Stöckelschuhe inklusive - Peter Thomas - E-Book

Stöckelschuhe inklusive E-Book

Peter Thomas

4,8

Beschreibung

Paul wird sechzig; er fühlt sich alt und glaubt schon, sein Leben sei gelaufen. Da trifft er in seiner Anwaltskanzlei auf eine ebenso junge wie attraktive Prostituierte - faszinierend! Mit seinem Freund Araldo, der eine Reportage über das Rotlichtmilieu plant, beginnt Paul Bordelle zu erkunden. Das ist der Ausgangpunkt einer turbulenten Geschichte, bei der die beiden Männer ganz neue Seiten an sich entdecken - Seiten, die das gutbürgerliche Dasein sprengen. Auch Pauls Ehe bleibt davon nicht unberührt. Peter Thomas hat eine ebenso schräge wie amüsante Burleske über das Altwerden, den Hirsch im Mann, die Verführerin in der Frau, über Geld, Geiz und Geilheit geschaffen.

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Seitenzahl: 250

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Über dieses Buch

Paul wird sechzig; er fühlt sich alt und glaubt schon, sein Leben sei gelaufen. Da trifft er in seiner Anwaltskanzlei auf eine ebenso junge wie attraktive Prostituierte – faszinierend! Mit seinem Freund Araldo, der eine Reportage über das Rotlichtmilieu plant, beginnt Paul Bordelle zu erkunden. Das ist der Ausgangpunkt einer turbulenten Geschichte, bei der die beiden Männer ganz neue Seiten an sich entdecken – Seiten, die das gutbürgerliche Dasein sprengen. Auch Pauls Ehe bleibt davon nicht unberührt.

Peter Thomas hat eine ebenso schräge wie amüsante Burleske über das Altwerden, den Hirsch im Mann, die Verführerin in der Frau, über Geld, Geiz und Geilheit geschaffen.

Der Autor

Peter Thomas (*1952) lebt am Zürichsee. Er ist Partner in einer Anwaltskanzlei im Raume Zürich. Auf einer seiner Reisen traf er auf Bhagwan (Osho) und dessen Kommune in Poona. Er befasste sich in der Folge mit Meditation und Astrologie und machte eine Ausbildung in energetischer Körpertherapie (Polarity).

Peter Thomas

Stöckelschuhe inklusive

Roman

Elster Verlag · Zürich

Inhalt

1 Älterwerden ist nicht schwer

2 Dr. Bettinelli interviewt Gardi

3 Streicheleinheiten

4 Tattoos

5 Fahrt in die Schweiz

6 Bei Carmen

7 Fragen Sie Dr. Pauli

8 Der Bericht

9 Bedürfnisse

10 Gut gewagt, ist halb gewonnen

11 Sarah und Jessy erhalten Besuch

12 Erfahrungsaustausch

13 Hetärengespräche

14 Tantra

15 Schalmeienklänge

16 Häschen und alte Hasen

17 Austausch unter Männern

18 Rivalenkämpfe

19 Durch die Wüste

20 Träume

21 Was ist mit Jessy?

39 Carmen schaut nach dem Rechten

22 Araldo will’s wissen

23 Palaver

24 Ein Telefonat

25 Stöckelschuhe

26 First Class

27 London Eye

28 Rückflug

29 Von Mann zu Mann

30 Geburtstagseinladung

31 Krankenversicherung

32 Jessy erzählt

33 Kollegenschelte

34 Vorbereitungen

35 Die Party beginnt

36 Ein Job für Jessy

37 Die Kaiserpinguine

38 Margot holt die Polizei

Impressum

1Älterwerden ist nicht schwer

«Siehst du nichts?», fragte Kathrin leicht säuerlich. Paul sah sich etwas hilflos im geräumigen Wohnzimmer um. Hatte sie Blumen gekauft oder etwas angeschafft, das ihm hätte auffallen müssen?

Er konnte nichts entdecken und entgegnete leicht genervt: «Kann ich nicht einfach einen Moment ausspannen? Ich war den ganzen Nachmittag am Gericht mit dieser grässlichen Erbengemeinschaft und bin ziemlich erschöpft. Was soll ich denn bemerken?»

«Wenn du dich echt für mich interessiertest, würdest du es sehen», beharrte Kathrin und schwieg vielsagend.

Das hörte sich böse an. Paul gab sich Mühe, aber entdeckte einfach nicht, worauf sie hinaus wollte. Nachdem sie ihn mit ihrem Schweigen nochmals auf die Folter gespannt hatte, verriet sie: «Ich war beim Friseur. Er hat mir sogar die Haare leicht geschnitten – aber du merkst es natürlich nicht!»

Tatsächlich wirkte Kathrins Frisur aufgefrischt. Jetzt sah Paul es auch. Doch ihr schnippisches Getue reizte ihn; diesen vorwurfsvollen Unterton vertrug er schlecht.

Doch er beherrschte sich und wählte eine harmlose Variante, um sich zu verteidigen: «Er hat es dir so geschnitten, dass man es fast nicht erkennen kann.»

