Studienausgabe in 4 Bänden - Karl Marx - E-Book

Studienausgabe in 4 Bänden E-Book

Karl Marx

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die vielbändigen Werkausgaben, in denen die Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels bisher publiziert wurden, belegen die beispiellose Produktivität der Begründer des Historischen Materialismus. Zahlreiche philosophische, ökonomische, historische und politische Analysen, teilweise breit angelegt und von großem Detailreichtum, machen es auch dem wissenschaftlich geschulten Leser nicht leicht, die dahinter liegenden gedanklichen Entwürfe zu verstehen und in ihrer Entfaltung nachzuvollziehen. Die Studienausgabe in vier Bänden bietet demgegenüber einen Extrakt: Zentrale theoretische Texte sowie eine Auswahl von politischen Artikeln vermitteln die wesentlichen Züge des Marxschen Denkens; Streichungen und Zusätze in den Manuskripten sind in den Anmerkungen aufgeführt und bieten Einblicke in die intellektuelle Arbeit der Autoren. Der vorliegende Band I enthält wichtige philosophische Schriften, die vor allem die Auseinandersetzung von Marx mit Hegel und Feuerbach dokumentieren. Im Zuge dieser Kritik entstanden die zentralen Begriffe des Marxismus: Entfremdung, Basis und Überbau, Produktionsverhältnisse. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 452

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Karl Marx | Friedrich Engels

Studienausgabe in 4 Bänden

Band I: Philosophie

Herausgegeben von Iring Fetscher

FISCHER E-Books

Inhalt

Die vielbändigen Werkausgaben, in [...]VorwortEinleitungKarl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, EinleitungKarl Marx, Zur Judenfrage1. Bruno Bauer: Die Judenfrage. Braunschweig 18432. Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden. Von Bruno Bauer. (Einundzwanzig Bogen pag. 56–71.)Karl Marx, [Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt]Karl Marx/Friedrich Engels, Feuerbach. Gegensatz von materialistischer und idealistischer Anschauung (Einleitung)Vorrede1 Feuerbach Gegensatz von materialistischer und idealistischer Anschauung [Einleitung] [Einleitung]Karl Marx, [Thesen über Feuerbach]1. Ad Feuerbach1234567891011Friedrich Engels, [Redigierte Thesen von Karl Marx über Feuerbach]1234567891011Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur WissenschaftIIIIIIFriedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie[Vorbemerkung]IIIIIIIVFriedrich Engels, [Briefe über materialistische Geschichtsinterpretation]212. Engels an P. Ernst213. Engels an C. Schmidt214. Engels an J. Bloch215. Engels an C. Schmidt221. Engels an C. Schmidt232. Engels an F. Mehring234. Engels an H. StarkenburgAnmerkungenLiteraturverzeichnisI. Sammlungen der Werke von Karl Marx und Friedrich EngelsII. Bibliographien und BiographienIII. Übersichten zur Geschichte des MarxismusIV. Arbeiten über Marx und Engels, insbesondere ihre philosophie1. Bibliographische Übersichten und Sammelrezensionen2. Arbeiten zu Einzelaspekten des Marxschen und Engelsschen DenkensQuellenverzeichnis

Die vielbändigen Werkausgaben, in denen die Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels bisher publiziert wurden, belegen die beispiellose Produktivität der Begründer des Historischen Materialismus. Zahlreiche philosophische, ökonomische, historische und politische Analysen, teilweise breit angelegt und von großem Detailreichtum, machen es auch dem wissenschaftlich geschulten Leser nicht leicht, die dahinter liegenden gedanklichen Entwürfe zu verstehen und in ihrer Entfaltung nachzuvollziehen. Die vorliegende Studienausgabe in vier Bänden bietet demgegenüber einen Extrakt: Zentrale theoretische Texte sowie eine Auswahl von politischen Artikeln vermitteln die wesentlichen Züge des Marxschen Denkens; Streichungen und Zusätze in den Manuskripten sind in den Anmerkungen aufgeführt und bieten Einblicke in die intellektuelle Arbeit der Autoren. Dem weiteren Studium dienen aktualisierte Literaturangaben.

Die berühmten Thesen über Feuerbach werden in der originalen Fassung sowie in der von Engels redigierten Fassung wiedergegeben. Engels’ vielgelesene Schrift Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft vermittelt die Grundideen des Historischen Materialismus in leichtfaßlicher, populärer Form. – Einige Aspekte des auf Marx sich berufenden Staatssozialismus sowie der westlichen Marx-Rezeption erläutert der Herausgeber in seinem Vorwort zur Neuausgabe.

Vorwort

Sind die Arbeiten von Marx und Engels überhaupt noch interessant, nachdem die Gesellschaften, die sich auf sie beriefen, in eine so tiefe Krise geraten sind, so daß von manchen nur noch die Restauration einer kapitalistischen Wirtschaft als »Rettung« angesehen wird? Die Frage wird heute nicht nur im Westen, sondern auch in Budapest und Warschau, Moskau und Riga, Peking und Ost-Berlin gestellt. Sie ist aber nur dann plausibel, wenn zu Recht unterstellt werden könnte, daß die bürokratische Staatswirtschaft mit einem zentralistischen Planungssystem ohne effektive Mitbestimmung durch die Bürger dem von Marx und Engels erwarteten sozialistischen Gemeinwesen entspricht. Daß das nicht der Fall ist, haben zwar seit Jahrzehnten oppositionelle Marxisten – Trotzkisten und demokratische Marxisten – immer wieder betont, aber gegenüber dem Lärm der selbstanpreisenden Propaganda der sowjetischen, chinesischen und ostdeutschen Parteimarxisten konnten sich diese Stimmen kaum Gehör verschaffen. Auf der anderen Seite kann kaum bezweifelt werden, daß zwar nicht die Intentionen, wohl aber theoretische Schwächen und Versäumnisse von Marx und Engels die Entwicklung eines autoritären Staatssozialismus mit ermöglicht haben. Ausgehend von der Annahme, daß der Sozialismus in Ländern zunächst siegen werde, die bereits eine bürgerliche Revolution oder doch bürgerlichdemokratische Institutionen kennen, und in der Annahme, daß mit der Abschaffung des großen Privateigentums an den Produktionsmitteln partikulare Sonderinteressen in der Gesellschaft verschwinden, hielten weder Marx noch Engels einen Parteienpluralismus und Gewaltenteilung als Sicherung für die Freiheit der Einzelnen mehr für notwendig.

Die manifeste Schwäche der Theorien von Marx und Engels liegt bei ihren unzulänglichen Andeutungen über die politische Gestalt der »freien Assoziation der Produzenten«. Wie bei vielen kritischen Theoretikern liegt ihre Stärke bei dem, was sie und wie sie kritisieren, nicht bei dem, was sie an die Stelle des Kritisierten setzen wollten. Aus diesem Grunde bleiben die Werke von Marx und Engels weiterhin relevant, auch wenn sich die Gesellschaft, die sie seinerzeit kritisiert haben, erheblich verändert hat. Die heutigen kapitalistischen Staaten der nördlichen Halbkugel unterscheiden sich vor allem durch wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen von den Ländern, die Marx und Engels im Auge hatten. Anfänge des Wohlfahrtsstaates, oder doch des Staates, der zugunsten der arbeitenden Mehrheit der Bevölkerung ins Wirtschaftsleben interveniert, hat auch Marx schon registriert. Die Beschränkung der gesetzlichen Arbeitszeit – zunächst für Frauen und Kinder, aber damit de facto auch für erwachsene Männer, die in den Fabriken auf die Kooperation von Frauen und Kindern angewiesen waren – hat Marx sogar schon als Sieg der »Ökonomie der Arbeiterklasse« über die der Bourgeoisie bezeichnet. So weitgehende Absicherungen gegen wirtschaftliche Notfälle, wie sie heute die skandinavischen Länder z.B. kennen, waren Marx aber kaum vorstellbar. Die von Marx und Engels unterstellte Abhängigkeit des Staatsapparates von der »ökonomisch herrschenden Klasse« erwies sich als längst nicht so total, wie sie angenommen hatten. Mit der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts war zumindest ein starker Druck auf die Gesetzgebung wie die Regierung verbunden, Maßnahmen zugunsten der ärmeren Bevölkerungsmehrheit zu ergreifen. Schließlich hat aber auch die Furcht der ökonomisch privilegierten Minderheit vor einer »sozialistischen (oder bolschewistischen) Revolution« erheblich zur Bereitschaft beigetragen, sozialstaatliche Maßnahmen hinzunehmen. Auch die Existenz der Sowjetunion und ihre anfänglichen planwirtschaftlichen Erfolge (deren menschliche Kosten aus der Ferne nicht immer deutlich gesehen wurden) haben die Reformbereitschaft kapitalistischer Eliten im Westen gefördert.

