Stine - Theodor Fontane - E-Book

Stine E-Book

Theodor Fontane

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Beschreibung

Die Näherin Ernestine Rehbein, genannt Stine, lebt zusammen mit ihrer Schwester Pauline Pittelkow im gründerzeitlichen Berlin. Anders als ihre verwitwete Schwester, die zwei Kinder hat und sich von einem älteren Adeligen aushalten lässt, fühlt sich Stine von einem derartigen Lebenswandel abgeschreckt. Bei einer Abendgesellschaft lernt sie den jungen, aber kränklichen Grafen Waldemar Haldern kennen. Dieser ist fasziniert von Stines genügsamem und gutmütigem Wesen und beginnt fortan um sie zu werben, indem er sie regelmäßig besucht. Es bahnt sich eine zarte Liebesbeziehung an, bis Waldemar entgegen aller Konvention um Stines Hand anhält.

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Stine

Inhaltsverzeichnis
Stine
Inhalt:
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Impressum

Inhalt:

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Erstes Kapitel

In der Invalidenstraße sah es aus wie gewöhnlich: die Pferdebahnwagen klingelten, und die Maschinenarbeiter gingen zu Mittag, und wer durchaus was Merkwürdiges hätte finden wollen, hätte nichts anderes auskundschaften können, als daß in Nummer 98e die Fenster der ersten Etage – trotzdem nicht Ostern und nicht Pfingsten und nicht einmal Sonnabend war – mit einer Art Bravour geputzt wurden.

Und nicht zu glauben, diese Merkwürdigkeit ward auch wirklich bemerkt, und die schräg gegenüber an der Scharnhorststraßen-Ecke wohnende alte Lierschen brummelte vor sich hin: »Ich weiß nich, was der Pittelkown wieder einfällt. Aber sie kehrt sich an nichts. Un was ihre Schwester is, die Stine, mit ihrem Stübeken oben bei Polzins un ihren Sep'ratschlüssel, daß keiner was merkt, na, die wird grad ebenso. Schlimm genug. Aber die Pittelkown is schuld dran. Wie sie man bloß wieder da steht und rackscht und rabatscht! Und wenn es noch Abend wär, aber am hellen, lichten Mittag, wo Borsig und Schwarzkoppen seine grade die Straße runterkommen. Is doch wahrhaftig, als ob alles Mannsvolk nach ihr raufkucken soll; 'ne Sünd und 'ne Schand.«

So brummelte die Lierschen vor sich hin, und so wenig freundlich ihre Betrachtungen waren, so waren sie doch nicht ganz ohne Grund; denn oben auf dem Fensterbrett und kniehoch aufgeschürzt stand eine schöne, schwarze Frauensperson mit einem koketten und wohlgepflegten Wellenscheitel und wusch und rieb, einen Lederlappen in der Hand, die Scheiben der einen Fensterseite, während sie den linken Arm, um sich besser zu stützen, über das andere Querholz gelegt hatte. Mitunter gönnte sie sich einen Stillstand in der Arbeit und sah dann auf die Straße hinunter, wo jenseits des Pferdebahngeleises ein dreirädriger, beinahe eleganter Kinderwagen in greller Mittagssonne hielt. Dem im Wagen sitzenden, allem Anscheine nach überaus ungebärdigen Kinde, das ganz aristokratisch in weiße Spitzen gekleidet war, war ein zehnjähriges Mädchen zur Aufsicht beigegeben, das, als alles Bitten und Zureden nichts helfen wollte, dem Schreihals einen tüchtigen Klaps gab. Im selben Augenblick aber schielte die Zehnjährige, die diesen Erziehungsakt gewagt hatte, scheu nach dem Fenster hinauf, und richtig, es war alles von drüben her gesehen worden, und die schöne, schwarze Person, die »klapsen und erziehn« durchaus als ihre Sache betrachtete, drohte sofort mit dem Lederlappen nach der auf ihrem Übergriff Ertappten hinüber. Auch schien ein Zornausbruch in Worten trotz der weiten Entfernung folgen zu sollen; aber ein befreundeter Briefbote, der gerade die Straße heraufkam, hielt einen Brief in die Höh, zum Zeichen, daß er ihr etwas bringe. Sie verstand es auch so, stieg sofort vom Fensterbrett auf einen nebenstehenden Stuhl und verschwand im Hintergrunde des Zimmers, um den Brief draußen auf dem Korridor in Empfang zu nehmen. Eine Minute später kam sie zurück und setzte sich ins Licht, um bequemer lesen zu können. Aber was sie da las, schien ihr mehr Ärger als Freude zu machen, denn ihre Stirn legte sich sofort in ein paar Verdrießlichkeitsfalten, und den Mund aufwerfend, sagte sie spöttisch: »Alter Ekel. Immer verquer.« Aber sie war keine Person, sich irgendwas auf lange zu Herzen zu nehmen, und so lehnte sie sich, den Brief immer noch in der Hand haltend, weit über die Fensterbrüstung hinaus und rief mit jener enrhümierten Altstimme, wie sie den unteren Volksklassen unserer Hauptstadt nicht gerade zum Vorteil eigen ist, über die Straße hin: »Olga!«