«Richtig! Er hat gute Arbeit gemacht. So muss es sein. Doch wenn du mich bewusst wahrgenommen hättest, wäre es dir dennoch aufgefallen. Nach dreißig Jahren Ehe ermattet die Aufmerksamkeit der Herren der Schöpfung gegenüber ihren Angetrauten. Da ist man bloß noch eine Selbstverständlichkeit», meinte Kathrin sarkastisch.

«Keineswegs», erwiderte er, «du hast dich um mich herum sehr gut gehalten. Trotz einer Unzeit an meiner Seite hast du kaum ein graues Haar!»

Dass Kathrins Friseur im Kampf gegen die grauen Haare nachhalf, hatte sie Paul nicht verraten. Sie ließ ihm die Illusion einer naürlichen Jugendlichkeit. «Ich pflege mich eben sorgfältig und mache viel Sport im Fitnesscenter.»

Paul war froh, dass sie von diesem Hickhack weggekommen waren. Er schloss kurz die Augen, um sich auf das Wesentliche konzentrieren zu können: «Bald dreißig Jahre sind wir zusammen, und doch wird es mir wahrscheinlich nie gelingen, dich ganz zu kennen und zu verstehen.»

«Wer nichts zu verbergen hat, hat bereits alles verloren. Das wäre ja schlimm, wenn du mich in- und auswendig kennen würdest. Du bist mir in deinem Wesenskern letztlich auch immer noch fremd. An der Oberfläche wirkst du so überlegt, ausgeglichen und diplomatisch. Das ist deine Erziehung. Bei Euch zuhause wurde bloß rational diskutiert. Das Wilde, Unbändige, Leidenschaftliche ist irgendwo da, aber verdrängt. Das macht dich doch erst interessant. Ich will besser gar nicht alles von dir wissen, sondern einfach in unserer Beziehung mich selbst bleiben», bemerkte Kathrin.

«Du hast recht», ergänzte Paul, «sich selbst zu bleiben, heißt lebendig zu bleiben. Seit ich auf den Sechzigsten zulaufe, kommt es mir so vor, als ob die Lebensenergie langsam abnähme. Das schlägt mir aufs Gemüt. Doch das hat weniger mit unserer Beziehung als mit mir selbst zu tun. Ich werde einfach langsam ein alter Knacker.»

Die leichte Ironie kaschierte, dass es Paul echt bedrückte.

Kathrin hörte etwas anderes heraus. War das ein subtilerVorwurf? Genügte sie Paul nicht? Sie neigte zu Selbstzweifeln und ließ sich schnell verunsichern. Tatsächlich war Paul in der letzten Zeit eingesackt und träge geworden. Seine Abende verbrachte er vor dem Fernseher, wo er sich Fußballspiele oder ekelhafte Boxkämpfe ansah. Bei den Nachrichten schlief er ein.

«Verlierst du deine Lebendigkeit wegen mir?», erkundigte sie sich etwas alarmiert. Sie war stolz auf Paul und fühlte sich insgeheim verantwortlich für sein Wohlergehen. Sie hielt ihn an, Sport zu treiben und machte mit ihm beim Sex tantrische Übungen, um seine Energie im Schuss zu halten. War sie ihm gegenüber zu dominant? Bewegte sich ihre Beziehung in einem Teufelskreis?

Paul überlegte einige Zeit. «Nein! Es ist das Alter und hat nichts mit dir zu tun. Wie heißt es doch so schön: ‹Älter werden ist nicht schwer, älter sein dagegen sehr.›» Paul lächelte über seinen Humor stets selbst am meisten. «Wir sind ein wunderbares Team. Doch vielleicht bin ich zu angepasst. Ich brauche einfach meine Freiräume, um mein Leben leben zu können. Das ist gar nicht so einfach in einer Beziehung, in der man die silberne Hochzeit schon hinter sich hat.»

«Du solltest deine Männerfreundschaften besser pflegen», riet Kathrin. «Wann hast du deinen besten Freund das letzte Mal gesehen? Es ist nicht gut, wenn du immer nur mit mir zusammenhockst.»

Sein bester Freund, das war Araldo Bettinelli. Er war eigentlich Arzt, aber er arbeitete erfolgreich als Journalist und interessierte sich für außergewöhnliche Schicksale und Randgruppen. Seine Artikel wurden von Lesern wie von Kollegen als außergewöhnlich wahrgenommen. Sie hatten Tiefgang und waren elegant. Sein Anspruch war, Hintergründe und Zusammenhänge zu erkennen und aufzuzeigen, die nicht sofort auf der Hand lagen. Wie lange hatte ihn Paul nicht mehr gesehen? Monate. Ja, da müsste er sich mal wieder melden.

Gesagt, getan: Als Paul Araldo auf seinem Handy anrief, meldete der sich aus München und erzählte, er mache dort ein Interview mit einer Sportlerin. Er freue sich aber, Paul bald zu treffen.

