Stranded - Im Bann des Sees - Kate Dylan - E-Book

Stranded - Im Bann des Sees E-Book

Kate Dylan

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Regel Nummer 1: Bleibe nie nach Sonnenuntergang an Land zurück. Mellie kennt diese Regel gut, denn sie ist eine Wandlerin. An Land kann sie menschliche Gestalt annehmen, doch wenn sie es vor der Dunkelheit nicht in den schützenden See ihres Volks schafft, bedeutet das ihren sicheren Tod. Doch dann passiert das, was nicht passieren darf: Mellie strandet. Um an Land zu überleben, muss sie sich ausgerechnet ihrem größten Feind anvertrauen: Caleb ist ein Mensch und darf auf keinen Fall erfahren, wer – oder was – Mellie wirklich ist … Der erste Band der aufregenden »Stranded«-Reihe

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 444

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kate Dylan

Stranded

Im Bann des Sees

Aus dem Englischen von Tanja Hamer

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Kapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzigKapitel einundzwanzigKapitel zweiundzwanzigDie Geschichte geht weiter [...]Danksagung

Für Dani, weil du all die verrückten Dinge liest, die ich dir schicke

Kapitel eins

Strande niemals auf dem Trockenen, das ist Regel Nummer eins.

»Beweg dich, Scout, wir haben keine Zeit mehr«, rief Rynn ihr über die Schulter zu.

Scout. Bei den Göttern, Mellie hasste es, wenn er sie so nannte. Sie waren beide Scouts, es war ihre Berufsbezeichnung, nicht ihr Name. Doch im Moment benutzte Rynn das Wort als Waffe, um sie anzuspornen, mit seinem Tempo mitzuhalten.

Und es funktioniert. Mellie verengte die Augen zu Schlitzen und sauste noch schneller zwischen den Bäumen hindurch. Jetzt musste sie das Wettrennen zum See einfach gewinnen, allein um ihn kopfüber ins Wasser schubsen zu können.

»Los, Mellie, komm!« Sie meinte, eine Spur von Panik in Rynns Stimme zu hören. Er lief einen Bogen zu ihr zurück und packte ihre Hand, um sie vorwärtszuziehen. Mellie biss die Zähne zusammen und versuchte mit aller Kraft, mit ihm Schritt zu halten. Rynn war an Land fast einen halben Meter größer als sie, und seine Beine waren länger. Kein faires Wettrennen, dachte sie bei sich. Im Wasser konnte sie Kreise um ihn schwimmen, das tat sie oft. Doch das Wasser und das Ufer waren noch immer gefährlich weit weg.

»Titan hilf uns«, flehte Mellie, als die Sonne hinter den Bergen versank und der Himmel sofort einen Farbton blasser wurde. Ihre Lunge fühlte sich bleischwer an und wog mit jedem Schritt schwerer in ihrer Brust. Der Gestank nach Erde und Blättern war schon fast unerträglich. Erdrückend. Es war, als könnte sie jedes Schmutzpartikel in der Luft schmecken, das ihr dann in der Kehle stecken blieb und sie von innen zerriss. Sie hatten zu viel Zeit außerhalb des Wassers verbracht, sich zu weit vom See entfernt. Ihr Handeln war unüberlegt gewesen. Unüberlegt, dumm und voreilig. Sie durften nicht stranden. Sie durften Regel Nummer eins nicht brechen.

Dabei war es nicht einmal beabsichtigt gewesen. Der Tag hatte ganz normal mit einer Routinepatrouille begonnen. Aber sie hatten einen beschädigten Schutzanker entdeckt, was bedeutete, dass sie zurückgehen mussten, um die anderen in der Gegend ebenfalls zu überprüfen. Zwölf Schutzanker waren insgesamt zu kontrollieren. Nicht genug Tageslicht. Nie genug Scouts.

Endlich neigte sich der Boden unter ihren Füßen und wurde weicher, als die Erde in Sand überging. Mellie konnte das Wasser und das Salz riechen. Hoffnung keimte in ihr auf.

»Schuhe. Jetzt«, rief Rynn und kickte seine Stiefel im Laufen weg.

Mellie fasste nach unten und geriet ins Stolpern, als sie versuchte, die Schnürsenkel zu lösen.

»Verdammt, Mellie, beeil dich.«

Das Ufer war nur noch ein paar Meter entfernt, die Sonne schon fast ein Geist.

Ihr Gesicht glühte. »Sorry, ich …« Sie zerrte an ihren Stiefeln, und kurz darauf schleuderte sie sie beiseite. »Hab’s.«

»Wegen dir gehe ich noch eines Tages drauf, Scout«, murmelte Rynn, ehe er einen Arm um ihre Taille schlang und sich mit ihr in den See stürzte.

Sie schlugen hart auf dem Wasser auf und durchbrachen die Wasseroberfläche genau in dem Moment, als sich das Tageslicht in Dunkelheit verwandelte. Die Erleichterung setzte sofort ein, während das beruhigende Gefühl, im Wasser zu sein, ihre Ängste fortwusch.

Mellie seufzte, als die Verwandlung ihren Körper ergriff. Sie entledigte sich ihres T-Shirts und zog dann leicht an ihrer Jeans, woraufhin sich der Stoff an den Seiten öffnete. Druckknöpfe, dachte sie lächelnd. Wasser umspülte ihre nackte Haut. Die Lieblingsknöpfe der Wandler.

Ihre Beine verbanden sich bereits miteinander, das Fleisch verknüpfte sich zu einer Schwanzflosse, die am Ende ausfächerte und sich zu ihrem Körper hin bog. Die Furchen zwischen ihren Rippen und über ihren Schlüsselbeinen vertieften sich, ehe sie sich zu Kiemen öffneten, die dem Wasser erlaubten, in ihre Lunge zu sickern. Mellie schloss die Augen und nahm einen tiefen, nassen Atemzug. Heute hätten wir es um ein Haar nicht mehr nach Hause geschafft, stellte sie erschrocken fest. Bei Titan, es ist schön, zu Hause zu sein.

Ihre Schuppen bildeten sich jetzt rasant aus, bis sie ihre Schwanzflosse wie eine zweite Haut bedeckten. Kein Wandler glich dem anderen; die Form und Farbe der Schuppen sah bei jedem anders aus. Mellies reichten ihr bis zur Hüfte, eine Handvoll bedeckte ihre Brust. Die Farbe ihrer Schuppen war besonders selten; ein Goldton, der im Licht kupferfarben glänzte. Ihre Augen waren ebenfalls kupferbraun und ihre Haare weißblond. Rynn scherzte immer, dass sie aussehen würde wie eine Trophäe, die sich jemand eines Tages schnappen und aufs Kaminsims stellen würde. Mellie verpasste ihm jedes Mal, wenn er das sagte, einen Schlag in die Magengrube. Sie war weder ein Schmuckstück für jemanden noch eine Art Preis. Sie war ein Scout, und ein verdammt guter noch dazu.

Neben ihr grinste Rynn, während er seine Verwandlung durchlief. Wo Mellie goldfarben war, sah er anthrazit und pechschwarz aus. Schwarze Haare, dunkle Augen und Schuppen, die in unzähligen Schiefertönen schimmerten. Seine Brust war natürlich frei von Schuppen, wie es bei allen männlichen Wandlern der Fall war. Allerdings hatte er einen ungewöhnlichen Schuppenfleck über der rechten Schulter, ein breites graues Band, das sich um seinen Bizeps wand und seitlich an seinem Hals spitz zulief.

»Hässlich«, sagte er immer und kratzte an den Schuppen, als hoffte er, sie so wegreiben zu können. »Ich bin quasi deformiert.«

Doch Mellie machte sein Schuppenfleck nichts aus. Dadurch unterschied er sich auf den ersten Blick von den anderen. Außerdem sah es so aus, als würde er eine Art edle Rüstung tragen.

»Ich habe dich noch wegen der Schnürsenkel gewarnt, Scout.« Jetzt, wo sie wieder im Wasser waren, projizierte Rynn die Worte, anstatt sie laut auszusprechen. Der Klang seiner echten Stimme – die tiefe, vertraute Klangfarbe – ließ Mellie unwillkürlich lächeln, auch wenn er sie gerade aufgezogen hatte. Sie mochte es wesentlich lieber, wenn sie in Gedanken miteinander kommunizierten. An Land klang seine Stimme immer ein wenig heiser und gepresst, als würde es ihn zu viel Anstrengung kosten, die Stimmbänder zu benutzen.

