Stumme Seelen - Marko Hautala - E-Book

Stumme Seelen E-Book

Marko Hautala

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Beschreibung

Deutsche Erstausgabe Ein schauriges Lesevergnügen Die Legende von der »Herzesserin«, einer zahnlosen Alten, die vorlaute Kinder tötet und ihr Herz verspeist, ist in der finnischen Kleinstadt Suvikylä seit Generationen lebendig. Sogar ein Initiationsritus ist daraus entstanden. Doch ist was Wahres dran an dieser Gruselgeschichte? Das möchte die Religionswissenschaftlerin Maisa herausfinden – nicht nur wegen ihrer Doktorarbeit über Volksglauben. Sie stammt aus Suvikylä, und die Initiation war für sie als Jugendliche ein traumatisches Erlebnis. Maisa begibt sich auf Spurensuche, fest entschlossen, das düstere Geheimnis des Ortes zu lüften. Raffiniert und suggestiv erzählter Psychothriller mit einem unerwarteten Dreh am Ende. Im Kleinstadtidyll lauert das Grauen: Wer ›Twin Peaks‹ mochte, wird dieses Buch lieben!  

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Seitenzahl: 341

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Marko Hautala

Stumme Seelen

Psychothriller

Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

Ist die Gewalt einmal in die Gemeinschaft eingedrungen,dann hört sie nicht auf, sich zu verbreiten und zu verstärken.

 

René Girard: Das Heilige und die Gewalt

DIE HACKE UND DIE MUHME

Ihr fragt euch, was die Knorrige Muhme tut. Die Knorrige Muhme tötet Kinder.

Sie ist so alt wie das Meer und der Himmel. Sie schleicht in den Uferwäldern einher, zwischen den großen Felsen und hinter den umgestürzten Bäumen. Mit ihren nackten mageren Zehen läuft sie wie ein Wiesel. Und jeder, der unerlaubt ihren Grund und Boden betritt, stirbt oder wird verrückt. Wenn einer zu viel geflucht hat, wartet sie, bis er hinter den anderen zurückbleibt, um zu pinkeln oder zu simsen oder einen Schmetterling zu betrachten oder ein Vogeljunges zu retten. Sie wartet, bis man ihr den Rücken zukehrt. Dann knallt sie einem die Hacke zwischen die Schulterblätter, dass einem die Luft wegbleibt und die Beine nachgeben.

Sie dreht das Opfer um.

Sie zeigt ihre schwarze Zunge.

Das ist dann das Ende.

Bei manchen frisst sie das Herz. Sie holt es mit der Hacke aus deiner Brust, ob du noch lebst oder nicht. Sie vergräbt die Herzen im Kartoffelacker und wartet, bis sie schwarz geworden sind. Dann zerkaut sie sie auf dem blanken Zahnfleisch, denn sie hat keine Zähne mehr. Das dauert manchmal eine Stunde lang. Sie schließt die Augen. Denkt an die alten Tage und daran, wie gut früher alles war.

Sie sieht alles, was in den Wäldern von Suvikylä passiert. Sie riecht, wer wer ist.

Sie schaut hin, wenn in den Hochhäusern die Lichter brennen und die Fernseher flimmern und die Schatten der Leute sich bewegen.

Man sieht sie nur, wenn sie es will. Sie kann so starr dastehen, dass so mancher sie nicht sieht, obwohl er direkt zu ihr hinschaut. Sie ist schon so lange hier, dass man sie nicht von einem Knorren an einem Baum unterscheidet. Wenn es auf dem Waldweg oder am Ufer plötzlich nach Kartoffelkeller riecht, sollte man besser wegrennen.

Nicht umschauen, nur weg.

Sie war schon in Suvikylä, bevor die Hochhäuser und die Reihenhäuser und die Eigenheime der Reichen am Ende der Patteriniementie gebaut wurden, und sie hasst alle diese Häuser, weil sie zu rechtwinklig sind und hallende Wände haben. Sie kommt nur bei Nacht in ihre Nähe, und dann bewegt sie sich langsam und krumm, als hätte sie Krämpfe.

Aber im Wald kann sie eine Stunde lang die Luft anhalten. Manchmal liegt sie so lange da, dass auf ihren Schultern Moos wächst.

Einmal ging ein Junge aus der Roma-Sippe Hagert betrunken auf dem Uferweg nach Hause und sah an einem Baum einen Knorren, von dem er wusste, dass er vorher nicht da gewesen war.

Er sagte: »He da, versteck dich nicht oder ich schlitz dich auf wie eine Ratte.« Der Knorren bewegte sich nicht, also zog der Hagert sein Messer aus dem Stiefel und wartete. Er setzte sich an den Grabenrand und nahm sich vor, so lange dort sitzen zu bleiben, bis sich der Knorren bewegt. Am nächsten Morgen wurde er wach und der Knorren war weg und in seinem Mund steckte ein zusammengerollter Zettel, in dem drei Milchzähne lagen. Auf dem Zettel stand:

Ich ritz dich auf wie eine Schlatte.

Danach ist kein einziger Roma von Suvikylä mehr zu Fuß gegangen, wenn es dunkel war. Sie sind im Gänsemarsch zu ihrem alten Mercedes auf dem Parkplatz gerannt und haben durch die beschlagenen Scheiben nach draußen gestarrt.

Die Knorrige Muhme hasst elektrisches Licht. Sie hasst es derart, dass abends manchmal ihr Gebrüll und ihre Flüche zu hören sind. Es klingt wie bei einem, der sich heiser gebrüllt hat und immer noch weiterschreit.

Sie trinkt braunes Wasser aus dem Kanal und kocht damit Kaffee. Im Keller hat sie tausend Einmachgläser mit schwarzer Milch. Deswegen ist ihre Zunge immer schwarz. Keiner weiß, was schwarze Milch ist, aber diesem Zeug hat sie es zu verdanken, dass sie am Leben bleibt und nie krank wird, obwohl sie Knollenblätterpilze isst.

Sie selbst steigt nie in ein Boot, denn sie hat Angst vor Wasser. Ins Meer würde sie niemals gehen, selbst wenn das ganze Ufer in Flammen stünde. Das Meer ist ein Albtraum für sie. Nicht mal seinen Geruch kann sie ertragen. Trotzdem zieht sie hier nicht weg. Weiß der Teufel, warum.

