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Gisa Pauly

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Beschreibung

Dio mio, das kann ja heiter werden! Mamma Carlotta ermittelt wegen Entführung, Erpressung und eines stürmischen Mordes auf Sylt 

Friesisch herb, italienisch schwungvoll und mit einer unglaublichen Lust am Humor schickt Bestsellerautorin Gisa Pauly ihre unwahrscheinliche Ermittlerin in einen Nordsee-Krimi der Extraklasse.  

Für eine derart überschaubare Insel hat Sylt eine unglaublich hohe Verbrechensdichte, die zum mittlerweile dreizehnten Mal Stoff für eine der witzigsten Regionalkrimi-Reihen liefert. 

Mit einem Literaturfestival hat Mamma Carlotta zwar nicht allzu viel am Hut, mit einer plötzlichen Entführung hingegen schon. Als die Tochter der Festivalleiterin gekidnappt wird und die Entführer davor warnen, die Polizei einzuschalten, macht sich Mamma Carlotta auf eigene Faust an die Ermittlungen. Während sich am Horizont dunkle Wolken bedrohlich zusammenbrauen, nimmt der Fall plötzlich eine Wendung, die Mamma Carlottas ganzes Geschick auf die Probe stellt.  

Cosy Crime von der Nordsee – es gibt keine zweite wie Mamma Carlotta!

Auch mit »Sturmflut« hat Gisa Pauly auf Anhieb die Bestsellerlisten erobert und erneut unter Beweis gestellt, dass ein Krimi lustig, abgedreht und vorlaut sein kann, ohne es an Spannung fehlen zu lassen. Unzählige Leser folgen der Italienerin auf Sylt seit vielen Jahren treu durch jeden neuen Fall. Folgen Sie mit! 

»Luftig-leichte Sommerlektüre für jeden Strandurlaub« – Jungs & Deerns – Familienmagazin Hamburg 

Lassen Sie sich fallen, schalten Sie ab und entdecken Sie lustige Romane für Frauen und Sylt-Fans. Wenn »die italienische Miss Marple von Sylt« (Brigitte) der Polizei unter die Arme greift, können Verbrecher einpacken. Und so mancher Kriminalist schüttelt nur noch den Kopf, wenn ihn Mamma Carlotta in den Wahnsinn treibt.

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Covergestaltung: Eisele Grafikdesign

Covermotiv: 3dmi/Bigstock (Badewanne); vesnacvorovic/Bigstock (Stock); Macrovector/Bigstock (Goldfisch, Glas); Tatiana_Grozetskaya/Bigstock (Wellen); Life on white/Bigstock (Möwe)

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Inhalt

Cover & Impressum

Kriminalhauptkommissar Erik Wolf ...

Mamma Carlotta war ...

Petrine Roesgen rutschte ...

Der Wind war ...

Die Ferienvilla der ...

Mamma Carlotta sah ...

Hauptkommissar Erik Wolf ...

Auf dem Rückweg ...

Kommissar Vetterich war ...

Beim Verlassen des ...

Sie standen nebeneinander ...

Mamma Carlotta war ...

Erik und Sören ...

Carlotta Capella ging ...

Sören saß am ...

Mamma Carlotta kannte ...

Erik war dankbar ...

Tilla Speck hatte ...

Auf dem Display ...

Es ging in ...

Dass er um ...

Das Lyrik-Festival hatte ...

Der Anruf von ...

Carolin holte schon ...

Erik schlug mit ...

Antonia Schäfer hatte ...

»Dieses Nichtstun macht ...

Mamma Carlotta hastete ...

»Der hat wirklich ...

Felix verzog sich ...

Die Staatsanwältin erschien ...

Mamma Carlotta betrachtete ...

Der Wind nahm ...

Mamma Carlotta wartete ...

Erik überredete Sören ...

Antonia Schäfer wurde ...

Sie fuhren gen ...

Dr. Eva-Mathilda Speck ...

Erik war seinem ...

Als Erik das ...

Wie immer, wenn ...

Sie verließen das ...

Das alte Auto ...

Erik musste sich ...

Mamma Carlotta hatte ...

Als sie in ...

Als Erik direkt ...

Tove Griess wurde ...

Erik sah seinen ...

Nach dem Schreck ...

Der Abend wurde ...

Am Morgen hatte ...

»Wenn das man ...

Sie musste darauf ...

Erik warf seinem ...

Die Stunden vergingen ...

Erik wandte dem ...

Mamma Carlotta ertrug ...

Das Geräusch des ...

