenen Turms, der keinen Namen trug. Aber er brauchte auch keinen, denn selbst das kleinste Junge der einheimischen Spezies des Planeten wusste, wer in dem Turm residierte und welche Macht er über ihr alltägliches Leben ausübte. Der Name der Stadt in der Sprache der Autochthonen war für den Bewohner des Turm-Büros unaussprechlich. Er nannte sie deshalb einfach ›Kapitale‹. Und sie war auch nur eine von vielen Städten in der Galaxis, die diese Bezeichnung trug. Der Name des Planeten war Sssassalat; ein Wort, das willkürlich ausgewählt worden war, ohne dabei zu berücksichtigen, dass der Stimmapparat der Eingeborenen Schwierigkeiten hatte, Silben zu artikulieren.

Der Wind trug eine Vielzahl fremdartiger Gerüche heran, die alle vom guten Geruchssinn des kleinen Wesens aufgefangen wurden. Es hockte auf dem Sitzgestell hinter dem reich verzierten Schreibtisch aus teurem Schwarzgold-Holz, das nur auf der Heimatwelt zu finden war. In die glänzende Tischplatte waren die Instrumente eingebettet, mit denen der Bewohner des Turms mit seinen vielen Untergebenen zu kommunizieren pflegte. Ein paar Zusatzmonitore waren momentan erleuchtet. Doch er schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit.

In den letzten paar demi-Perioden hatte er die Kapriolen eines bunten Vark beobachtet, der in der Thermik im Windschatten des goldenen Turms segelte. Der Vark wusste nicht, dass er weit von den Klüften und Gipfeln seiner gebirgigen Jagdgründe entfernt war. Seine Aufmerksamkeit galt vielmehr einem vierflügeligen Mardak, den er sich als Mittagsmahlzeit auserkoren hatte. Während der Jäger der Lüfte mikrometerpräzise Einstellungen der Flügelgeometrie vornahm, um die launische Thermik optimal auszunutzen, fixierte der lange schlangenartige Hals den Kopf auf der Suche nach der Beute. Und dann faltete der Vark abrupt die Hautschwingen und verschwand im Sturzflug aus dem Blickfeld des Beobachters.

Beim Anblick dieses Manövers überkam den Bewohner des Turms für einen Moment eine sentimentale Anwandlung. Die einzigen Probleme des Vark bestanden darin, jeden Tag etwas in den Bauch zu bekommen und in der Paarungszeit der Rivalen sich zu erwehren, die ihm seinen Harem abspenstig machen wollten. Für jemanden, auf dessen Schultern die Verantwortung für einen ganzen Sternsektor lastete, besaß ein so ursprüngliches Leben eine geradezu atavistische Anziehungskraft.

Ssor-Fel war kein Geschöpf mit großer Statur. Auf die meisten intelligenten Spezies hätte seine kleine Gestalt keinen Eindruck gemacht – wären er und seine Artgenossen nicht die unangefochtenen Herrscher des bekannten Universums gewesen. Er war ein Zweibeiner, wie die meisten intelligenten Wesen. Bei den seltenen Gelegenheiten, wo er aufrecht stand, maß er kaum anderthalb Meter. Seine Vorfahren hatten auf Bäumen gelebt – falls die aus Stiel-Bündeln bestehenden rankenartigen Gewächse der Heimatwelt überhaupt als Bäume bezeichnet werden konnten. Seine Arme waren lang und für eine Umklammerung ausgelegt; er schwang sich damit von Ranke zu Ast und hielt in der Paarungszeit den Körper in der Schwebe, während er das uralte Ballett der Geschlechter vollführte. Auf festem Untergrund bewegte er sich in einem alternierenden Gang, wobei er das Körpergewicht erst auf der geballten sechsfingrigen Faust abstützte und dann den Unterkörper nachzog, bis er auf den Klumpfüßen am Ende der kurzen Beine zu stehen kam.

Sein Fell war braun und hatte ein komplexes Muster aus schmalen schwarzen Streifen, die im Genick zusammenliefen. Um die gelben Augen verliefen die weißen Striche, die eine Entsprechung irdischer Jahresringe waren. Die weißen Striche verdichteten sich dann zu einer gleichfarbigen Fläche um die beiden paddelförmigen Ohren, die im rechten Winkel aus dem Kopf wuchsen. Von den vier Atemlöchern an jeder Seite der Schnauze gingen ebenfalls weiße Linien aus. Unter diesen Nüstern zeigte der offene Mund die Zähne eines Allesfressers und eine lange Zunge mit einem gesunden rosigen Schimmer.