»Was denn, Mutter?«

»›Was denn, Mutter!‹ Dumme Jöre! Wenn ich dir rufe, kommste. Verstehste?«

Ein mit einem alten Dampfkessel bepackter Lastwagen, der dröhnend und schütternd gerade des Weges kam, hinderte die unverzügliche Ausführung des Befehls; kaum aber, daß der Rollwagen vorüber war, so nahm Olga den Stoßgriff des Kinderwagens in die Hand und fuhr, quer über den Damm hin, auf das Haus zu und mit einem Ruck in den Hausflur hinein. Hier nahm sie das Kind heraus und ging, während sie den Wagen zunächst unten stehenließ, treppauf in die Wohnung der Mutter.

Diese hatte sich mittlerweile beruhigt, die Stirnfalte war fort, und Olga bei der Hand nehmend, sagte sie mit jenem Übermaß von Vertraulichkeit, das gewöhnliche Leute gerade bei Behandlung intimster Dinge zu zeigen pflegen: »Olga, der Olle kommt heute wieder. Immer wenn's nich paßt, is er da. Grad als wollt er mir ein'n Tort antun. Ja, so is er. Na, es hilft nu nich und, Gott sei Dank, vor achten kommt er nich. Und nun gehst du zu Wanda und sagst ihr... Ne, laß man... Bestellen kannst du's doch nich, es is zu lang zum Bestellen... Ich werd dir lieber einen Zettel schreiben.«

Und mit diesen Worten trat sie, von der Tür her, wo dies Gespräch stattgefunden, an einen überaus eleganten und um eben deshalb zu Haus und Wohnung wenig passenden Rokokoschreibtisch heran, auf dem eine fast noch mehr überraschende ledergepreßte Schreibmappe lag. In dieser Mappe begann jetzt die noch immer hochaufgeschürzte Frau nach einem Stück Briefpapier zu suchen, anfangs ziemlich ruhig, als sich aber, nach dreimaligem Durchblättern der roten Löschpapierbogen, immer noch nichts gefunden hatte, brach ihre schlechte Laune wieder los und richtete sich, wie gewöhnlich, gegen Olga: »Hast es wieder weggenommen un Puppen ausgeschnitten.«

»Nein, Mutter, wahr un wahrhaftig nich; ich kann es dir zuschwören.«

»Ach, geh mir mit dein ewiges Geschwöre. Haste denn gar nichts?«

»Ja, mein Schreibebuch.«

Und Olga lief, so rasch es ging, in das Neben- und Hinterzimmer und kam dann mit einem blauen Schreibehefte zurück. Die Mutter riß ohne weiteres die letzte Seite heraus, auf deren oberster Zeile lauter »ch's« standen, und kritzelte nun mit verhältnismäßiger Schnelligkeit einen Brief fertig, faltete das Blatt zweimal und verklebte die noch offene Stelle mit Briefmarkenstreifen, von denen sie die gummireichsten immer mit dem Bemerken »Is besser als englisch Pflaster« aufzuheben pflegte. »So, Olgachen. Nun gehst du zu Wanda un gibst ihr das. Und wenn sie nich da is, gibst du's an den alten Schlichting. Aber nich an seine Frau un auch nich an die Flora, die kuckt immer rein un braucht nicht alles zu wissen. Und wenn du zurückkommst, dann gehste mit zu Bolzanin ran und bestellst 'ne Torte.«

»Was für eine?« fragte Olga, deren Gesicht sich plötzlich verklärte.

