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DIE IDYLLE TRÜGT – NICHTS IST SO, WIE ES SCHEINT!
Norderney im Sommer. Es könnte so schön sein …
Als Privatermittler Frank Gerdes widerwillig einen Ermittlungsauftrag im Rotlichtmilieu annimmt, steht seine Hilfsbereitschaft unter keinem guten Stern. Recherchen führen ihn zu einer angesehenen Hoteliers-Familie mit unheilvollen Geheimnissen. Er taucht ab in einen Sumpf aus Menschenhandel und Prostitution. Gerdes muss eine verschwundene junge Frau finden und wird auf einmal mit Indizien konfrontiert, die seine eigene Vergangenheit betreffen. Plötzlich erscheint auch der frühe Tod seiner Eltern in einem völlig anderen Licht! Was zunächst wie ein Routinejob aussieht, entwickelt sich zum Albtraum und führt ihn an die Grenze des Erträglichen. Wird es Frank Gerdes gelingen, eine für Norderney heraufziehende Katastrophe zu verhindern?
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Seitenzahl: 525
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Allen Freunden der Nordsee und der Insel Norderney gewidmet.
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden (von wenigen genehmigten Ausnahmen abgesehen).
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2025 Niemeyer Buchverlage GmbH, Osterstraße 19, 31785 [email protected] Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von Adobe Stock, 123rf.comEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8716-1
Tomas CramerStillesblau
17. März 1985 | Polizeiball in Elsten, Region Südoldenburg
Es war weit nach Mitternacht. Der Himmel präsentierte sich schwarz und blank mit Nebelschlieren. Vereinzelt lugten Sternenflecken durch den Dunst. Die Luft roch nach feuchter, kalter Asche.
Paul Gerdes taumelte zurück in den Saal, nur mit Mühe konnte er sich aufrecht halten. Seine Unterlippe war geschwollen, aber da war kein Blut. Der Schlag hatte gesessen. Respekt! Dafür war Oberkommissar Bernd Schrand in die Knie gegangen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das passieren würde, auch wenn es unüblich war, Kampftechniken zur Selbstverteidigung ausgerechnet an einem Kollegen auszuprobieren. Aber die Schlinge zog sich zu, Bernd Schrand fühlte sich durch die internen Ermittlungen mehr und mehr in die Enge getrieben, wie ein gehetztes Tier. Paul ahnte, dass die Situation eskalieren würde …
‚Ich muss Mia warnen, wir haben hier nichts mehr verloren‘, dachte Paul und ließ seinen Blick über die Partygäste schweifen. Er konnte sie nirgends entdecken. Der Saal kochte, schwerer Dunst hing unter der Decke. Die Band arbeitete sich am Rausschmeißer „Nana nanana. Live is life“ ab. Mit ausgebreiteten Armen tanzten zwei Betrunkene auf den Tischen, die Herumstehenden klatschten und johlten dazu. Einer der Männer verlor das Gleichgewicht, polterte seitwärts die Tischkante runter und wurde von ein paar Leuten aufgefangen. Gläser klirrten, Frauen kreischten.
Mia Gerdes stand bei den Frauen. Sie wandte sich angewidert ab und sah auf einmal Paul am Saalausgang stehen. Sie bemerkte seinen ernsten Blick und spürte, dass etwas nicht stimmte. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge, und als er näher kam, fiel Mia seine geschwollene Lippe auf. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass für sie beide die Party zu Ende war. Schon vor Wochen hatte Paul vom Tag X gesprochen, an dem sich alles ändern würde. Aber Mia wollte davon nichts wissen, sie hatte bislang den Gedanken weit nach hinten geschoben.
Schnell suchte sie ihre Sachen zusammen und ging Paul mit festen Schritten entgegen. Dabei sah sie sich unauffällig um. Missbilligende Blicke folgten ihr, der Boden unter ihr bröckelte. Wie sollte es jetzt weitergehen? Mit der Arbeit, den Freunden und dem Haus? Mussten sie das alles aufgeben und in eine andere Stadt ziehen? Mia tat jeden Schritt mit Bedacht, um nicht in den Abgrund zu stürzen, der sich vor ihr auftat.
Unvermittelt wurde sie von Bernds Frau Sefa am Arm festgehalten und übellaunig angegangen. Mia riss sich los. Sefa fauchte ihr etwas hinterher, das Mia der Musik wegen nicht verstand. Plötzlich war Paul da und sagte ihr ins Ohr: „Die Lunte brennt. Wir müssen hier weg!“
Mia nickte knapp, sagte aber nichts. Sie spürte die Blicke der Leute, die an ihnen hafteten wie Spinnfäden. Ihren Arm unter Pauls gehakt, verließen sie den Saal, nahmen die Mäntel von der Garderobe und traten durch die breite Tür hinaus in die kühle Nachtluft. Das Mondlicht lag wie ein helles Tuch auf dem gepflasterten Hof. Links saß Bernd Schrand auf dem Rand eines Blumenkübels. Er hielt sich den Kopf und döste vor sich hin, Paul und Mia nahm er nicht wahr.
Dienststellenchronist und Videofilmer Kommissar Josef (Jupp) Südbeck hatte das Objektiv seines Camcorders auf Bernd gerichtet. Als er das Paar herauskommen sah, nahm er die laufende Kamera hoch. Paul verzog das Gesicht und drückte das Objektiv zur Seite. Auf einmal riss Jupp die Augen auf. Er ließ die Videokamera am Gurt baumeln und begann zu würgen, die Hände gegen den Mund gepresst. Er beugte sich würdevoll nach vorn und kotzte Paul im vollen Strahl auf die glänzenden Schuhe. Stille. Jupp war schnell wieder beieinander. Lallend kam ein „Oh, das … tut mir echt leid, Paul – hicks“ heraus.
Bernd Schrand meldete sich vom Blumenkübel aus: „Da ist das Arschloch ja wieder!“
Niemand reagierte. Jupp zog die Kamera wieder nach vorn und spähte durch den Sucher. Er filmte, wie Paul und Mia mit festen Schritten zum Parkplatz gingen. „Lass dich nicht provozieren“, sagte sie leise zu ihm.
Bernd Schrand war noch nicht fertig, er richtete sich auf und brüllte: „Sag mal, bist du schwerhörig oder was?“
Paul führte seine Frau über den schummrig beleuchteten Platz zwischen geparkten Autos hindurch, half ihr beim Einsteigen in den BMW, ging um den Wagen herum, setzte sich hinters Lenkrad und startete den Motor. Die feuchte Luft hatte die Autoscheiben in Milchglas verwandelt. Paul betätigte den Wischer. Plötzlich stand Schrand als wankende Barriere vor der Motorhaube. In der einen Hand hielt er einen stählernen Kreuzschlüssel, den er wütend auf die Motorhaube knallte. BÄNG! Mia schrie auf und hielt sich die Hände vors Gesicht.
„Bleib hier, du Sau!“, befahl Schrand. „Du kannst jetzt nicht einfach abhau’n! Ich hab dir ein faires Angebot gemacht. Du bist mir ’ne Antwort schuldig!“ Es knallte noch mal.
Paul drückte aufs Gas, ließ den Motor aufheulen. Schrand beeindruckte das nicht. Der Wagen machte einen Satz, Schrand auch. Er polterte seitwärts in den Schotter und richtete sich schnell wieder auf, als der BMW weiterrollte. Bernd Schrand lief ein paar Meter hinterher und schlug das Werkzeug mit voller Wucht in das hintere Seitenfenster. Rasant bog der Wagen vom Parkplatz auf die Straße, die nach Warnstedt führte, Paul mied den direkten Weg über Sevelten. Nach wenigen Hundert Metern tauchten im Rückspiegel Scheinwerfer auf.
Paul drehte sich kurz um, verblüfft sagte er: „Ich glaub es nicht! Bernd ist uns auf den Fersen!“
„In seinem Zustand?!“ Mias Stimme klang leicht panisch. „Was machen wir jetzt?“
Paul beschleunigte. „Ich kenne ein paar einsame Straßen, da werden wir ihn los.“
„Was ist passiert, habt ihr euch geprügelt?“
Paul sah sich noch einmal um. „Er pöbelte rum, und aus heiterem Himmel griff er mich an! Ich habe seine Schläge abgewehrt. Jemand muss ihm gesteckt haben, dass es ausreichend Material gibt, um alles auffliegen zu lassen. Er wollte wissen, was ich vorhabe, bot mir sogar Geld an, der Schwachkopf!“
„Und, hast du es ihm erzählt?“
„Natürlich nicht! Er würde mir wieder Knüppel zwischen die Beine werfen.“
Paul bremste abrupt ab, bog vor dem Friedhof rechts in die Taubenstraße, beschleunigte, raste über kurvenreiches Gelände. Mit der Hand am Schaltknüppel schnitt er Kurven, bremste, schaltete, beschleunigte hart. Gummi rutschte über Splitt und Teer. Eine rasante Fahrt, um diese Uhrzeit ohne Gegenverkehr. Mia kannte seinen gelegentlich riskanten Fahrstil, aber dies stellte alles in den Schatten.
Der BMW röhrte, Mia sprach lauter: „Wie soll das denn jetzt weitergehen? Glaubt Bernd ernsthaft, er kann dich einschüchtern? Einen Kollegen bei der Polizei?“
Paul bewegte seinen Kopf nur leicht. „Der ist besoffen! Bei ihm brennt gerade die Sicherung durch. Morgen ist er wieder auf dem Damm, als wäre nichts gewesen. So kennen wir ihn.“
„Was für ein Trottel!“
Paul kicherte kurz und sah wieder in den Rückspiegel, die Scheinwerfer waren verschwunden. „Wir haben ihn abgehängt!“, rief er triumphierend.