In den »real existierenden sozialistischen Ländern« wurde zwar die »offizielle« marxistisch-leninistische Theorie mit erheblichen Mitteln verbreitet; aber ihre dogmatische Fixierung – spätestens seit Stalins Alleinherrschaft – und die Indoktrinierung auf allen Ebenen der Schulung hat diese Theorie zu weitgehender Sterilität verdammt. Nur auf Grenzgebieten, die nicht durch »Klassikertexte« blockiert waren, konnte sich selbständiges kritisches Denken noch entfalten.

Georgi Plechanow, der philosophische »Lehrer« Lenins, hat als erster davon gesprochen, daß der Marxismus »eine vollständige Weltanschauung« sei. Friedrich Engels’ Anti-Dühring (1878) hat dieser Entwicklung Vorschub geleistet. Darüber hinaus wurde von der sowjetischen Marxorthodoxie der frühe Marx – bis hin zur Deutschen Ideologie von 1846 – als »noch nicht marxistischer Denker« aus dem Kanon der »klassischen« Schriften ausgeschlossen.

Im Unterschied dazu hat vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen in erster Linie gerade der frühe Marx Beachtung gefunden. Auch wenn es zutrifft, daß die Kritik der politischen Ökonomie (die Marx in mehrfachen Anläufen in Angriff nahm) erst seit 1859 von Marx voll entfaltet wurde, kann doch seine Grundintention und der Sinn seiner kritischen Theorie angemessen nur erfaßt werden, wenn man von den Frühwerken ausgeht. Es scheint mir daher weder richtig, wenn der frühe gegen den »reifen« Marx ausgespielt wird, wie das manche westliche Autoren getan haben, noch umgekehrt, wenn der frühe Marx als »unreif und idealistisch« abgewertet wird, wie das bis vor kurzem unter Sowjetmarxisten üblich war. Die Veröffentlichung von zwei umfangreichen Vorarbeiten zum Kapital – die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie von 1857/58 und die Manuskripte von 1861/63 – haben im übrigen gezeigt, daß zwischen dem philosophischen Text von 1844 (den Pariser Manuskripten) und dem Kapital kein unüberbrückbarer Gegensatz besteht. Kategorien wie »Entfremdung« und »Verdinglichung« spielen in allen diesen Texten eine zentrale, seinerzeit auch vom sozialdemokratischen Parteimarxismus unterschätzte Rolle.

Marx versteht seine kritische Theorie und die Emanzipationsbewegung der Arbeiterklasse, der diese Theorie dienen will, als eine überbietende Fortsetzung der bürgerlichen Emanzipationsbewegung, wie sie vor allem in Frankreich und England seit dem 17. und 18. Jahrhundert stattgefunden hat. Diesen Charakter der überbietenden Fortsetzung haben die meisten Parteimarxisten gegenüber der Konfrontation von Proletariat und Bourgeoisie im Klassenkampf meist übersehen. Sämtliche Polemiken von Marx gegen das Bürgertum und seinen Staat sind zugleich auch als Aufweis eines Widerspruchs zwischen Anspruch und Realität gemeint. Nicht die Demokratie ist schlecht, sondern die Scheinhaftigkeit demokratischer Verhältnisse, nicht die Freiheit, die der Liberalismus predigt, sondern die Unfreiheit, die von ihm gerechtfertigte ungleiche Machtverhältnisse zur Folge haben. Den Höhepunkt seiner politischen Kritik am Bürgertum erreicht Marx mit seiner Analyse des bürokratischen Regimes Napoleons III. Mit der Errichtung des Zweiten Kaiserreiches dankt das französische Bürgertum politisch ab, um seine ökonomischen Interessen durch eine bürokratisch-militaristische Diktatur schützen zu lassen. Damit übernimmt – so die Vorstellung von Marx – das Proletariat die Aufgabe, den verselbständigten Staatsapparat erneut der demokratisch organisierten Gesellschaft zu unterwerfen. Wenn man heute – nach den Erfahrungen der stalinistischen Sowjetunion – diese Texte wieder liest, staunt man über das Ausmaß der Ähnlichkeit zwischen den von Marx damals beschriebenen und kritisierten Zuständen mit denjenigen der sowjetischen Parteidiktatur.

Die eindeutig humanistischen Intentionen des frühen Marx und seine unmißverständliche Verurteilung von Bürokratie und Militarismus haben eine Zeitlang auch oppositionellen Kreisen in den »real existierenden sozialistischen Ländern« Argumente und Zitate geliefert, um den sowjetischen bürokratischen Staatssozialismus zu kritisieren. Diese Kritik war aber nur so lange sinnvoll und wirksam, wie die Angehörigen der herrschenden Nomenklatura-Schicht selbst noch an Marx »glaubten«. Inzwischen war aber die Führungselite – bis auf wenige Ausnahmen – zynisch geworden. Ein junger polnischer Philosoph schrieb mir vor vielen Jahren: In unserem Lande »glaubt« niemand mehr an Marx und den Marxismus. Die Führung verhält sich zynisch-nihilistisch zur Ideologie, und die Bevölkerung identifiziert Marxismus mit Unterdrückung, ökonomischer Not, Ausbeutung und sozialen Gegensätzen. Nur eine kleine kritische Minderheit von Dissidenten versuche noch mit Hilfe des »ganzen Marx« die Verhältnisse zu interpretieren, zu kritisieren und zu verändern. Inzwischen dürfte auch diese kleine Gruppe resigniert haben. Die Diskreditierung von Sozialismus und Marxismus durch die Parteiführung ist in allen »real existierenden sozialistischen Ländern« so weit fortgeschritten, daß sich niemand mehr auf Marx berufen kann.

Trotz allem kann niemand die Gegenwart angemessen verstehen, der nicht die wesentlichen kritischen Gedanken von Marx zur Kenntnis genommen hat. Wie die Dogmatik seiner Anhänger (und seine eigne Intransigenz Schülern gegenüber, die eigne Gedanken entwickelten) der Psychoanalyse von Sigmund Freud geschadet hat, so hat der Parteidogmatismus der Kommunistischen Parteien dem Ansehen der Marxschen Kritik geschadet.

Friedrich Engels stand stets im Schatten seines bedeutenderen Freundes. In seltener Freundschaft hat er seine letzten Lebensjahre ganz der Redaktion des nachgelassenen Textes von Band II und III des Kapital gewidmet. Nach seinem Austritt aus der Firma »Ermen and Engels« in Manchester hat er von seinem Vermögen Marx eine Rente ausgesetzt, die diesem ein durchaus bürgerliches Leben ermöglichte. Schon in den Jahren zuvor hat Engels immer wieder mit Geldbeträgen ausgeholfen und eine Zeitlang auch englische Artikel für den Freund geschrieben oder überarbeitet. Gewiß konnte sich Engels an Schärfe des kritischen Verstandes und Geschmeidigkeit dialektischer Bewältigung komplexer Realität nicht mit dem Freunde messen, aber dafür hat er auf allen Gebieten, denen sich Marx zuwandte, pädagogisch geschickte und stilistisch schwungvolle Einführungen verfaßt, deren Lektüre den Zugang zur Marxschen Kritik erleichtern kann, auch wenn sie nicht immer die Tiefe von dessen Argumentation erreicht. Die Tatsache, daß Engels durch seinen Anti-Dühring den Weg zur Etablierung des Marxismus als »Weltanschauung« geebnet hat, darf nicht den Blick für seine durchaus vorhandenen theoretischen Verdienste trüben. Die kleine Schrift Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie gibt ein weithin zutreffendes Bild der intellektuellen Entwicklung der Linkshegelianer und der beiden Sozialisten Marx und Engels. Vor allem aber hat Engels dem Studium der politischen Ökonomie von Marx durch seine Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie (1843) einen entscheidenden Anstoß gegeben. Auch wenn Engels später die Kritik der politischen Ökonomie ganz dem Freunde überließ, hat er doch auf anderen Gebieten – namentlich der Militärwissenschaft, der Geschichte und der politischen Analyse – wichtige Beiträge geliefert, die der Vergessenheit entrissen zu werden verdienen. Engels’ Analysen über Gewalt und Ökonomie bei der Herstellung des neuen deutschen Reiches (1887/88), seine Schriften Po und Rhein und andere Arbeiten können sich neben den historischen Studien von Marx durchaus sehen lassen. Sie werden daher auch in Band III und IV dieser Studienausgabe ausführlich berücksichtigt. Vor allem stellt sich bei Lektüre der späteren Arbeiten, Briefe und Notizen von Engels heraus, daß er weit gründlicher und sympathetischer als der Stubengelehrte Marx in Geist und Wesen einer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft angelsächsischen Typs eingedrungen ist und daß er immer deutlicher und schmerzlicher den Abstand spürte, den die deutsche politische Kultur – einschließlich der Bebelschen Sozialdemokratie – von der angelsächsischen trennte. So war es denn auch kein Zufall, daß der von Engels hoch geschätzte (und über Kautsky gestellte) Reformist Eduard Bernstein sich auf eine Anzahl von Äußerungen Engels’ berufen konnte. Spätere Kritiker der Parteibürokratie sind ihm dabei gefolgt.