Nachdem er schon zu viel Zeit damit verloren hatte, die Leistungsschau der örtlichen Fauna zu betrachten, rief Ssor-Fel sich stumm zur Ordnung und widmete sich wieder den anstehenden Aufgaben. Wie immer gab es zu viel zu tun und zu wenige Angehörige seiner Spezies, die in der Lage gewesen wären, diese Arbeit zu verrichten. Wenn er schlecht gelaunt war, beschwerte er sich oft über diesen unhaltbaren Zustand. Es war, als ob dieselbe kosmische Instanz, die seiner Rasse die Herrschaft über eine riesige Anzahl von Sternen eingeräumt hatte, ihr gleichzeitig ein Handikap auferlegt hätte, indem sie die Zahl der hierfür geeigneten Administratoren begrenzte.

Seine Spezies war weniger fruchtbar als die meisten intelligenten Rassen. Das war die Folge langer Dürren, die die Heimatwelt einst heimgesucht und sein Volk gezwungen hatten, ausgeklügelte Bewässerungssysteme zu entwickeln. Obwohl diese historischen Dürren längst kein Problem mehr darstellten, waren sie noch immer in seinen Genen manifest. Weil die Vorräte an purpurnen Früchten, die einst das Hauptnahrungsmittel darstellten, begrenzt waren, hatte man den Nachwuchs für jedes Paarungs-Paar pro Zwölfer-Zyklus auf ein oder zwei Junge beschränkt.

Mit der Erfindung der Landwirtschaft und der Entdeckung, dass auch Insektivoide ganz gut schmeckten, war diese Notwendigkeit genauso obsolet geworden wie die Riesenkrebse, die einst die goldenen Ebenen durchstreift hatten. Dennoch blieb die Geburtenrate anhaltend niedrig, weil die Erinnerung an die Dürre in die Lebens-Matrix der Rasse eingeprägt worden war.

Trotz ihrer geringen Anzahl hatte seine Spezies sich langsam zu einer dynamischen Zivilisation gemausert und erst eine Welt in Besitz genommen, dann ein Sternsystem und schließlich die angrenzenden Sternsysteme. Denn die größte Erfindung der Rasse war die Entdeckung und Nutzbarmachung jener präzise modulierten Kräfte, die Pfade zu den Sternen eröffnen.

Es war diese Technologie, die es der – wenn auch zahlenmäßig kleinen – Rasse erlaubt hatte, jedes bekannte bewohnte Sternsystem zu erobern. Jedoch war die Eroberung noch nicht abgeschlossen. Ssor-Fels Aufgaben bestanden zu einem großen Teil darin, intelligente Spezies aufzuspüren, die sie noch nicht unter ihre Kontrolle gebracht hatten, und diese Nachlässigkeit umgehend zu beheben.

Also hatte eine Rasse, die sich nicht durch überlegene körperliche Merkmale auszeichnete, die Kontrolle über eine ganze Galaxis übernommen und allen anderen Bewohnern ihren Willen aufgezwungen. So hatten Ssor-Fels Vorfahren ihr sternenumspannendes Reich errichtet, und sie waren auch darauf erpicht, es zu bewahren.

Der Jagd-Meister des Salefar-Sektors schüttelte sich und zwang sich zur Konzentration aufs Tagesgeschäft. Er wurde sich bewusst, worum es sich bei seiner Ranken-Fantasie wirklich handelte: um den Versuch, konsequente Lösungen für reale Probleme zu vermeiden. Wo seine ehrwürdigen

Titel der amerikanischen Originalausgabe

GIBRALTAR SUN

Deutsche Übersetzung von Martin Gilbert

Deutsche Erstausgabe 7/08

Redaktion: Werner Bauer

Copyright © 2006 by Michael McCollum

Copyright © 2008 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbHwww.heyne.de

Umschlagbild: Volkan Baga Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

eISBN 978-3-641-08143-0

www.randomhouse.de

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