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Dieses eBook: "Stine" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Die junge Ernestine Rehbein, genannt Stine, lebt in einfachen kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sie lebt in einem Wohnhaus in der Invalidenstraße 98e in Berlin zwei Stockwerke über der Wohnung ihrer verwitweten Schwester Pauline, die zwei Kinder von zwei verschiedenen Männern hat. Bei einem abendlichen Diner, mit dem Pauline in kleiner Gesellschaft den Pflichten ihrer Liaison mit dem alten Grafen Haldern nachkommt, lernt Stine den kränklichen jungen Grafen Waldemar Haldern kennen. Dieser verliebt sich in Stine und fängt an um sie zu werben, indem er sie zu besuchen beginnt. Da diese Verbindung ihrer Schwester suspekt wird, rät sie Stine zur Besonnenheit, um nicht ins Gerede zu kommen, ein außereheliches Verhältnis zum Grafen zu haben. Derweil berät sich Graf Haldern mit seinem Onkel über seinen Plan, Stine zur Frau zu nehmen. Dieser rät ihm davon ab, da es die Ächtung seiner Familie nach sich ziehen würde. Der junge Graf von Haldern ist fast schon bereit, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Als jedoch auch Stine ihm ihre Zusage zur Hochzeit verwehrt, begeht er kurz darauf Selbstmord. Stine reist zu seiner Beerdigung und kehrt mitgenommen zu ihrer Schwester zurück. Theodor Fontane (1819-1898) war ein deutscher Schriftsteller. Er gilt als literarischer Spiegel Preußens und als bedeutendster deutscher Vertreter des Realismus.
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Seitenzahl: 139
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In der Invalidenstraße sah es aus wie gewöhnlich: die Pferdebahnwagen klingelten, und die Maschinenarbeiter gingen zu Mittag, und wer durchaus was Merkwürdiges hätte finden wollen, hätte nichts anderes auskundschaften können, als daß in Nummer 98e die Fenster der ersten Etage – trotzdem nicht Ostern und nicht Pfingsten und nicht einmal Sonnabend war – mit einer Art Bravour geputzt wurden.
Und nicht zu glauben, diese Merkwürdigkeit ward auch wirklich bemerkt, und die schräg gegenüber an der Scharnhorststraßen-Ecke wohnende alte Lierschen brummelte vor sich hin: »Ich weiß nich, was der Pittelkown wieder einfällt. Aber sie kehrt sich an nichts. Un was ihre Schwester is, die Stine, mit ihrem Stübeken oben bei Polzins un ihren Sep'ratschlüssel, daß keiner was merkt, na, die wird grad ebenso. Schlimm genug. Aber die Pittelkown is schuld dran. Wie sie man bloß wieder da steht und rackscht und rabatscht! Und wenn es noch Abend wär, aber am hellen, lichten Mittag, wo Borsig und Schwarzkoppen seine grade die Straße runterkommen. Is doch wahrhaftig, als ob alles Mannsvolk nach ihr raufkucken soll; 'ne Sünd und 'ne Schand.«
So brummelte die Lierschen vor sich hin, und so wenig freundlich ihre Betrachtungen waren, so waren sie doch nicht ganz ohne Grund; denn oben auf dem Fensterbrett und kniehoch aufgeschürzt stand eine schöne, schwarze Frauensperson mit einem koketten und wohlgepflegten Wellenscheitel und wusch und rieb, einen Lederlappen in der Hand, die Scheiben der einen Fensterseite, während sie den linken Arm, um sich besser zu stützen, über das andere Querholz gelegt hatte. Mitunter gönnte sie sich einen Stillstand in der Arbeit und sah dann auf die Straße hinunter, wo jenseits des Pferdebahngeleises ein dreirädriger, beinahe eleganter Kinderwagen in greller Mittagssonne hielt. Dem im Wagen sitzenden, allem Anscheine nach überaus ungebärdigen Kinde, das ganz aristokratisch in weiße Spitzen gekleidet war, war ein zehnjähriges Mädchen zur Aufsicht beigegeben, das, als alles Bitten und Zureden nichts helfen wollte, dem Schreihals einen tüchtigen Klaps gab. Im selben Augenblick aber schielte die Zehnjährige, die diesen Erziehungsakt gewagt hatte, scheu nach dem Fenster hinauf, und richtig, es war alles von drüben her gesehen worden, und die schöne, schwarze Person, die »klapsen und erziehn« durchaus als