»Ach, sei still«, gab Mellie zurück. »Wir haben es doch geschafft.«

»Aber ganz knapp.« Rynn fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, woraufhin sie sich um seinen Kopf verteilten wie Oktopustinte. »Lass uns das nie wieder tun, okay?«

»Einverstanden.« Sie löste das Haargummi, mit dem sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden hatte. An Land war das sehr praktisch, aber im Wasser mochte sie es lieber, wenn ihr die Haare offen um den Kopf flossen und sie beim Schwimmen am unteren Rücken kitzelten.

»Ich schätze, es ist Zeit, uns Jay zu stellen.« Rynn seufzte. »Er wird ganz schön sauer sein, dass wir zu spät sind.«

Mellie stöhnte. Ihr eiliger Sturz ins Wasser hatte sie ganz vergessen lassen, dass sie jeden Tag zur selben Zeit zurück sein mussten, immer zum Sonnenuntergang. Mit dieser Sicherheitsmaßnahme sollte gewährleistet werden, dass jeder Wandler es rechtzeitig zum Annex zurückschaffte und niemals Regel Nummer eins brechen musste. Strande niemals auf dem Trockenen.

»Was meinst du? Sollen wir auf die Klamotten pfeifen?«, fragte Rynn.

»Ach nö.« Mellie fasste nach unten, um ihr T-Shirt aus dem Büschel Seegras zu befreien, in dem es sich verfangen hatte. »Wir werden so schon genug Ärger bekommen und sollten Jay nicht noch einen Grund geben, auf uns sauer zu sein.«

Kleidung war knapp, besonders während der Wintermonate, wenn die Tage kurz waren, was die Vorratsbeschaffung erschwerte. Sie und Rynn konnten jetzt zwar ihre Kleider zurücklassen und so schnell wie möglich zum Annex eilen. In dem Fall würden sie neue zugeteilt bekommen. Aber sie würden auch einen extrem langweiligen Vortrag über das Verschwenden wertvoller Ressourcen über sich ergehen lassen müssen. Darauf hatte Mellie überhaupt keine Lust.

Sie sammelten ihre Sachen ein und schwammen wieder an die Oberfläche, wobei sie ein wenig weiter östlich rauskamen, wo ein flacher Felsen aus Kalkstein aus dem See ragte. Die Stiefel würden sie morgen einsammeln müssen, da war jetzt nichts zu machen, aber alles andere konnten sie zum Trocknen auf den Stein legen.

Rynn hob sie an der Taille aus dem Wasser, so dass Mellie ihre T-Shirts und Jeanshosen auf dem Felsen ausbreiten konnte. Sie hatte am Rücken und am Bauch keine Schuppen und spürte seine Hände so warm auf ihrer Haut, dass es fast schon brannte.

»Beeil dich, Scout.« Rynn ließ sie eine Sekunde lang los, und sie wäre um ein Haar ans Ufer gespült worden. Ihr Schwanz war gerade noch mit der Spitze im Wasser. Mellie schrie und schlug wie wild um sich, um seine Hände zu fassen zu bekommen.

»Verdammt, Rynn.« Ihr klopfte das Herz bis zum Hals. »Das ist nicht lustig.«

»Beruhige dich, Mel, ich hab dich doch.« Sie spürte sein Lachen, als er sie an sich zog.

»Idiot.« Sie verpasste ihm einen Stoß in die Rippen. »Nächstes Mal kannst du deine Klamotten selbst trocknen.«

Mellie tat ihr Bestes, ihn zu ignorieren, als sie wieder zurück ins Wasser tauchten, was schwer war, da er immer noch grinste wie ein Idiot. Sie bewegten sich schnell und gekonnt zwischen den Säulen aus Seetang und dem Schilf hindurch, das dichter wurde, je näher sie Astria kamen, der verborgenen Stadt unter den Wellen.

An der tiefsten Stelle des Sees ragte Astria aus dem Felsboden empor, eine riesige Metropole aus Stein und Marmor, geschaffen durch fähige Hände und von Magie geformt. Es wurde erzählt, dass die Stadtmauern kurz nach ihrer Erbauung so hell geglänzt hatten, dass sie das Wasser meilenweit erleuchteten. Doch die Zeit hatte sie in ein lebendes, atmendes Ding verwandelt, das mit Moos, Napfschnecken und Seepocken überwuchert war; in eine dünne Schicht aus phosphoreszierenden Algen gewickelt, die bei Sonnenuntergang zum Leben erwachten und alles in warmes, einladendes Licht tauchten.

Genau in der Mitte der Stadt stand der Titanenpalast, ein architektonisches Wunderwerk aus leuchtend weißen Muscheln und Steinen. Drum herum waren Astrias Wohnriffe in ordentlichen konzentrischen Kreisen angeordnet. Innen fanden sich die größeren Häuser, je weiter man nach außen kam, desto kleiner und neuer wurden die Behausungen. Seit Jahrzehnten wuchs die Stadt nun schon, während die Bevölkerungszahl der Natürlichen immer weiter anstieg. Zu viele Natürliche und nicht genug Wandler. In jeder Generation wurden weniger geboren. Und da der durchschnittliche Natürliche doppelt so alt wurde wie ein Wandler, bog sich die Stadt unter dem Gewicht der zahlreichen Einwohner. Inzwischen war sie so groß geworden, dass man an einem wolkenfreien Tag, wenn das Wasser ganz klar war, von der Oberfläche aus einen Blick auf Astria erhaschen konnte, wenn man sich ganz stark konzentrierte, um durch das Schilf hindurchzuschauen. Wenn man wusste, wonach man suchte. Deshalb war es so wichtig wie noch nie, die Schutzanker instand zu halten; sie waren das Einzige, was die Landbewohner davon abhielt, den See zu entdecken.

Mellie und Rynn schwammen um die schimmernde, magische Kuppel herum, die sich über der Stadt wölbte und sie komplett versiegelte. An Tagen wie diesem verfluchte Mellie insgeheim den undurchdringlichen magischen Schutzschirm. Er kam ihr so … unnötig vor. Astria war seit über zwanzig Jahren nicht mehr angegriffen worden, nicht seit dem Krieg, und selbst damals hatten es die Soldaten geschafft, die Landbewohner davon abzuhalten, ins Wasser zu gehen. Es würde den Titan sicher nicht umbringen, seine Sicherheitsmaßnahmen ein wenig zu lockern. Sie waren schon spät genug dran, da konnten sie es nicht gebrauchen, auch noch einmal um die halbe Stadt zu schwimmen.

Sie hatten das Haupttor fast erreicht, als das Wasser über ihren Köpfen von einem grünen Lichtblitz erhellt wurde. Eine der Suchpatrouillen musste sie entdeckt und ein Signal ausgesendet haben. Grün, um vermisste Wandler zu melden, die wohlbehalten zurückkehren.

»Verdammt«, fluchte Rynn. »Das war’s dann mit dem heimlichen Reinschleichen.«

»Du hast doch nicht im Ernst gedacht, sie hätten bis jetzt noch nicht nach uns gesucht, oder?«

»Ich hab’s gehofft.«

»Gehofft?« Mellie lachte. »Ist jemand gestorben und hat dir seinen Optimismus vererbt?«

»Nein.« Rynn verdrehte die Augen. »Und sei nur still, ein bisschen Wunschdenken hat noch niemandem geschadet.«

Vielleicht nicht, aber es hat auch noch niemandem geholfen.

Sie schwammen durch das Stadttor, wobei sie sich möglichst weit oben hielten, um den Betrieb in den Riffen darunter zu umgehen. Die Abendmärkte waren bereits in vollem Gange und summten vom Klang der Natürlichen, die hin und her eilten und per Projektion über die Preise für Krebse und verbogenes Metall feilschten.

»Es ist mir egal, was das für eine spezielle Sorte ist, acht Perlen sind zu viel für Seepferdchenschwänze«, hörte Mellie eine Dame mit besonders schriller Stimme sagen.

»Geben Sie noch ein paar von diesen Aalhäuten dazu, und wir kommen ins Geschäft«, sagte eine andere. Ein gequält dreinschauender Apotheker nickte resigniert.

»Lass uns die Abkürzung durch die Gärten nehmen.« Mellie bedeutete Rynn, dass er ihr nach unten in Richtung des Hauptplatzes folgen sollte. Als vor fünfhundert Jahren die ersten Wandler im See Zuflucht gesucht hatten, brachten sie Dinge aus ihrem Zuhause mit, das sie notgedrungen hatten verlassen müssen. Fischeier, Austernsamen, abgeschnittene Wasserpflanzen und Schilf; alles, was sie brauchten, um ihr Leben neu aufzubauen. Fünf Jahrhunderte später waren die Gärten das krönende Juwel der Stadt – und Mellies Lieblingsort in ganz Astria: eine farbenfrohe Oase voller zahlloser Korallenvariationen, die es sonst nie im See gegeben hätte.