Als die ersten Somalier in die Hochhäuser einzogen, fauchte sie viele Abende lang direkt am Waldrand und bei den Parkplätzen. Das erste Mädchen, das sie schnappte, blieb am Leben, weil sie sich so wunderte, was in aller Welt das sein sollte, ein Wesen, das noch schwärzer war als ihr Kaffee. Sie nahm dem Mädchen das Kopftuch weg und ließ es sich vom Wind ins Gesicht wehen und stand mit dem Gesicht zum Meer da und schnupperte so lange irgendwelche Basardüfte, dass das Mädchen weglaufen konnte. Danach hat sie noch viele geholt und festgestellt, dass ihre Herzen dieselbe Farbe haben wie die der anderen. Sie werden alle schwarz und so mürbe, dass das harte Zahnfleisch mit ihnen fertig wird.

Die Somalier sind vor ihr nicht sicher.

Die Araber auch nicht.

Niemand ist vor ihr sicher, der keine Ehrerbietung erweist und keine Geschenke an die Spitze der Landzunge bringt, weil seine Religion angeblich Neinneinnein sagt.

Wenn jemand allein zu Hause ist, weil die Eltern irgendwo zu Besuch oder beim Karaoke sind, kommt sie manchmal mit einem Generalschlüssel aus Tierknochen ins Treppenhaus und klingelt an der Wohnung. Durch den Türspion siehst du einen Polizisten, aber wenn du aufmachst, steht sie da und zeigt dir die Zunge.

Das war’s dann. Vor dir liegt ein dunkler Weg.

Niemand ist vor ihr sicher. Außer den Zigeunern. Warum, das weiß keiner.

Vielleicht hat dieser Hagert sich mit ihr geeinigt.

Ich ritz dich auf wie eine Schlatte.

Keiner weiß, was sie damit meinte. Vielleicht hat sie nur Spaß gemacht.

Oder sie hat sämtliche Hagerts umgebracht, denn die sind auf einen Schlag verschwunden. Weggezogen, sagen manche, aber wer weiß. Vielleicht liegen ihre Herzen im Kartoffelacker.

Aber normalerweise tötet sie nur Kinder, die vom Pfad abgekommen sind. Die glauben, das Internet und die Lehrer wüssten, wie man sich verhalten soll. Und meinen, sie dürften überall herumschnüffeln.

Die Knorrige Muhme schleicht über die Uferfelsen, bleibt stehen, schwankt vor und zurück wie das Schilf, schnuppert, den zahnlosen Mund so weit aufgerissen, dass Dampf aufsteigt.

Wenn sie richtig in Fahrt ist, schlägt ihre Hacke Funken aus den Findlingen. Bei Gewitter hat man eine Lichtspur zwischen den Bäumen gesehen. Ein Kugelblitz, behaupten die Erwachsenen, aber die wissen nichts.

Es hat den Anschein, als wäre sie blind, aber das ist sie nicht.

Sie sieht im Dunkeln.

Oder vielleicht ist sie einfach schon so lange in Suvikylä, dass sie weiß, wo alles ist, auch ohne es zu sehen. Außer bei den neuen Dingen. Den Parkplätzen und Hochhäusern und Reihenhäusern und den Eigenheimen der Reichen. Vielleicht hasst sie das alles deshalb. Den glatten Asphalt, die blinkenden Fensterscheiben, das Echo.

Vielleicht ist sie tatsächlich blind.

Egal. Andere Fragen sind wichtiger:

Warum läuft sie bei Gewitter herum?

Bewacht sie wirklich etwas?

Ist ihre Seele im Meer gefangen?

Niemand weiß es.

Ihr braucht nur zu wissen, dass die Knorrige Muhme Kinder tötet. Aber sie meint es nicht böse. Sie tötet nur diejenigen, die etwas Falsches tun. Sie schützt diesen Ort. Ohne sie wäre das hier ein Ort wie jeder andere.

Und ihr solltet sie hören, wenn sie weint. Wie ein Kind, dessen Mutter ertrunken ist. Oder eine Mutter, deren Kind ertrunken ist.

Reißt also keine Witze über die Knorrige Muhme.

Ihr redet entweder ernst über sie oder gar nicht. Und ganz gleich, worüber die Knorrige Muhme trauert, ihr wollt es nicht wissen.

In ihrem Innern ist es so dunkel, dass selbst ein Blinder um Licht bettelt.

Dort ist Weinen zwecklos.

Dort gibt es nur die alles verschlingende Nacht und den Geruch des Kartoffelkellers.

Dort kommt jede Reue zu spät.

Als die Predigt vorbei ist, sind die Jungen und Mädchen ganz still.

Die Hacke des Oberpriesters schlägt dumpf auf den Betonboden.

Eine Taschenlampe leuchtet auf.

Die Kinder blinzeln und sehen aus, als wären sie gerade aufgewacht. Die Öljacke des Oberpriesters ist moosgrün und zerlumpt. An den Ärmeln und am unteren Rand hat sie rote Flecken. Alle wissen, dass es nur künstliches Blut ist, aber es macht ihnen trotzdem Angst.

Der Oberpriester richtet den Strahl der Taschenlampe auf sie.

Im Licht kauern sechs Kids, aus denen die Predigt jetzt Männchen und Weibchen gemacht hat. Ihre Pupillen verengen sich vor Schreck. Die Schatten an der Wand dehnen sich. Sie stehen wie sechs größere und ältere Tiere hinter den kleinen Gestalten, ihre erwachsenen Schatten.

Der Oberpriester erhebt sich. Er muss sich am Boden abstützen, denn beim Sitzen schlafen die Beine ein. Die Maske vor seinem Gesicht wackelt.

Die Jungen und Mädchen küssen der Reihe nach die rostige Klinge der Hacke. Einige lecken daran, weil das Glück bringen soll. Irgendwer kichert, verstummt aber sofort wieder. Nach dem Kuss beugt sich der Oberpriester zu jedem hinunter und flüstert ihm einen Namen ins Ohr. Die Kinder wissen, dass sie diesen Menschen bespitzeln müssen. Und niemand weiß, wer wessen Spitzel ist. Das kommt nur heraus, wenn alles total schiefläuft und jemand ausschert. Dann muss der Spitzel seine Pflicht erfüllen und den Abtrünnigen bestrafen.

»Niemand spricht«, sagt der Oberpriester. »Nie.«

Sie wiederholen seine Worte im Chor.

Niemand spricht. Nie.

»Geht.«

Der Oberpriester kehrt an seinen Platz zurück und setzt sich. Die Taschenlampe erlischt. Von der Jacke bleibt ein grünliches Nachbild auf der Netzhaut zurück. Es zuckt, wenn man mit den Wimpern klimpert.