 

Während der zwölf Jahre der Naziherrschaft wurde die kritische Theorie von Marx in Deutschland ohne jede inhaltliche Auseinandersetzung als »Ausdruck zersetzenden jüdischen Denkens« bekämpft. Der sogenannte »Sozialismus« der Nazis predigte Klassenharmonie und Disziplinierung der Arbeiterklasse, deren Verteidigungsmittel – Gewerkschaften und Parteien – unterdrückt und aufgelöst wurden. Ideologen des »Dritten Reiches«, die über diese pauschale Verurteilung hinauszugehen suchten, taten die kritische Theorie von Marx als »Ausdruck des 19. Jahrhunderts« ab (so Hans Freyer und Carl Schmitt). Diese totale Diskreditierung der marxistischen Theorie wurde als »Erblast« der Vergangenheit auch in das Nachkriegsdeutschland der westlichen Besatzungszonen übernommen. Erstaunlich war es freilich, daß die Möglichkeit einer »Entlastung« von der ungeheuren Schuld an der massenhaften Vernichtung von Angehörigen des jüdischen Volkes und anderer Personengruppen mit Hilfe der marxistischen Faschismustheorie nicht ergriffen wurde. Wenn nämlich der Faschismus eine für den Spätkapitalismus »typische« Entartungsform der politischen Organisation wäre – wie das der Marxismus sowjetischen Typs behauptet hat –, dann würde das deutsche Volk aus seiner Außenseiterlage herausgenommen und allenfalls noch als Exponent des »Radikalfaschismus« eine Sonderstellung einnehmen. Die Nachwirkungen des Nazismus haben vermutlich diesen Mißbrauch der verkürzten Faschismustheorie zur Selbstentlastung verhindert.

Zu einer erneuten Rezeption und positiven Anknüpfung an die kritische Theorie von Marx und Engels kam es erst im Zuge des Aufstands der jüngeren Generation, namentlich der Studenten in den sechziger und siebziger Jahren. Hierfür war die Einsicht, daß der Stalinismus nicht mit dem Marxismus identisch ist, ebenso wichtig wie eine Kombination der Marxschen Kritik mit Einsichten der Psychoanalyse, die namentlich Wilhelm Reich, Herbert Marcuse, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schon vor 1933 inauguriert hatten. Der undogmatische, zum Teil auch mit anarchistischen Gedanken vermengte Marxismus der studentischen Bewegung grenzte sich ebenso vom Sowjetmarxismus wie vom reformistischen »Sozialdemokratismus« ab und orientierte sich daher zum Teil an Gedanken, wie sie vom frühen Lukács und von Ernst Bloch formuliert wurden. Im Mittelpunkt dieser Marxrezeption stand die Forderung nach Emanzipation, die weder die bürgerlich-liberale Demokratie noch der Sowjetmarxismus verwirklicht hatte.

Zumal im Inneren der bundesdeutschen Gesellschaft sich kaum Ansatzpunkte für eine breite revolutionär-emanzipatorische Bewegung finden ließen und sich die Arbeiterbevölkerung mehrheitlich dem Anschluß an die studentische und »Jugend«-Bewegung versagte, spielte der Bezug auf die »Dritte Welt« und die nationalen und sozialen Befreiungsbewegungen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas eine zentrale Rolle. Dabei wurden Imperialismustheorien von Rosa Luxemburg und Lenin und neuere Theorien wie die von Che Guevara und Frantz Fanon – zum Teil recht unkritisch – rezipiert. Ausgesprochene Verirrungen – auch vom Standpunkt einer von Marx her kommenden kritischen Theorie – waren in diesem Zusammenhang sowohl die Verkennung des arabischen und islamischen Antijudaismus als auch die Übertragung des Konzepts des »bewaffneten Kampfes«, der in reaktionären Diktaturen der »Dritten Welt« einigen Sinn haben kann, auf die liberaldemokratische Bundesrepublik. Zur Legitimierung dieser Übertragung wurde behauptet, daß die Bundesrepublik nur oberflächlich freiheitlich-rechtsstaatlich und demokratisch sei, während im Grunde die alten »faschistischen Strukturen« weiterhin den Ausschlag gäben. Am abenteuerlichsten war die von Horst Mahler entworfene »Theorie«, man müsse durch entsprechende Gewalthandlungen dem Staat seine »liberale Maske« herunterreißen und mit Hilfe der dadurch erzeugten faschistoiden Diktatur die Bevölkerung revolutionieren. Mit solchen »Verwirklichungsversuchen« der revolutionären Emanzipationsbewegung entfernten sich diese intellektuellen Rebellen immer weiter von der Marxschen Theorie und mußten – fast unvermeidlich – in der Sackgasse eines zum Selbstzweck werdenden Terrorismus und bei der ebenso verzweifelten »Erneuerung« autoritärer leninistischer Parteikonzepte enden.

Zur Aufarbeitung der Erfahrungen dieser Zeit kann eine differenzierte Lektüre der Schriften von Marx und Engels beitragen, auch wenn sie natürlich dazu in keiner Weise ausreicht. Während die ungeduldigen Rebellen von 1968 die idealen Ziele und die moralischen Urteile von Marx und Engels übernahmen, übersahen sie fast gänzlich die Tatsache, daß Marx und Engels realistische Analytiker der jeweiligen sozialökonomischen und politischen Verhältnisse waren und daß es unkritisch ist, Kategorien wie Imperialismus, Faschismus usw. umstandslos auf alle möglichen kritikbedürftigen Verhältnisse anzuwenden. Das »Erbe« der kritischen Theorieansätze von Marx und Engels wurde letztlich sowohl von den dogmatischen Marxisten-Leninisten als auch von den Rebellierenden im Westen nur einseitig rezipiert und damit verfälscht. Die Diskreditierung der Theorie, die dadurch hervorgerufen wurde, kann nur durch ein sowohl die Texte ernst nehmendes als auch die realen sozialökonomischen und politischen Veränderungen mit gleicher Sorgfalt studierendes Verfahren überwunden werden. Freilich darf dabei nicht vergessen werden, daß kein Theoretiker, kein Sozialwissenschaftler »unfehlbar« ist und daß auch dem kreativsten immer nur begrenzte Einsichten gelingen. Die geradezu religiöse Verherrlichung von Marx und Engels hat ihrem Prestige vielleicht mehr noch geschadet als eine ignorante Abwertung.