Mia drehte sich um. In diesem Augenblick waren die Lichter wieder da. „Leider nicht, oder es ist ein anderes Auto.“
„Das werden wir gleich sehen …“, presste Paul hervor. Er reduzierte die Geschwindigkeit, schaltete die Scheinwerfer aus, zog die Handbremse und driftete nach links in einen Feldweg. Der BMW machte eine Drehung und kam hinter einer trocken belaubten Hecke zum Stehen. Paul schaltete den Motor aus, kurbelte das Fenster runter und horchte. Mia legte ihre Hand auf seine, auf einmal wurde er sich der Anspannung bewusst. Für einen sanften Kuss auf ihren Handrücken hob Paul seine Hand an. Mias lächelndes Gesicht konnte er nur erahnen.
„Ich liebe dich“, sagte er. In diesem Moment raste das Auto vorbei. Paul erkannte das Modell. „Es ist Bernd!“, sagte er, sog hörbar Luft ein und griff nach dem Schlüssel.
Sie hielt seine Hand fest. „Lass uns ein paar Minuten warten, bis er in der Stadt ist.“
Paul schaute den Rücklichtern hinterher. „Und was, wenn er direkt zu uns nach Hause fährt, weil er die Beweise da vermutet? Um diese Zeit wird Frank schon zu Hause sein, wenn er nicht bei einem Kumpel übernachtet.“
„Heute nicht, er wollte vom Pogo direkt nach Hause gehen.“
„So ein Mist! Dann sollten wir auch da sein, noch bevor Bernd an der Tür randaliert.“
„Du hast recht“, pflichtete Mia ihm bei.
Paul startete, schaltete das Licht wieder ein und trat das Pedal durch. Die Hinterräder drückten den Wagen wieder auf die Straße. Feuchtigkeit hatte sich auf die Frontscheibe gelegt, der Asphalt glänzte im Scheinwerferlicht. „Wir müssen uns beeilen. Frank darf davon nichts mitkriegen!“, sagte Paul und beschleunigte aggressiver, schaltete die Gänge auf eine Weise, dass der Motor brüllte und den Wagen sprunghaft nach vorne schob.
„Wenn Bernd wüsste, wo ich die Akten versteckt habe …“, sagte Paul. ‚Weiß er aber nicht!‘, dachte er und beruhigte sich mit diesem Gedanken.
Mia betrachtete Pauls Gesicht im Schein der Armaturbeleuchtung. „Wäre es nicht besser, du gehst damit zu deinem Chef?“
„Das ist ja das Problem! Ich weiß nicht, ob ich ihm überhaupt noch trauen …“
Von links schoss ein Wagen auf die Straße, Paul versuchte auszuweichen. Der BMW geriet ins Schlingern, prallte mit voller Wucht gegen einen Baum und zerschellte. Paul und Mia Gerdes waren auf der Stelle tot.
Sommer 2024 | Tiefwasserhafen JadeWeserPort,
Wilhelmshaven
Der Schmuggel aus Fernost war ausgefeilter, dreister geworden. Bisher standen Technik-, Mode- und Sportartikel im Fokus der Ermittlungen. Vor wenigen Tagen bekam ich von meiner Informantin in der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong den chiffrierten Hinweis auf unautorisierte Nachbauten von Tesla-Fahrzeugen, die sich auf dem Weg nach Deutschland befänden. Meine Informantin war Buchhändlerin, ihr Partner arbeitete in einer Schlüsselposition mit Kontakten zur Entwicklerszene von Plagiaten und illegalen Produktionsstätten in Taiwan. Ob er selbst daran beteiligt war und sich durch die Tipps nur ein zweites Standbein schaffen wollte, entzog sich meiner Kenntnis – und ich wollte es auch nicht wissen. Jedenfalls waren Informationen aus dieser Quelle stets zuverlässig und jede Mühe wert. Die Bezahlung für derartige Hinweise floss über ein Treuhandkonto und weiter auf das Konto einer fiktiven Stiftung, auf das die Buchhändlerin oder ihre Kontaktperson Zugriff hatten. Etwas umständlich, aber so funktionierte es.
Der JadeWeserPort lag in erwartungsvoller Julivormittagspositur. Es war halb elf. Durch den Dunst über der See glänzte der Sonnenball wie ockerfarbenes Dotter. An diesem herrlichen Tag saß ich leider nicht auf meinem Balkon, sondern auf dem Beifahrersitz eines Einsatzfahrzeugs des Zollamts. Am Lenkrad des VW-T5 sprach Zollamtmann Stefan Bents das magische Wort „Aufsitzen!“ ins Mikro, was unnötig war. Die Einsatztruppe steckte bereits einsatzbereit in den Mannschaftstransportern, hinter einer Reihe Lastwagen zwischen Güterverkehr- und Dienstleistungszentrum. Das wenige, was sich auf jedem der drei Zollbullis erkennbar verändert hatte, waren die jetzt zuckenden Blaulichter.
Stefan blinzelte mich über den Rand seiner Pilotenbrille an. Mit dem melierten Schnauzbart, den grauen Bartstoppeln und dem blütenweißen Hemd, wirkte er wie einer dieser korrupten Sergeants aus Highway-Patrol-B-Movies. Stefan war jedoch alles andere als korrupt! Er war ein feiner Kerl und hatte seit Beginn unserer Zusammenarbeit jede Menge Vorschussvertrauen in mich investiert. Und ich gab mir alle Mühe, ihn nicht zu enttäuschen. Er war etwa zehn Jahre älter als ich und auf der Zielgraden, wie man so sagt. Seine Pensionierung war in Sichtweite, Altersteilzeit kam für ihn nicht infrage. Ganz oder gar nicht war seine Devise, sowohl dienstlich als auch privat, und das verlangte ihm einiges ab. Vielleicht ein wenig zu viel. Hin und wieder quälte ihn lästiges Herzstolpern. Nach dem Tod seiner Frau, vor ungefähr zehn Jahren, war unsere Kooperation um ein Vielfaches gewachsen, wir konnten uns blind aufeinander verlassen. Die Zuständigkeiten waren sauber abgegrenzt, unsere Handlungen fassten ohne das sonst übliche Kompetenzgerangel lautlos und stimmig ineinander. Den Begriff ‚wie geschmiert‘ vermeide ich, auch wenn der zutrifft. Meist war unsere Zusammenarbeit von Erfolg gekrönt, was zwischen Ermittlungsbehörden seinerseits und Privatwirtschaft meinerseits nicht gerade selbstverständlich war.
Wir starrten durch die mit Fliegendreck verschmutzte Windschutzscheibe. Die Sonne stieg immer höher, sie quälte uns mit ihren Lichtteilchen, es wurde spürbar heißer. Endlich bekam Stefan über Digitalfunk das „Go“. Vom Zollamt Wilhelmshaven kam die Bestätigung, dass das unter der Flagge Hongkongs verkehrende Containerfrachtschiff festgemacht hatte. Die Schiffs-Crew war noch an Bord, und das solle vorerst so bleiben, wies Stefan die Hafenbehörde an. Der Zollamtmann blies zur Attacke, die Mannschaftswagen setzten sich in Bewegung. Es ging links am Güterverkehrszentrum und der Anlage für den Kombinierten Verkehr vorbei. Wir passierten bunte Stapel TEU- und FEU-Container, rollten parallel zum Kai in Richtung Süden und stoppten in Höhe des letzten Drittels des dreihundertsiebenundneunzig Meter langen und sechsundfünfzig Meter breiten Frachters der Emma-Mærsk-Klasse. Die mit automatischen Waffen ausgestatteten Männer und Frauen sprangen aus den Bullis und erklommen im Laufschritt die Gangway bis hinauf aufs Achterdeck. Oben verteilte sich die Einheit auf die unterschiedlichen Ebenen wie Mannschafts- und Offiziersmesse, Aufenthaltsraum, Ladebüro, Hauptdeck, bis hoch zur Brücke im siebten Stock. Maschinenraum, Schlafräume und Kombüse blieben erst mal unberücksichtigt.
Stefan zog die Uniformmütze auf, tat einen letzten Blick auf den richterlichen Beschluss, öffnete die Fahrertür, stellte sich neben das Fahrzeug und wartete auf seinen jungen Kollegen aus dem Transporter hinter uns. Die beiden Beamten gingen als Letzte an Bord, nachdem ihnen vom Gruppenführer das „Gesichert!“ übermittelt wurde.
Ich stieg ebenfalls aus, ging um den Wagen herum und lehnte mich mit gekreuzten Armen an die Fahrertür. Mein Blick glitt die rote Schiffswand hinauf bis zum Poopdeck, von wo ein Matrose an der Reling mit betretenem Gesicht zu mir herunterschaute. Der musste da jetzt durch – wie wir alle. Meine Aufgabe bestand darin, sichere Hinweise, Indizien und bestenfalls Beweise an die ermittelnden Behörden weiterzuleiten. Was darauf folgte, ist Routine: Stefan Bents setzt die begründete Untersuchung gegenüber Kapitän und Ladebüro durch, er lässt sich die Ladepapiere aushändigen, gleicht die Nummern ab und ordnet nach der Entladung die Öffnung einiger Vierzig-Fuß-Container an. Bestätigt sich der Verdacht, nimmt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen auf. Meine Arbeit wäre eigentlich nach Sicherstellung der betreffenden Container erledigt. Anschließend gerät automatisch der Empfänger der Waren ins Visier der Ermittlungen – so die übliche Vorgehensweise.