Sie stehen auf und tasten sich voran, stoßen im Dunkeln zusammen und klagen über ihre eingeschlafenen Beine, bis sie die schwere Tür des Luftschutzkellers finden. In der Dunkelheit ist es schwierig, sie zu öffnen. Zu viele Hände tasten nach der Klinke. Die Hände haben es eilig. Ebenso die Beine. Jemand stolpert über die Schwelle. Jemand sagt Fuck. Jemand lacht heiser. Jemand macht im Flur das Licht an. Der Letzte schiebt die Tür zu.

Bevor die Tür sich schließt, sieht er in dem Lichtstreifen, der aus dem Flur in den Luftschutzraum fällt, den Oberpriester.

Eine gekrümmt sitzende Gestalt, die nach vorn blickt. Die Maske ist aus Gummi, das sieht man jetzt deutlich. Trotzdem – kurz bevor die Tür ins Schloss fällt, gleicht sie einem Knorren am Stamm eines zerborstenen Baums.

SAGAL YUSUFS GEHEIMNIS

Das war total abartig«, flüsterte Mira Sagal zu, als sie aus dem Luftschutzkeller im A-Haus an die frische Luft gekommen waren.

Sagal war das einzige Mädchen, das Miras Hand halten durfte, ohne dass es irgendwie lesbisch wirkte. Die anderen hatten sich schon auf den Weg zur Landzunge gemacht, denn da sollte gefeiert werden, obwohl es ein ganz normaler Wochentag war. Sie hatten gelacht und Witze gerissen und sich total unbeeindruckt gegeben. Männchen und Weibchen sind wir jetzt, haha. Dennoch war es Sagal vorgekommen, als wäre sie aus einem Albtraum erwacht. Die unsteten Blicke der anderen hatten ihr verraten, dass sie sich ebenso fühlten. Sie schafften es nur schneller, in die normale Welt zurückzukehren.

Alle hatten Mira angesehen und auf ihre Reaktion gewartet. Niemand wagte es, die Predigt zu kommentieren, bevor sie ihr Urteil abgegeben hatte. Doch Mira hatte ihnen lediglich befohlen, sie mit Sagal allein zu lassen. Jeder gehorchte Mira, immer. Und Sagal wurde beneidet, weil sie die Einzige war, die sich traute, ehrlich zu Mira zu sein. Die Einzige, um die Mira sich kümmerte.

»Ja«, antwortete Sagal und blickte sich um. »Ich hatte Angst, dass irgendwer im Dunkeln meinen Nacken berührt und ich aufschreie. Ich hätte so laut geschrien.«

Sie sah, dass im Treppenhaus das Licht ausging.

»Im Ernst?«, fragte Mira. »Ich fand es abartig kindisch. Ich hatte die ganze Zeit bloß Angst, dass ich lachen muss.«

Sie war dabei gewesen, sich eine Zigarette anzustecken, hielt aber inne, um sich zu vergewissern, ob Sagal es ernst meinte. Ihr Gelächter klang fast wütend, als sie merkte, dass es tatsächlich so war. So pflegte Mira zu lachen, wenn Sagal Gefahr lief, sich mit irgendeinem blöden Moslemsatz vor den anderen zu blamieren. Ein Moslemsatz war alles, worüber Mira, und mit ihr alle anderen, eine andere Auffassung hatten. Aber jetzt war von den anderen keiner da.

»Wie kannst du vor so was erschrecken?«, rief Mira. »Das waren doch Babygeschichten. Ein Mund anstelle der Fotze und was weiß ich noch. Pervers. Albern und pervers.«

Sagal zuckte die Achseln und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie starrte auf die Tür zum Treppenhaus. Rechts von ihr schlug das Feuerzeug Funken.

Im Luftschutzkeller hatte Sagal Miras Hand gedrückt. Mira hatte die Geste erwidert. Sagal hatte die Augen geschlossen, obwohl es so dunkel gewesen war, dass sie auch mit offenen Augen nichts gesehen hätte.

»Und die Maske«, sagte Mira, die Kippe zwischen den Lippen. »Echt peinlich. Ein Riesenzirkus vorher, und dann irgendwelche … Wieselgeschichten. Scheiße, was ist das überhaupt, ein Wiesel? Oder ein Knorren?«

Ein Wiesel ist ein Raubtier, das vor allem Vögeln gefährlich wird, und ein Knorren ist eine Missbildung an einem beschädigten Baum, dachte Sagal, sprach es aber nicht aus.

Der Zigarettengeruch stieg ihr in die Nase, bevor der Rauchschleier durch ihr Gesichtsfeld zog. Der Wind trug ihn im Nu davon. Sagal trat einen Schritt zurück, damit der Geruch sich nicht an ihr Kopftuch heftete. Ihre Mutter würde ihn sofort bemerken.

»Außerdem hab ich den Oberpriester erkannt«, sagte Mira ein wenig ruhiger.

Sagal drehte sich zu ihr um.

»Hast du nicht.«

»Doch, doch«, lachte Mira. »Das war Tuure. Der Kondomwäscher.«

»Der was?«

»Der Kondomwäscher. Tuure Aulanko aus dem B-Haus. Der hat seinem Vater einen gebrauchten Pariser geklaut, weil es ihm zu peinlich war, welche zu kaufen. Er hat ihn gewaschen und zum Trocknen im Bad aufgehängt. Jonna ist mal zum Ficken zu ihm gegangen, als seine Eltern in der Kneipe waren. Und als sie aufs Klo ging, sah sie den Pariser an der Wäscheleine hängen. Sie hat Tuure danach gefragt, und der hat es ihr erzählt. Rat mal, wie schwer es ihr fiel, ernst zu bleiben. Sie hat mich schon im Treppenhaus angerufen, um die Story loszuwerden.«

»Ach.«

Mira schwieg einen Moment. Dann trat sie direkt vor Sagal.

»Was hast du?«

»Nichts«, antwortete Sagal und blickte an Mira vorbei. In letzter Zeit hatte sie es immer seltener gewagt, Mira in die Augen zu sehen. Mira folgte ihrem Blick und drehte sich um.

»Was guckst du?«

Sagal seufzte.

»Warum kommt er nicht raus?«, fragte sie.

»Wer?«

»Der Oberpriester. Dieser Tuure.«

Mira zuckte die Schultern und zog an ihrer fast aufgerauchten Zigarette.

»Vielleicht kriegt er die Tür nicht auf«, meinte sie. »Geschieht ihm recht. Soll er doch da unten hocken mit seiner Gummimaske und den Pariser von seinem Vater aufpusten. Ansku hat mir vorher Angst gemacht, die Predigt wäre so schrecklich, dass sie immer noch eine Gänsehaut kriegt, wenn sie daran denkt. Fuck, was für eine Memme. Sie geht schon in die Neunte und hat angeblich immer noch Angst.«

»Er ist allein im Dunkeln geblieben«, sagte Sagal.