 

Die Gliederung dieser Studienausgabe und das Auswahlprinzip sind durch den Zweck nahegelegt: Es soll eine möglichst gerechte, allseitige Würdigung des kritischen Werkes von Marx und Engels ermöglicht werden. Im ersten Band werden philosophische Arbeiten vorgelegt: die wichtigsten von Marx selbst redigierten Arbeiten aus der Frühzeit, ergänzt durch den Abschnitt aus den Pariser Manuskripten, der sich mit der ›Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt‹ beschäftigt (der andere Teil folgt in Band II). Es folgen die beiden wichtigsten einführenden Schriften in den Marxismus aus der Feder von Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft und Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. Die berühmten Feuerbachthesen von Marx werden in dessen Originalfassung und in der von Engels redigierten Version wiedergegeben, weil die Engelssche Redaktion eine verhängnisvolle Sinnverkürzung zur Folge hatte, die auch auf die Entwicklung des Marxismus eingewirkt hat. Im zweiten Band kommt die Kritik der politischen Ökonomie zu Wort, und zwar – wegen des Umfangs – nicht in Gestalt der drei großen Gesamtentwürfe, die jeweils tausend und mehr Seiten umfassen, sondern in Gestalt einiger kleiner Einführungsschriften. Sinn dieser Texte kann nur sein, die Lektüre und das Verständnis des Kapital zu erleichtern und eine erste Orientierung zu ermöglichen. Für das theoretische Verstehen der Intention des Kapital und dessen Beziehung zu den philosophischen Frühschriften ist die Fassung des 1. Kapitels und des 1. Buches in der Erstausgabe von 1867 nützlich, die – weil sie außerordentlich schwer erreichbar ist – gleichfalls abgedruckt wird.

Der III. Band bringt die wichtigsten Texte zur Geschichte und Theorie der Arbeiterbewegung, beginnend mit den von Engels formulierten Grundsätzen des Kommunismus (1847) bis zu den späten Äußerungen des gleichen Autors zur Bedeutung der Demokratie; Äußerungen, die den Einfluß der englischen politischen Kultur spiegeln.

Im IV. Band werden eine Anzahl von Abhandlungen und Zeitungsbeiträgen der beiden Autoren zur Zeitgeschichte zusammengefaßt, darunter die geniale Schrift von Marx über den Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte (1852) und seine programmatische Abhandlung über den Bürgerkrieg in Frankreich (1871), in der Marx die »endlich gefundene politische Form der Diktatur des Proletariats« – die Kommuneverfassung – darstellt. Einen Schwerpunkt bilden darüber hinaus sieben Artikel von Marx und Engels zum amerikanischen Bürgerkrieg, von dem Marx hoffte, daß er in Europa zum »Auslöser« für eine proletarische Revolution werden würde – so wie 1789 der amerikanische Unabhängigkeitskrieg die bürgerliche Revolution ausgelöst oder doch befördert hatte. Den Abschluß bildet eine bemerkenswerte Artikelserie von Engels aus dem Jahr 1893Kann Europa abrüsten?, mit der der Verfasser die deutsche Regierung zu einem ersten Schritt auf dem Weg zur Verringerung der stehenden Heere in Europa ermutigen will, um auf diese Weise die hellsichtig vorausgesehene Gefahr eines mörderischen Weltkrieges zu bannen.

Jedem Band ist eine ausführliche Bibliographie beigegeben, Einleitungen erläutern Bedeutung und Zusammenhang der Schriften, und im letzten Band versucht eine Zeittafel biographische Daten, Geschichte der Arbeiterbewegung und allgemeine Geschichtsdaten zu einer orientierenden Übersicht zu verbinden.

Einleitung

Karl Korsch hat die Entwicklung des Marxschen Denkens als eine Folge von »Kritiken« gedeutet: von der (philosophischen) Religionskritik über die (soziologische) Kritik der Philosophie zur Kritik der politischen Ökonomie und der sozialökonomisch vermittelten politischen Verhältnisse seiner Zeit. Man darf sich diesen Stufengang nicht als eine Reihe allein durch die Biographie ihres Verfassers verbundener Phasen vorstellen, vielmehr geht die eine Form der Kritik konsequent in die andere über und bleibt in ihr – im Hegelschen Sinne – »aufgehoben« enthalten. Das treibende Motiv umwälzender praktischer Kritik (und kritischer Praxis) begreift sich selbst zugleich als Moment des historischen Prozesses, der in Marx und der durch ihn inspirierten revolutionären Bewegung zum Bewußtsein kommen soll. Als Deutscher kann Marx dabei nur an Religionskritik und Philosophie anknüpfen, weil allein hier die deutsche Umwelt mit der zeitgenössischen europäischen auf gleichem Niveau sich befindet. So ist es kein Zufall, daß der aus England zurückkehrende Friedrich Engels den Anstoß zum Übergang auf das Gebiet der ›Kritik politischer Ökonomie‹ vermittelt und erst die Aufforderung des Londoner Kommunistenbundes die Abfassung des Kommunistischen Manifestes auslöst. Die Deutschen haben nur gedacht, nur in Gedanken Revolution gemacht, während die anderen Völker Europas die Wirtschaftsweise und den Staat umgewälzt haben. Wirtschaft, Gesellschaft, Staat, Religion und die übrigen Kulturphänomene gilt es als Teile einer, aus sich wechselseitig bedingenden Momenten bestehenden, Einheit zu begreifen; durch die Bewußtmachung ihres bislang verborgenen Begriffes wird jene komplexe Realität um so rascher und gewisser umgewälzt werden.

Das Marxsche Denken setzt mit einer von Feuerbach inspirierten und diesen sofort hinter sich lassenden Kritik an Hegel ein. Mit beiden, Feuerbach und Hegel, setzt sich jede Schrift des jungen Marx auf ihre Weise auseinander: in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie wird energisch der Übergang von der bloß mentalen Kritik am Epiphänomen ›Religion‹ (wie Feuerbach sie geübt hatte) zur Kritik an jener Realität gefordert, welche notwendig Religion hervortreiben muß: als ihr Komplement, ihren Trost- und Rechtfertigungsgrund, als irreales Alibi einer schlechten Wirklichkeit. Die Schrift Zur Judenfrage macht deutlich, daß die Hegelsche Rechtsphilosophie der adäquate Ausdruck der Tatsache ist, daß der moderne (bürgerliche) Staat von den realen Menschen abstrahiert und deren Unterschiede und Gegensätze, die sich zu entfremdeten Zusammenhängen verfestigen, unberührt läßt. Daher ist auch die Emanzipation der Juden nicht von ihm (auch nicht in seiner rein-weltlichen Gestalt) zu erwarten, sondern erst von einer menschlichen Emanzipation vom Staat überhaupt, von einer Transformation, die zugleich Individuum und Gemeinschaft so verändert, daß sie aufhören, einander als Schranke und Grenze ihrer Freiheit zu begreifen, um miteinander sich allseitig entfalten zu können. In dem Manuskript von 1844 (Pariser Manuskript), das der Kritik der Hegelschen Dialektik gewidmet ist, wird der Unterschied zwischen der Marxschen und der Hegelschen Auffassung von Entfremdung und ihrer Aufhebung am deutlichsten sichtbar, zugleich fertigt hier Marx im Vorbeigehen jene linken Hegel-Epigonen ab, die jeweils nur »ein isoliertes Moment« des systematischen Ganzen herausgelöst und gegen die anderen gestellt hatten. An diese Hinweise knüpft unmittelbar der erste und wichtigste Teil der Deutschen Ideologie (1845) über Feuerbach, Gegensatz von materialistischer und idealistischer Anschauung (Einleitung) an. In ihm wird erstmals – am Detail erläutert – das konkrete historische Denken von Marx und seinem Mitarbeiter Engels im Gegensatz zur Abstraktion Feuerbachs und erst recht der anderen philosophierenden Zeitgenossen entwickelt. Die später zu bequemen Deutungsklischees verflachten Begriffe Überbau und Basis, Produktionsverhältnisse (Verkehrsverhältnisse) usw. können hier in ihrem Ursprung erfaßt und erfahren werden. Das Fazit der Deutschen Ideologie ziehen die komprimierten Formeln der Thesen über Feuerbach, in denen Marx seinen revolutionären und dialektischen »Materialismus« gegen den bisherigen »bloß anschauenden Materialismus«, der »die tätige Seite« der Realität übersehen hat, ebenso deutlich abhebt wie gegen den Hegelschen Idealismus, der sich – wie alle Philosophie – damit begnüge, die Welt umzudeuten, statt sie zu verändern, und der »die wirkliche sinnliche Tätigkeit natürlich nicht kenne«.