Bereits in den 90ern, während meines Kriminalistikstudiums in Hamburg, exerzierte ich diese Prozedur immer wieder durch. Unmittelbar nach dem Wechsel zur Fakultät für Rechtswissenschaften und dem abschließenden Diplom zum Wirtschaftsjuristen machte ich mich mit einer Detektei für Wirtschaftskriminalität in der Hamburger Speicherstadt selbstständig. Ein schönes Büro im Alten Wandrahm, dritter Stock, drei Räume mit Blick auf den Hauptbahnhof. Nach und nach entstand mithilfe ehemaliger Studenten, Kollegen und anderer Kontaktpersonen im Ausland ein dünnes Netz aus Informanten in Russland, Pakistan und Fernost, was die Hinweisdichte zwar erhöhte, aber nicht zwangsläufig zuverlässiger machte.
Die Geschäfte liefen trotz allem gut, ich konnte mich nicht beklagen, was allerdings zulasten meiner Ehe ging – das merkte ich zu spät. Etwa mit der Eröffnung des Jade Weser Ports bezog ich 2012 mein zweites Büro, zunächst im Wilhelmshavener Industriegebiet, 2017 dann der Umzug in ein modernes Penthouse auf einem ehemaligen Hochbunker – Wohnung und Büro zugleich. Dieser Zweitwohnsitz in Wilhelmshaven hatte sich für mein kleines Ein-Mann-Unternehmen bezahlt gemacht. Im vergangenen Jahr wurden circa neunzigtausend gefälschte Produkte im Wert von sechs Millionen Euro sichergestellt, Tendenz steigend.
Was wir heute am Pier erwarteten, war allerdings eine andere Hausnummer. In der Regel gab es maximal nachgebaute Felgen, Motoren oder Maschinenteile, aber komplette Fahrzeuge im hochpreisigen Segment übertrafen alles bisher Dagewesene. Für mich eine besondere Erfahrung, man kann auch von einer Herausforderung sprechen!
Oben auf der Gangway tat sich was. Stefan und sein junger Kollege kamen die Stahltreppe herunter. Ihre Köpfe schienen wie heiß gelaufen, ob von der Sommerglut oder weil sich etwas ereignet hatte, würde sich gleich herausstellen. Sie kamen geradewegs auf mich zu.
„Das war ein Griff ins Klo“, sagte Stefan verärgert, nahm die Mütze ab und kratzte sich die Stirn. Er gab mir den Zettel mit den Ziffern zurück und zeigte auf die Containernummern. „Diese Blechbüchsen sind nicht an Bord. Ich bin die Ladeliste durchgegangen, aber diese Nummern fehlen.“
„Was?!“ Ich hielt das Papier wie ein Notenblatt und betrachtete die Zahlen. „Wie kann das sein?“
„Entweder wurden die Container in einem anderen Hafen gelöscht, in Rotterdam vielleicht, oder sie erhielten schon auf dem Versandhafen eine andere Kennzeichnung. Dann wären die Kisten allerdings doch an Bord, was wir aber erst nach dem Löschen und Durchleuchten der Ladung wissen können.“
„Na, herzlichen Glückwunsch! Habt ihr die tatsächliche Route gecheckt?“, gab ich zu bedenken.
„Noch nicht, ich veranlasse das jetzt.“ Stefan nickte seinem Kollegen zu, der trabte zum Transporter zurück.
Ich sah zum Schiff hoch und fragte: „Ist der Kudder hier vielleicht eins dieser Feederschiffe, die mehrere Häfen im Zubringerverkehr ansteuern?“
„Wohl kaum“, Stefan schüttelte den Kopf, „dafür ist der Kahn zu groß.“
„Oder ein Drop off auf hoher See?“
„Ganze Container? Unwahrscheinlich!“
Ich machte dicke Backen, war einigermaßen ratlos. „Wow! Wie oft hatten wir den Fall, dass die Info nicht stimmte?“
„Das ist Jahre her. Inzwischen haben wir ja einen Scanner im Einsatz, der die Container durchleuchtet, um uns die Arbeit zu erleichtern. Aber Tesla-Kopien in nur vier Büchsen …“, er hob eine Hand, „ … das gleicht einer Suche im Heuhaufen, ziemlich aussichtslos.“
Ich fragte: „Wie viele Tesla fasst ein Vierzig-Fuß-Container? Vier?“
„Ich tippe auf drei. Kommt auf das Modell an.“
„Also eher ein Pröbchen als ein echter Auto-Export.“ Ich lächelte schief.
Stefan hob seine Sonnenbrille an, um sich die Augen abzutupfen. Dann steckte er das Papiertaschentuch weg und ließ die Brille zurück auf den Nasenrücken fallen. „Es könnte tatsächlich ein Test sein, um zu sehen, ob der Schmuggel funktioniert.“
Ich hob eine Hand. „Bis jetzt hat er das.“
Stefan hob beide Hände. „Na, nun mal langsam! Es ist noch nicht aller Tage Abend.“
„Es wird wohl eher Nacht werden. Jedenfalls kriegt ihr richtig viel zu tun.“
Stefan runzelte die Stirn, leicht entmutigt sagte er: „Dann fordere ich mal die Verstärkung an.“ Wir stiegen in den Bulli. Stefan telefonierte, anschließend fuhr er mich zurück zu meinem Wagen, der beim Zollbüro parkte. „Ich ruf dich an, wenn wir was haben“, sagte er und gab mir seine Hand, die ich kurz schüttelte.
Ich sagte: „Danke! Du kannst dir vorstellen, das lässt mir keine Ruhe.“
„Na sicher!“
Zum Abschied gab ich ihm ein „Viel Glück“ mit auf den Weg. Im Volvo ging ich gedanklich mehrere Möglichkeiten durch, was hinter dieser Pleite stecken mochte, aber ich kam nicht dahinter. Es brauchte Geduld – nicht gerade meine Kernkompetenz! Ich startete den weißen XC40, fuhr über die Gökerstraße zurück in die Innenstadt, holte meine Geschäftspost aus dem Postfach, kaufte mir eine ‚Nordwest-Zeitung‘ und setzte mich ins ‚Guido 2.0‘ für ein leichtes Mittagessen. Die Nähe zum Amtsgericht ließ mich wieder ins Grübeln kommen. Ich schlug die Zeitung auf, um mich abzulenken, überflog Politik und Lokales, vertiefte mich in die Wirtschaftsnews und las einen Hägar-Cartoon. Nach dem Essen gab es einen Espresso. Ich faltete die Zeitung zusammen und fuhr über die Rheinstraße bis hinten durch zum Bunkerparkplatz. Vom Beifahrersitz schaufelte ich meine Unterlagen zusammen, stieg aus, betätigte den Funkschlüssel, ging zur Haustür und schob den Schlüssel ins Schloss. Hinter mir näherte sich das Klacken harter Absätze, das plötzlich erstarb. Ich wandte meinen Kopf und blickte in ein schönes Gesicht, das ich das letzte Mal vor sechs Jahren auf Norderney gesehen hatte. Die Frau sah mich mit einem umwerfenden Lächeln an, und es dauerte etwas, bis ich ihr Ankommen realisiert hatte.
Ihre Worte waren Hauch und Klang zugleich: „Hallo Frank …“
Nele Hansen war optisch keinen Tag älter geworden, aber ihre Frisur hatte sich verändert. Keine wilden Locken mehr, dafür starker Wellengang. Eine der kastanienbraunen Wogen brandete schräg über ihre Stirn, der Scheitel war jetzt links statt in der Mitte, was sie jünger wirken ließ. In ihrem dunkelblauen Businesskostüm mit heller Bluse und halbhohen Stöckelschuhen ähnelte Nele einer Stewardess. Ein leichtes gelbes Tuch mit goldenen Fäden schmückte ihren Hals, es fehlte der Lufthansa-Kranich am Revers ihres Jacketts.
„Nele, was … für eine … Überraschung!“, stotterte ich wie ein Schuljunge beim Formulieren eines improvisierten Liebesschwurs.
„Alles gut, Frank! Kein Grund zur Beunruhigung.“ Ein Blick mit entspannten Signalen und ein breites, makelloses Lächeln. Die eine Hand auf dem Trenchcoat, der locker über ihrem anderen Arm lag. An der Schulter baumelte eine dunkle Handtasche. Hinter ihrer schlanken Silhouette parkte ein glänzender Rollkoffer mit herausgezogenem Griff.
Ich räusperte mich und sagte: „Habe nicht mit Besuch gerechnet, aber …“, für einen kurzen Moment bekam ich Farbe ins Gesicht, „… es ist schön, dich zu sehen! Wie hast du mich gefunden?“
„Tja, wie findet man heutzutage Leute? Als Pri-vatermittler solltest du das eigentlich wissen“, sagte Nele zwinkernd und fügte hinzu: „So ganz ohne Tinder …“
Damit hatte sie mich wieder in der Spur. „Sicher. Klar! Es steht alles im weltweiten Netz. Aber ich meine, woher weißt du, dass ich in Wilhelmshaven bin und nicht in der Speicherstadt?“
„Ich habe noch Kontakte aus unserer gemeinsamen Dienstzeit damals. Kurt hat mir erzählt, dass du hier zu tun hast und jetzt seltener in Hamburg bist.“ Nele drehte eine Handfläche nach oben, und aus ihrem Blick sprach: ‚No risk – no fun.‘
„Ach ja, der Kurt. Ich habe doch erst vor wenigen Tagen mit ihm telefoniert“, nuschelte ich vor mich hin, dann wieder zu Nele: „Wenn du dich so spontan auf den Weg machst, muss es dringend sein.“
„Tja, gut geraten, Frank!“ Sie machte eine kurze Pause, ihr Gesicht zeigte auf einmal Erschöpfung. „Sag mal, hast du einen Schluck Wasser für mich?“
„Manchmal bin ich schwer von Begriff.“ Ich fasste mir an den Kopf. „Lass uns reingehen.“
„Sehr gerne!“ Eine Zehntelsekunde war es, als sprühten ihre Augen Funken. Neben ihrem Dauerlächeln zeigte ihr Gesicht aber auch betrübte Züge. Sie war eine Witwe, die schwere Trauer in ihr Leben integriert hatte. Und schon waren bei mir die Erinnerungen zurück: die Ermordung ihres Mannes Jan auf der Insel Norderney. Es war nach dem Besuch der Vernissage in der Winterstraße. Ich war ihm danach unauffällig ins alte Hotel ‚Nordstern‘ gefolgt. Und als der Mord geschah, war ich in seiner Nähe, aber außerstande, etwas zu tun. Ich wurde unmittelbar vorher bewusstlos geschlagen … Es war eine Katastrophe!