Es dauerte einen Moment, bis Mira begriff, dass sie vom Oberpriester sprach.

»Scheint so«, gab sie zurück und überlegte kurz. »Oder er wohnt in dem Haus und braucht nur ein paar Stockwerke höher zu gehen.«

»Nee. Du hast selbst gesagt, er wohnt im B-Haus.«

Mira schnaubte.

»Es klang wie Tuure, aber vielleicht war er es nicht. Sein Gesicht hab ich nicht gesehen.«

Sagal blickte noch eine Weile ins Treppenhaus, dann nickte sie.

»Er wird wohl in dem Haus wohnen«, sagte sie und pustete die Asche weg, die der Wind auf ihr Kopftuch geweht hatte. »Ich muss los.«

»Kommst du nicht zur Landzunge?«

Natürlich wäre Sagal gern dabei gewesen. »Nein«, antwortete sie. »Ich muss gehen. Wir sehen uns morgen.« Sie wollte gehen, doch Mira hielt sie an der Schulter fest.

»Du hast dich doch nicht wirklich erschreckt?«, fragte sie.

Auf Miras schwarz gefärbten Haaren funkelte Nieselregen. Der Wind trug Meeresgeruch vom Ufer heran. Aus irgendeinem Grund verband Sagal ihn mit den Wassertropfen auf Miras Haaren. Sie schüttelte den Kopf.

»Ich hab mich nicht erschreckt.«

»Sorry, dass ich gelacht hab«, sagte Mira. An den funkelnden Augen hinter der Glut ihrer Zigarette war zu erkennen, dass sie wirklich besorgt war. Sagal freute sich so sehr darüber, dass sie lächelte.

»Krieg keine Albträume. Das war bloß eine beschissene Geschichte. So was tut man hier. Man macht anderen Angst und so, aber damit will man nur was Gutes erreichen. Weißt du noch, was ich dir über Ida erzählt hab?«

Sagal nickte.

»Wie wir sie auf dem Uferweg erschreckt haben?«

»Ja.«

»Wir mussten bestimmt drei Stunden warten, ehe sie kam, aber es hat sich gelohnt.«

Sagal schwieg.

»So was macht man hier eben«, fuhr Mira fort. »Streiche spielen. Und wenn man dir einen Streich spielt, dann weißt du, dass du eine von uns bist. Stimmt’s?«

»Ja.«

»Na, jetzt hat man dir im Märchenkeller einen Streich gespielt. Kein Grund, dich zu fürchten. Außerdem pass ich auf dich auf.«

»Ich hab mich nicht erschreckt«, sagte Sagal.

»Wirklich nicht?«

»Wirklich nicht«, antwortete sie. »Aber trotzdem danke, Mira. Amüsiert euch gut.«

»Werden wir, aber denk dran: Wenn du Albträume hast, rufst du mich an und dann klingele ich bei euch, mitten in der Nacht.«

Sagal lächelte. »Ich denke dran.«

»Und rufst an.«

»Ja, ich ruf an.«

»Ehrlich, ich bin wie der Blitz bei euch. Dann sagt dein Vater wieder, was du wollen, biste verrückt.«

Sagal lachte.

Mira umarmte Sagal. Alles Schreckliche war vergessen. Sagals Vater verabscheute Mira. Mira hatte immer Geld. Neue Kleider, ein neues Handy, eine neue Haarfarbe. Vater hielt das für ein schlechtes Zeichen, da Miras alleinstehende Mutter arbeitslos war. Woher kam das Geld? Die Mieten wurden ständig erhöht, woher also das Geld?

Sagal hätte in Miras feuchten Haaren schlafen mögen. Sie rochen nach seltsamen Chemikalien und nach abgestandenem Rauch und nach Wissen über all das, worüber Sagal zu wenig wusste. Mira küsste sie auf die Wange und ging.

Sagal spazierte auf ihre Haustür zu, bis Mira nicht mehr zu sehen war. Der Zigarettengeruch, der sich an ihre Kleider geheftet hatte, stieg ihr in die Nase, als sie den mp3-Player aus der Brusttasche zog. Er war kleiner als eine Streichholzschachtel und hatte ein Kabel mit Tasten am anderen Ende. Sagal zog das Kabel aus dem Ärmel. Sie hatte die ganze Zeit Angst gehabt, Mira würde es entdecken. Oder einer der anderen, obwohl im Dunkeln keiner etwas sehen konnte.

Sie warf einen Blick auf das Fenster ihrer Wohnung. In der Küche brannte Licht, aber wahrscheinlich saßen Vater und Mutter im Wohnzimmer und der kleine Bruder schlief. Der große Bruder würde nach Hause kommen, wann immer er es für richtig hielt. Jungen durften tun, was sie wollten. Bald würde Vater merken, wie spät es war, und Mutter auffordern, Sagal am Handy anzurufen.

Sagal wickelte das Kabel um den mp3-Player, verbarg ihn in der Faust und steckte ihn dann in die Tasche. Der Treppenaufgang im A-Haus war immer noch dunkel. Vor der Tür wirbelte der Wind Laub auf. Sagal machte einen Schritt nach vorn, ohne genau zu wissen, ob sie zum Parkplatz oder zurück in den Luftschutzkeller wollte. Der Gedanke an den Keller löste eine stechende Welle aus, die sich vom Kreuz über die Schulterblätter bis in die Arme ausbreitete. Es war eine Mischung aus Euphorie und Entsetzen, wie beim Eintauchen in kaltes Wasser. Sie ging schnurstracks weiter. Drehte sich nicht um. Dann stand sie vor dem Eingang und betrachtete ihr Spiegelbild in der Glastür. Hinter ihr schwankten die fast kahlen Äste der Bäume. Es sah aus, als versuchten sie mit kantigen Fingern nach ihrem Kopftuch zu greifen. Sagal trat so nah an die Tür, dass ihre Nasenspitze beinahe das Glas berührte.

Treppenstufen führten hinunter in die Dunkelheit, in der nur das hellere Rechteck der Kellertür zu erkennen war. Sagal umklammerte den mp3-Player und überlegte, ob sie ihn in den Gully werfen sollte. Er würde sicher zwischen den Gitterstäben hindurch passen. Der nächste Sturzregen würde ihn weit forttragen. Ratten würden ihn erstaunt ansehen und versuchen, hineinzubeißen. Wasser würde in das Gerät eindringen und jeden Ton vernichten, den es gespeichert hatte, bis nur noch Stille und Ungetanes übrig blieben.