2Dr. Bettinelli interviewt Gardi

Irmgard «Gardi» Schnellmann hatte ihre Lebensgeschichte nur so herausgesprudelt. Verspürte sie fast eine gewisse Lust daran, ihre düsteren Erlebnisse vor ihm auszubreiten? Araldo konnte sie jedenfalls kaum stoppen, geschweige denn das Gespräch auf die Stationen ihrer Sportlerkarriere richten, an die er seinen Artikel eigentlich aufhängen wollte. Das Interview hatte dennoch alle seine Erwartungen übertroffen. Es hatte sich gelohnt, nach München zu fahren.

Seine Interviewpartnerin hatte lebendige, blaue Augen und eine zarte, leicht gebogene Nase. Die kurzen Ärmel ihrer Seidenbluse zeigten feste Arme, der Mini ihre langen, gut geformten Sportlerbeine. Sie war sehr attraktiv und hatte jeweils die Zuschauer begeistert, wenn sie nach dem Zieleinlauf ihre für das Rennen hochgesteckten blonden Haare bis fast auf die Taille fallen ließ. Das war ihr Markenzeichen geworden.

Doch das war nur die eine Seite ihres Wesens. Die Leichtigkeit, mit der sie ihr dunkles Schicksal schilderte, täuschte nicht darüber hinweg, dass diese junge Frau bereits mit Lebenskonflikten konfrontiert worden war, an denen andere zerbrochen wären. Weshalb zog sie bloß das Unheil derart an? Schuf sie ihr düsteres Universum selbst? Sie hatte jedenfalls mehr Niveau, als alle anderen Sportlerinnen, die er bisher interviewt hatte.

Er hielt den Probeabzug des Gesundheitsjournals in den Händen und ging alles nochmals durch. An einigen Stellen brachte er noch Retuschen an, formulierte etwas um oder ließ es weg. Je knapper, desto besser, hieß es jeweils auf der Redaktion. Bei seinen Fragen ließ er sein medizinisches Fachwissen durchschimmern. Die Antworten dagegen sollten für den Laien verständlich sein.

Gardi hatte bereits mit Zweiunddreißig, noch bevor ihr sportlicher Höhepunkt erreicht war, ihre Karriere als Langstreckenläuferin aufgegeben. Im Interview wurden die Ursachen und Hintergründe aufgedeckt. Ihr Schicksal würde die Leserschaft bewegen:

Dr. Araldo Bettinelli: «Gardi, Sie waren deutsche Meisterin im 10 000-Meter-Lauf. Dann begann Ihre Verletzungsserie, und Sie konnten sich nicht für die Olympiade qualifizieren. Jetzt haben Sie Ihre Sportlerkarriere ganz aufgegeben. Was waren die Gründe?»

Gardi: «Mein rechter Fuß begann zu schmerzen. Zuerst nur beim Training, später auch im Alltag. Eine MRI-Untersuchung beim Orthopäden des Olympiateams ergab die Diagnose Ermüdungsbruch.»

A. B.: «Repetitiver mechanischer Stress kann dies verursachen. Welchen Knochen haben Sie verletzt?»

G.: «Verschiedene Knochen im Fuß waren krankhaft verändert. Der Arzt hat eine Osteoporose festgestellt. Insbesondere der Mittelfußknochen heilt schlecht. »

A. B.: «Da ist sicher eine längere Trainingspause und Ruhephase angezeigt. Gibt es spezifische Gründe, weshalb Sie auf diese Ermüdungsbrüche derart anfällig sind?»

G.: «Ich war während der Pubertät und vor ein paar Jahren nochmals magersüchtig. Als Langstreckenläuferin war es von Vorteil, nicht zu viel Gewicht herumzuschleppen.»

A. B.: «Gab es weitere Gründe für diese Essstörungen?»

G.: «Die Wurzeln wurden wohl schon mit sechs Jahren gelegt. Meine Eltern hatten sich scheiden lassen und der neue Freund der Mutter hat mich damals sexuell missbraucht. Da meine Mutter trotzdem mit diesem Mann zusammenblieb und ihn schließlich gar heiratete, wuchs ich bei meiner Oma auf. Den Kontakt zu meiner Mutter habe ich abgebrochen.»

Bettinelli erinnerte sich, wie ihn diese trockene Schilderung schockiert und berührt hatte. Gardi lächelte ihn emotional unbewegt an, doch er ahnte ihre seelische Not und hatte sie spontan schützend in den Arm genommen. Dass bei ihrer Magersucht auch Drogen im Spiel waren, hatte sie ihm verschwiegen. Aber wenn man sich über die eigenen Lebensgeheimnisse äußert, muss man nicht unbedingt alle preisgeben.

Das Interview war sehr persönlich gewesen und Bettinelli war überzeugt, dass es ihm gelungen war, das Schicksal dieser Sportlerin den Lesern zu präsentieren, ohne sie bloßzustellen oder auf Mitleid zu machen. Allzu Persönliches hatte er aus Rücksicht auf Gardi weggelassen.

3Streicheleinheiten

Zurückschauend erschrak Araldo Bettinelli darüber, dass er Gardi wie selbstverständlich in den Arm genommen und seine Hand ihren Rücken gestreichelt hatte. War ihr das angenehm gewesen? Ihr fester Busen drückte angenehm an seine Brust. Als er seinen Blick senkte, erblickte er in ihrem Ausschnitt ein kleines Röschen, das sie sich auf die linke Brust hatte tätowieren lassen. Am Schluss packte er sie an den festen Oberarmen und schaute ihr in die Augen. Es war eine tiefe Vertrautheit da. Sie verstanden sich. Er fühlte mit ihr. Doch mehr war nicht.