Ich hielt Nele die Tür auf, sie zog ihren Koffer hinter sich her, an mir vorbei. Im Schlepptau ein betörender Duft. Wir nahmen den Fahrstuhl hinauf in den Vierten, und ihr Duft bereitete mir allmählich Kopfschmerzen. Oben angekommen bat ich Nele in die Wohnung. Die Deckenstrahler flammten auf. Ich ging weiter ins Büro, legte die Post auf den Schreibtisch, machte auf dem Absatz kehrt, ging zurück durch den Flur, in dem nun Neles Koffer parkte. Trenchcoat, Blazer und Tuch darübergelegt. Ich bog ab ins Wohnzimmer, wo Nele an einem der großen Fenster stand und runter zum Hafen blickte, mit all den Jachten vor dem Atlantic Hotel. Dahinter der glitzernde Jadebusen im Schein der Mittagssonne. Neles Blick klebte an der Aussicht. Sie holte Luft, und für einen Moment schien sie etwas sagen zu wollen, aber es kam nichts. Nach ein paar weiteren stillen Sekunden kam doch etwas: „Eine beeindruckende Aussicht hat man von hier.“
Ich hatte etwas anderes erwartet, denn normalerweise kam sie gleich zur Sache, aber ich machte den Small Talk mit: „Deshalb habe ich mir dieses Penthouse ausgesucht.“
Sie drehte sich zu mir um. „Du wohnst noch nicht lange hier?“ Während sie das sagte, schaute sie sich um und ging ein paar Schritte.
„Seit sieben Jahren fast. Bin nur noch nicht dazu gekommen, alle Bilder aufzuhängen.“ Ich machte eine weite Geste von der Lounge-Bar bis zur Küche mit Kochinsel in glänzendem Weiß. „Was darf ich dir anbieten? Kaffee, Tee, Wasser, etwas Fruchtiges oder Alkoholisches? Und überhaupt, hast du schon zu Mittag gegessen?“
„Ein kühles Kribbelwasser sollte vorerst reichen. Ich habe spät gefrühstückt.“ Mit dem Wörtchen ,vorerst‘ hatte sie die Verlängerung ihres Aufenthalts eingereicht. Meinetwegen.
Ich ging zum Tresen, füllte Selters in ein Longdrink-Glas, schüttete crushed Eis hinzu und reichte es ihr. Für mich gab es eine zuckerfreie Coke mit viel Eis. Mit dem Glas in der Hand wies ich auf Couch und Sessel: „Bitte, setz dich!“ Aber Nele setzte sich an den hellen, quadratischen Esstisch nahe der Glasschiebetür, die auf den Balkon führte. Den Riemen ihrer Handtasche spannte sie über die Stuhllehne. In diesem Moment surrten die Elektromotoren der Fenster- und Balkonbeschattung, um die Mittagssonne aus der Wohnung zu halten. Ich stellte mein Glas auf den Tisch und setzte mich im rechten Winkel zu ihr, dabei sah ich sie an.
„Guck nicht so, Frank! Ich muss daran denken, was du schon alles mit mir erlebt hast. Unsere letzte Begegnung auf Norderney ist mir heute, ehrlich gesagt, … richtig peinlich.“
Jetzt waren auch die restlichen Bilder zurück: Viele Jahre hatte ich gehofft, Nele einmal wiederzusehen, und als wir uns vor sechs Jahren auf der Insel begegneten, war der Zauber tatsächlich nicht ganz verflogen. Zögerndes Verlangen entstand zwischen uns, wie etwas, das man auf keinen Fall so benennt und doch in jedem Wort, in jeder Bewegung mitschwingt. Solche Erinnerungen sind für immer ins Bewusstsein gebrannt. Ich schaute in meine Coke und sagte zum schmelzenden Eis: „Wir beide pfiffen die gleiche Melodie damals. Zuletzt siegte bei dir der Whisky und bei mir die Entschlossenheit.“ Ich sah Nele wieder an. „Heute weiß ich, ich hätte schon gar nicht mit hineinkommen sollen, als ich dich nach der Party nach Hause brachte. Also geschenkt.“
Nele deutete ein dankbares Lächeln an, dennoch legte sie sich ins Zeug, die Geschichte umzuschreiben: „Ich war drauf und dran, mich wieder in dich zu verlieben. Es war doch schön mit uns beiden. Warum haben wir das nicht wieder aufleben lassen?“
Ich gab ihr was zum Nachdenken: „Es war jede Menge Zeit vergangen, und wir haben uns verändert. Was hattest du erwartet? Glitzernde Schmetterlinge, die durch pinken Nebel flattern? Das liegt Lichtjahre hinter uns.“
Nele schaute nachdenklich, auch ich kam ins Grübeln über unsere Zeit damals in Hamburg, als wir uns das erste Mal sahen. Nach ihrem Uni-Abschluss arbeitete Nele im Innendienst des Kommissariats der Polizeidirektion Hamburg-Bergedorf, wo wir uns begegneten und Hals über Kopf verliebten. Eine Weile waren wir glücklich, dann folgte eine längere Talfahrt. Mehrere Monate führten wir eine aufreibende On-off-Beziehung. Nach meinem Sprung in die Selbstständigkeit blieben wir nach einer unschönen Auseinandersetzung getrennt. Ich war erleichtert, als die Beziehung vorbei war. Was an Feuer in mir brannte, war zu Asche geworden, und man erzählte sich, dass Nele einer neuen Liebe wegen nach Norderney gegangen war. Unmittelbar darauf lernte ich meine jetzige Frau Susanne kennen, aber auch diese Partnerschaft stand unter keinem guten Stern. Ich schob das immer auf die Arbeit, bin mir aber heute im Klaren, dass ich mir selbst etwas vormachte.
Vor sechs Jahren traf ich Nele zufällig auf einer Party wieder, und fast gleichzeitig offenbarte mir meine Frau Susanne, sie wäre an Krebs erkrankt. Das Gefühlschaos war perfekt, weil ich gerade drauf und dran war, mich wieder in meine Jugendfreundin Antje Meiners zu verlieben, die nach dem Tod ihrer Mutter ebenfalls nach Norderney gezogen war. Norderney wurde mehr und mehr zum Ankerplatz meiner komplizierten Gefühle. Damals ahnte ich nicht, wie weit die Insel mich noch in ihren Bann ziehen würde ...
„Frank“, Nele holte mich in die Gegenwart zurück. „Ich hoffe, ich halte dich nicht von der Arbeit oder von etwas anderem ab?“
„Für heute ist mein Job erledigt. Leider nicht so erfolgreich wie gehofft.“ Ich gab ihr eine kurze Zusammenfassung. Währenddessen legte ich mein Smartphone auf die Tischplatte, um es im Blick zu behalten, falls Stefan Bents anrief. Die Klimaanlage setzte ein, sie goss eine frische Brise in den Raum.
Nele kam noch nicht auf den Anlass ihres Besuchs zu sprechen, aber dafür legte sie ihre Beine übereinander und sondierte mein Privatleben: „Was sagt denn deine Frau Susanne, wenn du so selten bei ihr bist? Damals sagtest du, dass es mit euch beiden nicht zum Besten steht. Wie nanntest du das noch? Du hast eure Ehe geschreddert?“ Nele hatte seit unserer letzten Begegnung offensichtlich mehr behalten, als mir lieb war, oder sie hatte sich diese Info anderswo besorgt.
Es war eine seltsam vertraute Bindung zwischen uns, gleichwohl war Nele ein Mensch, dem ich trotz unserer gemeinsamen Vergangenheit nicht mehr nahe stand. Ich verspürte keinerlei Lust, ihr von meiner Ehe zu erzählen. Im Grunde unterschied sie sich auch nicht von anderen problematischen Beziehungen. Die Stürme kommen, und sie legen sich wieder. Mit ein wenig Glück hatte man ein paar Jahre mit leichter Brise in den Segeln und kleinen Buchten emotionaler Tiefe. Aber dann kam ich dahinter, dass Susanne einen Freund hatte, schon eine ganze Weile. Ich versuchte herauszufinden, woran es lag, doch Susanne hatte mich nur resigniert angestarrt und gesagt: ‚Lass gut sein, Frank. Ich glaube nicht, dass du überhaupt etwas kapierst.‘ Und sie hatte vermutlich recht damit, ich verstand sie nicht.