Sagal zuckte zusammen, als in der Scheibe vor ihr Licht aufblitzte. Erst nach einer Weile begriff sie, dass es eine Spiegelung war. Sie hielt den Atem an und drehte sich um. Eine Taschenlampe würde sie anstrahlen, dessen war sie sich sicher.

Der Hof war leer. Auf dem Parkplatz stand ein Auto, dessen Scheinwerfer für den Bruchteil einer Sekunde nachglühten, bevor sie erloschen. Sagal spürte, wie die heftigen Schläge ihres Herzens an ihr Trommelfell donnerten. Sie schloss die Finger fester um das Stück Plastik mit dem darum gewickelten dünnen Kabel in ihrer Tasche. Die Scheinwerfer leuchteten nicht noch einmal auf, doch ihr blindes Starren blieb.

Sagal sah sich um. Ein leerer Hof, hier und da helle Fenster, wie Buchstaben beim Scrabble. Hinter ihr das dunkle Treppenhaus. Sie ging über den Hof zum Parkplatz. Das Knirschen der Kieselsteine unter ihren Schuhen hallte lauter als gewöhnlich von den Häusern wider. Es klang fremd. Fremde Füße, eine fremde Hand um das warme, glatte Plastik. Ein fremdes Mädchen.

Auf dem Parkplatz streckte die Fahrerin des Wagens den Arm aus, um die Beifahrertür zu öffnen. Im Innern ging ein schwaches Licht an. Sagal wagte nicht, sich noch einmal umzusehen, sondern zog die Tür ganz auf und stieg ein.

»Warum hast du so lange gebraucht?«, fragte die Frau nervös. »Wolltest du noch mal zurück?«

Sagal war ein fremdes Mädchen im fremden, neuen Geruch eines fremden Autos.

»Ganz ruhig«, sagte die Frau dann und berührte Sagal an der Schulter. »Alles in Ordnung.«

Plötzlich lag der mp3-Player in der Hand der Frau. Mit fahrigen Bewegungen wickelte sie das Kabel ab.

»Du bist gar keine Polizistin«, sagte Sagal.

Die Bewegungen der Frau verlangsamten sich für einen Sekundenbruchteil, als sie das Kabel eines Kopfhörers an das Gerät anschloss. »Doch«, antwortete sie zerstreut, den Kopfhörer schon auf den Ohren.

»Nein. Die Polizei verlangt so etwas nicht.«

»Mmh.« Der Blick der Frau verriet, dass sie Sagal nicht zuhörte, sondern gebannt den gestohlenen Stimmen aus dem Luftschutzkeller lauschte.

»Ich zeig dich bei der Polizei an«, sagte Sagal.

Die Frau riss sich den Kopfhörer herunter und ließ ihn auf ihren Schoß fallen. »Was redest du denn da?«

»Ich habe meinem großen Bruder davon erzählt. Ich habe ihn gefragt, ob er wieder gedealt hat.«

Die Frau schwieg. Vielleicht atmete sie nicht mal.

»Er hat seit dem letzten Mal nichts getan. Die Polizei kann nicht hinter ihm her sein.«

Die Frau atmete hastig ein, doch dabei blieb es.

»Du hast mich angeschmiert, und jetzt krieg ich deswegen Schwierigkeiten.«

»Du kriegst keine Schwierigkeiten«, sagte die Frau. »Wenn du noch mal in den Keller gegangen wärst, dann vielleicht. Ich habe mir Sorgen gemacht, als du dahin zurückgegangen bist.«

Sagal schnaubte. »Du bist keine Polizistin. Und Sorgen machst du dir schon gar nicht. Du lügst.«

Die Frau schwieg einen Moment und dachte ganz offensichtlich nach. Warum war Sagal überhaupt bei ihr eingestiegen, wenn sie wusste, dass sie keine Polizistin war?

»Hör mal, Sagal.«

»Hm.«

»Was du getan hast, war sehr mutig.«

»Du schreibst für irgendein Klatschblatt oder …«

»Ich bin Wissenschaftlerin«, sagte die Frau. »Und du schwebst nicht in Gefahr. Ich danke dir und …« Sie holte Geldscheine aus ihrem Portemonnaie und reichte sie Sagal.

»Das ist für dich.«

Sagal machte keine Anstalten, das Geld anzunehmen. Das Rascheln der Scheine erinnerte sie an Mira, die immer Geld hatte, doch sie hielt ihre Hände in Zaum. Durch die Windschutzscheibe blickte man direkt auf die Tür zum Treppenhaus. Die Äste der Bäume bogen sich nach unten und schaukelten.

»Tut mir leid, dass ich dich angelogen habe«, sagte die Frau, doch Sagal hörte ihr nicht zu.

Eine seltsame Vorstellung, dass sie eben noch vor dieser Tür gestanden hatte. Die Frau ließ das Geld in Sagals Schoß fallen. Dort lag es einen Moment. Dann öffnete Sagal die Beifahrertür. Instinktiv umklammerte sie die Geldscheine, als der Luftzug sie fortzutragen drohte. Der Motor wurde angelassen, sobald sie die Tür zugeschlagen hatte.

»Fucking thanks«, sagte Sagal, als das Auto anfuhr. Sie steckte das Geld in die Tasche und wischte die Hände am Mantel ab.

Sagal war allein im Wind, der alles, was schwächer war als ein Baum, in die Luft riss und über den Asphalt rollen ließ. Sie wusste, dass sie die Frau nicht bei der Polizei anzeigen würde. Sie zeigte nie etwas an. Nicht, weil sie Immigrantin war, sondern wegen der Verhältnisse in der Patteriniementie. Wenn hier ein Auto angezündet wurde, lohnte es sich nicht, Anzeige zu erstatten. Wenn man hundert Meter weiterging, zu den Garagen der Reihenhäuser, und eine Windschutzscheibe einschlug, kam eventuell die Polizei. Ging man noch fünfzig Meter weiter und warf einen Stein durch das Fenster eines der Eigenheime, kamen zwei Polizeiautos. Sagals Vater sagte, die Patteriniementie sei wie ihre Siedlung in Somalia vor dem Krieg, aber freundlicher und zugleich kälter.

Während sie vom Parkplatz auf den Hof zurückging, ballte Sagal ihre Hand in der Tasche zur Faust und dachte daran, dass das Plastikgerät fort war. Kein Beweismaterial. Das Geld konnte schließlich von überall herkommen. Der Gedanke funktionierte prächtig, bis ihr der Wind etwas Klebriges und Stinkendes ins Gesicht schleuderte. Wie ein Insekt, das einen Menschen mit einer Pflanze verwechselt. Sagal schrie auf und schüttelte ein feuchtes Ahornblatt von ihrer Hand. Sie wischte sich über das Gesicht und spuckte Krümel aus. Wie eklig.