Sie und Rynn passierten die Pflanzen und schwammen in direkter Linie auf den Annex zu, eine ausgedehnte Ansammlung von Gebäuden, die sich in den Schatten des Palasts drückten. Es gab immer wieder Gerüchte, warum der Titan darauf bestand, die Wandler dort unterzubringen. Manch einer sagte, er mochte es, mit Wandlerinnen anzubandeln. Andere behaupteten, er wollte seine Truppe im Auge behalten, weil er fürchtete, sie würden sich eines Tages zusammentun und versuchen, ihn zu stürzen. Mellie hielt nicht viel von diesen Gerüchten und Anspielungen. Sie glaubte nicht, dass die Nähe zum Palast einen zweifelhaften Hintergrund hatte. Wenn sie der Titan wäre, würde sie ihre Soldaten auch in der Nähe wissen wollen.

»Scouts, ihr seid zu spät.« Die Rüge ihres Truppenführers erklang in ihren Köpfen, als sie sich dem Eingang näherten. Wenn seine gestrafften Schultern und seine verkrampften Kiefermuskeln nicht gewesen wären, hätte man meinen können, Jay würde entspannt im Torbogen auf sie warten. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und seine honigfarbenen Schuppen waren von phosphoreszierendem Moos in grünes Licht getaucht. Doch Mellie wusste es besser; sie sah ihm an, wie die Wut in ihm brodelte. Die Missbilligung war ihm ins Gesicht geschrieben. Doch sie entdeckte auch noch etwas anderes: Erleichterung. Niemand mochte es, wenn ein Wandler die nächtliche Ausgangssperre verletzte und zu spät heimkehrte. Aber ein verspäteter Scout war allemal besser als ein toter.

»Sorry, Jay.« Rynn lächelte ihn entschuldigend an. »Wir wurden aufgehalten.«

»Nun, ich hoffe um euretwillen, dass es eine verdammt gute Geschichte ist«, erwiderte Jay und scheuchte sie nach drinnen, »denn ihr werdet sie Captain Ferrick persönlich erzählen.«

Mellie und Rynn stöhnten gleichzeitig auf. Jay hatte den Leiter des Korps alarmiert. Jetzt würden sie richtig Ärger bekommen.

»Was habt ihr denn erwartet? Ihr seid über eine Stunde zu spät. Ich habe zwei Soldatenteams rausgeschickt, um im Wasser nach euch zu suchen, und ein drittes sollte gerade den Suchradius erweitern, um im Uferbereich nach euch Ausschau zu halten.« Jay legte ein zügiges Tempo vor, als er sie an den Riffschlafsälen vorbei und von der Kantine weg führte. Der Rest ihrer Einheit genoss vermutlich gerade das Abendessen und entspannte sich nach einem langen Tag an der Oberfläche.

Die Glücklichen!

»Ihr solltet es besser wissen, Scouts.« Jay klang schwer enttäuscht, und Mellie zuckte schuldbewusst zusammen. »Ihr wisst, dass ich euch nicht beschützen kann, wenn ihr euch so rücksichtslos verhaltet und die Ausgangssperre brecht. Und selbst, wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun.«

Jay zu enttäuschen war immer schlimmer, als vom Captain gescholten zu werden.

»Die Regeln existieren nicht ohne Grund, und ich erwarte von meinen Scouts, dass sie sich daran halten.« Er blieb vor dem Zimmer des Captains stehen.

»Wir haben es nicht absichtlich getan, Jay«, murmelte Rynn mit gesenktem Blick. »Wir hatten wirklich einen guten Grund.«

»Tut mir leid, Kinder, es liegt jetzt nicht mehr in meiner Hand.« Jay schüttelte den Kopf, doch sein Gesichtsausdruck war milder, und seine nächsten Worte klangen netter, als sie es verdient hatten. »Aber ihr könnt ins Bett gehen, sobald er euch entlässt. Wir sprechen uns dann morgen früh.« Damit schob er den dichten Vorhang aus Schilf beiseite, der im Türrahmen hing. Nachdem er ihr Kommen angekündigt hatte, verschwand er den Gang hinab und überließ sie ihrem Schicksal.

»Wie wäre es, wenn wir den kaputten Schutzanker nächstes Mal ein bisschen früher finden?«, raunte Mellie Rynn zu und versuchte, den Knoten, der sich in ihrem Bauch bildete, zu ignorieren.

»Nächstes Mal? Ich denke, ich würde es vorziehen, wenn …«

»Mayreed, Staghorn, schwingt eure Flossen hier rein.« Der schroffe Befehlston des Captains donnerte in ihrem Kopf und verhinderte, dass Rynn seinen Satz beenden konnte.

Der Knoten wurde fester.

»Na, dann mal los.« Rynn drückte kurz ihre Hand. Sie wussten beide, dass der Captain mit ihr härter umspringen würde als mit ihm. Das tat er immer. Sie und Rynn hatten erst zweimal bei ihm vorstellig werden müssen, seit sie dem Korps beigetreten waren. Ein Mal, als Rynn einen Schutzanker verloren hatte, und das andere Mal am Tag nach ihrem siebzehnten Geburtstag, als sie es nicht rechtzeitig zur Patrouille geschafft hatten, weil sie ein Fässchen fermentierten Seeigel stibitzt hatten und die ganze Nacht wach geblieben waren, um sich zu betrinken. Beide Male hatte der Captain es so hingedreht, dass es allein ihre Schuld gewesen war. Denn Hass wog schwerer als Logik.

»Siebzehn Uhr einunddreißig«, sagte der Captain, als sie zögerlich das Zimmer betraten. »Um diese Zeit ist heute die Sonne untergegangen.« Er wandte sich von der Patrouillenkarte ab, die in die Wand am anderen Ende des Raums geschnitzt war. Hunderte winziger roter Muscheln steckten in regelmäßigen Abständen in der Karte, und jede einzelne markierte einen der Schutzanker, die nötig waren, um den Schutzzauber aufrechtzuerhalten, der den See versteckte. Mellie hielt den Blick starr auf das gleichmäßige Muster gerichtet, das den See umgab, anstatt den Captain anzuschauen. Wenn sie seine Wut nicht sah, würde sie vielleicht von selbst verschwinden.

»Was schätzen Sie, wie viel Uhr es jetzt ist, Mayreed?«, fragte ihr Vorgesetzter sie.

»Kurz vor sieben vielleicht, Sir?«, riet sie. Sie wusste es nicht genau. An der Oberfläche konnte Mellie den Himmel lesen. Jede noch so kleine Veränderung des Farbtons, jede Bewegung der Sonne am Horizont. Wenn man wusste, auf welche Zeichen man achten musste, war es nicht schwer, die Uhrzeit genau zu bestimmen. Doch unter Wasser wurde die Zeit mit breiteren Zeigern gemessen, nur durch den Grad an Licht bestimmt, das von der Wasseroberfläche bis nach unten drang. Außer natürlich man besaß eine Armbanduhr, doch nur Soldaten und Läufer bekamen eine zugeteilt.

»Das stimmt, es ist achtzehn Uhr dreiundvierzig«, erwiderte der Captain. »Was bedeutet, ihr zwei seid über eine Stunde nach der Ausgangssperre noch draußen gewesen.«

Groß und breit, bedeckt von einer rauen Haut aus flachsgelben Schuppen, war Captain Ferrick an sich schon eine imposante Erscheinung; doch wenn er wütend war, konnte er einem Angst einjagen. Er besaß ein ernstes, breites Gesicht mit tiefliegenden Augen und eckigem Kinn. Durch die vielen Jahre, die er an der Oberfläche verbracht hatte, war seine Haut wettergegerbt und vernarbt, übersät von Altersflecken und Falten, die seine Augen und seinen Mund umgaben. Doch das Alter hatte seinen scharfen Tonfall nicht mildern können, und obwohl er schon fast siebzig Jahre alt war, hatte er die Kraft eines wesentlich jüngeren Mannes.

»Sie erinnern sich doch daran, dass wir hier eine Ausgangssperre haben, Mayreed?«

Mellie spürte seinen Blick auf sich, und sie hatte das Gefühl, er würde sie damit durchbohren. Sie wünschte sich, er würde einfach anfangen, sie anzuschreien. Das Schreien konnte sie verstehen. Mit dem Schreien konnte sie umgehen.