ihre Sache betrachtete, drohte sofort mit dem Lederlappen nach der auf ihrem Übergriff Ertappten hinüber. Auch schien ein Zornausbruch in Worten trotz der weiten Entfernung folgen zu sollen; aber ein befreundeter Briefbote, der gerade die Straße heraufkam, hielt einen Brief in die Höh, zum Zeichen, daß er ihr etwas bringe. Sie verstand es auch so, stieg sofort vom Fensterbrett auf einen nebenstehenden Stuhl und verschwand im Hintergrunde des Zimmers, um den Brief draußen auf dem Korridor in Empfang zu nehmen. Eine Minute später kam sie zurück und setzte sich ins Licht, um bequemer lesen zu können. Aber was sie da las, schien ihr mehr Ärger als Freude zu machen, denn ihre Stirn legte sich sofort in ein paar Verdrießlichkeitsfalten, und den Mund aufwerfend, sagte sie spöttisch: »Alter Ekel. Immer verquer.« Aber sie war keine Person, sich irgendwas auf lange zu Herzen zu nehmen, und so lehnte sie sich, den Brief immer noch in der Hand haltend, weit über die Fensterbrüstung hinaus und rief mit jener enrhümierten Altstimme, wie sie den unteren Volksklassen unserer Hauptstadt nicht gerade zum Vorteil eigen ist, über die Straße hin: »Olga!«
»Was denn, Mutter?«
»›Was denn, Mutter!‹ Dumme Jöre! Wenn ich dir rufe, kommste. Verstehste?«
Ein mit einem alten Dampfkessel bepackter Lastwagen, der dröhnend und schütternd gerade des Weges kam, hinderte die unverzügliche Ausführung des Befehls; kaum aber, daß der Rollwagen vorüber war, so nahm Olga den Stoßgriff des Kinderwagens in die Hand und fuhr, quer über den Damm hin, auf das Haus zu und mit einem Ruck in den Hausflur hinein. Hier nahm sie das Kind heraus und ging, während sie den Wagen zunächst unten stehenließ, treppauf in die Wohnung der Mutter.
Diese hatte sich mittlerweile beruhigt, die Stirnfalte war fort, und Olga bei der Hand nehmend, sagte sie mit jenem Übermaß von Vertraulichkeit, das gewöhnliche Leute gerade bei Behandlung intimster Dinge zu zeigen pflegen: »Olga, der Olle kommt heute wieder. Immer wenn's nich paßt, is er da. Grad als wollt er mir ein'n Tort antun. Ja, so is er. Na, es hilft nu nich und, Gott sei Dank, vor achten kommt er nich. Und nun gehst du zu Wanda und sagst ihr... Ne, laß man... Bestellen kannst du's doch nich, es is zu lang zum Bestellen... Ich werd dir lieber einen Zettel schreiben.«
Und mit diesen Worten trat sie, von der Tür her, wo dies Gespräch stattgefunden, an einen überaus eleganten und um eben deshalb zu Haus und Wohnung wenig passenden Rokokoschreibtisch heran, auf dem eine fast noch mehr überraschende ledergepreßte Schreibmappe lag. In dieser Mappe begann jetzt die noch immer hochaufgeschürzte Frau nach einem Stück Briefpapier zu suchen, anfangs ziemlich ruhig, als sich aber, nach dreimaligem Durchblättern der roten Löschpapierbogen, immer noch nichts gefunden hatte, brach ihre schlechte Laune wieder los und richtete sich, wie gewöhnlich, gegen Olga: »Hast es wieder weggenommen un Puppen ausgeschnitten.«
»Nein, Mutter, wahr un wahrhaftig nich; ich kann es dir zuschwören.«
»Ach, geh mir mit dein ewiges Geschwöre. Haste denn gar nichts?«
»Ja, mein Schreibebuch.«
Und Olga lief, so rasch es ging, in das Neben- und Hinterzimmer und kam dann mit einem blauen Schreibehefte zurück. Die Mutter riß ohne weiteres die letzte Seite heraus, auf deren oberster Zeile lauter »ch's« standen, und kritzelte nun mit verhältnismäßiger Schnelligkeit einen Brief fertig, faltete das Blatt zweimal und verklebte die noch offene Stelle mit Briefmarkenstreifen, von denen sie die gummireichsten immer mit dem Bemerken »Is besser als englisch Pflaster« aufzuheben pflegte. »So, Olgachen. Nun gehst du zu Wanda un gibst ihr das. Und wenn sie nich da is, gibst du's an den alten Schlichting. Aber nich an seine Frau un auch nich an die Flora, die kuckt immer rein un braucht nicht alles zu wissen. Und wenn du zurückkommst, dann gehste mit zu Bolzanin ran und bestellst 'ne Torte.«
»Was für eine?« fragte Olga, deren Gesicht sich plötzlich verklärte.