Das alles erzählte ich Nele aber nicht. Ich wollte von etwas anderem reden, darum von mir nur eine Gegenfrage: „Was ist denn so dringend, dass du heute hierhergekommen bist?“
„Das sage ich dir gleich.“ Sie strich sich eine Welle aus der Stirn und fuhr sich mit der Zunge über ihre obere Zahnreihe. „Sag mal, stimmt es, was man sich auf Norderney über dich erzählt? Du hast eine kleine Freundin auf der Insel?“ Sie ließ ihren Blick für einen Moment in meinem ruhen, als wollte sie mir auf den Grund meiner Seele schauen, aber ich ließ sie nicht. Nele fügte hinzu: „Antje heißt sie, glaube ich.“
„Der Name stimmt“, sagte ich bemüht. „Aber Antje ist nicht das, was man eine kleine, sondern eine gute Freundin nennt. Wir waren schon in der Schulzeit zusammen, noch bevor ich nach Hamburg ging.“
Nele fing das Sticheln an: „Und dann folgte sie dir brav mit Sack und Pack auf die Insel?“
„Das meinst du nicht im Ernst, oder?“ Ich schaute ungläubig. „Antje zog nach dem Tod ihrer Mutter, die sie lange gepflegt hatte, nach Norderney. Von dort bat sie mich um einen Gefallen. Es ging um die Mordsache Doktor Jacobs, weil die Ermittlungen im Sand verliefen. Alles andere weißt du, auch die Presse hatte es breitgewalzt.“
Sie bedachte mich mit einem kühlen Blick. Es wurmte sie, nichts weiter aus mir herauszukriegen. Ihre gute Erziehung löste sich in nichts auf: „Müssen wir uns eigentlich mit dem Scheiß von damals beschäftigen?“
„Natürlich nicht, aber ich habe nicht damit angefangen.“
Sie besann sich. „Na ja, so bin ich eben. Ein bisschen zu neugierig vielleicht, außerdem …“
„Ja?“
„Ich dachte, ich könnte dir behilflich sein …“
Ich kapierte wieder nicht. „Und ich dachte, du bist hier, weil du Hilfe brauchst?“
Das war offenbar der wunde Punkt. Sie wurde eine Spur blasser, ihre Lider flackerten, als sie ihre Gedanken sortierte und einen Schluck Wasser nahm. Ich trank von meiner Coke, das Eis war so gut wie weg.
„Tja, Frank. So ist es auch.“ Erst schaute sie unsicher, dann langte sie nach hinten, um ihre Handtasche hervorzukramen und vor sich auf den Tisch zu legen. „Zur Polizei kann ich damit nicht gehen, weil die mir nicht helfen können.“
Wenn Nele so schnell von Polizei redete, musste ich auf der Hut sein. „So so, etwas Illegales?“ Ich hob eine Hand an. „Tut mir leid, aber …“
„Nein, so ist es nicht!“, schleuderte sie mir mit einer Vehemenz entgegen, die fast als Leidenschaft durchgegangen wäre. „Es geht um Leben und Tod! Die Polizei kann mir überhaupt nicht helfen.“
Größer kann der Widerspruch kaum sein. Ich sagte: „Eine solche Situation gibt es nicht, außer im Krieg vielleicht.“
Sie kräuselte die Lippen. „Es ist tatsächlich Krieg, weil … die Mafia dahintersteckt.“
„Mafia?“ Ich musste lachen, tat es aber nach innen. „Welche Mafia denn?“
„Was weiß ich – die russische, albanische, armenische oder sonst wie. Ich kenn mich mit den osteuropäischen Akzenten nicht aus. Plötzlich standen zwei von ihnen in meinem Büro.“ Nele streifte mich mit einem verwirrten Blick, als verstünde sie nicht, warum ich so etwas fragte.
„Darf ich dich daran erinnern, du warst mal bei der Polizei.“
„Dezernat drei, Abteilung Verkehrsdelikte, wie du vielleicht noch weißt.“
„Die ganze Zeit?“
„Ja.“
„Und wie kommt die Mafia gerade auf dich?“
„Es ist eine alte Sache, die Jan mir quasi … vererbt hat“, sagte Nele unbewegt, aber ihr Gesicht verdunkelte sich.
„Lass mich raten: Er hatte Schulden, und die wollen jetzt ihren Zaster zurück.“
Nele zögerte einen Moment. „So ähnlich. Sie wollen nicht das Geld zurück, sondern es geht um eine Immobilie. Besser gesagt, um einen Club, in dem Nutten arbeiten.“
„Ein Bordell.“
„Ja – nein, aber so ähnlich“, sagte sie schnell.
„Ich hätte nicht gedacht, dass Bordelle auf Norderney genehmigt werden.“
„Das ist nicht ungewöhnlich. In den 70ern gab es die My Lady Bar in der Bismarckstraße, später die Black Pearl in der Winterstraße, die wegen irgendwelcher Ermittlungen geschlossen wurde. Aber Mikes Schuppen ist ein großer Partykeller, wie eine Tiefgarage. Von außen nicht zu erkennen und ohne offiziellen Namen. Der Club befindet sich in dem Dreieck Kaiserstraße, Friedrich- und Heinrichstraße. Insider wissen, wie sie reinkommen. Einlass gibt es nur mit einem QR-Code, der persönlich weitergegeben wird. Sie nennen es Bermudadreieck.“
Ich wurde neugierig. „Bermudadreieck? Was verschwindet denn da?“
„Geld, Erbschaften und Ehen.“
„Okay. Sind da nicht jede Menge Hotels in der Nachbarschaft?“
Nele nickte. „Darum fällt der Club nicht auf.“
„Und der ist illegal“, stellte ich fest.
„Ähm, tja“, sagte sie knapp.
„Dann überschreibe der Mafia oder ihren Mittelsmännern die Immobilie, und du brauchst nicht mehr um dein Leben zu fürchten. Wenn dein Jan sich verschuldet hatte, ist diese Hypothek schon mal gelöscht.“
Sie schaute verblüfft. „Das geht nicht.“
Die Verblüffung war ganz auf meiner Seite. „Warum nicht?“
Neles Stimme wurde geschäftsmäßig. „Weil Jans alter Geschäftspartner Mike Schwenty die Geschäfte des Clubs leitet. Er war Jans Teilhaber und ist gewohnt, zu bekommen, was er will. Der ist nicht bereit, den Club einfach so aufzugeben. Die Mafia setzt stattdessen mich unter Druck, Schwenty davon zu überzeugen, mir den Laden zu überlassen, damit ich die Immobilie sauber an die Mafia überschreiben kann. Die wollen keine Arbeit mit dem Geschäftsführer, weil der sich nicht einschüchtern lässt. Ich habe es auch probiert, aber er will nichts davon wissen.“
Ich staunte nicht schlecht und gab zu bedenken: „Ganz schön dickfellig, wenn ihm die Immobilie gar nicht gehört. Die Mafia ist knallhart. Hat er keine Angst um sein Leben?“
„Nein, im Gegenteil! Er hat ein paar Kerle an der Hand, die mit Waffen umgehen können und sich auf ein wenig Abwechselung freuen, wie er immer sagt. Das sind üble Schlägertypen. Auf Norderney sieht man sie nachts patrouillieren, im Gegensatz zu unseren ehemaligen Kollegen von der Polizei. Manche sagen, die Kerle haben immer Schusswaffen dabei. Sie sehen aus wie Schränke in schwarzen Lederwesten, die in der heißen Zeit für Ordnung sorgen.“
„In der heißen Zeit? Ist der Sommer gemeint, oder geht es um was anderes?“
Nele zuckte mit den Achseln. „Das weiß ich nicht, es ist Schwentys Vokabular. Es gab Gerüchte, dass manchmal Clans oder Rocker aus der Hamburger Szene die Insel abchecken. Schwentys Leute haben sie immer wieder vertrieben, da wird nicht lange gefackelt. Vielleicht ist damit die heiße Zeit gemeint. Schwenty hält die Straßen für sicher, seitdem er das Regiment hat.“
„Mir war nicht aufgefallen, dass Norderney ein akutes Sicherheitsproblem hat.“
Nele hob die Augenbrauen. „Das kannst du nicht wissen, Frank. Du bist nicht nah genug dran! Mit dem Geld kommen auch die Probleme. Die Touristen bringen viel Zaster auf die Insel, aber sie merken nicht, was sich hinter den Kulissen abspielt.“ Sie sprach nun aufgeregter. „Wenn du auf Norderney eine Bar eröffnen willst, machst du als Erstes Bekanntschaft mit Schwentys Mannschaft, der muss das absegnen. Dann stellt er deinen Laden unter seinen Schutz, wofür du natürlich regelmäßig abdrücken musst. Das geht schneller, als du bis drei zählen kannst, jedenfalls schneller als bei den Behörden.“
Ich hielt die Luft an und ließ sie als schmalen Pfiff wieder raus. Nele sah mich abwartend an, und auf einmal veränderte sich meine Sicht auf die Nordseeinsel, als verwandele sie sich von einer imponierenden Schönheit zu etwas Undurchsichtigem, das schwer in Worte zu fassen war. Aber davon durfte ich mich nicht irritieren lassen, nicht bevor ich mich selbst davon überzeugen konnte.