Er hatte seine Stelle als praktizierender Arzt seinerzeit aufgeben müssen, weil ihm wiederholt von Patientinnen vorgeworfen worden war, seine Fürsorge gehe etwas weit; er liebkose und betaste sie unangemessen.

Er hatte sich gegen diese Vorwürfe gewehrt. Nie waren Zeugen dabei gewesen. Intime Stellen von Patientinnen hatte er nie berührt. Doch tatsächlich hatte er manchmal Frauen, die nach Operationen unter Schmerzen litten, gestreichelt. Er wusste eigentlich selbst nicht warum. Wollte er sie trösten? Ihnen zeigen, dass alles wieder besser kommen würde? Ihnen etwas von seiner Lebensfreude und -kraft mitgeben? Patientinnen, denen es schlecht ging, empfanden das jedoch eher als Übergriff, eklig, zudringlich, und sie beklagten sich bei seinen Vorgesetzten. Sie fühlten sich schwach und verletzlich. Und auf einmal begann der behandelnde Arzt sie zu streicheln …

Nachdem sich mehrere Frauen beschwert hatten, wurde gegen ihn intern eine Untersuchung eröffnet. Sein Chef legte ihm nahe, seinen Job aufzugeben. Er entschloss sich daraufhin zu einer Karriere als Journalist.

Weshalb war ihm dies immer wieder passiert? Eine Therapie brachte keine Antwort. Um sich selber besser kennenzulernen, begann er sich für östliche Weisheiten zu interessieren. Er stellte sich bohrend die Frage, wer er war, wer er wirklich war – jenseits von Doktortitel, Erziehung, gesellschaftlichem Prägung.

Er reiste nach Indien, um Gurus zu lauschen und monatelang Meditations- und Selbsterfahrungsgruppen zu besuchen. Seine Reportage über Bhagwan Shree Rajneesh und seine Kommune in Poona, sein «Ashram», war sein Einstieg in den Journalismus gewesen und auf großes Interesse gestoßen. Er hatte sich die Haare und einen kurzen Bart wachsen lassen. Gewandet war er in Rottönen, die von orange bis violett reichten. Er versuchte, sich auf diese Bewegung einzulassen und trotzdem innerlich Distanz zu wahren, um objektiv berichten zu können.

Die Wende nach innen hatte ihm eine neue Erfahrungswelt eröffnet. Als er in Indien eine ganze Woche mit verschiedenen Techniken von morgens bis abends meditiert hatte, begann er seine Umgebung anders, neu, wahrzunehmen. War er zuvor durch eine Straße geschlendert, ohne diese wirklich bemerkt zu haben, weil seine Gedanken in seinem Kopf drehten, hüpften, sprangen und seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, nahm er diese Straße plötzlich wahr. Er erblickte, ja spürte die Bäume, die eine Allee bildeten, sah die hinuntergefallenen Blätter und kleinen Äste, welche auf dem Asphalt lagen. Jeder Schritt, den er setzte, wurde ihm bewusst. Er war in der Gegenwart angekommen. Es war ein neues Lebensgefühl: ganz entspannt im Hier und Jetzt. Was Buddha und die anderen Erleuchteten gelehrt hatten, war nicht Theorie. Es war ein Weg zu einer neuen Wahrnehmung und Erkenntnis. Es ging nicht um Glauben, sondern um eine existentielle Erfahrung. Dies entsprach ihm.

Bhagwan hatte Therapeuten aus aller Welt wie ein Magnet angezogen. Er vermengte östliche Weisheiten und Meditationen mit westlichen Therapieformen: eine explosive Mischung. Führende westliche Psychologen leiteten Selbsterfahrungsgruppen, bei denen blockierte Emotionen befreit und ausgelebt wurden. Es wurde auf Kissen geschlagen, gekämpft, geliebt. Grenzen und Tabus schien es keine zu geben. Diese Gruppen hatten sein Leben verändert und Ketten gesprengt.

Seine gespannte Beziehung zu seinen Eltern und seine Wut ihnen gegenüber war ihm rasch deutlich geworden. Geborgenheit hatten sie ihm in seiner Kindheit keine gegeben. Sie waren als Fremdarbeiter in die Schweiz gekommen und arbeiteten von früh bis spät, um es zu etwas zu bringen. Es war ihm schon als kleiner Junge morgens ein Geldschein in die Hand gedrückt worden, mit dem er sich dann tagsüber durchbringen musste. Was er machte, schien seinen Eltern egal zu sein. Er hatte sich Gangs angeschlossen, geklaut, Drogen genommen – sie hatten alles nicht einmal gemerkt. Es war ein Wunder, dass er die Schulen geschafft und seinen Weg trotzdem gefunden hatte.