»Appelsine... Un bezahlst sie gleich. Un wenn du sie bezahlt hast, sagste, daß er nichts drauflegen soll, auch keine Appelsinenstücke, die doch bloß Pelle un Steine sind... Und nun geh, Olgachen, un mach flink, und wenn du wieder da bist, kannst du dir drüben bei Marzahn auch für 'n Sechser Gerstenbonbons kaufen.«

Zweites Kapitel

Olga säumte nicht und ging in die Hinterstube, um hier ihr rot und schwarz kariertes Umschlagetuch zu holen, das, neben einem etwas verschlissenen Schnurrenhut, ihr gewöhnliches Straßenkostüm bildete. Witwe Pittelkow in Person aber stieg, nachdem sie das immer noch schreiende Kind in eine ganz vornehm ausgestattete Himmelwiege gelegt und ihm eine Flasche mit Saugpfropfen in den Mund gesteckt hatte, zwei Treppen höher zu Polzins hinauf, wo ihre Schwester Stine Chambre garnie wohnte.

Polzins waren gutsituierte Leute, die das mit dem Chambre garnie gar nicht nötig gehabt hätten, aber trotzdem, aus purem Geiz, alles vermieteten, oder doch soviel wie irgend möglich, um ihrerseits frei wohnen zu können oder, wie Frau Polzin sich ausdrückte, »für umsonst einzusitzen«. Er, Polzin, war, seiner eigenen Angabe nach, »Teppichfabrikant« (allerdings niedrigster Observanz) und beschränkte sich darauf, unter geflissentlicher Verachtung aller Komplementärfarbengesetze, schmale, kaum fingerbreite Tuchstreifen wie Stroh oder Binsen nebeneinanderzuflechten und dies Geflecht als »Polzinsche Teppiche« zu verkaufen. »Sehen Sie«, so schloß jedes seiner Geschäftsgespräche, »solch ›Polzinscher‹« (er behandelte sich dabei ganz als historische Person) »wird nie alle; wenn eine Stelle weggetreten is oder der Eßtisch mit seinem Rollfuß ein Loch eingerissen hat, nehm ich ein paar alte Streifen raus un setz ein paar neue rein, un alles is wieder propper un fix un fertig. Sehen Sie, so sind die ›Polzinschen‹. Aber wenn der Smyrnaer ein Loch hat, dann hat er's, und da hilft kein Gott nich.«

Polzin, wie sich aus diesem Redestück ergibt, neigte zu philosophischer Betrachtung; ein Zug, der durch das zweite Metier, das er betrieb, noch eine ganz erhebliche Stärkung erfuhr. Während der Abendstunden nämlich war er bei sich bietenden Gelegenheiten auch noch Lohndiener und wegen seiner Vorsicht und Geschicklichkeit beim Präsentieren in dem zwischen Invaliden- und Chausseestraße gelegenen Stadtteil allgemein beliebt, was Frau Polzin in ihren Gesprächen mit der Pittelkow immer wieder betonte: »Sehn Sie, liebe Pittelkow, mein Mann is ein ordentlicher und manierlicher Mensch, der, weil wir selber ganz klein angefangen haben, am besten weiß, daß es nich jeder zum Wegschmeißen hat. Un sehn Sie, danach präsentiert er auch, und Saucieren, die nich feststehn und immer hin und her rutschen, die nimmt er gar nich. Und wenn Polzin schon eine einzige Plüschtaille verdorben hat, so will ich sterben. Und ebenso galant und manierlich is er auch bei 's Mitnehmen. Er is mein Mann, aber das muß ich sagen, er hat was Feines un Bescheidenes un überhaupt so was, was die andern nich haben. Ja, das muß ich ihm lassen. Und da reichen nich hundert Mal, daß er mir gesagt hat: ›Emile, heut hab ich mir mal wieder über meine Kollegen geschämt. Natürlich war es wieder der mit 'n Plattfuß aus der Charitéstraße. Glaubst du, daß er sich auch bloß geniert und ein ganz klein bißchen für Schein und Anstand gesorgt hätte? I, Gott bewahre. Ganz dreiste weg, als ob er sagen wollte: ja, meine Herrschaften, da steht der Rotwein, un nu nehm ich ihn mit nach Hause.‹«

 

So waren die Polzins, an deren Flurtür, trotz einer daneben befindlichen Klingel, die Pittelkow jetzt klopfte, zum Zeichen (so hatte man abgemacht), daß es bloß »Freundschaft« sei, was zu Besuch käme. Und gleich danach erschien denn auch Frau Polzin und öffnete.