»Appelsine... Un bezahlst sie gleich. Un wenn du sie bezahlt hast, sagste, daß er nichts drauflegen soll, auch keine Appelsinenstücke, die doch bloß Pelle un Steine sind... Und nun geh, Olgachen, un mach flink, und wenn du wieder da bist, kannst du dir drüben bei Marzahn auch für 'n Sechser Gerstenbonbons kaufen.«
Olga säumte nicht und ging in die Hinterstube, um hier ihr rot und schwarz kariertes Umschlagetuch zu holen, das, neben einem etwas verschlissenen Schnurrenhut, ihr gewöhnliches Straßenkostüm bildete. Witwe Pittelkow in Person aber stieg, nachdem sie das immer noch schreiende Kind in eine ganz vornehm ausgestattete Himmelwiege gelegt und ihm eine Flasche mit Saugpfropfen in den Mund gesteckt hatte, zwei Treppen höher zu Polzins hinauf, wo ihre Schwester Stine Chambre garnie wohnte.
Polzins waren gutsituierte Leute, die das mit dem Chambre garnie gar nicht nötig gehabt hätten, aber trotzdem, aus purem Geiz, alles vermieteten, oder doch soviel wie irgend möglich, um ihrerseits frei wohnen zu können oder, wie Frau Polzin sich ausdrückte, »für umsonst einzusitzen«. Er, Polzin, war, seiner eigenen Angabe nach, »Teppichfabrikant« (allerdings niedrigster Observanz) und beschränkte sich darauf, unter geflissentlicher Verachtung aller Komplementärfarbengesetze, schmale, kaum fingerbreite Tuchstreifen wie Stroh oder Binsen nebeneinanderzuflechten und dies Geflecht als »Polzinsche Teppiche« zu verkaufen. »Sehen Sie«, so schloß jedes seiner Geschäftsgespräche, »solch ›Polzinscher‹« (er behandelte sich dabei ganz als historische Person) »wird nie alle; wenn eine Stelle weggetreten is oder der Eßtisch mit seinem Rollfuß ein Loch eingerissen hat, nehm ich ein paar alte Streifen raus un setz ein paar neue rein, un alles is wieder propper un fix un fertig. Sehen Sie, so sind die ›Polzinschen‹. Aber wenn der Smyrnaer ein Loch hat, dann hat er's, und da hilft kein Gott nich.«
Polzin, wie sich aus diesem Redestück ergibt, neigte zu philosophischer Betrachtung; ein Zug, der durch das zweite Metier, das er betrieb, noch eine ganz erhebliche Stärkung erfuhr. Während der Abendstunden nämlich war er bei sich bietenden Gelegenheiten auch noch Lohndiener und wegen seiner Vorsicht und Geschicklichkeit beim Präsentieren in dem zwischen Invaliden- und Chausseestraße gelegenen Stadtteil allgemein beliebt, was Frau Polzin in ihren Gesprächen mit der Pittelkow immer wieder betonte: »Sehn Sie, liebe Pittelkow, mein Mann is ein ordentlicher und manierlicher Mensch, der, weil wir selber ganz klein angefangen haben, am besten weiß, daß es nich jeder zum Wegschmeißen hat. Un sehn Sie, danach präsentiert er auch, und Saucieren, die nich feststehn und immer hin und her rutschen, die nimmt er gar nich. Und wenn Polzin schon eine einzige Plüschtaille verdorben hat, so will ich sterben. Und ebenso galant und manierlich is er auch bei 's Mitnehmen. Er is mein Mann, aber das muß ich sagen, er hat was Feines un Bescheidenes un überhaupt so was, was die andern nich haben. Ja, das muß ich ihm lassen. Und da reichen nich hundert Mal, daß er mir gesagt hat: ›Emile, heut hab ich mir mal wieder über meine Kollegen geschämt. Natürlich war es wieder der mit 'n Plattfuß aus der Charitéstraße. Glaubst du, daß er sich auch bloß geniert und ein ganz klein bißchen für Schein und Anstand gesorgt hätte? I, Gott bewahre. Ganz dreiste weg, als ob er sagen wollte: ja, meine Herrschaften, da steht der Rotwein, un nu nehm ich ihn mit nach Hause.‹«
So waren die Polzins, an deren Flurtür, trotz einer daneben befindlichen Klingel, die Pittelkow jetzt klopfte, zum Zeichen (so hatte man abgemacht), daß es bloß »Freundschaft« sei, was zu Besuch käme. Und gleich danach erschien denn auch Frau Polzin und öffnete.