Aber es hatte Folgen. Irgendwie fehlte ihm das Grundvertrauen in sich und in die Welt. Er war und blieb ein Einzelkämpfer, der am liebsten auf sich allein gestellt war.

Das Praktizieren offener Liebe in der Kommune war befreiend gewesen. Doch sein Kontakt zum weiblichen Geschlecht blieb zäh und belastet. So war es ihm nie gelungen, eine dauerhafte Beziehung zu einer Partnerin aufzubauen. Stets war er an Frauen geraten, denen es schlecht ging und die auf seine Hilfe angewiesen waren. Er hatte sich rasch einmal ausgenützt gefühlt.

Nur so viel fand er heraus: Seine Zärtlichkeit war nicht sexuell motiviert, auch wenn sie offenbar so aufgefasst wurde. Weshalb konnte er es dann nicht lassen, fremde Frauen anzufassen? War er mit Gardi wieder in diese Falle getappt? Es war ihm bewusst, dass er an diesem Thema arbeiten musste, wenn er persönlich mit sich weiter kommen wollte.

4Tattoos

«Wie bist du eigentlich zu diesem Tattoo auf deiner Brust gekommen? Man sieht‘s ja nur, wenn du dich vorbeugst.» Sandra musterte den Ausschnitt ihrer Freundin.

«Das hab ich mir stechen lassen, weil der Robi das so geil fand», meinte Gardi.

«Hat‘s dir auch gefallen?»

«Ja, schon, aber inzwischen kann ich es nicht mehr sehen. Es ist, wie wenn du dein ganzes Leben lang die gleiche weiße Bluse tragen musst, bloß weil du sie in dunkler Vergangenheit einst toll gefunden hast.»

Sandra lehnte sich zurück. «Dein Röslein ist doch dezent und sexy. Ich hab auch ein Tattoo am Rücken: eine Fee, die für alle ein paar Wünsche frei hat. Doch die ist mir ebenfalls verleidet. Eine Jugendsünde. Ich steh einfach nicht mehr an diesem Ort. Doch weißt du, was es kostet, eine Tätowierung wegzulasern?»

«Nein. Teuer, hab ich mir sagen lassen.»

«Ja, etwa 3000 Euro. Zwölf Sitzungen zu je 250 Euro.»

«Echt?» Gardi konnte es kaum glauben.

«Ja, es kostet ein Vermögen. Aber als Friseuse verdiene ich bloß 1400 Euro pro Monat. Das kann ich mir wirklich nicht leisten. Letzten Monat hab ich mir High Heels gekauft. Da war das Geld schon Mitte des Monats alle. Um nicht zu verhungern, musste ich mich bei meinen Alten zum Essen einladen. Und mir deren Fragen anhören.»

«Stöckelschuhe?», erkundigte sich Gardi.

«Ja, Ankle Boots von Louboutin. Azurblau, in Leder eingefasst. Passend zu meinem Hosenkleid.»

«Louboutin!? Die kosten doch ein Heidengeld!»

«648 Euro.»

«Aber das kannst du dir doch gar nicht leisten!»

«Ich war zu einer Party eingeladen, zu der auch Promis eingeladen waren. Da habe ich sie einfach gebraucht.»

Gardi schluckte leer. Kein Wunder, war Sandra schon Mitte des Monats blank.

«Und jetzt haben sie mir noch den Führerschein weggenommen, weil ich ein paar Mal das Rotlicht überfahren habe. Das hat mich auch ein Vermögen gekostet. Ich bin total pleite», doppelte Sandra nach.

Das Gefühl kannte Gardi. Mit dem Ende der Sportkarriere war auch ihr Einkommen aus der Spitzensportförderung und den Sponsorengeldern weggefallen. Ihr Freund und persönlicher Trainer hatte sich in deren Folge auch von ihr getrennt, und ihr Ex-Mann Robi zahlte keinen Unterhalt für sie und ihre Tochter. Die Matura hatte sie mit achtzehn, hochschwanger, bestanden. Wegen ihrer guten Leistung war sie sogar ausgezeichnet worden. Ein Studium oder eine Ausbildung konnte sie sich aber mit dem Baby nicht mehr leisten. Robi war spielsüchtig gewesen, konnte die Familie nicht unterhalten und machte Schulden in der Höhe von ein paar hunderttausend Mark, für die sie teilweise mithaftete.

Sie trennte sich schließlich von ihm und wandte sich bald einmal voll dem Sport zu. Und nun hatte ihr der Arzt diese vernichtende Prognose gegeben. Würde sie ihr Training wieder aufnehmen, wären weitere Ermüdungsbrüche zu erwarten. Sie war maßlos enttäuscht, hatte sie doch ihr ganzes Leben in den letzten Jahren auf das Ziel Olympiade ausgerichtet. Ihre Welt war zusammengebrochen. Sandra ahnte sicher nicht, wie schwer diese Zeit für sie war.

Gardi versuchte, das Gespräch wieder auf den Lohn zu bringen: «Aber deine Chefin fährt doch einen Audi TT. Die scheint jedenfalls Kohle zu verdienen.»