Als sie aufblickte, entdeckte sie an einem Fenster im ersten Stock des A-Hauses eine menschliche Gestalt, die geradewegs zu ihr hinzusehen schien.

Wieder spürte sie das Prickeln. Diesmal kam es von weiter unten.

Er schaut dich nicht an, sagte sie sich. Er hat nichts gesehen. Sagal versuchte an den morgigen Schultag zu denken, an das Warten auf den Bus und den miesen Geruch, wenn rundherum gegähnt wurde. Sie selbst legte beim Gähnen immer die Hand vor den Mund. Niemand brauchte ihre Zunge und ihre Zähne zu sehen und ihren Atem zu riechen.

Entschlossen stiefelte Sagal zu ihrem Hauseingang. Als sie den kalten Türgriff an der Hand spürte, drehte sie sich noch einmal zum A-Haus um. Im Treppenhaus war das Licht angegangen. Sagal war erleichtert. Vermutlich war der Oberpriester auf dem Weg nach oben. Ein ganz gewöhnlicher Typ, ein Kondomwäscher. Hacke und Gummimaske in einer Plastiktüte. Vielleicht würde sie Tuure im Bus sehen, wenn sein Moped oder Fahrrad kaputt war. Sie öffnete die Tür und schlüpfte rasch hinein.

Summend ging sie zum Lichtschalter.

Ihr Fuß stieß gegen etwas.

Sagal erschrak und blickte nach unten. Irgendetwas war an ihrem linken Schuh hängen geblieben. Es machte ein gummiartiges, schlackerndes Geräusch, als sie den Fuß schüttelte. Sagal streifte das Ding ab und trat einen Schritt zurück. Sie hielt den Atem an und ging rückwärts, bis sie sicher war, dass der Gegenstand sich nicht von allein bewegte.

Es war ein formloser heller Haufen mitten auf dem Fußboden. Zwischen ihr und dem orange leuchtenden Schalter. Sagal starrte ihn an wie ein Tier, das sich tot stellt. Erst jetzt nahm sie den seltsamen Gummigeruch, der ihr schon beim Betreten des Hauses in die Nase gestiegen war, bewusst wahr.

Der Kondomwäscher, dachte Sagal und versicherte sich selbst, wie albern es war, den formlosen Haufen für ein Kondom zu halten. Er hatte klaffende Löcher und rissige Ränder und –

Ihr Blick fiel auf die Ecke rechts neben dem Schalter. Das grüne Bündel glich einem zusammengesackten Menschen ohne Kopf und ohne Beine. An der Wand waren dunkle längliche Flecken, wo die Jacke über den Putz nach unten gerutscht war.

Sagal blickte instinktiv nach draußen. Im selben Moment erlosch das Licht im Treppenaufgang des A-Hauses. Das war kein Zufall, meinte sie, sondern eine Warnung, ein geplantes Zeichen. Sie war ein schlechter, schlechter Mensch. Niemand hatte je etwas so Böses getan wie sie, denn sie hatte Mira und alle anderen verraten.

Mira, die schlimme Gedanken in ihr weckte. Aus deren Haar ein Duft aufstieg, den sie zu begierig einatmete. Böse, böse.

Eine Bewegung, die Sagal im Augenwinkel wahrnahm, ließ sie auf den Hof blicken, zwischen den Grillplatz und den Findling. Die großen Felsen auf dem Hof und in den Wäldern von Suvikylä hatten sie immer eine erschreckend tiefe Einsamkeit empfinden lassen, gerade so, als wären die scheinbar unverrückbaren Häuser nur Kulissen auf einem fernen Planeten, auf dem man von niemandem Verständnis erhoffen durfte. Sie hatte im Schulbuch ein Bild von der Oberfläche des Mars gesehen. So fühlte sie sich manchmal. So einsam. Sie hätte das Bild einrahmen können.

Auf dem Hof stand jemand.

Sagal merkte, dass sie die Gestalt schon eine Weile betrachtet hatte, ohne zu begreifen, dass es ein Mensch war. In einem grünen Mantel. Mit einem komischen Gesicht.

Ein Knorren an einem Baum.

Streiche spielen.

Sagal drehte sich um und betrachtete das Bündel auf dem Boden, dann das zweite in der Ecke. Wie konnten die Maske und die Öljacke hier sein, wenn sie zur gleichen Zeit –

Als ihr Handy klingelte, entfuhr Sagal ein Schrei. Ein dummer, brüchiger Schrei. Sie schlug beide Hände vor den Mund und blickte sich um. Wie peinlich. Darüber vergaß sie alles andere. Plötzlich spürte sie nur Entsetzen, weil sogar der maskierte Typ auf dem Hof ihren Schrei gehört haben musste.

Das Handy klingelte weiter, doch das Geräusch löste nicht die geringste Bewegung aus. Wer hätte es auch hören sollen, im leeren, dunklen Treppenhaus.

Sagal nahm die Hände vom Mund, drehte sich um und sah die Gestalt an, die draußen stand. Sie dachte an die Maske und an das Bündel in der Ecke und war sicher, dass die ganze Sache inszeniert worden war, um sie zu beschämen. Ihre Schändlichkeit war ans Licht gekommen. Jetzt wussten es alle.

Ruhig.

Alle glauben, dass alle anderen sie ständig bespitzeln, hatte Mira einmal gesagt. Der Gedanke an Mira machte Sagal Mut. Sie holte das Handy aus der Tasche, las den Namen des Anrufers und meldete sich.

»Hallo Mama.«

»Wo bist du? Es ist schon …«

»Ja, ja. Ich bin schon im Treppenhaus.«

»Gut. Dein Vater macht sich Sorgen.«

»Ich komme.«

Sagal unterbrach die Verbindung und spürte, wie ihr Atem gleichmäßiger wurde. Die Stimme der Mutter und der Gedanke an Mira hatten die Furcht weggewischt. Sagal stand einen Moment reglos da und starrte das Wesen auf dem Hof an. Woher nahm es das Recht, ihr Angst einzujagen? Sie riss die Haustür auf.

Der Wind kühlte ihr Gesicht und trug den Gummigeruch davon.

»Was hab ich euch getan?«, brüllte Sagal die Gestalt an.

Keine Antwort.

»Ich fürchte mich nicht vor euch«, sagte Sagal. »Mira lacht auch über euch und eure albernen Geschichten.«

Die Gestalt blieb, wo sie war, doch Sagal zögerte nicht. Sie schritt immer zügiger aus. Die Stimme ihrer Mutter kitzelte sie im Ohr.