An der dem Marxschen Originaltext gegenübergestellten Engelsschen Redaktion soll deutlich gemacht werden, an welchen Stellen und wie Engels den dialektischen Gedankengang seines Freundes verfehlt. Engels, der nicht von einer vertieften kritischen Aneignung des Hegelschen Denkens herkommt, sondern vom Radikalismus des ›Jungen Deutschland‹ und von Feuerbach, hat – abgesehen von seiner geringfügigen Mitarbeit an der Heiligen Familie und der Deutschen Ideologie und ein paar polemischen Artikeln gegen den späten Schelling – erst in seinen späteren Jahren philosophische Arbeiten publiziert. Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring) ist eine 1878 im Auftrag der deutschen Sozialdemokratie verfaßte kritische Rezension der Arbeiten des Berliner Privatdozenten Eugen Dühring, der sich unter sozialistischen Arbeitern eines wachsenden Ansehens erfreute und dessen Einfluß die Parteiführung zurückzudrängen wünschte. Aus der umfangreichen Rezension erwuchs schließlich ein Buch, dessen erster Teil naturphilosophische Gedankengänge enthält, die von Lenin und seinen Nachfolgern zum Kern des ›Diamat‹ gemacht worden sind. Die kleine Schrift Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft enthält – in erweiterter Form – drei Kapitel aus diesem Buch, die Engels für seinen Freund Paul Lafargue (den Schwiegersohn von Karl Marx) zusammengestellt hat, der sie 1880 französisch herausgab. Vermutlich hat diese Schrift mit ihren leichtfaßlichen Zusammenstellungen der Hauptthesen des ›historischen Materialismus‹ und der Lehre von der proletarischen Revolution mehr für die Verbreitung des ›Marxismus‹ getan als die meisten übrigen Arbeiten von Marx und Engels zusammen. Auch wenn im Lichte der Marxschen kritischen Analysen manche Formulierung dieser Einführungsschrift nicht bestehen kann, oder wenigstens der Spezifizierung bedarf, wird man auch heute noch kaum eine brauchbarere und zuverlässigere Einführung finden können.

Die Engelssche Arbeit über Ludwig Feuerbach und den Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, die 1888 veröffentlicht wurde, knüpft bewußt an die Frühphase an und will die damals nicht in extenso geleistete Feuerbach-Kritik nachholen. Die Engels selber unbewußt bleibende Änderung gegenüber der Konzeption des jungen Marx tritt unter anderem in dem Gebrauch des Ausdrucks »neue Weltanschauung« zutage, er macht deutlich, daß nunmehr – im Bewußtsein von Engels – die Aufgabe nicht mehr lautete: durch eine mit der historischen Substanz zusammenfallende selbstbewußte Aktion die Realität so zu transformieren, daß jede von ihr abgehobene (»entfremdete«) Philosophie, Religion, Rechtsordnung, Herrschaftsweise usw. aufgehoben wird, sondern an Stelle einer älteren, »reaktionären und idealistischen« eine progressive und »materialistische Weltanschauung« zu propagieren. Historisch wirksam ist aber nicht die – erst in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts von Georg Lukács und Karl Korsch vorübergehend neu belebte – Marxsche Frühkonzeption geworden, sondern die Engelssche Version, die den Bedürfnissen der wachsenden deutschen Arbeiterbewegung nach einer »eigenen«, sie vom Bürgertum abhebenden und dazu konkurrenzfähigen Weltanschauung entsprach. Nirgends hat Engels dabei ein so hohes philosophisches Niveau erreicht wie in dieser letzten »weltanschaulichen« Arbeit aus seiner Feder.

Den Abschluß unserer Textsammlung bilden sieben Briefe von Friedrich Engels aus den Jahren 1890 bis 1894, in denen er immer wieder vor einer schematischen und deformierenden Verwendung der Kategorien materialistischer Geschichtsinterpretation warnt und Beispiele für eine differenzierende Betrachtungsweise anführt. Diese inzwischen »klassisch« gewordenen Texte verdienen bei weitem mehr Beachtung und gründlichere Lektüre als die häufig allein zitierten programmatischen Worte aus dem Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx.

Karl Marx

Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung

Für Deutschland ist die Kritik der Religion im Wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.

Die profane Existenz des Irrtums ist kompromittiert, nachdem seine himmlische oratio pro aris et focis widerlegt ist. Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er seine wahre Wirklichkeit sucht und suchen muß.

Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.

Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.

Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.

Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege. Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt.

Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.

Die nachfolgende Ausführung – ein Beitrag zu dieser Arbeit – schließt sich zunächst nicht an das Original, sondern an eine Kopie, an die deutsche Staats- und Rechts-Philosophie an, aus keinem anderen Grunde, als weil sie sich an Deutschland anschließt.

Wollte man an den deutschen status quo selbst anknüpfen, wenn auch in einzig angemessener Weise, d.h. negativ, immer bliebe das Resultat ein Anachronismus. Selbst die Verneinung unserer politischen Gegenwart findet sich schon als bestaubte Tatsache in der historischen Rumpelkammer der modernen Völker. Wenn ich die gepuderten Zöpfe verneine, habe ich immer noch die ungepuderten Zöpfe. Wenn ich die deutschen Zustände von 1843 verneine, stehe ich, nach französischer Zeitrechnung, kaum im Jahre 1789, noch weniger im Brennpunkt der Gegenwart.

Ja, die deutsche Geschichte schmeichelt sich einer Bewegung, welche ihr kein Volk am historischen Himmel weder vorgemacht hat noch nachmachen wird. Wir haben nämlich die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. Wir wurden restauriert, erstens, weil andere Völker eine Revolution wagten, und zweitens, weil andere Völker eine Contrerevolution litten, das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten, und das andere Mal, weil unsere Herren keine Furcht hatten. Wir, unsere Hirten an der Spitze, befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung.

Eine Schule, welche die Niederträchtigkeit von heute durch die Niederträchtigkeit von gestern legitimiert, eine Schule, die jeden Schrei des Leibeigenen gegen die Knute für rebellisch erklärt, sobald die Knute eine bejahrte, eine angestammte, eine historische Knute ist, eine Schule, der die Geschichte, wie der Gott Israels seinem Diener Moses, nur ihr a posteriori zeigt, die historische Rechtsschule, sie hätte daher die deutsche Geschichte erfunden, wäre sie nicht eine Erfindung der deutschen Geschichte. Shylock, aber Shylock der Bediente, schwört sie für jedes Pfund Fleisch, welches aus dem Volksherzen geschnitten wird, auf ihren Schein, auf ihren historischen Schein, auf ihren christlich-germanischen Schein.

Gutmütige Enthusiasten dagegen, Deutschtümler von Blut und Freisinnige von Reflexion, suchen unsere Geschichte der Freiheit jenseits unserer Geschichte in den teutonischen Urwäldern. Wodurch unterscheidet sich aber unsere Freiheitsgeschichte von der Freiheitsgeschichte des Ebers, wenn sie nur in den Wäldern zu finden ist? Zudem ist es bekannt: Wie man hineinschreit in den Wald, schallt es heraus aus dem Wald. Also Friede den teutonischen Urwäldern!

Krieg den deutschen Zuständen! Allerdings! Sie stehen unter dem Niveau der Geschichte, sie sind unter aller Kritik, aber sie bleiben ein Gegenstand der Kritik, wie der Verbrecher, der unter dem Niveau der Humanität steht, ein Gegenstand des Scharfrichters bleibt. Mit ihnen im Kampf ist die Kritik keine Leidenschaft des Kopfs, sie ist der Kopf der Leidenschaft. Sie ist kein anatomisches Messer, sie ist eine Waffe. Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will. Denn der Geist jener Zustände ist widerlegt. An und für sich sind sie keine denkwürdigen Objekte, sondern ebenso verächtliche, als verachtete Existenzen. Die Kritik für sich bedarf nicht der Selbstverständigung mit diesem Gegenstand, denn sie ist mit ihm im Reinen. Sie gibt sich nicht mehr als Selbstzweck, sondern nur noch als Mittel. Ihr wesentliches Pathos ist die Indignation, ihre wesentliche Arbeit die Denunziation.

Es gilt die Schilderung eines wechselseitigen dumpfen Drucks aller sozialen Sphären aufeinander, einer allgemeinen, tatlosen Verstimmung, einer sich ebensosehr anerkennenden als verkennenden Beschränktheit, eingefaßt in den Rahmen eines Regierungssystems, welches, von der Konservation aller Erbärmlichkeiten lebend, selbst nichts ist als die Erbärmlichkeit an der Regierung.