Die nur drei Stuben zählende Polzinsche Wohnung erfreute sich des Vorzugs eines Korridors, der aber freilich nicht größer war als ein aufgeklappter Spieltisch und augenscheinlich nur den Zweck hatte, drei auf ihn ausmündende Türen zu zeigen, von denen die links gelegene zu der verwitweten Privatsekretär Kahlbaum, die mittlere zu Polzins selbst, die rechts gelegene zu Stine führte. Diese hatte das beste Zim mer der Wohnung, hell und freundlich, mit dem Blick auf die Straße, während sich die Kahlbaum mit etwas Beleuchtung vom Hof her und die Polzinschen Eheleute mit einem schrägen Dachlicht begnügen mußten, das, wie bei photographischen Ateliers, von oben her einfiel.
Während die Pittelkow oben bei Stine war, um sich dieser für den Abend zu versichern, ging Olga die Invalidenstraße hinauf, um erst den Brief abzugeben und dann auf dem Rückwege bei Konditor Bolzani die Torte zu bestellen. Es war ihr Eile befohlen, aber sie kehrte sich nicht dran, freute sich vielmehr, eine Stunde lang ohne mütterliche Kontrolle zu sein, und getröstete sich, »daß es noch lange hin sei bis Abend«. An allen Läden blieb sie stehen, am längsten vor dem Schaufenster eines Putzgeschäfts, aus dessen buntem Inhalt sie sich abwechselnd eine rote Schärpe mit Goldfranzen und dann wieder einen braunen Kastorhut mit Reiherfeder als Schönstes wünschte. Diesen Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen, war freilich wenig Aussicht vorhanden, aber es schadete nicht viel, weil sich ihre nächste Zukunft unter allen Umständen angenehm genug gestalten mußte. Wanda, wie sie von Tante Stine her wußte, hatte meistens Sandtorte, ja mitunter sogar Schokoladenplätzchen in ihrem Schrank, und wenn sich beides auch nicht erfüllte, so blieben doch immer noch die Gerstenbonbons.
Solchen Betrachtungen hingegeben, kam Olga bis an die Chausseestraße, wo, wie gewöhnlich in dieser kirchhofreichen Gegend, ein großes Begräbnis die Straßenpassage hemmte.