«Wenn du ein eigenes Geschäft hast, kannst du die anderen für dich schuften lassen. Aber um ein Geschäft an guter Lage aufzubauen, braucht’s Kapital. Wie soll ich das mit meinem Lohn ansparen? Ich habe keinen reichen Ehemann. Und mein Vater würde auch kein Geld rausrücken. Ich verdiene echt zu wenig.»

Gardi strich sich die langen blonden Haare, die ihr nach vorne gerutscht waren, wieder hinter die Ohren. Versonnen meinte sie: «Es gibt schon Möglichkeiten, richtig Kohle zu verdienen. Ich hab dir das noch gar nie richtig erzählt. Als meine Tochter ganz klein, mein Mann in seiner Spielsucht versunken und ich voll auf Speed war, stand ich finanziell am Abgrund. Da hab ich ein paar Jahre als Prostituierte dazu verdient. Es ist mir nichts anderes übrig geblieben. Als ich die Schulden zurückbezahlt hatte, habe ich aufgehört und intensiv mit dem Langlauf angefangen.»

Sandra starrte sie entgeistert an: «Du? Du hast angeschafft und mir nichts davon erzählt? Oioioioioi!» Sie war ganz elektrisiert. «Und wie war’s?»

Gardi lehnte sich etwas zurück und schüttelte sich wieder ihre Haare zurecht: «Wie solls gewesen sein? Ich hab’s wegen dem Geld gemacht. Aber es war okay. Du lernst einen Haufen Männer kennen. Merkst, wie die ticken. Sie wollen ja alle das Gleiche, und doch ist jeder wieder verschieden.»

Sandras Augen glühten: «Was, du hast das schon gemacht! Ich kann’s kaum glauben. Ich hab mir nämlich auch schon überlegt, ob ich das einmal probieren soll.» Sandra überlegte einen Moment und fügte zweifelnd hinzu: «Ich weiß einfach nicht, ob es ein Weg für mich ist.»

«Du würdest massiv Kohle verdienen. Du bist bildhübsch, hast dunkle Augen und lange blonde Haare. Und so einen Vorbau wie du haben bloß wenige. Da stehen die Männer drauf.» Und nach einem Moment des Nachdenkens fügte sie hinzu: «Wege entstehen, indem sie gegangen werden.»

Sandra atmete tief ein. Es stimmte, sie war gutaussehend und hatte einen vollen Busen. Unwillkürlich streckte sie ihn noch etwas mehr raus. Er war im Verhältnis zu ihrer zierlichen Figur und ihrer schlanken Taille ziemlich groß. Manchmal genierte sie sich ein bisschen, dass sie so große Brüste hatte, doch meist war sie stolz darauf.

«Ich habe einmal im Internet gesurft», meinte Sandra aufgeregt. «Die Schweiz scheint ein guter Boden dafür zu sein. Es gibt wenig Vorschriften und du verdienst gut. Es gibt da ein Tantra-Atelier, das verschiedene Wohnungen betreibt, wo du arbeiten kannst. Du zahlst Miete und die Eigentümerin betreibt eine Webseite, auf der du dich mit Foto vorstellen kannst. Die Männer rufen dich auf deiner privaten Telefonnummer an, und du kannst mit ihnen einen Termin vereinbaren. Die Vergütung bestimmst du selbst. Wenn du drei bis vier Gäste pro Woche hast, kannst du Miete, Werbung und alles übrige bezahlen.»

«Am meisten hätte ich Angst, dass mich jemand erkennt. Immerhin bin ich als Sportlerin in Deutschland ziemlich bekannt. Ich werde ja immer noch interviewt. Gestern war ein Journalist bei mir. Wahrscheinlich bringt er sogar ein Foto von mir.»

«Deswegen gehen wir ja ins Ausland», meinte Sandra, als sei es schon beschlossene Sache. «Die Fotos im Internet kannst du so verändern, dass man dich nicht auf Anhieb erkennt. Und den Namen wechselst du sowieso. Künstlernamen nennt man das.»

«Nanu?», meinte Gardi erstaunt, «von Null auf Hundert. Hast du dir schon einen überlegt?»

«Sarah würde mir gefallen. Wie hast du dich denn früher genannt?»

«Jessy.»

Sandra dachte einen Moment nach. Sie war überrascht von ihrem Mut und musste das Ganze erst einmal verdauen. Dann meinte sie bestätigend: «Geheime Wünsche muss man am Schwanz packen. Sonst ist die Gelegenheit weg.»

Gardi lachte: «Am Schwanz packen ist gut!» Sie fügte pathetisch hinzu: «Freiheiten musst du dir nehmen. Sie werden dir nicht hinterhergeworfen.»

Sandra war einmal mehr beeindruckt von Gardis Sprüchen und Weisheiten, obwohl ihr eigentlich nicht klar war, was ihr Entschluss, als Prostituierte zu arbeiten, mit Freiheit zu tun hatte.

Plötzlich schoss der winzige Chihuahua, den Sandra dabei hatte, mit Bellen und Knurren unter dem Tisch hervor, denn ein neuer Gast hatte mit einem anderen Hund das Lokal betreten.

«Ludwig! Sitz!», befahl Sandra.