»Ja, Sir.«

»Aber Sie haben sich dennoch dazu entschlossen, sie zu ignorieren?«

»Nein, Sir. Ich … wir hatten einen guten …«

»Erzählen Sie es mir, Staghorn«, unterbrach sie der Captain und wandte sich Rynn zu, »warum erwarte ich von Ihnen, dass Sie bei Sonnenuntergang zurück sind?«

»Zu unserem Schutz, Sir«, antwortete Rynn und wiederholte damit das Mantra, das ihnen jeden einzelnen Tag ihres Trainings eingebläut worden war. Die Regeln dienen eurem Schutz. Nur dank der Regeln könnt ihr an der Oberfläche überleben.

»Sie haben verdammt recht, sie dienen Ihrem Schutz! Damit ich nie zum Palast schwimmen und dem Titan erklären muss, warum zwei seiner Scouts es geschafft haben, ihrem Leben leichtsinnig ein Ende zu setzen.« Mit drei schnellen Schlägen seiner Schwanzflosse war er nur noch Zentimeter von Mellies Gesicht entfernt. »Denken Sie etwa, die Regeln gelten nur für die anderen, Scout?« Wenn der Captain sie so nannte, war es eine Ermahnung.

»Nein, Sir.«

»Nun, dann versuchen Sie vielleicht, etwas zu beweisen.« Seine Stimme war eiskalt. »Wie die Mutter, so die Tochter?«

Jeder Tropfen Blut in Mellies Körper schoss ihr in den Kopf. »Nein, Sir.« Ihre Antwort kam so schnell und bestimmt, dass sie sie auch aus Versehen laut ausgesprochen haben konnte. Links von ihr knirschte Rynn mit den Zähnen, weil er sich beherrschen musste, selbst den Mund zu halten. Wenn irgendjemand anderes es gewagt hätte, so etwas zu ihr zu sagen, hätte er nicht gezögert, ihn mit den Fäusten in die Schranken zu verweisen.

Der Captain starrte sie über seine Nasenspitze hin an, das Gesicht hart vor Zorn. Die Vene über seinem linken Auge pochte und zuckte wie immer, wenn er wütend war. So wusste man, dass man wirklich Ärger bekam und dass sein Gepolter nicht bloß Show war. Im Moment sah diese Vene so aus, als wäre sie kurz davor, zu explodieren.

»Die Regeln, Scout«, sagte er mit schneidendem Tonfall. »Kennen Sie sie?«

Mellie ballte die Hände an den Seiten zu Fäusten. Natürlich kannte sie die Regeln. Er wusste, dass sie sie kannte. »Ja, Sir.«

»Gut. Dann lassen Sie mal hören.«

Mann, ist das erniedrigend. »Nummer eins«, fing sie an, die Worte zu rezitieren, die ihr Leben bestimmten, seit sie zehn Jahre alt war. »Strande niemals auf dem Trockenen.« Wandler konnten die Verwandlung nur bei Tageslicht vollziehen. Den Sonnenuntergang zu verpassen bedeutete, eine ganze Nacht außerhalb des Wassers zu verbringen, und kein Wandler hatte das je überlebt.

»Nummer zwei.« Ihr rauschte das Blut in den Ohren. »Bleibe unentdeckt.« Nur durch strickte Geheimhaltung hatte ihre Art all die Jahre überleben können. Nur so verhinderten sie, dass sie ein weiteres Opfer der Oberfläche wurden oder als Experiment im Labor irgendeines Landbewohners endeten.

»Nummer drei.« Mellie war schon am Ende der glücklicherweise kurzen Liste angekommen. »Kenne deinen Platz.« Astria war ein geschlossenes System, eine isolierte Stadt mit begrenzten Ressourcen und einem Überbevölkerungsproblem. Jeder Natürliche und jeder Wandler musste seinen Teil dazu beitragen, die Stadt sicher und am Laufen zu halten. In Astria gab es keinen Platz für einen Wandler, der mit seinem Schicksal haderte.

Der Captain nickte, doch die Boshaftigkeit war nicht aus seinem Blick verschwunden. »Und welche Regel hat Ihre Mutter gebrochen, Scout?«

Mellie starrte ihn an und musste sich sehr beherrschen, sich ihre Wut nicht anmerken zu lassen. »Regel Nummer eins, Sir.«

Vor fünf Jahren hatte Learra Mayreed einen eigenmächtigen Ausflug an Land unternommen und war nie zurückgekehrt. Niemand – nicht einmal ihr Partner – wusste, warum sie nach oben gegangen war. Sie war weder zum Besorgen von Vorräten eingeteilt gewesen, noch hatte sie die Erlaubnis gehabt, überhaupt aufzutauchen. Sie war einfach gegangen. Die einzige Wandlerin in der Geschichte Astrias, die freiwillig gestrandet war. Die anderen nannten es Selbstmord und Fahnenflucht. Sie bezeichneten ihre Mutter als Verräterin. Aber nicht Mellie. Sie weigerte sich, ihre Zeit mit Grübeleien über ihre Mum zu verschwenden, und selbst wenn sie an sie dachte, dann ging sie immer davon aus, dass sie tot war. Sie hatte es nicht anders verdient. Eine gute Wandlerin brach keine Regeln. Eine Mutter, die es wert war, dass man über sie nachdachte, hätte ihre Tochter nicht einfach verlassen.

»Haben Sie vor, so zu enden wie Ihre Mutter, Scout?« Der Captain ließ einfach nicht locker.

»Nein, Sir.« Mellie zitterte am ganzen Körper. Sie würde das Korps niemals auf die Art betrügen, wie es ihre Mutter getan hatte.

»Es ist nicht ihre Schuld«, schaltete sich Rynn jetzt doch ein. »Wir haben auf unserer Inspektionsrunde einen defekten Schutzanker gefunden, Sir.« Er schaffte es, dass das letzte Wort wie ein Schimpfwort klang. »Wir mussten zurückgehen und die anderen auch überprüfen.«

»Wo war das?« Sofort wich der gnadenlose Gesichtsausdruck des Captains einem geschäftsmäßigen. Defekte Schutzanker waren nicht so selten, doch sie wurden nie auf die leichte Schulter genommen.

»Im Wald«, erklärte Rynn. »Auf der westlichen Seite unserer Runde.«

»Sah es aus, als hätte jemand ihn absichtlich beschädigt?«

»Ja, Sir.«

Meistens wurden die Schutzanker einfach von Tieren niedergetrampelt oder rausgerissen. Manchmal wurden sie sogar weggeweht, wenn im tiefsten Winter die Stürme durch das Tal tobten. Aber was sie heute gefunden hatten, sah nicht nach einem Unfall aus. Jemand hatte den Schutzanker mit einer Klinge bearbeitet und an allen vier Seiten so zerkratzt, dass der Zauber gebrochen worden war.

Der Captain schwieg einen Moment mit zusammengezogenen Augenbrauen, so dass sich eine steile Falte oberhalb seiner Nase bildete. »Haben Sie den defekten Schutzanker ausgetauscht?«, fragte er.

»Das haben wir, Sir«, antwortete Rynn.

»Nun, dann haben Sie wenigstens eine Sache richtig gemacht. Für den Rest der Woche werden Sie jeden einzelnen Schutzanker auf Ihrer Runde kontrollieren«, wies er sie an. »Außerdem haben Sie sich soeben freiwillig zum Dienst für die Landprüfung an diesem Wochenende gemeldet, also welche Pläne Sie auch immer für Ihren freien Tag hatten, sagen Sie sie besser gleich ab. Und, Scouts …«, er fixierte sie mit einem stahlharten Blick voller Verachtung, »wenn Sie die Ausgangssperre ein weiteres Mal missachten, werde ich persönlich dafür sorgen, dass Sie bis nächsten Winter nicht mehr an die Oberfläche kommen. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?«

»Ja, Sir«, sagten Mellie und Rynn wie aus einem Mund.

»Gut. Jetzt gehen Sie mir aus den Augen.«

»Mel…«, setzte Rynn an, sobald sie sich in sicherer Entfernung auf dem Gang befanden.

»Lass es.« Sie wandte sich ab. »Wir reden nicht darüber.« Wenn sie es täten, würde sie nur weinen, und Mellie hatte seit dem Tag, an dem ihre Mutter verschwunden war, nicht mehr vor Rynn – oder sonst jemandem – geweint.