Welch ein Schauspiel! Die ins unendliche fortgehende Teilung der Gesellschaft in die mannigfaltigsten Rassen, welche mit kleinen Antipathien, schlechten Gewissen und brutaler Mittelmäßigkeit sich gegenüberstehen, welche eben um ihrer wechselseitigen zweideutigen und argwöhnischen Stellung willen alle ohne Unterschied, wenn auch mit verschiedenen Formalitäten, als konzessionierte Existenzen von ihren Herren behandelt werden. Und selbst dies, daß sie beherrscht, regiert, besessen sind, müssen sie als eine Konzession des Himmels anerkennen und bekennen! Andrerseits jene Herrscher selbst, deren Größe in umgekehrtem Verhältnisse zu ihrer Zahl steht!

Die Kritik, die sich mit diesem Inhalt befaßt, ist die Kritik im Handgemenge, und im Handgemenge handelt es sich nicht darum, ob der Gegner ein edler, ebenbürtiger, ein interessanter Gegner ist, es handelt sich darum, ihn zu treffen. Es handelt sich darum, den Deutschen keinen Augenblick der Selbsttäuschung und Resignation zu gönnen. Man muß den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewußtsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert. Man muß jede Sphäre der deutschen Gesellschaft als die partie honteuse der deutschen Gesellschaft schildern, man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt! Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen. Man erfüllt damit ein unabweisbares Bedürfnis des deutschen Volkes, und die Bedürfnisse der Völker sind in eigener Person die letzten Gründe ihrer Befriedigung.

Und selbst für die modernen Völker kann dieser Kampf gegen den bornierten Inhalt des deutschen status quo nicht ohne Interesse sein, denn der deutsche status quo ist die offenherzige Vollendung des ancien régime, und das ancien régime ist der versteckte Mangel des modernen Staates. Der Kampf gegen die deutsche politische Gegenwart ist der Kampf gegen die Vergangenheit der modernen Völker, und von den Reminiszenzen dieser Vergangenheit werden sie noch immer belästigt. Es ist lehrreich für sie, das ancien régime, das bei ihnen seine Tragödie erlebte, als deutschen Revenant seine Komödie spielen zu sehen. Tragisch war seine Geschichte, solange es die präexistierende Gewalt der Welt, die Freiheit dagegen ein persönlicher Einfall war, mit einem Wort, solange es selbst an seine Berechtigung glaubte und glauben mußte. Solange das ancien régime als vorhandene Weltordnung mit einer erst werdenden Welt kämpfte, stand auf seiner Seite ein weltgeschichtlicher Irrtum, aber kein persönlicher. Sein Untergang war daher tragisch. Das jetzige deutsche Regime dagegen, ein Anachronismus, ein flagranter Widerspruch gegen allgemein anerkannte Axiome, die zur Weltschau ausgestellte Nichtigkeit des ancien régime, bildet sich nur noch ein, an sich selbst zu glauben, und verlangt von der Welt dieselbe Einbildung. Wenn es an sein eigenes Wesen glaubte, würde es dasselbe unter dem Schein eines fremden Wesens zu verstecken und seine Rettung in der Heuchelei und dem Sophisma suchen? Das moderne ancien régime ist nur mehr der Komödiant einer Weltordnung, deren wirkliche Helden gestorben sind. Die Geschichte ist gründlich und macht viele Phasen durch, wenn sie eine alte Gestalt zu Grabe trägt. Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie. Die Götter Griechenlands, die schon einmal tragisch zu Tode verwundet waren im gefesselten Prometheus des Aeschylus, mußten noch einmal komisch sterben in den Gesprächen Lucians. Warum dieser Gang der Geschichte? Damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide. Diese heitere geschichtliche Bestimmung vindizieren wir den politischen Mächten Deutschlands.

Sobald indes die moderne politisch-soziale Wirklichkeit selbst der Kritik unterworfen wird, sobald also die Kritik zu wahrhaft menschlichen Problemen sich erhebt, befindet sie sich außerhalb des deutschen status quo, oder sie würde ihren Gegenstand unter ihrem Gegenstand greifen. Ein Beispiel! Das Verhältnis der Industrie, überhaupt der Welt des Reichtums, zu der politischen Welt ist ein Hauptproblem der modernen Zeit. Unter welcher Form fängt dies Problem an, die Deutschen zu beschäftigen? Unter der Form der Schutzzölle, des Prohibitivsystems, der Nationalökonomie. Die Deutschtümelei ist aus dem Menschen in die Materie gefahren, und so sahen sich eines Morgens unsere Baumwollritter und Eisenhelden in Patrioten verwandelt. Man beginnt also in Deutschland die Souveränität des Monopols nach innen anzuerkennen, dadurch daß man ihm die Souveränität nach außen verleiht. Man beginnt also jetzt in Deutschland anzufangen, womit man in Frankreich und England zu enden beginnt. Der alte faule Zustand, gegen den diese Länder theoretisch im Aufruhr sind und den sie nur noch ertragen, wie man die Ketten erträgt, wird in Deutschland als die aufgehende Morgenröte einer schönen Zukunft begrüßt, die kaum noch wagt, aus der listigen Theorie in die schonungsloseste Praxis überzugehen. Während das Problem in Frankreich und England lautet: Politische Ökonomie oder Herrschaft der Sozietät über den Reichtum, lautet es in Deutschland: National-Ökonomie oder Herrschaft des Privateigentums über die Nationalität. Es gilt also in Frankreich und England, das Monopol, das bis zu seinen letzten Konsequenzen fortgegangen ist, aufzuheben; es gilt in Deutschland, bis zu den letzten Konsequenzen des Monopols fortzugehen. Dort handelt es sich um die Lösung, und hier handelt es sich erst um die Kollision. Ein zureichendes Beispiel von der deutschen Form der modernen Probleme, ein Beispiel, wie unsere Geschichte, gleich einem ungeschickten Rekruten, bisher nur die Aufgabe hatte, abgedroschene Geschichte nachzuexerzieren.

Ginge also die gesamte deutsche Entwicklung nicht über die politische deutsche Entwicklung hinaus, ein Deutscher könnte sich höchstens an den Problemen der Gegenwart beteiligen, wie sich ein Russe daran beteiligen kann. Allein wenn das einzelne Individuum nicht gebunden ist durch die Schranken der Nation, ist die gesamte Nation noch weniger befreit durch die Befreiung eines Individuums. Die Scythen haben keinen Schritt zur griechischen Kultur vorwärts getan, weil Griechenland einen Scythen unter seine Philosophen zählt.

Zum Glück sind wir Deutsche keine Scythen.

Wie die alten Völker ihre Vorgeschichte in der Imagination erlebten, in der Mythologie, so haben wir Deutsche unsere Nachgeschichte im Gedanken erlebt, in der Philosophie. Wir sind philosophische Zeitgenossen der Gegenwart, ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein. Die deutsche Philosophie ist die ideale Verlängerung der deutschen Geschichte. Wenn wir also statt die œuvres incomplètes unsrer reellen Geschichte die œuvres posthumes unserer ideellen Geschichte, die Philosophie, kritisieren, so steht unsere Kritik mitten unter den Fragen, von denen die Gegenwart sagt: that is the question. Was bei den fortgeschrittenen Völkern praktischer Zerfall mit den modernen Staatszuständen ist, das ist in Deutschland, wo diese Zustände selbst noch nicht einmal existieren, zunächst kritischer Zerfall mit der philosophischen Spiegelung dieser Zustände.

Die deutsche Rechts- und Staatsphilosophie ist die einzige mit der offiziellen modernen Gegenwart al pari stehende deutsche Geschichte. Das deutsche Volk muß daher diese seine Traumgeschichte mit zu seinen bestehenden Zuständen schlagen und nicht nur diese bestehenden Zustände, sondern zugleich ihre abstrakte Fortsetzung der Kritik unterwerfen. Seine Zukunft kann sich weder auf die unmittelbare Verneinung seiner reellen, noch auf die unmittelbare Vollziehung seiner ideellen Staats- und Rechtszustände beschränken, denn die unmittelbare Verneinung seiner reellen Zustände besitzt es in seinen ideellen Zuständen, und die unmittelbare Vollziehung seiner ideellen Zustände hat es in der Anschauung der Nachbarvölker beinahe schon wieder überlebt. Mit Recht fordert daher die praktische politische Partei in Deutschland die Negation der Philosophie. Ihr Unrecht besteht nicht in der Forderung, sondern in dem Stehenbleiben bei der Forderung, die sie ernstlich weder vollzieht noch vollziehen kann. Sie glaubt, jene Negation dadurch zu vollbringen, daß sie der Philosophie den Rücken kehrt und abgewandten Hauptes – einige ärgerliche und banale Phrasen über sie hermurmelt. Die Beschränktheit ihres Gesichtskreises zählt die Philosophie nicht ebenfalls in den Bering der deutschen Wirklichkeit oder wähnt sie gar unter der deutschen Praxis und den ihr dienenden Theorien. Ihr verlangt, daß man an wirkliche Lebenskeime anknüpfen soll, aber ihr vergeßt, daß der wirkliche Lebenskeim des deutschen Volkes bisher nur unter seinem Hirnschädel gewuchert hat. Mit einem Worte: Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen.