Nele beugte sich etwas vor. „Auf Norderney ist es nicht mehr so, wie es mal war. Nicht mal mehr wie vor sechs Jahren, als wir uns das letzte Mal da gesehen haben.“
Ihre Worte rutschten durch mein Hirn, und ich sagte: „Du brauchst keinen Privatermittler, sondern einen Zauberer. Was könnte ich da machen, soll ich die Mafia ins Meer prügeln? Was hast du dir vorgestellt?“
Sie lachte kurz und heiser, runzelte die Stirn, als wunderte sie sich darüber, warum ich sie nicht verstand. „Es geht mir nicht um die Mafia, die wäre wohl ein paar Nummern zu groß für dich.“
„Worum dann?“
„Um Schwenty! Du kannst ihn davon überzeugen, mir die Geschäfte zu überlassen.“
Ich schlug eine Alternative vor: „Hast du schon mal darüber nachgedacht, die Insel zu verlassen und dir woanders ein neues Leben aufzubauen?“
Sie lachte spöttisch und lehnte sich wieder zurück. „Mein Stiefvater Johann Claussen lebt auch auf der Insel. Er ist ein seriöser und geachteter Hotelier und Geschäftsmann. Er hat sich ein richtiges Imperium aufgebaut. Und mittlerweile habe ich mir im selben Gewerbe ebenfalls einen Namen gemacht – ja erkämpft, den ich nicht einfach aufgebe. Und außerdem würde mich die Mafia überall finden.“
Ich überlegte. Der Name Claussen kam mir bekannt vor. Ich sagte: „Die Claussen-Hotelgruppe. Johann Claussen ist dein Stiefvater? Davon hattest du mir nie etwas erzählt. Dein Name ist Hansen, also wurdest du von Johann Claussen nicht adoptiert.“
„Nein, das wollte er nicht.“ Neles Blick ließ Kränkung erkennen, ihre Stimme nahm an Schärfe zu. „Ich sollte nie zum Claussen-Clan gehören, das hatte er mich immer spüren lassen. Später zog ich nach Hamburg, und als ich wieder zurückkam, machte es mir … nichts mehr aus, nicht zu dieser Familie zu gehören.“ Nele machte eine Pause und sprach ruhiger weiter. „Wäre meine Mutter nicht gewesen, ich hätte meinen Halt verloren. Ich wäre irgendwo abgestürzt und würde vermutlich nicht mal mehr leben. Meine Mutter hat mich immer darin unterstützt, trotz dieser … Demütigung meine Selbstachtung zu bewahren.“
Ich sah sie an, als wäre ich schwer von Begriff. „Warum hattest du mir damals nichts davon erzählt, und auch nicht, als wir uns wiedersahen?“
„So eine Geschichte erzählt man nicht, wenn man einem Kerl wie dir imponieren will.“
„Einem Kerl wie mir?“, ich verstand nicht. Offenheit hätte mir viel mehr imponiert, aber ich ließ das unkommentiert. Ich führte meinen Gedanken zu Ende: „Von deiner Mutter hattest du mir erzählt, wie schäbig sie von deinem Vater behandelt worden war und dass er sie sitzen gelassen hat. Auch von der schmutzigen Scheidung, aber von deinem Stiefvater weiß ich gar nichts.“
„Ist das ein Wunder? Wenn man von dieser Familie wie der letzte Dreck behandelt wird, möchte man solche Erfahrungen so schnell wie möglich vergessen, glaub mir!“
Das eine Wort führte mich zum nächsten Gedanken: „Familie? Das heißt, Johann hat selbst auch Kinder?“
„Es sind drei. Die beiden Söhne meines Stiefvaters, Michael und Peter, haben vor Kurzem die Geschäftsleitung der fünf Hotels übernommen, weil Johann sich in letzter Zeit stark verändert hatte. Er war nicht mehr so entscheidungs … freudig. Johann verzichtete zu unserer Überraschung auf die Geschäftsführung, er wollte von all dem nichts mehr wissen. Er interessierte sich nur noch für Kunst, Musik und Literatur. Das kam für uns alle sehr überraschend.“
Ich nahm einen großen Schluck aus meinem Glas und sagte: „Du sprachst von drei Kindern.“
„Ach ja, da ist noch das Küken Lisa-Marie. Sie kam Mitte der Achtzigerjahre auf die Welt. Wenige Monate danach starb ihre Mutter, sie war an Krebs erkrankt. Als kurz danach Johann und meine Mutter zusammenkamen, kümmerte sie sich liebevoll um Lisa-Marie. Und als sie dann flügge geworden war, gab es nur noch Streit. Lisa-Marie brach endgültig mit der Familie und zog nach Frankreich. Seitdem habe ich sie nicht wiedergesehen.“ Neles Augen verengten sich. „Die Streitereien innerhalb der Claussen-Familie sind das eine, aber sie alle ahnen noch nichts von der … wie soll ich sagen … von der Gefahr, in die mein Jan die Familie gebracht hat.“
Ich ließ ihre Worte auf mich wirken, dann breitete ich meine Hände aus. „Ich würde das nicht automatisch auf Jan schieben. Die Mafia stellt manchmal Fallen, in die er getappt sein könnte. Für Erpressung ist das Syndikat bekannt. Jan brauchte Kapital, und das gaben sie ihm.“ Ich legte meine Hände wieder zusammen. „Er unterschätzte vielleicht, was es bedeutet, seine und die Seele seiner Familie zu verscherbeln. Womöglich sucht die Mafia auf diesem Weg nach einer Möglichkeit, einen Fuß auf die Insel zu kriegen, um zu investieren, in Hotels, Gastronomie, Casinos, als Teil eines Geldwäschesystems. Die Mafia versteckt sich immer hinter anständigen Fassaden, als Bauunternehmer, Restaurantbesitzer und Hoteliers. Was die umsetzen, findet man nicht in Steuererklärungen, und im Schlepptau sind Tod und Verderben. Das ist, was ich hin und wieder in meinem Job erlebe.“
Nele sah mich erwartungsvoll an. „Das heißt, du würdest das für mich machen?“
„Moment, Moment! Womit könnte ich diesen Schwenty denn überzeugen? Du hattest ja selbst keinen Erfolg bei ihm.“
Nele biss sich auf die Unterlippe und senkte ihren Blick. „Aber ich habe ein Ass im Ärmel, das ich bis vor wenigen Tagen noch nicht ausspielen konnte.“ Sie hob wieder den Kopf, aber ihr Blick reichte nicht höher als bis zu meiner Brust. „Ich habe … Dokumente, die belegen, dass Schwenty in den neuen Bundesländern gefälschte Gutachten für die Rückübereignung von Herrenhäusern erstellen ließ. Nur waren die Auftraggeber nicht die wirklichen Eigentümer! Die Fälschungen wurden trotzdem anerkannt, weil es keinen rechtssicheren Widerspruch gab. Darunter waren auch ehemalige DDR-Betriebe, die Mike Schwenty mithilfe von Fördermitteln günstig erwarb und ein paar Jahre später abwickelte. Mit einer ordentlichen Rendite natürlich, wie die berüchtigten Heuschrecken …“ Nele zögerte, es war etwas in ihren Augen, das sie da nicht haben wollte. Sie verbarg etwas. Ich hab schon zu vielen Leuten ins Gesicht gesehen, um so etwas nicht zu bemerken.
„So so. Subventions- und Steuerbetrug“, resümierte ich und fragte vorsichtig, „und das ist vielleicht nicht die ganze Wahrheit?“
Nele schaute mich jetzt voll an. Sie sagte so leise, dass ich es kaum hörte: „Nein, das war noch nicht alles. Jan war auch daran beteiligt.“
„Wusstest du das?“
Nele sah aus dem Fenster, sie suchte den Himmel. „Damals nicht. Das war, bevor Jan und ich zusammenkamen.“ Jetzt sah sie wieder mich an, in ihren Augen standen Tränen. „Als Jan umgebracht wurde, war es, als ob mir jemand ein Messer in die Brust rammt und umdreht. Ich dachte, ich müsste sterben.“ Sie legte eine Hand aufs Herz, schloss und öffnete sie langsam. „Von da an ging es nur noch in eine Richtung, in die Hölle.“ Ihre Stimme lief über vor Verbitterung. „Ich zog mich zurück, igelte mich ein, um möglichst wenig mit Menschen zu tun zu haben.“ Sie machte eine Pause. „Ich …“, Nele suchte nach Worten, und als sie sie fand, lag eine neue Wärme in ihnen. „Ich … hatte endlich genug Zeit, um die Unterlagen aus dem Bankschließfach durchzugehen. Und als mir das ganze Ausmaß klar wurde, wollte ich um jeden Preis verhindern, dass Jans Andenken beschmutzt wird. Ich ordnete mein Leben neu und bekam Mut, die Dinge anzupacken.“
Ich nickte und griff nach dem Strohhalm, den sie mir reichte. „Du wolltest raus aus dem Sumpf.“
Sie nickte, setzte sich aufrecht hin, strich mit ihrer Handfläche eine Träne weg und bekam wieder einen sachlichen Ausdruck. Gefasst sagte sie: „Ja, das stimmt! Und irgendwann war mir Jans Andenken egal. Schließlich habe ich es ihm zu verdanken, dass mir die Mafia jetzt auf die Pelle rückt.“
„Wie war er eigentlich? Sah es Jan ähnlich, dass er sich in Geldfragen ausgerechnet an die Mafia wendet?“, wollte ich wissen.