Ihr Busen wippte etwas, wenn sie sich zum Hündchen hinunter beugte. Wenn sie so streng war, verlieh ihr etwas Anmutiges …

«Und was machst du mit Ludi? Nimmst du ihn mit?», fragte Gardi. Sandra beugte sich zu ihrem Hündchen, das sich wieder etwas beruhigt hatte, nahm es liebevoll in den Arm und fragte: «Ludi, kommst du mit, wenn ich in die Schweiz arbeiten gehe?» Und zu Gardi meinte sie: «Der ist doch sooo lieb. Das geht schon.»

Und sie küsste ihn auf seine feuchte Schnauze, was er mit einem wütenden Knurren quittierte. «Der Ludi is sowieso der einzige, der es mit mir aushält!», fügte sie bitter hinzu.

5Fahrt in die Schweiz

«Was hat denn der Journalist von dir wissen wollen?», fragte Sandra, während sie mit ihrem Smart mit Hundertzwanzig über die Autobahn brauste. Wenn sie einen Lastwagen überholte, musste sie das Steuer mit beiden Händen fest packen, damit die Turbulenzen den Wagen nicht ins Schleudern brachten.

«Pass auf, der bremst da vorne!», warnte Gardi, für die Sandra einen Tick zu schnell fuhr und zu wenig Abstand hielt. Gardi schien Sandras Frage zu ignorieren.

«Willst du nicht darüber sprechen?», hakte Sandra nach, «Ich hatte das Gefühl, dass dich das Interview ziemlich mitgenommen hat.»

«Ich habe Angst, dass der Journalist ein tragisches Frauenschicksal aus meiner Lebensgeschichte macht. Ich will nicht wie ein begossener Pudel dastehen.»

«Hast du dich wieder einmal nicht zurückhalten können und alle Details deiner Kindheit erzählt?»

«Ja, vielleicht war ich zu offen. Doch diesem Journalisten habe ich vertraut. Er ist mir als Paradiesvogel rübergekommen, obwohl er Arzt und Journalist ist.»

«Spannend», meinte Sandra. «Aber dass du wieder auf deinem alten Beruf arbeiten willst, hast du ihm nicht erzählt?»

«Nein, um Himmels willen! Das weiß nicht einmal meine Tochter. Und dazu habe ich mich erst später, gemeinsam mit dir entschlossen.»

Beide schwiegen.

Gardi begann wieder: «Ich will nicht, dass man mich auf den Fotos erkennt. Ich habe mein Gesicht unkenntlich gemacht.»

«Mir ist das eigentlich egal», meinte Sandra. «In der Schweiz sucht mich sowieso niemand. Ich hab mich entschlossen, den Job zu machen und steh dazu.»

«Das ist bei mir schwieriger. Mein Gesicht ist bekannt. Und ich will nicht, dass meine Tochter davon erfährt. Das wäre für sie ganz schwierig. Dann heißt es: Deine Mutter ist eine Nutte. Das will ich ihr nicht antun.»

Nach einer Weile nahm Sandra den Gesprächsfaden wieder auf: «Für mich ist es ein Abenteuer: Ich hoffe, dass ich gutes Geld verdiene, und bin gespannt auf die Männer, die kommen. Das ist doch aufregend.»

«Ich kenn’s ja schon einigermaßen. Es ist nicht immer angenehm. Da kommen solche, die sich nicht richtig waschen oder aus dem Mund stinken. Oder ganz einfach einen unangenehmen Körpergeruch haben. Dann wirst du herumdirigiert, was du alles machen sollst. Am schlimmsten sind diejenigen, die dich benützen und gleichzeitig verachten für das, was du machst.»

Nach einer Weile bemerkte Sandra: «Sex ist halt nicht nett, brav und manierlich, sondern dunkel und animalisch. Ich glaube, ich freue mich trotzdem. Vielleicht gerade deswegen.»

«Mir hat kürzlich jemand gesagt: ‹Wenn du deine Liebe verkaufst, verlierst du deine Seele.› Das hat mich betroffen gemacht», fuhr Gardi düster fort.

«Was ist denn die Seele?», warf Sandra skeptisch ein. «Ich glaube nicht an solche Sachen.»

«Deine Seele ist dein innerster Kern. Den kannst du gar nicht verlieren», meinte Gardi.

Sandra erwiderte: «Sowieso verkaufen wir nicht unsere Liebe, sondern unsere Zeit.»

Wieder wurde es still. Gardis Spruch brachte Sandra zum Nachdenken. «Immer du mit deinen Zweifeln!», warf sie ihr nach einer Weile vor.

Gardi lehnte zurück, legte ihre Hände an den Hals und erklärte: «Zweifel sind Teil des Lebens. Mein Trainer hat mir vor den Rennen, wenn ich unsicher war, immer gesagt: Zweifel und Zuversicht gehören zusammen. Akzeptiere beides. Wer nicht zweifelt, kann auch nicht zuversichtlich sein. Wer nicht zweifelt, ist entweder arrogant oder dumm.»

Galt das jetzt ihr? Sandra war etwas pikiert. Sie schloss die Diskussion ab: «Jetzt probieren wir’s einfach. Wir können ja jederzeit wieder aufhören.»