Dasselbe Unrecht, nur mit umgekehrten Faktoren, beging die theoretische, von der Philosophie her datierende politische Partei.

Sie erblickte in dem jetzigen Kampf nur den kritischen Kampf der Philosophie mit der deutschen Welt, sie bedachte nicht, daß die seitherige Philosophie selbst zu dieser Welt gehört und ihre, wenn auch ideelle, Ergänzung ist. Kritisch gegen ihren Widerpart verhielt sie sich unkritisch zu sich selbst, indem sie von den Voraussetzungen der Philosophie ausging und bei ihren gegebenen Resultaten entweder stehen blieb oder anderweitig hergeholte Forderungen und Resultate für unmittelbare Forderungen und Resultate der Philosophie ausgab, obgleich dieselben – ihre Berechtigung vorausgesetzt – im Gegenteil nur durch die Negation der seitherigen Philosophie, der Philosophie als Philosophie, zu erhalten sind. Eine näher eingehende Schilderung dieser Partei behalten wir uns vor. Ihr Grundmangel läßt sich dann reduzieren: Sie glaubte, die Philosophie verwirklichen zu können, ohne sie aufzuheben.

Die Kritik der deutschen Staats- und Rechtsphilosophie, welche durch Hegel ihre konsequenteste, reichste und letzte Fassung erhalten hat, ist beides, sowohl die kritische Analyse des modernen Staats und der mit ihm zusammenhängenden Wirklichkeit als auch die entschiedene Verneinung der ganzen bisherigen Weise des deutschen politischen und rechtlichen Bewußtseins, dessen vornehmster, universellster, zur Wissenschaft erhobener Ausdruck eben die spekulative Rechtsphilosophie selbst ist. War nur in Deutschland die spekulative Rechtsphilosophie möglich, dies abstrakte überschwängliche Denken des modernen Staats, dessen Wirklichkeit ein Jenseits bleibt, mag dies Jenseits auch nur jenseits des Rheins liegen: so war ebensosehr umgekehrt das deutsche, vom wirklichen Menschen abstrahierende[1] Gedankenbild des modernen Staates nur möglich, weil und insofern der moderne Staat selbst vom wirklichen Menschen abstrahiert oder den ganzen Menschen auf eine nur imaginäre Weise befriedigt. Die Deutschen haben in der Politik gedacht, was die anderen Völker getan haben. Deutschland war ihr theoretisches Gewissen. Die Abstraktion und Überhebung seines Denkens hielt immer gleichen Schritt mit der Einseitigkeit und Untersetztheit ihrer Wirklichkeit. Wenn also der status quo des deutschen Staatswesens die Vollendung des ancien régime ausdrückt, die Vollendung des Pfahls im Fleische des modernen Staats, so drückt der status quo des deutschen Staatswissens die Unvollendung des modernen Staats aus, die Schadhaftigkeit seines Fleisches selbst.

Schon als entschiedner Widerpart der bisherigen Weise des deutschen politischen Bewußtseins verläuft sich die Kritik der spekulativen Rechtsphilosophie nicht in sich selbst, sondern in Aufgaben, für deren Lösung es nur ein Mittel gibt: die Praxis.

Es fragt sich: kann Deutschland zu einer Praxis à la hauteur des principes gelangen, d.h. zu einer Revolution, die es nicht nur auf das offizielle Niveau der modernen Völker erhebt, sondern auf die menschliche Höhe, welche die nächste Zukunft dieser Völker sein wird?

Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. Der evidente Beweis für den Radikalismus der deutschen Theorie, also für ihre praktische Energie, ist ihr Ausgang von der entschiedenen positiven Aufhebung der Religion. Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, Verhältnisse, die man nicht besser schildern kann als durch den Ausruf eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!

Selbst historisch hat die theoretische Emanzipation eine spezifisch praktische Bedeutung für Deutschland. Deutschlands revolutionäre Vergangenheit ist nämlich theoretisch, es ist die Reformation. Wie damals der Mönch, so ist es jetzt der Philosoph, in dessen Hirn die Revolution beginnt.

Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußeren Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt.

Aber, wenn der Protestantismus nicht die wahre Lösung, so war er die wahre Stellung der Aufgabe. Es galt nun nicht mehr den Kampf des Laien mit dem Pfaffen außer ihm, es galt den Kampf mit seinem eigenen innern Pfaffen, seiner pfäffischen Natur. Und wenn die protestantische Verwandlung der deutschen Laien in Pfaffen die Laienpäpste, die Fürsten samt ihrer Klerisei, den Privilegierten und den Philistern, emanzipierte, so wird die philosophische Verwandlung der pfäffischen Deutschen in Menschen das Volk emanzipieren. So wenig aber die Emanzipation bei den Fürsten, so wenig wird die Säkularisation der Güter bei dem Kirchenraub stehen bleiben, den vor allen das heuchlerische Preußen ins Werk setzte. Damals scheiterte der Bauernkrieg, die radikalste Tatsache der deutschen Geschichte, an der Theologie. Heute, wo die Theologie selbst gescheitert ist, wird die unfreieste Tatsache der deutschen Geschichte, unser status quo, an der Philosophie zerschellen. Den Tag vor der Reformation war das offizielle Deutschland der unbedingteste Knecht von Rom. Den Tag vor seiner Revolution ist es der unbedingte Knecht von weniger als Rom, von Preußen und Österreich, den Krautjunkern und Philistern.

Einer radikalen deutschen Revolution scheint indessen eine Hauptschwierigkeit entgegen zu stehen.

Die Revolutionen bedürfen nämlich eines passiven Elementes, einer materiellen Grundlage. Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist. Wird nun dem ungeheuren Zwiespalt zwischen den Forderungen des deutschen Gedankens und den Antworten der deutschen Wirklichkeit derselbe Zwiespalt der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Staate und mit sich selbst entsprechen? Werden die theoretischen Bedürfnisse unmittelbar praktische Bedürfnisse sein? Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen.

Aber Deutschland hat die Mittelstufen der politischen Emanzipation nicht gleichzeitig mit den modernen Völkern erklettert. Selbst die Stufen, die es theoretisch überwunden, hat es praktisch noch nicht erreicht. Wie sollte es mit einem salto mortale nicht nur über seine eignen Schranken hinwegsetzen, sondern zugleich über die Schranken der modernen Völker, über Schranken, die es in der Wirklichkeit als Befreiung von seinen wirklichen Schranken empfinden und erstreben muß? Eine radikale Revolution kann nur die Revolution radikaler Bedürfnisse sein, deren Voraussetzungen und Geburtsstätten eben zu fehlen scheinen.

Allein wenn Deutschland nur mit der abstrakten Tätigkeit des Denkens die Entwicklung der modernen Völker begleitet hat, ohne werktätige Partei an den wirklichen Kämpfen dieser Entwicklung zu ergreifen, so hat es andrerseits die Leiden dieser Entwicklung geteilt, ohne ihre Genüsse, ohne ihre partielle Befriedigung zu teilen. Der abstrakten Tätigkeit einerseits entspricht das abstrakte Leiden andrerseits. Deutschland wird sich daher eines Morgens auf dem Niveau des europäischen Verfalls befinden, bevor es jemals auf dem Niveau der europäischen Emanzipation gestanden hat. Man wird es einem Fetischdiener vergleichen können, der an den Krankheiten des Christentums siecht.