„Hm. Ich weiß nicht, was er vorhatte.“ Nele strich sich wieder eine Strähne aus den Augen. „Bei Jan lag immer irgendein Scheiß an.“
„Hast du die Unterlagen mitgebracht? Vielleicht kommen wir gemeinsam dahinter.“
Sie schüttelte langsam den Kopf, auf ihrer Stirn bildeten sich Falten. „Bis gestern hatte ich sie noch zu Hause, aber bei mir ist eingebrochen worden, alles wurde durchwühlt. Das hat mich total geschockt!“
„Okay ...“, vor Verwunderung machte ich große Augen. Würde das denn gar nicht aufhören mit diesen Geschichten? „Hast du das der Polizei gemeldet?“
„Noch nicht. Ich werde es nachholen, sobald ich zurück bin. Die Unterlagen waren mir erst mal wichtiger, die haben sie nicht gefunden!“
„Wo hattest du die versteckt?“
„Zwischen meiner Unterwäsche. Eigentlich wollte ich sie heute mitbringen, aber ich hatte Angst, dass man sie mir unterwegs stehlen könnte.“ Nele schaute in das Glas in ihrer Hand. Mit einem finalen Schluck spülte sie die Erinnerungen der letzten Tage runter. Sie sagte: „Mike Schwenty weiß, dass die Dokumente irgendwo existieren, und er könnte alles daransetzen, sie an sich zu reißen. Der würde auch vor Einbruch nicht zurückschrecken, dafür hat er ja seine Leute.“
„Dann gibt es jetzt ein neues Versteck?“
„Ich hab sie auf dem Weg zum Flugplatz noch schnell im Haus Schifffahrt eingeschlossen. Es gibt da eine Schließfachanlage in der Passage.“ Nele wartete auf meine Reaktion, und als ich nichts sagte, erzählte sie weiter: „Ein ganz sicheres System! Beim Einschließen war mir sogar jemand behilflich. Schwenty kommt da nicht dran!“ Sie öffnete die Handtasche, zog einen Beleg für den Schlüssel-Code heraus, und in diesem Augenblick überkam mich der Wunsch, Nele rauszuschmeißen, um mir nicht noch weitere Crime-Geschichten anhören zu müssen. „Frank, wenn du mit mir auf die Insel kommst, kannst du einen Blick in die Papiere werfen. Ich wäre dir sehr dankbar! Du könntest Schwenty bestimmt davon überzeugen, den Laden an mich abzutreten. Ich bring das nicht – ich habe keine Kraft mehr. Bitte tu mir den einen Gefallen, ja?“ Hilflos sah sie mich an und legte ihre Hand auf meine. „Ich werde bedroht, Frank. Die wollen mich umbringen, das ist kein Spaß!“ Für wenige Sekunden loderte so etwas wie Angst in ihren Augen.
Ich antwortete erst mal nicht. Ich hatte tatsächlich keine Antwort, sondern ließ mir das Ganze durch den Kopf gehen. Gerade weil es keine Lappalie war, wäre das ein Fall für die Behörden, andererseits würden die ohne konkrete Handhabe kaum etwas ausrichten können oder wollen. Und ich arbeite in einer Branche, in der es manchen Menschen schwerfällt, mit ihren Problemen zur Polizei zu gehen.
Für einen Augenblick versuchte ich mich in diesen Mike Schwenty hineinzuversetzen. Ich fragte: „Hast du einen Plan B? Kannst du Schwenty etwas Gleichwertiges anbieten, damit er auf seine sprudelnde Quelle verzichtet?“
Nele holte tief Luft und sagte mit Wut in der Stimme: „Das wäre ja noch schöner! Der hat doch schon Jans Anteil versenkt, den er eigentlich mir hätte auszahlen müssen. Ich hatte ihn einfach machen lassen, weil er Jans Freund war, und er hatte immer pünktlich die Pacht bezahlt. Und was habe ich jetzt davon? Ich werde ihn nicht mehr los, er hat sich festgebissen wie eine Zecke. Aber damit kann ich wohl kaum vor Gericht ziehen …“
Also kein Plan B! Meine Nackenmuskeln spannten sich, und der Mund wurde trocken. Ich stand auf und sagte: „Das ist ziemlich starker Tobak, den du mir da auftischst. Ich brauch was Stärkeres für meine Kehle.“ Die Anrichte mit den härteren Getränken befand sich hinter mir. Ich fragte Nele, ob sie auch einen Gin Tonic wollte. Sie wollte. Sie hatte einen nötig, wie sie sagte. Nachdem ich gedankenvoll die Bar geöffnet und den Gin mit Eis und Zitrone zubereitet hatte, trug ich die Gläser zum Tisch zurück und setzte mich wieder. Wir nahmen einen guten Schluck – kalte Zitrone auf der Zunge, Wacholder im glühenden Abgang. Nele sah mich beim Trinken über ihr Glas hinweg an, lange und offen, dann stellte sie ihr Glas ab. Ich behielt meines in der Hand und schielte aufs Handy. Von Stefan Bents keine Nachricht. Er war auf Containersuche, während sich hier am Tisch ein neuer, zweifelhafter Fall auftat.
Ich dachte darüber nach, was ich Nele auf ihre Bitte antworten sollte. Okay, ihre Anfrage passte in meinen Zeitplan, aber ich war nicht gerade versessen darauf, mehr Zeit als nötig mit ihr zu verbringen. Alles, was sie sagte, klang plausibel. Es deckte sich mit den Erzählungen, die mir aus anderen – allerdings großstädtischen – Milieus zu Ohren gekommen war. Clans und andere mafiöse Strukturen stecken seit geraumer Zeit Gebiete ab, in denen sie sich festsetzen und abkassieren können – offenbar jetzt auch abseits der großen Zentren. Wie immer ist viel Geld im Spiel, auch Drogen, Menschenhandel, illegales Glücksspiel. Nicht selten kommt es deswegen zu deftigen Straßenschlachten. Manche Hintermänner sitzen in Haft und steuern das Ganze vom Knast aus. Drohten solche Zustände jetzt auch auf Norderney? Das wäre überraschend neu für mich.
Ich bat Nele um Bedenkzeit. Sie sagte: „Nimm dir die Zeit, aber ich gehe hier ohne deine Antwort nicht weg.“ Ihr übertrieben empörter Blick war herausfordernd und herablassend zugleich, er hatte etwas Unauthentisches und schoss an mir vorbei. Es entstand eine peinliche Stille. Nele sah einen Moment lang etwas verloren aus, dann holte sie ihr betörendes Lächeln hervor.
Wir kamen wieder ins Reden, sprachen jetzt aber über andere Dinge. Anekdoten aus vergangenen Hamburger Tagen. Wir redeten den ganzen Nachmittag, das trug etwas zur Entspannung bei. Manchmal lachten wir, bis die Tränen kamen, und als es langsam zu dämmern begann, zogen wir nach draußen auf den breiten Balkon. Ich bot ihr eine der Sonnenliegen an und gab ihr eine Decke, der Brise wegen. Während Nele es sich gemütlich machte, bereitete ich einen Snack aus dem Kühlschrank zu. Ich reichte Nele davon und machte es mir auf der anderen Liege bequem. Wir aßen Fingerfood, tranken kühle Weißweinschorle und blickten in den türkisfarbenen Himmel, der ins Dunkelblau kippte. Die Brise ließ nach, und von der Straße stiegen kaum noch Geräusche zu uns herauf. Ein paar Schwalben und sogar Fledermäuse flitzten zwischen den Häusern hin und her.
Ich entzündete drei, vier Kerzen auf dem niedrigen Holztisch. Es entstand eine lange Stille, die eine beruhigende Wirkung auf uns hatte. Für einen Moment dachte ich, unser Kommunikationsfaden wäre gerissen oder Nele wäre eingeschlafen, aber dann sagte sie leise: „Ist es nicht seltsam? Überall auf der Welt wird dem Geld hinterhergejagt. Die Mafia erobert neue Gebiete zum Abkassieren, sie erpresst einfache Kaufleute, tötet sie vielleicht, und wir zwei liegen hier entspannt und schauen dem Himmel beim Schlafengehen zu … so friedlich alles. Jetzt darf die Zeit gern mal stehen bleiben.“ Und für einen Moment schien es, als würde sie tatsächlich stillstehen. Wir redeten miteinander wie alte Freunde, nur nicht über unsere Gefühle, als würde das unausweichlich Folgen haben und dazu führen, entweder direkt ins Bett oder auseinander zu gehen.
Nele blieb unerbittlich bei ihrem Anliegen: „Frank, kommst du bitte mit auf die Insel?“ Ein gekonntes Seufzen leitete ihre Anschlussfrage ein: „Ich wünsche mir eine glückliche Zukunft auf Norderney, ohne jeden Tag Angst haben zu müssen. Hilfst du mir dabei?“ Ihre Stimme hatte einen Unterton, den ich von früher zu kennen glaubte. Es war ein einfordernder Ton, der Hartnäckigkeit und Ungeduld verriet, und ich fühlte Ärger in mir aufsteigen. Zugegeben, sie sagte das einfühlsam und zur richtigen Zeit, und ich wollte gerade antworten, als mein Smartphone klingelte.
Ich sagte: „Bitte entschuldige, ich muss da ran.“
Nele nickte.
Ich kletterte aus der Liege, ging durch die Schiebetür zurück in die Wohnung und schaute aufs Display. Stefan rief an. Ich nahm ab, im Hintergrund waren Krangeräusche zu hören, und irgendwo setzte ein Container hart auf. Stefan atmete schwer.
„Frank, ich bin’s. Es ist amtlich! Die Container sind nicht auffindbar, und mit der Transportliste hat alles seine Richtigkeit. Der Frachter hat auch nirgends einen Zwischenstopp eingelegt, das belegen die Tracking-Daten.“
„Ganz übler Mist!“, sagte ich. Meine Stimmung war auf Grundeis.
„Wir steh’n auf dem Schlauch, und mein Vorgesetzter steigt mir aufs Dach. Die Kosten für den Einsatz, die Verzögerung beim Löschen und so weiter, du kennst das Gezeter … aber das soll nicht dein Problem sein.“
„Das ist absolut ärgerlich! Du weißt, in der Regel sind meine Quellen zuverlässig. Irgendwas ist schiefgelaufen.“ Mit der freien Hand schaltete ich die Bogenlampe ein. Im Schein des Lichts sah ich mein Spiegelbild in der großen Fensterscheibe, dahinter Neles Gesicht als schwache Reflexion des Kerzenlichts, als würden wir optisch miteinander verschmelzen.