Olga, weitab davon, irgendwelchen Anstoß an dieser Wegestörung zu nehmen, wünschte ganz im Gegenteil, dieselbe so lange wie möglich andauern zu sehen, und stellte sich, besseren Überblicks halber, auf eine vor einem Öl- und Spiritusgeschäft angebrachte Steintreppe. Der Wagen mit dem Sarge war schon eine Weile vorüber, so daß sie nur noch das versilberte Kreuz über einem Meer von schwarzen Hüten hin und her schwanken sah. Kutschen fehlten im Zuge (so wenigstens schien es), dafür aber folgten allerlei Baugewerke mit Bannern und Musik, und während noch aus der Front her der Trauermarsch der Zimmerleute bis weit nach rückwärts tönte, klang schon aus der Mitte des Zuges und vom Oranienburger Tor her ein zweiter und dritter Trauermarsch herauf, so daß Olga nicht wußte, worauf sie hören und welchem Geblase sie den Vorzug geben sollte. Neben dem eigentlichen Gefolge drängten breite Volksmassen mit vorwärts und ließen nur allemal eine schmale Gasse frei, wenn reitende Schutzleute von der Queue her bis an die Spitze des Zuges und dann wieder zurücksprengten. »Wer es nur is?« dachte Olga, in deren Herzen etwas wie Neid aufkeimte, so schön begraben zu werden, aber soviel sie horchte, sie konnte es bei den mit ihr auf der Steintreppe Stehenden nicht mit Bestimmtheit in Erfahrung bringen. Einer versicherte, daß es ein alter Mauerpolier, ein anderer, daß es ein reicher Ratszimmermeister sei, während eine mit braunem Torfstaub ganz überdeckte Frau, die der herannahende Zug sichtlich beim Abladen unterbrochen hatte, von nichts Geringerem als von einem Minister für Maurer- und Zimmerleute wissen wollte. »Dummes Zeug«, unterbrach sie der nebenan wohnende Budiker, »so was gibt es ja gar nich.« Aber das Torfweib ließ sich nicht stören und sagte nur: »Warum nich, warum soll es so was nich geben?« Und so stritt man sich hin und her. Endlich aber war der Zug vorüber, und Olga passierte nun den Damm und bog hundert Schritte weiter abwärts in die Tieckstraße ein.
Nummer 27a war das dritte Haus von der Ecke: fünf Fenster Front, drei Stock und eine kleine Mansarde. Der Wirt, ein Kupferschmied, hatte den Hof in eine halb offene Werkstatt verwandelt, in der nun, den ganzen Tag über, auf oft zweimannshohen Braukesseln herumgehämmert wurde, bei welchem Gedröhn und Gehämmre Wanda ihre Rollen lernte. Es tat ihr nichts, ja sie hätte nirgends lieber wohnen mögen, und der Kupferschmiedegeselle, der auf der obersten Kesselrundung oft stundenlang herumritt und sich dabei in platonischer Liebe (der einzigen, die Wanda so kleinen Leuten gestattete) verzehrte, war jedesmal ihr guter Freund. Ihre von Glasermeister Schlichting abgemietete Wohnung lag nämlich nach dem Hofe hinaus und hatte hier ihren eigentlichen Auf- und Eingang. Hier befand sich denn auch ihre Klingel und ihre Karte: »Wanda Grützmacher, Schauspielerin am Nordend-Theater.«
Und dieses Titels durfte sie sich rühmen wie manche Berühmtere. War sie doch ein Liebling der Bühne, die das Glück hatte, sie zu besitzen, und nicht nur ein Liebling des Publikums, sondern auch des Direktors, der, persönlicher Beziehungen zu geschweigen, vor allem das an ihr schätzte, daß sie, mit Ausnahme der Gage, vollkommen prätensionslos war und alles spielte, was vorkam. »Immer tapfer in die Bresche« war einer ihrer Lieblingssätze. Sie war überhaupt für leben und lebenlassen, behandelte delikate Vorkommnisse von einem gewissen höheren Standpunkt aus und hatte stereotype, dem urältesten Berliner Witzfonds entnommene Wendungen, in denen sich ihre Stellung zum »Ideal« ausdrückte. Sie zog dementsprechend »ein gutes Gehalt einer schlechten Behandlung vor«, und wenn ihr bei Soupers mit Bourgeoiswitwern, einer ihr besonders sympathischen Gesellschaftsklasse, die Speisekarte gereicht wurde, so zeigte sie mit einem ihr kleidenden und seine Wirkung nie verfehlenden Ernst auf das rasch als Bestes und Teuerstes Erkannte, jedesmal feierlich hinzusetzend: »Dafür laß ich mein Leben.«
So Wanda Grützmacher, Tieckstraße 27a.
Olga, die sonderbarerweise noch nie Bestellungen bei der Schauspielerin zu machen gehabt hatte, klingelte zunächst vorn bei Schlichtings, und Fräulein Flora Schlichting erschien denn auch, halb verschlafen, an der Tür und öffnete.
»Is Fräulein Wanda zu Haus?«
»Zu Haus is sie; ich glaube, sie schläft. Hast du was abzugeben?«