Er war an dem Abend bei ihr gewesen, als sie die Nachricht erhalten hatte. Das Unverständnis, der Schmerz, die Erniedrigung – Rynn hatte es alles gesehen. Er hatte ihre Hand gehalten, als die Soldaten die Sachen ihrer Mutter mitgenommen hatten. Dann war er ihr hinterhergeschwommen, als sie sich heimlich aus dem Annex gestohlen hatte, um einen Geist zu suchen.

Er hatte sie noch erwischt, kurz bevor sie die Wasseroberfläche durchbrochen hatte, und sie wieder zurück ins Schilf gezogen, wo er sie festgehalten hatte. Mellie versuchte, gegen ihn anzukommen; sie biss und kratzte ihn, zappelte und wand sich in seinem Griff, doch Rynn ließ sie nicht eine Sekunde lang los. Nicht mal, als sie ihn hart mit dem Ellenbogen erwischte, was ihm eine gebrochene Nase und zwei blaue Augen bescherte. Er hielt sie, bis sie sich heiser geschrien hatte und ihr keine Flüche mehr einfielen. Er hielt sie, bis sie nicht mehr weinen konnte. Dann half er ihr, unbemerkt in die Stadt zurückzugelangen, und von da an hatten sie nicht mehr über ihre Mum gesprochen.

Immer wenn ihr seitdem jemand blöd kam oder ihre Mutter auch nur in seiner Gegenwart erwähnte, explodierte Rynn. In den darauffolgenden Monaten war er in so viele Streits geraten, dass Jay sich schon fragte, ob er in der falschen Einheit platziert worden war und vielleicht doch Soldat und kein Scout hätte werden sollen.

»Ich wollte nur vorschlagen, dass wir uns was zu essen holen sollten.« Rynn packte sie an den Schultern und schob sie vor sich her den Gang entlang. »Zuzusehen, wie du angeschrien wirst, macht mich immer hungrig.«

Die Kantine im Annex unterschied sich kaum vom Rest des Gebäudes: Sie war schlicht, schmucklos, zweckmäßig. Wandler verbrachten den Großteil ihrer Zeit an der Oberfläche, weshalb buntes Wandschilfrohr und dekorative Seelilienkolonien es nie auf die Prioritätenliste des Korps schafften. Die Grundausstattung war natürlich vorhanden: bemooste Bankkorallen und hängende Netze, die von der Decke bis zum Boden reichten; Riffbetten voller riesiger Schwämme und Anemonen, die zum Ausruhen einluden. Und das Essen war immer gut. Das war etwas, woran das Korps nie sparte. Gutes Essen und ein eigener kleiner Schlafbereich, sobald man mit sechzehn das Training beendet hatte, das waren die beiden großen Vorteile, die das Leben im Annex mit sich brachte.

Als sie den großen Raum betraten, war der Ansturm aufs Abendessen bereits abgeklungen, wofür Mellie dankbar war. Nach der Standpauke beim Captain hatte sie keine Lust, noch weitere Fragen zu beantworten. Sie hatte auch nicht wirklich Appetit, aber es erschien ihr ein wenig gemein, Rynn allein essen zu lassen. Wie sich herausstellte, hätte sie sich darüber keine Sorgen machen müssen. Als sie sich ein Netz voller Schwertmuscheln geholt hatte und bei ihrem Stammplatz ankam, war da schon irgendein Mädchen und himmelte Rynn an.

Mellie stöhnte. Es war immer ein Mädchen da, das Rynn anhimmelte. Als Kind war er dünn und ungelenk gewesen, seine Arme und Flosse hatten zu groß für seinen Körper gewirkt. Doch sieben Jahre Scout-Training hatten ihm eine Figur verschafft, die Mädchen zweimal hingucken ließ. Dazu hatte er noch ›das Gesicht‹, wie einige der anderen Scouts es gern nannten – und eine auffallend selbstsichere Art, sich zu bewegen. Das Ergebnis war, dass er jede Woche eine andere hatte.

Dieses Mädchen war sehr attraktiv und mindestens ein paar Jahre älter, was wahrscheinlich der Grund war, warum Rynn so selbstzufrieden grinste.

»Scout.« Er nannte sie immer ›Scout‹, wenn andere Mädchen zugegen waren. Besonders, wenn es Blondinen mit buschiger Schwanzflosse und Schuppen in der Farbe von Feuer waren. »Sag hallo zu Treasure.«

Treasure? Mellie musste sich beherrschen, um ernst zu bleiben. Wo findet Rynn nur immer diese Mädchen?

»Hi«, grüßte sie und überlegte, ob sie diesem ekelhaften Schauspiel beiwohnen oder die beiden doch lieber allein lassen sollte. Treasures Blick legte ihr eindeutig nahe zu gehen. Er gehört mir, schienen ihre Augen geradezu zu schreien. Und das tat er heute Abend vermutlich auch, vielleicht sogar noch morgen. Danach allerdings … Nun ja. Rynn war nicht wirklich der Typ für Langzeitbeziehungen.

»Ich habe Treasure gerade von unserer knappen Kiste heute erzählt.« Wie immer fiel Rynn nicht auf, dass seine ›Freundinnen‹ in der Regel nicht gerade begeistert von Mellies Anwesenheit waren.

»War es aufregend?« Treasures Stimme war hoch und schrill wie eine Nadel im Kopf. »Ich bin noch nie lange genug an der Oberfläche geblieben, um den Sonnenuntergang zu sehen. Das muss echt spannend gewesen sein.«

»Ja, wir wären fast gestorben. Super Sache.« Mellie verdrehte die Augen. »Weißt du was«, sagte sie an Rynn gewandt, »ich denke, ich gehe besser schlafen.« Sie war nicht in der Stimmung für Smalltalk und hatte keine Lust, sich mit Treasures unverhohlener Abneigung auseinanderzusetzen.

»Was ist mit deinem Abendessen?«, fragte Rynn.

»Kannst du gern haben.« Sie warf ihm das Netz hin. Das Einzige, was Mellie jetzt wollte, war, sich in weiches Seegras sinken zu lassen und ihre Ruhe zu haben. Und da Rynn ihre Gesellschaft heute Abend offensichtlich nicht nötig hatte, musste sie auch nicht so tun, als wäre es anders.

»Hey …« Er griff nach ihrem Arm. »Wir sehen uns morgen früh, ja?« Was er eigentlich fragen wollte, war: Bist du sicher, dass alles okay ist?

Treasure starrte sie finster an.

»Ja, wir sehen uns morgen früh.« Mellie warf ihm ein Lächeln zu, das ihm zu verstehen gab: Ja, keine Sorge, alles okay. Bevor sie ging, fügte sie noch hinzu: »Komm nicht zu spät.« Nicht, weil er so oft zu spät kam, sondern nur, weil sie wusste, dass es Treasure ärgern würde.

Kapitel zwei

Verdammt«, fluchte Mellie, als sie sich in ihre Jeans zwängte. »Die fühlen sich kein Stück trockener an als gestern Abend.«

»Es muss letzte Nacht geregnet haben«, meinte Rynn und zog an seinen feuchten Kleidern. »Aber zu deinem Glück habe ich den Schlüssel zum Vorratsschuppen. Wir können uns neue Sachen holen.« Grinsend fischte er einen kleinen rostigen Schlüssel aus seinem Rucksack.

»Wie in Titans Namen bist du denn da drangekommen?«

»Treasure.« Sein Grinsen wurde breiter. »Sie ist als Läuferin für die Vorräte zuständig. Ich habe den Schlüssel stibitzt, als sie gerade nicht hingeschaut hat.«

»Du bist unglaublich.«

»Komm schon, Scout, gib zu, dass du beeindruckt bist.«

»Bin ich tatsächlich«, erwiderte Mellie. »Ich bin beeindruckt, dass du immer noch Mädchen findest, die überhaupt mit dir reden. Was wird Treasure sagen, wenn sie rausfindet, dass du sie nur benutzt hast, um an neue Klamotten ranzukommen?«

Rynn zuckte mit den Achseln und fuhr sich mit den Händen durch die Haare, so dass Wasser in alle Richtungen spritzte. »Es gibt keine Regel, die besagt, dass ich mit einem Mädchen nur auf eine Art Spaß haben kann.«

Bei den Göttern.