Die nur drei Stuben zählende Polzinsche Wohnung erfreute sich des Vorzugs eines Korridors, der aber freilich nicht größer war als ein aufgeklappter Spieltisch und augenscheinlich nur den Zweck hatte, drei auf ihn ausmündende Türen zu zeigen, von denen die links gelegene zu der verwitweten Privatsekretär Kahlbaum, die mittlere zu Polzins selbst, die rechts gelegene zu Stine führte. Diese hatte das beste Zim mer der Wohnung, hell und freundlich, mit dem Blick auf die Straße, während sich die Kahlbaum mit etwas Beleuchtung vom Hof her und die Polzinschen Eheleute mit einem schrägen Dachlicht begnügen mußten, das, wie bei photographischen Ateliers, von oben her einfiel.

»Liebe Polzin«, sagte die Pittelkow, als beide Frauen sich oberflächlich begrüßt hatten, »es riecht wieder so sehr nach Petroleum bei Ihnen. Warum nehmen Sie nich Coaks? Sie werden sich mit Ihrem ewigen Petroleumkocher noch alle Mieter aus der Wohnung kochen. Und Ihr lieber Mann! Was sagt denn der eigentlich dazu? Der muß doch nachgerade bei Puten un Fasanen eine feine Nase gekriegt haben. Und ich weiß nicht, wenn ich ein herrschaftlicher Lohndiener wäre, so was litt' ich nich. In Gesellschaften immer was Delikats un zu Hause so. Na, meinetwegen. Is denn Stine drin?«

»Ich denke doch, ich habe sie nicht weggehen hören. Und denn wissen Sie ja, liebe Pittelkow, wir sehen nichts un hören nichts.«

»Versteht sich, versteht sich«, lachte die Pittelkow, »sehen nichts un hören nichts. Und das ist auch immer das beste.«

 

Sehr wahrscheinlich, daß sich dies Gespräch noch fortgesetzt hätte, wenn nicht in eben diesem Augen blick die Tür von rechts her aufgemacht und Stine herausgetreten wäre.

»Jott, Stine«, sagte die Pittelkow mit einem Ausdruck von Freude. »Na, das ist recht, Kind. Ein Glück, daß du da bist. Du mußt heute noch runterkommen un helfen.«

Unter diesen Worten waren die Schwestern, während sich Frau Polzin artig, aber grienend zurückzog, in Stines Zimmer eingetreten und auf ein paar kleine Stühle zugegangen, die zu beiden Seiten des Fensters auf einem Trittbrett standen. Draußen am Fenster aber war ein Dreh- und Straßenspiegel angebracht, bei dessen Anbringung der ebenso praktische wie pfiffige Polzin vor Jahr und Tag schon zu seiner Frau gesagt hatte: »Emilie, solange der da ist, so lange vermieten wir.«

Die Pittelkow setzte sich gegenüber dem Drehspiegel, der denn auch heute wieder, wie zur Bestätigung der Worte Polzins, eine Quelle herzlichen Vergnügens für die hübsche Witwe wurde, nicht aus Eitelkeit (denn sie sah sich gar nicht), sondern aus bloßer Neugier und Spielerei. Stine, die das alles schon kannte, lächelte vor sich hin; auch sie trug einen gewellten Scheitel, aber ihr Haar war flachsgelb, und die Ränder der überaus freundlichen Augen zeigten sich leicht gerötet, was, aller sonst blühenden Erscheinung und einer gewissen Ähnlichkeit mit der Pittelkow unerachtet, doch auf eine zartere Gesundheit hinzudeuten schien. Und so war es auch. Die brünette Witwe war das Bild einer südlichen Schönheit, während die jüngere Schwester als Typus einer germanischen, wenn auch freilich etwas angekränkelten Blondine gelten konnte.

Stine sah der immer noch mit dem Spiegel beschäftigten Schwester eine Weile zu, dann erhob sie sich, hielt ihr die Hand vor die Augen und sagte: »Nun hast du aber genug, Pauline. Du mußt doch nachgerade wissen, wie die Invalidenstraße aussieht.«

»Hast recht, Kind. Aber so is der Mensch; immer das Dummste gefällt ihm un beschäftigt ihn, un wenn ich in den Spiegel kucke und all die Menschen und Pferde drin sehe, dann denk ich, es is doch woll anders als so mit bloßen Augen. Un ein bißchen anders is es auch. Ich glaube, der Spiegel verkleinert, un verkleinern is fast ebensogut wie verhübschen. Aber du brauchst nicht kleiner zu werden, Stine, du kannst so bleiben, wie du bist. Ja, wahrhaftig. Aber, warum ich komme... Jott, man hat doch auch keine ruhige Stunde.«