»Ich tue, was ich will.«

Rechts von ihr ging die Tür zum B-Haus auf. Sagals Mut wuchs. Es gab Hundebesitzer, Schichtarbeiter und Betrunkene. Die Häuser waren voll von normalen Menschen, die nicht zuließen, dass blöde Jungs junge Mädchen erschreckten. Mütter, Väter, jüngere Schwestern und Brüder, die zu Weihnachten kleine Geschenke brachten, obwohl sie wussten, dass Sagals Familie das Fest nicht feierte.

Auch die Tür zum A-Haus ging. Sagal blickte hinüber. Das Treppenhaus war dunkel, doch das Licht der Parkplatzbeleuchtung blitzte in der Glasscheibe auf.

Jemand kam mit resoluten Schritten auf sie zu. Vielleicht hatte er die maskierte Gestalt in der Öljacke auf dem Hof gesehen.

»Der will mich erschrecken«, rief Sagal dem Näherkommenden zu.

Keine Antwort. Aber die Schritte wurden schneller.

Sagal blickte nach rechts. Vom B-Haus her näherte sich eine zweite Gestalt. Nicht gemächlich, sondern im Laufschritt.

Sagal hielt den Atem an und wandte den Blick wieder nach vorn.

Der Schoß der Jacke flatterte im Wind. Die Maske saß schief, als würde sie gleich fallen. Sie war viel zu groß für den Menschen, der sie trug. Wenn es ein Mensch war. Sagal dachte an einen Baum und einen Knorren und schließlich an eine Vogelscheuche. Sie versuchte die Beine der Gestalt zu sehen, doch wo sie sein sollten, war alles schwarz. Vielleicht hingen die Jacke und die Maske an einem Rechen, der an den Fels gelehnt war. Vielleicht war es eine Falle.

Sie hielt inne. Drehte sich um.

Zu beiden Seiten stand ein Hochhaus. Vor ihr stand ein Hochhaus. Drei Rechtecke im Herbstwind. In jedem helle Fenster, flackernde Fernseher, hier und da bewegten sich Schatten. Das mussten normale Menschen sein, die nichts sahen und nichts unternahmen, denn sie hatten ihre abendlichen Pflichten, die Fernsehnachrichten, langes Getratsche am Telefon. Ihr Vater hatte sie immer gewarnt: Verlass dich nicht darauf, dass die Menschen irgendetwas sehen oder tun. Wenn das Unheil beginnt, sind die Menschen blind und gelähmt. Sagal und ihr Bruder hatten ihren Vater ausgelacht. Sie hatten Assassin’s Creed gespielt. Ihre Mutter hatte den Vater gebeten, still zu sein.

Die stummen Gestalten näherten sich, waren vielleicht noch zwanzig Meter entfernt. Den Laufschritten nach schienen sie zu wetteifern, wer sich als Erster auf sie stürzen würde. Die Gesichter schimmerten in der Dunkelheit, schwankend und zu groß.

Sagals Hände zitterten, als sie das Handy aus der Tasche holte, dessen Licht zum Leben erwachte. Sie starrte auf das Display und bemühte sich, nicht auf die Bewegung am Rand ihres Blickfelds zu achten.

Wen sollte sie anrufen?

Warum anrufen?

Wenn du Albträume hast.

Rundherum Fenster, Menschen, das Motorengeräusch des letzten Busses.

Du rufst mich an und ich komme.

Der Mann mit dem Hund aus dem Erdgeschoss des A-Hauses würde sich gleich eine Zigarette anzünden und husten. Ganz bestimmt. Doch die Gestalten näherten sich, zielstrebig und gesichtslos, wie losgelöst von den Silhouetten der Häuser und dem feuchten Schotter, auf dem die Schuhe im Wechsel knirschten, wie um zu demonstrieren, dass es keinen vorgeplanten Rhythmus gab, dass hier etwas auf sie losstürmte wie Bluthunde.

Sagal wählte Miras Nummer, legte die freie Hand vor den Mund und schloss die Augen. Die Schritte waren schon ganz nah.

Sagal wartete auf den Signalton, dachte an den Schulbus und an die anderen Schüler, die an ihr vorbeiblickten, deren Spiegelbilder wie gleichgültige Gespenster von den Scheiben zurückgeworfen wurden. Sie schlug die Augen erst auf, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte und sie drückte. Eine Stimme flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sagal verstand die Worte nicht, denn in ihrem Kopf rauschte es. Ihre Nackenmuskeln waren angespannt, sie war darauf gefasst, die Klinge zu spüren, die sich zwischen ihre Schulterblätter bohren würde, die Klinge, die Haare, Finger und Augen zerschnitten hatte.

Endlich klingelte das Handy. Sagal hielt es fest umklammert. Gleich würde Mira sich melden. Sie würde von der Landzunge herbeilaufen, über moosbewachsene Steine und umgestürzte Bäume, beinahe fliegend und mit dampfendem Atem. Dann wäre es vorbei mit diesem Blödsinn. Die Masken würden in den Schotter getreten, und bei Miras Gebrüll würde jeder in der Patteriniementie den Fernseher leise stellen und unruhig den Kopf drehen wie ein Tier, das spürt, dass ein großes Raubtier in Wut geraten ist.

Plötzlich begriff Sagal, was seltsam war. Was falsch war. Es gab zwei Klingeltöne. Der eine kam aus dem Handy, das sie an ihr Ohr drückte. Der andere ertönte hinter ihrem Rücken. Sie wechselten sich ab wie Vögel im Zwiegesang. Zuerst das eigene Handy. Dann die Antwort hinter ihrem Rücken. Von Kleidern gedämpft. Von der Jacke gedämpft. Sagal unterbrach die Verbindung.

Ihr Blickfeld verdunkelte sich. Ein dickes Tuch wurde über ihren Kopf geworfen. Es legte sich auf ihre Haut, zwang sie, das Handy loszulassen, stach ihr ins Gesicht und stank nach Keller und nach ihrem eigenen Mundgeruch, als sie in den Stoff brüllte.

»Warum hast du geredet?«, fragte eine Stimme direkt an ihrem Ohr.

Keine Großmutterstimme.

Eine Furie.

»Niemand redet. Niemals.«

Die Furie war wütend. Nicht gespielt wütend wie damals, als sie vor der Lehrerin, die ihr vorwarf, geraucht zu haben, die Unschuldige spielte. Sondern echt wütend.

Sagal hörte auf zu schreien.

Anderen konnte man widersprechen. Mira nicht.

Als Sagal weggebracht wurde, hörte sie, wie das heruntergefallene Handy hinter ihr klingelte. Der Klingelton ihres Vaters.