»Sehr nett, Rynn. Wirklich sehr nett. Und was genau passiert, wenn sie herausfindet, dass der Schlüssel weg ist?«

»Das wird sie nicht.« Seine Augen blitzten auf. »Bis nächste Woche sind keine Besorgungsgänge geplant, die Läufer bleiben also in der Stadt. Wir treffen uns heute Abend, dann schmuggele ich den Schlüssel wieder in ihre Tasche, bevor sie überhaupt gemerkt hat, dass er weg war.«

»Du …«, Mellie zeigte mit dem Finger auf ihn, »… bist ein furchtbarer Kerl.«

Rynn fing ihre Hand und schwang sie herum, so dass ihr Arm über ihrer Brust lag und sie mit dem Rücken an ihn gedrückt war. »Willst du dich weiter über mich aufregen?« Sein Atem kitzelte sie am Ohr. »Oder willst du mitkommen und dir trockene Klamotten besorgen?«

Mellie wand sich aus seinem Griff und grinste ihn an. »Es gibt keine Regel, die besagt, dass ich nicht beides tun kann.«

Der Vorratsschuppen befand sich oben bei der Landzunge, in einer Kluft zwischen zwei Felsen verborgen. Dieser Teil des Gebiets war an sich nicht verboten, doch er lag außerhalb ihrer vorgeschriebenen Route, was bedeutete, dass sie tierischen Ärger bekommen würden, wenn sie jemand entdeckte. Andererseits waren sie drauf und dran, unbefugt einen Vorratsschuppen zu plündern, insofern wäre das Verlassen ihrer Route noch ihr kleinstes Problem, sollten sie geschnappt werden.

»Hör auf, dir Sorgen zu machen, Mel.« Rynn legte im Gehen den Arm um sie. »Wir werden schon nicht erwischt.«

»Wer sagt denn, dass ich mir Sorgen mache?«

»Ich sage das. Du bekommst dann immer diese süße kleine Falte zwischen den Augen. Genau hier …«

»Halt die Klappe.« Sie schlug seine Hand weg. »Stimmt doch gar nicht.«

»Dann habe ich mir das wohl nur eingebildet. Willst du mir die Ehre erweisen, oder soll ich?« Er deutete auf den heruntergekommenen hölzernen Verschlag und wedelte mit dem Schlüssel vor ihrer Nase.

Mellie gab ihm einen Schubs. »Öffne einfach die verdammte Tür, Rynn.«

Drinnen war der Schuppen peinlich genau sortiert. Tiefe Regale bedeckten jede Wand, und darin fand sich alles, was ein Wandler je brauchen konnte. T-Shirts, Jeans, Taschen, Stiefel, alles ordentlich gefaltet und nach Größe und Farbe sortiert. Es gab Fächer mit Taschenmessern und Landkarten, Ersatzschutzanker und Sonnencreme. In den Kisten voller Perlen und Rohdiamanten, die von den Läufern verkauft wurden, fand sich sogar ein kleines Döschen mit Geldscheinen der Landbewohner.

Das Vorhandensein der Perlen konnte Mellie noch verstehen, immerhin dienten Perlen auch in Astria als Währung. In den reicheren Teilen der Stadt waren ganze Gebäude damit verziert – eine einfache, wenn auch etwas geschmacklose Art, seinen Reichtum zur Schau zu stellen.

Aber Rohdiamanten? Mellie starrte die Kiste voller unförmiger grauer Klumpen an. Warum um alles in der Welt sollte jemand für eine Handvoll Steine etwas bezahlen wollen? Doch die Läufer hatten schon vor langer Zeit herausgefunden, wie wertvoll diese hässlichen kleinen Steine an der Oberfläche waren, weshalb die Alchemisten ihre Tage nicht nur damit verbrachten, Astria mit wichtigen Metallen zu versorgen, sondern auch Stücke aus Ton und Glimmer zu transformieren.

»Siehst du, ich habe doch gewusst, dass sie hier drin alle möglichen guten Sachen haben.« Rynn verschwendete keine Zeit und entledigte sich seiner nassen Klamotten, ehe er sich ein neues Shirt und eine Jeans aus den Regalen angelte. Mellie zog ebenfalls ihre nassen Kleider aus und wollte aus Gewohnheit zu einem einfachen weißen T-Shirt greifen, wie sie es in den vergangenen Monaten immer getragen hatte. Doch dann änderte sie ihre Meinung und nahm stattdessen ein hellblaues aus dem Regal. Es war schön, zur Abwechslung mal die Wahl zu haben; normalerweise wurden ihnen die Kleidungsstücke zugeteilt, basierend auf Bedarf, Größe und darauf, was gerade übrig war.

»Wirf mir mal eine der Taschen da rüber«, forderte Rynn sie auf, sobald er angezogen war, und zeigte auf ein Regal hinter Mellie. »Ich bitte schon seit Wochen um eine neue, meine fällt bald auseinander.«

Es gab nicht viel, was die Alchemisten nicht aus den Pflanzen und Mineralien herstellen konnten, die sie im See fanden, doch die Gegenstände der Landbewohner zu fabrizieren überstieg selbst ihre Fähigkeiten. Kleidung, Taschen, Armbanduhren, Schuhe; diese Dinge konnten nur an der Oberfläche erworben werden. Unglücklicherweise hatte Salzwasser die unschöne Eigenschaft, alles zu zerstören, was an Land existierte. Besonders Taschen hielten nie länger als ein paar Monate. Doch eine neue zugeteilt zu bekommen war jedes Mal ein Kampf.

»Danke.« Rynn nahm die Tasche entgegen und reichte ihr im Gegenzug ein Paar Stiefel. Schwarzes Leder mit elastischen Einlassungen an beiden Seiten. »Die kannst du auch gleich mitnehmen, wenn wir schon hier sind. Sie hätten dir niemals Schnürstiefel geben dürfen.«

Mellie verzog das Gesicht.

»Mann, Scout, bitte sag mir nicht, dass du darum gebeten hast?«

»Ich mag sie eben.« Sie wussten beide, wie lächerlich das war. Wandler hatten aus gutem Grund Schuhe, die man leicht ausziehen konnte. Die Verwandlung zu vollziehen, wenn die Füße noch in Leder feststeckten, war extrem schmerzhaft und die schnellste Art, sich einen Knochen in der Schwanzflosse zu brechen. Stiefel zum Reinschlüpfen waren da viel praktischer.

Praktischer, aber auch hässlicher. Das hatte Mellie schon immer so gesehen.

Wie immer konnte Rynn ihre Gedanken lesen.

»Na schön. Dann behalte eben deine alten Stiefel.« Er schüttelte resigniert den Kopf. »Aber wenn du dir die Schwanzflosse brichst, kannst du nicht behaupten, ich hätte dich nicht gewarnt.« Er packte alles in seine neue Tasche und sauste aus der Hütte. Mellie schnappte sich ihre Sachen und folgte ihm, wobei sie die Tür hinter sich abschloss. Die praktischen Stiefel ließ sie im Regal zurück.

»Titan hilf, noch einer?«, fluchte Rynn und starrte den dritten demolierten Schutzanker an, den sie in den letzten drei Tagen ausgegraben hatten. »Das wird Jay gar nicht gefallen.«

»Mir gefällt es genauso wenig.« Mellie fuhr mit den Fingern über das zerstörte Knochenstück. Die Schutzanker hatten schon immer eine morbide Faszination auf sie ausgeübt, seit sie an ihrem ersten Ausbildungstag erfuhr, wie sie funktionierten und woraus sie gemacht waren. Natürlichen-Knochen, weniger als eine Stunde nach dem Tod aus der Leiche entnommen und verzaubert, so dass er seinen magischen Kern behielt. Als Anker bezeichneten es die Magier. Eine Art, den Tarnzauber vorzubereiten, so dass die Scouts ihn nur noch aktivieren mussten.

So sind wir dann in der Lage, einen derart mächtigen Zauberspruch anzuwenden, erinnerte sich Mellie an ihren ersten Gedanken. Sie hatte gewusst, dass sich ihre magischen Kräfte nicht weiterentwickeln würden, wenn sie zu einer Wandlerin wurde. Der Grund dafür war nicht bekannt, aber irgendetwas an der Verwandlung ließ die magische Entwicklung stagnieren. Deshalb gab es keine Wandler, die Magier, Heiler oder Alchemisten wurden. Deshalb hatte sie sich als Kind immer gefragt, wie die Scouts – mit ihren begrenzten Fähigkeiten – in der Lage waren, die Aufgaben zu erfüllen, die das Korps von ihnen verlangte.

Dennoch, zu wissen, wie sie funktionierten, machte die Schutzanker nicht weniger gruselig. Knochen aus Leichen zu entwenden und sie zu benutzen, um einen Zauberspruch zu verstärken? Das war ein bisschen viel für den Magen einer damals Zehnjährigen. Doch je mehr sich Mellie damit befasst hatte, desto eleganter erschien ihr das System. Wandler beschützten die Stadt, solange sie am Leben waren, Natürliche beschützten sie nach ihrem Tod. Ein perfektes Gleichgewicht. Jeder hatte seine Aufgabe.