»Was is denn?«

»Er kommt heute wieder.«

»Nu, Pauline, das is doch kein Unglück. Bedenke doch, daß er für alles sorgt. Und so gut, wie er ist, und gar nich so.«

»Na, ich wollt ihm auch. Und den alten Baron bringt er auch mit, und noch einen.«

»Und noch einen? Wen denn?«

»Lies.«

Und sie reichte Stine den eben erhaltenen Brief, und diese las nun mit halblauter Stimme: »Mein lieber schwarzer Deibel. Ich komme heute, aber nicht allein; Papageno kommt mit und ein Neffe von mir auch; natürlich noch jung und etwas blaß. ›Aber bleich und blaß, ei, die Weiber lieben das.‹ Sorge nur, daß Wanda kommt und Stine. Wein schick ich und eine Salatschüssel. Aber für alles andre mußt Du sorgen. Nichts Apartes, nichts Großes, bloß so wie immer. Dein Sarastro.«

»Wer ist denn der Neffe?« fragte Stine.

»Weiß ich nich. Wer kann alle Neffens kennen. Denkst du, daß ich mich um seinen Stammbaum kümmere. Jott, wie mag es damit aussehen. Na, überhaupt Stammbäume.«

»Laß ihn das nich hören.«

»Oh, der hört noch ganz andres. Oder denkst du, daß ich mir wegen eine Treppe hoch mit Klavier un Diwan un wegen 'nen Schreibtisch, der immer wackelt, weil er dünne Beine hat, ein Pechpflaster aufkleben soll? Nein, Stinechen, da kennst du deine Schwester schlecht. Oder wegen den blassen Neffen? Ich denk ihn mir so.« Und dabei zog sie das Gesicht in die Länge und drückte mit Daum und Zeigefinger die beiden Backen ein.

Stine lachte. »Ja, damit wirst du's wohl getroffen haben. Und überhaupt, ich find es unpassend und ungebildet, daß er den jungen Menschen mitbringt. Ein Onkel ist doch immer so was wie 'ne Respektsperson. Für sich mag er ja tun, was er will; aber solchen jungen Menschen... ich weiß nicht, Pauline. Findst du nich auch?«

»Na, ob ich finde. Natürlich; erst recht. Aber, Kind, wenn wir davon erst reden wollen, denn is kein Ende. Das is nu mal so; sie taugen alle nichts und is auch recht gut so; wenigstens für unsereins – mit dir is es was anders – und für alle, die so tief drinsitzen un nich aus noch ein wissen. Denn wovon soll man denn am Ende leben?«

»Von Arbeit.«

»Ach Jott, Arbeit. Bist du jung, Stine. Gewiß, arbeiten is gut, un wenn ich mir so die Ärmel aufkremple, is mir eigentlich immer am wohlsten. Aber, du weißt ja, denn is man mal krank un elend, un Olga muß in die Schule. Wo soll man's denn hernehmen? Ach, das is ein langes Kapitel, Stine. Na, du kommst doch? So Klocker acht, oder lieber noch ein bißchen eh'r.«

Drittes Kapitel

Während die Pittelkow oben bei Stine war, um sich dieser für den Abend zu versichern, ging Olga die Invalidenstraße hinauf, um erst den Brief abzugeben und dann auf dem Rückwege bei Konditor Bolzani die Torte zu bestellen. Es war ihr Eile befohlen, aber sie kehrte sich nicht dran, freute sich vielmehr, eine Stunde lang ohne mütterliche Kontrolle zu sein, und getröstete sich, »daß es noch lange hin sei bis Abend«. An allen Läden blieb sie stehen, am längsten vor dem Schaufenster eines Putzgeschäfts, aus dessen buntem Inhalt sie sich abwechselnd eine rote Schärpe mit Goldfranzen und dann wieder einen braunen Kastorhut mit Reiherfeder als Schönstes wünschte. Diesen Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen, war freilich wenig Aussicht vorhanden, aber es schadete nicht viel, weil sich ihre nächste Zukunft unter allen Umständen angenehm genug gestalten mußte. Wanda, wie sie von Tante Stine her wußte, hatte meistens Sandtorte, ja mitunter sogar Schokoladenplätzchen in ihrem Schrank, und wenn sich beides auch nicht erfüllte, so blieben doch immer noch die Gerstenbonbons.

Solchen Betrachtungen hingegeben, kam Olga bis an die Chausseestraße, wo, wie gewöhnlich in dieser kirchhofreichen Gegend, ein großes Begräbnis die Straßenpassage hemmte.