Sie hätte gern geantwortet. Nicht, um zu bitten, dass irgendwer eine wichtige Beschäftigung unterbrach, um sie zu retten. Sondern nur, um ihrem Vater zu sagen, wie recht er gehabt hatte.

DIE HAND DES VATERS

Samuel Autio war auf dem Weg zur Wohnung seines Vaters, als sein Scheinwerfer eine reglose menschliche Gestalt erfasste.

Keine Chance, rechtzeitig zu bremsen. Es war dunkel. Der Regen war heftiger geworden. Die Gedanken ein einziger Nebel. Ein Aufprall. Überfahren.

Samuel hielt an, obwohl er wusste, dass es zu spät war. Er spürte einen seltsamen Druck auf dem Brustkorb. Als hätte jemand versucht, ihn bei dem plötzlichen Halt zu schützen. Eine unsichtbare, schützende Hand. Die Hand versuchte, Erinnerungen zu wecken, doch Samuels Müdigkeit war zu groß. Der Motor brummte. Der Regen trommelte gleichmäßig auf Dach und Motorhaube. Die Windschutzscheibe trübte sich im Nu. Die Tropfen erschienen aus dem Nichts, als würde das Fenster schwitzen. Unmittelbar, bevor die Scheibenwischer darüber zogen, war das Wasser schmutzig, dunkler, wie Blut. Dieser Anblick hielt jedoch weniger als eine Sekunde vor. Die mechanische Bewegung der Gummiblätter wischte ihn fort, bevor er zur Gewissheit werden konnte.

Samuel blickte in den Rückspiegel. Der schwankende Lichtstreifen der Straßenlaternen. Sein Reflex auf dem nassen Asphalt. Sonst nichts. Er stellte den Motor ab und stieg aus. Der Regen war eiskalt. Nichts auf der Straße. Nichts unter dem Auto.

Samuel stand im Regen und überlegte. Erinnerte sich an die dunkle Gestalt, die über die Motorhaube gerollt war. Ein gedämpftes, fast unhörbares Kratzen, als die Handfläche des Fremden über die Windschutzscheibe glitt. Es hatte nicht länger als eine Sekunde gedauert, doch Samuel erinnerte sich deutlich daran. Blasse, zusammengequetschte Haut. Er ging an den Straßenrand und blickte in den Graben.

Nichts.

Auf der einen Seite der Straße nur dunkler Wald. Auf der anderen ein Parkplatz, dahinter Reihen von drei- und vierstöckigen Fertigbauten aus den Siebzigerjahren. Irgendwo dort befanden sich auch die Patteriniementie und Vaters Haus. Das Haus, in dessen zweitem Stock er wie von selbst lesen gelernt hatte. Die Aufschrift auf der Milchpackung. Einfach so.

Samuel trat an die Motorhaube und befühlte sie. Nicht die kleinste Delle. Er bückte sich und suchte nach Blutspuren. Es gab keine. Der Regen rauschte.

Als Samuel sich aufrichtete, sah er die Scheinwerfer eines näher kommenden Wagens. Er wartete einen Moment, überlegte. Setzte sich dann wieder ans Steuer und ließ den Motor an. Die Scheibenwischer brummten. Sich nähernde Scheinwerfer im Rückspiegel.

Wohin konnte die Gestalt geflogen sein?

Eine gerade, leere Straße. Leere Gräben. Der Körper eines Menschen konnte nicht einfach so verschwinden, weder der eines Erwachsenen noch der eines Kindes.

Samuel umklammerte das Lenkrad. Spielte mit dem Gedanken, die Polizei anzurufen. Doch alles war viel zu schnell gegangen. Nebel und Gewimmel, von der Abfahrt in Helsinki an. Er dachte an den Anruf vor mehr als sechs Stunden, an seine Ankunft im Zentralkrankenhaus in Vaasa, an den Anblick seines ruhenden Vaters und an die mit schwedischem Akzent sprechende Krankenschwester, die gesagt hatte, sein Vater sei entschlafen.

Es hatte nicht mehr wehgetan, die Klinik, Vaters Leiche und alles andere. Im Gegenteil. Er hatte sich geborgen und erleichtert gefühlt. In der Klinik in Helsinki sah er täglich Tote. Er hatte die Hand einer alten Frau gehalten, als sich ihr magerer Körper in eine Leiche verwandelte. Beim Gespräch mit der schwedischen Krankenschwester war seine Stimme kein einziges Mal gebrochen. Selbst wenn er es darauf angelegt hätte, wäre sie nicht gebrochen.

Aber der erste Anruf hatte ihn tief im Magen gezwickt, obwohl sich äußerlich nichts verändert hatte. Der Kalender hatte weiterhin an der Wand des Büros gehangen. Der Tag der Betriebsfeier im Advent bereits angekreuzt, obwohl es bis dahin noch drei Monate waren. Auf der Station hatte jemand darum gebeten, den Aufzug heraufzuholen. Der Computer hatte leise gebrummt. Samuel hatte weiterhin Harndrang verspürt. Geblieben war auch die vage Befürchtung, der Schmerz im linken Auge kündige das Horton-Syndrom an. Und ebenso die Vorstellung, er würde Annika von der Nachbarstation in der Tiefgarage vögeln, ohne einen Gedanken an Krista und die Kinder, er würde es einfach geschehen lassen und danach in Katajanokka übers Meer rufen, ich tue, was ich will.

Dennoch war der kalte Atem der Todesnachricht über ihn geweht, in die Adern eingedrungen und durch sie hindurchgetröpfelt, obwohl sich nichts verändert hatte.

Samuel nahm den Fuß von der Kupplung und gab Gas. Der Wagen hinter ihm näherte sich, bog dann auf den Parkplatz ein. Die Scheinwerfer leuchteten im Rückspiegel auf und verschwanden. Der Fahrer hatte an der vermeintlichen Unfallstelle nicht angehalten, hatte nicht einmal gebremst. Samuel bog in die Patteriniementie ein. Es war die letzte Straße vor dem Wald, hinter dem es nur noch kleine Inseln und das Meer gab. Er schaltete den Motor aus und betrachtete die Balkonreihen der Etagenhäuser.

Dieselben Strukturen, dieselben Formen. Ihre Unerschütterlichkeit war tröstlich. Sie bezeugten, dass die Jahrzehnte von der Volljährigkeit bis zum heutigen Tag eigentlich keine Bedeutung hatten. Die erste feste Stelle, die Heirat, die Kinder, die Streitereien, die Seitensprünge und die Filme, die er gesehen hatte. Bloßer Nebel, den der Morgen vertrieb. Diese Häuser blieben, wie die Pyramiden und wie die Statuen auf den Osterinseln.

Die Satellitenschüsseln waren Zeichen einer neuen Welt.