«Achtung! Langsam kommen wir auf den Zoll zu. Du musst runter vom Gas», warnte Gardi. «Wenn du schon ohne Führerschein fährst, sei wenigstens vorsichtig.»

«Den haben sie mir bloß in Deutschland entzogen. In der Schweiz ist er gültig.»

«Quatsch!», war alles, was Gardi dazu sagte.

Sandra nervte sich, wenn Gardi andauernd ungefragt Ratschläge erteilte. «Ich sehe schon selbst, wenn ich bremsen muss. – Da hat es ja gar keine Zöllner! Darf ich da einfach durchfahren?»

Gardi wusste selbstverständlich Bescheid: «Ja, die Schweiz und Deutschland haben Abkommen. Das ist eine Zollunion oder ähnlich. An der Grenze musst du den Pass nicht mehr zeigen. Du solltest ihn aber dabeihaben, falls du in eine Kontrolle kommst.»

Gardi war stets top informiert. Sandra interessierte sich für das politische Tagesgeschehen wenig. «Was du immer weißt!» Sie war ein bisschen neidisch, dass Gardi so belesen war. Sie selbst las halt nur die «Gala» und anderes was in ihrem Friseursalon auslag. Manchmal träumte sie, auch einmal berühmt zu werden. Als sie dies Gardi in einer schwachen Stunde verraten hatte, meinte diese unwirsch: «Mit was denn?» Gardi wusste viel, witterte vielleicht gerade deshalb überall Gefahren und sah alles mal prinzipiell negativ. Aber was sie sagte, war stets verlässlich.

«Du musst die übernächste Ausfahrt nehmen. Wir kommen bald ans Ziel. Die Carmen hat ihr Office gar nicht mehr weit von hier.»

Carmen war die Inhaberin des Tantra-Ateliers.

6Bei Carmen

Carmens Büro war einfach zu finden. Oben in einer großen Tennishalle befand sich das Fitnesszentrum. Durch die Glastür und die großzügigen Glasfenster sahen Gardi und Sandra, wie eine junge Frau rhythmisch auf dem Laufband lief. Ihre Arme bewegte sie im Takt der Maschine und ihr Busen wippte gleichmäßig. Sie traten ein. Sandra hielt Ludwig an der Leine. Er lief brav mit.

«Carmens Büro befindet sich hinten links», gab die sportlich aussehende Frau an der Rezeption Auskunft. Ihre blonden Haare waren zu einem Rossschwanz zusammengebunden. Sie hatte ein weißes T-Shirt und weiße bequeme Hosen an. So wie sie aussah, war sie Instruktorin.

Carmen war ebenfalls ganz weiß angezogen. Sogar ihre Turnschuhe waren aus weißem Stoff. Ihre Fältchen verrieten, dass sie nicht mehr ganz jung war, aber sie sah gepflegt und gut erhalten aus. Ihr Gesicht glänzte ein wenig von der offenbar vor kurzem aufgetragenen Tagescrème und dem Make-up. Ein Speckring um ihren Bauch verriet, dass sie gerne gut aß. Er gab ihr aber auch ein gemütliches Aussehen. Dennoch wirkte sie sportlich und durchtrainiert.

Der Raum war geprägt von einem riesigen Kristall, der von einer hinter ihm stehenden Lampe derart angestrahlt wurde, dass er magisch golden leuchtete und seine inneren Strukturen zeigte. In seiner Halterung aus Stahl war er mindestens einen Meter hoch und zog automatisch die Blicke der Eintretenden auf sich.

«Spürt Ihr seine Energie?», fragte Carmen, als sie sah, wie Sandra und Gardi von diesem Wunderwerk der Natur fasziniert waren. «Es brauchte Millionen von Jahren, bis dieser Kristall geformt war. Es ist ein Citrin. Er galt bei den alten Römern als Schutz- und Lebensstein, den die Legionäre in ihren Schlachten bei sich trugen.»

«Glauben Sie, dass ein solcher Kristall eine Wirkung ausübt?», fragte Sandra leicht skeptisch.

Carmen schaute sie prüfend und intensiv an und erklärte: «Kristalle aktivieren die Energiezentren im Körper, die sogenannten Chakras. Der Citrin ist dem Wurzel- und Nabelchakra zugeordnet. Er erdet. Die Stärkung der unteren Chakras ist gerade in Eurem Beruf wichtig. Dieser Kristall wirkt sich stärkend auf das Immun- und Nervensystem aus und hat auch eine positive Wirkung auf die Psyche.»

Gardi war fasziniert, dass Carmen über die Heilwirkung von Kristallen und nicht über Geld und Geschäftsbedingungen sprach. Sandra hatte nicht alles verstanden, aber sie hatte das Gefühl, es sei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um nachzufragen. Gardi wusste wahrscheinlich, was ein Chakra war.

«Eure Gesundheit ist das Wichtigste. Sie geht allem vor», dozierte Carmen. «Ich verlange, dass Ihr immer Kondome verwendet. Immer! Sie liegen in der Wohnung und sind in der Miete inbegriffen.»