Betrachtet man zunächst die deutschen Regierungen, und man findet sie durch die Zeitverhältnisse, durch die Lage Deutschlands, durch den Standpunkt der deutschen Bildung, endlich durch eignen glücklichen Instinkt getrieben, die zivilisierten Mängel der modernen Staatswelt, deren Vorteile wir nicht besitzen, zu kombinieren mit den barbarischen Mängeln des ancien régime, dessen wir uns in vollem Maße erfreuen, so daß Deutschland, wenn nicht am Verstand, wenigstens am Unverstand auch der über seinen status quo hinausliegenden Staatsbildungen immer mehr partizipieren muß. Gibt es z.B. ein Land in der Welt, welches so naiv alle Illusionen des konstitutionellen Staatswesens teilt, ohne seine Realitäten zu teilen, als das sogenannte konstitutionelle Deutschland? Oder war es nicht notwendig ein deutscher Regierungseinfall, die Qualen der Zensur mit den Qualen der französischen Septembergesetze, welche die Preßfreiheit voraussetzen, zu verbinden! Wie man im römischen Pantheon die Götter aller Nationen fand, so wird man im heiligen römischen deutschen Reich die Sünden aller Staatsformen finden. Daß dieser Eklektizismus eine bisher nicht geahnte Höhe erreichen wird, dafür bürgt namentlich die politisch-ästhetische Gourmanderie eines deutschen Königs, der alle Rollen des Königtums, des feudalen wie des bureaukratischen, des absoluten wie des konstitutionellen, des autokratischen wie des demokratischen, wenn nicht durch die Person des Volkes, so doch in eigner Person, wenn nicht für das Volk, so doch für sich selbst zu spielen gedenkt. Deutschland als der zu einer eigenen Welt konstituierte Mangel der politischen Gegenwart wird die spezifisch deutschen Schranken nicht niederwerfen können, ohne die allgemeine Schranke der politischen Gegenwart niederzuwerfen.

Nicht die radikale Revolution ist utopischer Traum für Deutschland, nicht die allgemein menschliche Emanzipation, sondern vielmehr die teilweise, die nur politische Revolution, die Revolution, welche die Pfeiler des Hauses stehen läßt. Worauf beruht eine teilweise, eine nur politische Revolution? Darauf, daß ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft sich emanzipiert und zur allgemeinen Herrschaft gelangt, darauf, daß eine bestimmte Klasse von ihrer besondren Situation aus die allgemeine Emanzipation der Gesellschaft unternimmt. Diese Klasse befreit die ganze Gesellschaft, aber nur unter der Voraussetzung, daß die ganze Gesellschaft sich in der Situation dieser Klasse befindet, also z.B. Geld und Bildung besitzt oder beliebig erwerben kann.

Keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft kann diese Rolle spielen, ohne ein Moment des Enthusiasmus in sich und in der Masse hervorzurufen, ein Moment, worin sie mit der Gesellschaft im Allgemeinen fraternisiert und zusammenfließt, mit ihr verwechselt und als deren allgemeiner Repräsentant empfunden und anerkannt wird, ein Moment, worin ihre Ansprüche und Rechte in Wahrheit die Rechte und Ansprüche der Gesellschaft selbst sind, worin sie wirklich der soziale Kopf und das soziale Herz ist. Nur im Namen der allgemeinen Rechte der Gesellschaft kann eine besondere Klasse sich die allgemeine Herrschaft vindizieren. Zur Erstürmung dieser emanzipatorischen Stellung und damit zur politischen Ausbeutung aller Sphären der Gesellschaft im Interesse der eignen Sphäre reichen revolutionäre Energie und geistiges Selbstgefühl allein nicht aus. Damit die Revolution eines Volkes und die Emanzipation einer besondren Klasse der bürgerlichen Gesellschaft zusammenfallen, damit ein Stand für den Stand der ganzen Gesellschaft gelte, dazu müssen umgekehrt alle Mängel der Gesellschaft in einer andren Klasse konzentriert, dazu muß ein bestimmter Stand des allgemeinen Anstoßes, die Inkorporation der allgemeinen Schranke sein, dazu muß eine besondre soziale Sphäre für das notorische Verbrechen der ganzen Sozietät gelten, so daß die Befreiung von dieser Sphäre als die allgemeine Selbstbefreiung erscheint. Damit ein Stand par excellence der Stand der Befreiung, dazu muß umgekehrt ein andrer Stand der offenbare Stand der Unterjochung sein. Die negativ-allgemeine Bedeutung des französischen Adels und der französischen Klerisei bedingte die positiv-allgemeine Bedeutung der zunächst angrenzenden und entgegengesetzten Klasse der Bourgeoisie.

Es fehlt aber jeder besondern Klasse in Deutschland nicht nur die Konsequenz, die Schärfe, der Mut, die Rücksichtslosigkeit, die sie zum negativen Repräsentanten der Gesellschaft stempeln könnte. Es fehlt ebensosehr jedem Stand jene Breite der Seele, die sich mit der Volksseele, wenn auch nur momentan, identifiziert, jene Genialität, welche die materielle Macht zur politischen Gewalt begeistert, jene revolutionäre Kühnheit, welche dem Gegner die trotzige Parole zuschleudert: Ich bin nichts, und ich müßte alles sein. Den Hauptstock deutscher Moral und Ehrlichkeit, nicht nur der Individuen, sondern auch der Klassen, bildet vielmehr jener bescheidene Egoismus, welcher seine Beschränktheit geltend macht und gegen sich geltend machen läßt. Das Verhältnis der verschiedenen Sphären der deutschen Gesellschaft ist daher nicht dramatisch, sondern episch. Jede derselben beginnt sich zu empfinden und neben die andern mit ihren besondern Ansprüchen hinzulagern, nicht sobald sie gedrückt wird, sondern sobald ohne ihr Zutun die Zeitverhältnisse eine gesellige Unterlage schaffen, auf die sie ihrerseits den Druck ausüben kann. Sogar das moralische Selbstgefühl der deutschen Mittelklasse beruht nur auf dem Bewußtsein, die allgemeine Repräsentantin von der philisterhaften Mittelmäßigkeit aller übrigen Klassen zu sein. Es sind daher nicht nur die deutschen Könige, die mal-à-propos auf den Thron gelangen, es ist jede Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, die ihre Niederlage erlebt, bevor sie ihren Sieg gefeiert, ihre eigne Schranke entwickelt, bevor sie die ihr gegenüberstehende Schranke überwunden, ihr engherziges Wesen geltend macht, bevor sie ihr großmütiges Wesen geltend machen konnte, so daß selbst die Gelegenheit einer großen Rolle immer vorüber ist, bevor sie vorhanden war, so daß jede Klasse, sobald sie den Kampf mit der über ihr stehenden Klasse beginnt, in den Kampf mit der unter ihr stehenden, verwickelt ist. Daher befindet sich das Fürstentum im Kampf gegen das Königtum, der Bureaukrat im Kampf gegen den Adel, der Bourgeois im Kampf gegen sie alle, während der Proletarier schon beginnt, sich im Kampf gegen den Bourgeois zu befinden. Die Mittelklasse wagt kaum von ihrem Standpunkt aus den Gedanken der Emanzipation zu fassen, und schon erklärt die Entwicklung der sozialen Zustände wie der Fortschritt der politischen Theorie diesen Standpunkt selbst für antiquiert oder wenigstens für problematisch.

In Frankreich genügt es, daß einer etwas sei, damit er alles sein wolle. In Deutschland darf einer nichts sein, wenn er nicht auf alles verzichten soll. In Frankreich ist die partielle Emanzipation der Grund der universellen. In Deutschland ist die universelle Emanzipation conditio sine qua non jeder partiellen. In Frankreich muß die Wirklichkeit, in Deutschland muß die Unmöglichkeit der stufenweisen Befreiung die ganze Freiheit gebären. In Frankreich ist jede Volksklasse politischer Idealist und empfindet sich zunächst nicht als besondere Klasse, sondern als Repräsentant der sozialen Bedürfnisse überhaupt. Die Rolle des Emanzipators geht also der Reihe nach in dramatischer Bewegung an die verschiedenen Klassen des französischen Volkes über, bis sie endlich bei der Klasse anlangt, welche die soziale Freiheit nicht mehr unter der Voraussetzung gewisser, außerhalb des Menschen liegender und doch von der menschlichen Gesellschaft geschaffener Bedingungen verwirklicht, sondern vielmehr alle Bedingungen der menschlichen Existenz unter der Voraussetzung der sozialen Freiheit organisiert. In Deutschland dagegen, wo das praktische Leben ebenso geistlos, als das geistige Leben unpraktisch ist, hat keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft das Bedürfnis und die Fähigkeit der allgemeinen Emanzipation, bis sie nicht durch ihre unmittelbare Lage, durch die materielle