„Ist schon gut, Frank“, kam es gedämpft von Stefan zurück. „Wir packen jetzt unsere Sachen, verbeugen uns vor den Chinesen und machen uns vom Acker. Ich bleibe selbstverständlich dran, vielleicht haben wir was übersehen.“
„Okay. Wenn sich was ergibt, ruf mich bitte sofort an. Das Handy bleibt am Mann.“
„Umgekehrt auch!“ Pause. „Und, Frank?“
„Ja?“
Er klang besorgt: „Der Reinfall heute soll unsere Zusammenarbeit in keinster Weise beeinträchtigen. Dafür arbeiten wir schon zu lange zusammen, und das werde ich auch meinen Chefs gegenüber so vertreten. Du brauchst dir also keinen Kopf zu machen.“
„Danke, mein Freund! Das weiß ich zu schätzen!“
„Okay, dann leg dich wieder hin! Ich mach das jetzt auch, war ein langer Tag heute.“
„Schlaf gut!“
Wir legten auf.
Ich ging zurück auf den Balkon, lehnte mich gegen den Türrahmen und sagte: „Es war wegen der Sache im Hafen, von der ich dir heute Mittag erzählt hatte.“
„Hat sich das Problem aufgeklärt?“, wollte Nele wissen.
Ich machte ein enttäuschtes Gesicht, schüttelte den Kopf. „Leider nicht.“
„Vielleicht ist das ein Wink des Schicksals. Schon mal darüber nachgedacht?“ Sie schaute mich mit großen Augen an, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Hm?“
Sie richtete sich halb aus dem Liegestuhl auf. „Vielleicht solltest du mal abschalten, einfach mal was anderes sehen. Und ich komme zur richtigen Zeit, um dich mit auf die Insel zu nehmen. Morgen Vormittag fliege ich zurück. Komm einfach mit.“
„Startet die Maschine vom Jade Weser Airport aus, hier in Mariensiel?“
„Ja, ich habe den Flugkorridor für elf Uhr gebucht.“
„Du fliegst selbst?“
Nele nickte mit einem Lächeln. „Vor neun Jahren habe ich meinen Flugschein gemacht. Das Selberfliegen ist für mich viel praktischer. Von Zeit zu Zeit nutze ich die Cessna meines Stiefbruders. Du siehst, die Umstände, mich morgen zu begleiten, sind geradezu ideal!“
Ich nickte, denn sie hatte nicht ganz unrecht. Was in meine Überlegung mit einfloss, war die Tatsache, dass ich mich ihr verpflichtet fühlte, und das wusste sie. Darum sagte ich: „In Ordnung, ich komme mit. Aber unter Vorbehalt! Wenn Mike Schwenty auf den Vorschlag nicht eingeht, bin ich raus. Dann verwandle ich mich in einen Touristen und erhole mich von den Strapazen der letzten Tage. Außerdem muss ich vorher die Papiere sehen.“
„Abgemacht! Vielen Dank!“, sagte Nele erleichtert. Sanfter hauchte sie: „Ich weiß das wirklich zu schätzen.“ Ihre dunklen Augen bekamen einen entspannten Ausdruck, den ich von früher kannte. Doch auf einmal veränderte sich dieser Blick. Sie räusperte sich. „Da ist noch ein klitzekleines … Problem.“ Sie sah mich herausfordernd an, ihr Mund blieb offen stehen, ihre Zähne strahlten sogar bei mattem Licht.
„Lass mich raten, du hast keine Bleibe für die Nacht.“
Nele schloss die Lippen und presste sie aufeinander. Sie sah mich mit leicht gesenktem Kopf an und sagte: „Ich war noch nicht dazu gekommen, ein Hotel zu buchen.“
„Aber den Zeitkorridor für morgen hast du schon in der Tasche.“
Betretenes Schweigen.
„Du kannst in meinem Bett schlafen, und ich lege mich aufs Sofa“, hörte ich mich selbst sagen. Ihr Gesicht hellte sich spürbar auf, und etwas tanzte in ihren Augen. Ich wandte mich um. „Dann bereite ich mal eben das Bett für dich vor.“
„Nein, Frank, das ist nicht nötig! Ich werde auf dem Sofa schlafen. Mach dir bitte keine Umstände. Eine leichte Decke wie diese reicht völlig.“
„Gut. Und wenn die nicht ausreicht, gibt es weitere Decken und Kissen in dem Schrank da links.“
Ich schaute auf die Uhr und in die Gläser, sie waren leer. Mein Blick wanderte weiter zu Nele. Zwei umschattete Augen sahen mich an wie Teiche im Dunkeln. Weiches Licht reflektierte in ihnen. Ein Gedanke regte sich hinter ihren Augen, aber der kam nicht zum Vorschein. Es gibt viele Arten, zu flirten, die offensiven und die subtilen. Nele war talentiert darin, nach Lust und Laune hin und her zu schalten. Plötzlich lachte sie. Es war ein unnatürliches Lachen, aber ein klares, mit einem zauberhaften Klingeln. Dann hörte sie genauso plötzlich damit auf und gähnte. Es waren ihre Stimmungsschwankungen, die mich ratlos machten. Über die Jahre hatte sich das nicht geändert, und ich würde mich nie daran gewöhnen.
Müde sagte sie: „Der Abend war sehr schön. Danke für das Essen und für die guten Gespräche heute. Ich habe das sehr genossen.“
Wir wünschten uns „Gute Nacht“. Ich räumte Geschirr und Gläser in die Spülmaschine, legte weiche Kissen aufs Sofa, ging ins Bad, danach ins Schlafzimmer und ab in die Kiste. Vom Bett aus hörte ich, wie Nele ihren Koffer öffnete. Gleich darauf trippelte sie ins Bad, anschließend zurück aufs Sofa. Der schmale Schein unter meiner Tür erlosch, sie hatte den Lichtschalter gefunden.
Ich war todmüde, konnte aber nicht einschlafen. Zu viele Rädchen in meinem Kopf fingen an, sich zu drehen, und sie ließen sich nicht stoppen. Die Ereignisse des Tages liefen ab wie in einem Film, dagegen konnte ich nichts machen. Irgendwann rutschte ich in den Keller des Unterbewussten und war schlagartig wieder wach, als die Schlafzimmertür geöffnet wurde. Ich hob den Kopf und sah Nele im Türrahmen stehen. Vor dem beleuchteten Wohnzimmer wirkte ihre Silhouette wie ein Scherenschnitt. Eine Hand lag auf dem Türgriff, ihr betörender Duft kam ungebremst über die Bettdecke gerollt.
„Ich kann nicht einschlafen“, flüsterte sie.
„Alle Muskeln entspannen und aufhören zu denken“, schlug ich nuschelnd vor.
„Mein Geist ist ja willig, aber mein Fleisch schwächelt.“
„Je weniger ich über dein Fleisch weiß, desto besser für uns beide“, murmelte ich und schlug etwas anderes vor: „Denk an eine Wiese mit schlafenden Schafen.“
„Das versuche ich ja, aber die Gedanken kommen durch die Hintertür wieder rein. Kann ich bei dir schlafen?“ Ihre Versuche waren plump, es war weniger ein Umgarnen als vielmehr ein Umketten.
Doch plötzlich traf es mich ein Blitz! Ich schoss hoch und fragte: „Was hast du gerade gesagt?“
„Na, ob ich bei dir schlafen kann?“
„Nein. Davor! Was hast du davor gesagt?“
„Öh …“
„Du hattest was von Hinter… gesagt!“
„Ja, die Gedanken kommen durch die Hintertür wieder rein …“
„Das ist es!“
„Ich weiß nicht, wie du … das meinst.“
Ich knipste die Nachttischlampe an. „Komm rein.“
Nele schob die Tür sorgfältig hinter sich zu. Mit der Zunge fuhr sie sich über die Lippen, während sie auf mich zukam, ohne dass ich ihre Schritte hörte. Sie glitt mit einem triumphalen Seufzer geschmeidig unter die Decke, während ich auf der anderen Seite herausstieg.
„Wo willst du denn jetzt auf einmal hin?“, fragte sie empört.
„Ich muss telefonieren. Das mit der ‚Hintertür‘ hat mich auf eine Idee gebracht.“
Ich nahm das Smartphone vom Nachttisch, wanderte aus dem Schlafzimmer und wählte Stefans Nummer. Es dauerte nicht lang, dann nahm er ab. „Frank … bist du das?“ Die Stimme drang schläfrig durch sein gefeudeltes Unterbewusstsein. „Was ist los?“
Mein Puls hatte eine Schippe draufgelegt. „Sag mal, seit ein paar Jahren gibt es doch diese Seidenstraße, die neue Route von China nach Europa.“
„Hä? Märchenstunde?“ Seine Stimme klang, als kämpfte er sich durch die Kissen.
Ich fing von vorne an: „Du weißt doch von der Bahntrasse, auf der die Güter von China nach Europa transportiert werden. Sie brauchen für neuntausend Kilometer nur noch fünfzehn Tage, statt der üblichen vierzig mit dem Schiff!“
Stefan gähnte durch die Leitung.
Ich hielt inne, damit er mir folgen konnte, und sprach dann weiter: „Wir sind wie selbstverständlich von den Pötten ausgegangen, aber vielleicht trudeln die Tesla-Container ja über die Schiene in den JadeWeserPort ein!“
Er sagte nichts.
„Bist du noch dran?“, rief ich ins Handy.
„Ja, … ja! Was? Das hatten wir ja gar nicht auf’m Schirm!“
„Weißt du, ob in diesen Tagen ein Zug aus China eingetroffen oder einer angekündigt ist?“
„Ich check das und ruf dich gleich wieder an.“ Wir legten auf, ich kippte aufs Sofa zurück und schloss die Augen für ein paar Minuten. Das Handy klingelte, ich drückte auf ‚Annehmen‘.
Stefan, wach wie eine Nachtigall, hatte sich die Wolldecke aus dem Mund gezogen. „Bingo! Heute gegen sechzehn Uhr traf hier ein Zug aus Xian ein.“