Außerdem war es ja nicht so, dass sie mit blutigen Knochen in der Tasche herumliefen. Die Magier formten die Knochen und spitzten sie an, damit sie einfacher in der Erde vergraben werden konnten. Dann wurden sie noch poliert und lackiert, mit Magie präpariert und einer Inschrift versehen. Wenn die Magier mit ihnen fertig waren, sahen die Schutzanker eigentlich sogar sehr schön aus. Und gar nicht mehr gruselig.

Dieser Schutzanker wies die gleiche Beschädigung auf wie die anderen beiden, die sie gefunden hatten; Dutzende langer, gezackter Kratzer auf jeder Seite, so tief eingegraben, dass sie die Runen unleserlich machten, die in die Oberfläche graviert waren. Es bestand kein Zweifel, dass die Kratzer von einem Messer stammten. Kein Tier konnte so etwas tun.

»Hier.« Rynn reichte ihr einen Ersatzschutzanker. »Wir sollten schnell einen neuen aktivieren.«

»Ja«, stimmte Mellie zu und ging in die Hocke. Jede Sekunde, in der ein Schutzanker nicht funktionstüchtig war, bestand das Risiko, dass ein Landbewohner vorbeikam und den See entdeckte. So fragil war der Schutzzauber. Die Magier hatten über die Jahre immer wieder versucht, ihn zu verbessern, aber ein derart komplexer Zauber, der über ein so großes Gebiet verhängt wurde, hatte seine Grenzen. Ebenso wie alles Magische.

»Unsere Fähigkeiten sind ein Geschenk der Götter«, hatte ihre Zauberlehrerin immer gesagt. »Und die Götter hatten ihre Gründe dafür, nur einen Bruchteil ihrer Macht mit uns zu teilen.«

Am Ende ihres ersten Jahres beim Korps kannte Mellie diese Geschichte nur zu gut – die alte Schachtel erzählte sie ihnen bei jeder Gelegenheit. Als Pyson seine Geschöpfe ins Leben rief, wollte er sie zunächst mit all seiner Macht ausstatten – inklusive der Unsterblichkeit –, damit sie niemals befürchten mussten, dass die Landbewohner in ihre Welt vordringen würden. Aber seine Frau Nalastia hielt ihn davon ab; sie hatte dreizehn Höllen zu füllen und dachte nicht daran, ihr Recht auf die Seelen der Frevler aufzugeben. Der Streit, der daraufhin zwischen den zwei Göttern ausbrach, hätte sich um ein Haar in einen Krieg verwandelt, hätte ihre Tochter Amayati sie nicht schließlich zu einem Kompromiss überreden können – wie sie es oft schon getan hatte. Sie schlug vor, das Geschenk der Magie zu beschränken. Die Kraft zu heilen, ohne für immer leben zu können, Materie zu verwandeln, aber nur mit Hilfe eines Auslösers. Selbst die Fähigkeit, sich zu verwandeln, kam und ging mit der Sonne und bedeutete eine deutlich geringere Lebenserwartung.

Auch die Magie der Zaubersprüche war in vielerlei Hinsicht begrenzt, so wie die Götter es für angemessen hielten.

Das Korps brauchte Jahre, um herauszufinden, wie viele Schutzanker nötig waren, um den gesamten See zu verbergen, und in welcher Entfernung sie aufgestellt werden mussten. Siebenhundertsechsundfünfzig war die genaue Anzahl, die sie ermittelten, nicht mehr und nicht weniger. War ein Schutzanker beschädigt, erlosch der Schutzzauber.

Es war eine mühsame, schwerfällige Art der Magie, was Nalastia beim Aushandeln der Bedingungen für den Kompromiss vermutlich im Sinn gehabt hatte. Wir sollten es ihnen nicht zu leicht machen, stellte Mellie sich die Worte der Göttin vor. Immerhin würde sie jede Menge neuer Seelen bekommen, die sie quälen konnte, falls die Landbewohner Astria entdeckten.

Mellie hielt den Schutzanker am ausgestreckten Arm vor sich und schloss die Augen, um ihre magischen Kräfte zu sammeln. Sie stellte sich jede Rune in der richtigen Reihenfolge vor: Widerstandskraft, Schutz, Verborgenheit, Stärke. Dann sprach sie den Aktivierungszauber. In ihrem Nacken bildeten sich Schweißperlen. Unter Wasser war die Magie etwas Fließendes, Warmes, Elektrisierendes. Doch an Land damit zu arbeiten war so, als würde man einen Schwarm Hornhechte aus seiner Koje vertreiben müssen. Es kostete sie viel Kraft und ließ sie erschöpft zurück. Mellie hatte ihre Zauberlehrerin gefragt, warum das so war, doch als Natürliche konnte sie ihr keine Antwort darauf geben.

»Alles ist an Land schwieriger«, war die einzige Erklärung, die die Lehrerin für sie hatte. Mellie hatte die Frage nie wieder gestellt. Glücklicherweise brauchte man nicht viel Magie, um einen Schutzanker zu aktivieren, nur einen kontrollierten Energieschub, den selbst ein Wandler an Land aufbringen konnte.

Die Elektrizität, die ihr durch die Adern rauschte, baute sich immer weiter auf und entzündete jede Zelle ihres Körpers, bis Mellie spürte, wie die Magie einsetzte.

»Acht Minuten und zweiundfünfzig Sekunden«, teilte Rynn ihr mit, sobald sie die Augen wieder aufschlug. »Du wirst immer besser, Scout.«

»Das muss daran liegen, dass ich in letzter Zeit so viel üben kann.« Mellie schüttelte sich aus der Trance und kämpfte gegen die Übelkeit an, die sie nach der Anwendung ihrer Magie immer überkam. »Warte mal, du hast die Zeit gestoppt?«

»Ich wollte nur sichergehen, dass die Vorgaben eingehalten werden«, entgegnete Rynn grinsend.

»Wie wäre es, wenn du dich stattdessen nützlich machst?« Sie warf ihm den Schutzanker zu, damit er ihn vergraben konnte.

Mit einem Mal war sein Lächeln verschwunden. »Es passiert wieder, nicht wahr?«

»Das wissen wir nicht.« Mellie lehnte sich an einen Baumstamm, um zu Atem zu kommen. »Es muss nichts zu bedeuten haben – vielleicht ist es nur ein dummer Streich oder eine Übung.«

»Komm schon, Mel, das glaubst du doch nicht wirklich.«

Da hatte er recht. Genau so hatte es beim letzten Mal auch angefangen. Erst waren Schutzanker beschädigt worden. Dann verschwanden immer mehr Wandler. Schließlich griffen die Landbewohner an. Drei ganze Tage lang wurde Astria komplett abgeriegelt, während die Soldaten an Land kämpften. Und während dieser drei Tage verloren sie zwei gesamte Einheiten. Vierundzwanzig Wandler wurden von den Landbewohnern gefangen und getötet.

Krieg. Mellie erschauderte unwillkürlich bei dem Gedanken. Das Wort war im Annex verpönt, zu belastet mit schlechten Erinnerungen, als dass man es laut aussprechen sollte. Aber wenn doch darüber gesprochen wurde, dann nannten sie ihn den Ersten Krieg, denn Soldaten waren alles andere als Idealisten, und jeder wusste, dass irgendwann ein weiterer kommen würde. Während die Mehrheit der Landbewohner glücklicherweise nichts von ihrer Existenz ahnte, gab es doch genügend – zu viele, um genau zu sein –, die von ihrem Volk wussten und es auslöschen oder, noch schlimmer, an ihrer Art experimentieren wollten. Und alles, was es brauchte, war eine Sichtung, ein unvorsichtiges Wort oder ein Gerücht, das die Bedrohung durch die Landbewohner wieder zurück an ihre Ufer brachte.

Ohne den Schutzzauber wäre Astria möglicherweise schon während des ersten Angriffs gefallen, als die Landbewohner die Stadt trotz der Magie ausfindig gemacht hatten. Stattdessen hatten die Schutzanker dem Korps genug Zeit verschafft, um die Truppen zusammenzurufen und den Gegner an Land zurückzudrängen. In den darauffolgenden Jahren hatten sie eine ganze neue Generation von Landbewohnern davon abgehalten, den See zu entdecken und es abermals zu versuchen.

Bis jetzt.

»Es ist wahrscheinlich nichts«, meinte Mellie, weil sie den Gedanken nicht zulassen wollte. Vor dem Ersten Krieg hatte es Dutzende beschädigter Schutzanker gegeben. Bisher hatten sie nur drei gefunden. Nicht genügend, um das Schlimmste zu befürchten. Noch nicht, jedenfalls.

Die restliche Woche verging wie im Flug, weil sie so beschäftigt waren. Der Captain ließ seine Drohung wahr werden und sie jeden Tag ihr gesamtes Gebiet kontrollieren, was bedeutete, dass sie zu sonst nichts kamen. Zwölf Schutzanker in einem Gebiet von fünfundzwanzig Quadratkilometern; das war ermüdend.

Aber auch notwendig.

Sie entdeckten einen vierten defekten Schutzanker, und das waren nicht die einzigen. Bis zum Ende der Woche waren zwei weitere Scout-Teams mit der Nachricht zurückgekommen, dass Schutzanker beschädigt worden waren – und zwar auf die gleiche Weise. Jemand oder etwas hackte auf sie ein, bis die Magie erloschen war.

Im Annex machten Gerüchte die Runde, dass es sich um eine Wiederholung des Vorfalls von vor ein paar Jahren handelte, als mehrere qualvolle Wochen lang immer wieder Schutzanker aus dem Bereich einer Patrouille verlorengingen. Nicht nur einer oder zwei, sondern unzählige Schutzanker verschwanden spurlos. Verständlicherweise lagen dadurch bei allen die Nerven blank. Dem Scout-Team wurde zum Schutz ein Soldat zugeteilt, und die Scouts wurden angewiesen, die Schutzanker in ihrem Gebiet neu zu platzieren. Jeder einzelne Schutzanker wurde umgesetzt, und dennoch verschwanden sie weiter. Tag für Tag.

Die Soldaten brauchten einen ganzen Monat, um den Schuldigen zu finden, bei dem es sich zum allgemeinen Verdruss nur um einen extrem neugierigen Waschbären handelte. Das Tier hatte offenbar einen Narren an diesen beiden Scouts gefressen und war ihnen den ganzen Tag gefolgt. Die Schutzanker buddelte der Waschbär aus, sobald sie zum nächsten weitergegangen waren.

Jetzt hofften alle, dass es sich ebenfalls wieder bloß um einen »Problemwaschbären« handelte. Mellie hätte das auch gern geglaubt, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass Waschbären selten Messer verwendeten.

In Wahrheit fühlte sich nichts an dieser neuen Serie beschädigter Schutzanker nach einem blöden Zufall oder Unfall an. Irgendjemand an der Oberfläche arbeitete gezielt daran, die Stadt zu enthüllen, und da am nächsten Tag die Landprüfung anstand, kam das denkbar ungelegen.

Ach ja, die Landprüfung. Eine passende Art, eine ätzende Woche zu beenden.

Kein Wandler freute sich wirklich über den Dienst bei der Landprüfung. Es war todlangweilig und ziemlich deprimierend, außerdem verlor man seinen freien Tag, was bedeutete, dass man zwei Wochen durchgängig im Dienst war. Die Zuteilung basierte normalerweise auf einem rotierenden Plan. Zwei Jahre frei, ein Jahr Dienst.

Außer man missachtete die Ausgangssperre und wurde bestraft.

Sie und Rynn hatten bereits das Pech gehabt, in ihrem ersten Jahr an der Oberfläche Dienst bei der Landprüfung schieben zu müssen, also würde das ihr zweiter Sonntag sein, den sie damit verschwendeten, den Wald und einen Haufen verängstigter Kinder zu hüten. Nicht wirklich erfreuliche Aussichten. Zumindest nicht, bis der Captain verkündet hatte, dass Prinzessin Kira, die scheue einzige Tochter Titans, auch an der Landprüfung teilnehmen würde.

Das ergab natürlich Sinn. Die Prinzessin war im richtigen Alter, und laut Gesetz war sie verpflichtet, den Test wie jedes andere Kind in Astria zu absolvieren. Nur, dass die Prinzessin nicht wie jedes andere Kind war. Seit ihrer Geburt war Kira bei jeder Regel die Ausnahme gewesen. Während die Kinder von Wandlern und Natürlichen alle gemeinsam zur Schule gingen (eine subtile Erinnerung daran, dass ab dem Tag der Landprüfung der Status ohnehin nicht mehr viel ausmachte), hatte Kira das alte Schulgebäude nicht einmal von innen gesehen. Sie hatte ihre eigenen Privatlehrer, ihre eigenen Wachleute. Ihr wurde jeder Wunsch von den Augen abgelesen, das stand außer Frage. Die Vorzüge eines Lebens als Prinzessin.

Es war kaum überraschend, dass der Prinzessin eine solche Sonderbehandlung zukam. Mehr als die Hälfte seiner Regentschaft war für den Titan weit und breit kein Erbe in Sicht gewesen. Seine erste Frau und zwei Wandler-Kinder waren längst gestorben, er näherte sich seinem Lebensende, und während der fünf Jahrzehnte dauernden Ehe mit seiner zweiten Frau hatte sie ihm kein Kind geschenkt. Erst als der Titan zum dritten Mal heiratete, bekam er endlich die Erbin, die er sich so dringend wünschte. Und brauchte.

Er hatte fast zweihundert Jahre damit verbracht, Astria zu der aufstrebenden Metropole zu machen, die sie heute war. Zuvor hatte die Stadt kurz vor dem Kollaps gestanden. Mellie nahm an, dass der Titan mit der Rettung Astrias die Sünden seines Vaters wiedergutmachen wollte; der sich mehr für Reichtum und Frauen als für das Wohlergehen seines Volkes interessiert hatte. Glücklicherweise war die Herrschaft Dendaric Samphires so kurz wie desaströs gewesen. Was seinem Sohn Arion an Lebenserfahrung fehlte, als er noch sehr jung den Thron bestieg, machte er mit seinem großen Ehrgeiz wett.

Ohne einen Erben, der nach seinem Tod den Thron übernahm, hätte Astria erneut im Chaos versinken können. Die Herrschaft über die Stadt würde rein theoretisch dem Rat zufallen, doch mindestens ein Dutzend prominenter Familien Natürlicher würden nicht zögern, die Macht an sich zu reißen, wenn sie die Chance dazu bekämen. Und nur sehr wenigen lag mehr an Astrias Zukunft als an ihrem persönlichen Vorteil. Innerhalb eines Herzschlags konnten der gesamte Fortschritt und die harte Arbeit des Titans wieder zunichtegemacht werden.

Deshalb war es wenig verwunderlich, wie vorsichtig der Titan mit Kira umging. Mellie hatte nie wirklich damit gerechnet, dass er sie zur Landprüfung schicken würde, doch offensichtlich wollte Arion Samphire mit gutem Beispiel vorangehen. Falls Prinzessin Kira eine Wandlerin war, würde sie ihren Titel abgeben und dem Korps beitreten.

Kapitel drei

Herkunft spielte keine Rolle bei der Frage, ob man ein Wandler wurde. Mellie erinnerte sich noch gut daran, wie sie das in der Schule gelernt hatte. Ihre Lehrer erklärten ihnen nie genau, warum das so war, sie sagten ihnen nur, dass es nicht vererbbar sei. Zwei Natürliche konnten genauso gut ein Wandler-Kind bekommen wie zwei Wandler ein natürliches. Der einfachste Weg, es sicher herauszufinden, war, das Kind aufs Trockene zu werfen und zu sehen, was passierte.

Also wurden einmal im Jahr alle Kinder in Astria, die das zehnte Lebensjahr erreicht hatten, zu einer »Landprüfung« an die Oberfläche gebracht. Für die Kinder war es der wichtigste Tag ihres Lebens, für die Scouts hingegen ein einziger logistischer Albtraum. Hundert verängstigte Kinder, die alle auf einmal aus dem Wasser auftauchten und dabei redeten und weinten, manchmal sogar schrien, so dass ihre Stimmen die Stille des Tals zerrissen. Selbst wenn die Schutzanker intakt waren, stellte es ein Risiko dar. Die Landbewohner konnten den See vielleicht nicht sehen, doch eine Gruppe nasser, halbnackter Kinder, die mitten im Winter im Wald herumliefen, war schwer zu erklären. Aus diesem Grund saßen Mellie und Rynn jetzt in den Ästen eines Baumes in Ufernähe und suchten den Wald nach Anzeichen für Leben ab. Ihnen war dieses Mal die Aufgabe der Späher zugefallen; sie mussten sichergehen, dass kein Landbewohner sich näherte und die geheime Welt entdeckte, die tief unter ihrer eigenen existierte.