Die Berthin-Bleeg-Straße ...

Kaum hatten sie ...

Lale Claussen war ...

Erik und Sören ...

Das Wiedersehen von ...

Erik und Sören ...

»Das geht ja ...

Sie stiegen beide ...

Lale musste immer ...

Sie rasten Richtung ...

Carolin und Lale ...

Der Wald gegenüber ...

Lale hatte schon ...

Der Barkeeper des ...

Kükeltje war die ...

Erik sah sofort ...

Mamma Carlotta hatte ...

Sie saßen in ...

Die großartige Idee ...

Der Vormittag zog ...

Das Haus am ...

Dass das Telefon ...

»Weg! Weg! Dahinein!« ...

»Es geht los« ...

Das Suchen schien ...

Erik hatte Verständnis ...

Der Blick durch ...

Erik lauschte nach ...

Mittlerweile war Mamma ...

Tilla legte eine ...

Erik hatte sie ...

Rezeptanhang

Sollte einst mein Herz

vom Baum des Lebens fallen

dann wünsch ich nur

es möge einen geben

der es aufhebt

und nach Hause trägt

und pressen wird

zwischen den Seiten

eines Buches

das oft gelesen wird

Carlotta Capella schob die Zeitung ärgerlich zur Seite. Das sollte ein Gedicht sein? »Das reimt sich ja nicht mal.« Sie faltete die Zeitung zusammen und begann, den Frühstückstisch abzuräumen. »Moderne Lyrik! Madonna!« Sie schüttelte die Krümel von den Sets, als wollte sie die moderne Lyrik so lange schütteln, bis sie sich endlich reimen wollte.

Aber an diesem Morgen konnte es ihr sowieso niemand recht machen, die moderne Lyrik erst recht nicht. Kükeltje, die kleine, schwarze Katze der Familie Wolf, verzog sich erschrocken, als Teller und Tassen mit einem besorgniserregenden Geklapper in der Spülmaschine landeten, und das Besteck flog hinterher, als wollte Carlotta demnächst als Messerwerferin im Zirkus auftreten. Die Marmelade fand den Weg in den Kühlschrank derart schwungvoll, dass das Glas auf dem Kopf zu stehen kam, die Butter folgte im Flug, aber zum Glück ohne Salto, die übrig gebliebenen Panini sprangen in die Höhe, als der Korb, in dem sie lagen, auf die Anrichte geknallt wurde.

Leider war Carlottas Zorn danach noch immer nicht verraucht. Sie starrte das unbenutzte Gedeck an, das nach wie vor auf dem Tisch stand, überlegte, ob sie es wieder in den Schrank räumen sollte, um damit klarzustellen, dass die Frühstückzeit vorbei war, oder ob es Sinn hatte, einen weiteren pädagogischen Vorstoß zu wagen. Mindestens den zehnten während dieses Aufenthaltes auf Sylt. »Dio mio! So geht das nicht weiter!«

Sie wusste, dass ihre pädagogischen Fähigkeiten nicht imponierend, aber markant waren, wie es der Lehrer ihres Ältesten einmal vorsichtig formuliert hatte, und sie wusste auch, dass diese Fähigkeiten von einigen ihrer Angehörigen sogar schlichtweg geleugnet wurden. »Un’impertinenza!« War es etwa keine Pädagogik, wenn sie ein braves Kind verhätschelte und einem unartigen unverhohlen drohte? Wenn sie einem ängstlichen Kind mit Süßigkeiten Mut zufütterte und einem kleinen Draufgänger den Sturz vom Apfelbaum mit voller Absicht nicht ersparte, damit er endlich merkte, wohin seine Tollkühnheit führte? Und schlechtes Benehmen nicht zur Kenntnis zu nehmen, wenn man seine Ruhe haben wollte, und mit minutenlangen Schimpfkanonaden zu bestrafen, wenn man schlechter Laune war, erschien Mamma Carlotta keineswegs unpädagogisch. Eher im Gegenteil. Ebenso wenig, dass sie es mal so und mal so hielt. Auf das Ergebnis kam es schließlich an. Ihre Kinder hatten jedenfalls gelernt, sich den Menschen, die von Bedeutung für sie waren, anzupassen, und das war zweifellos ein wichtiges pädagogisches Ziel. Damit war es gelungen, erzürnten Lehrern den Wind aus den Segeln zu nehmen, einen Ausbildungsplatz zu retten und eine Versetzung in die nächste Klasse, mit der niemand mehr gerechnet hatte, doch noch zu erreichen. Eine gute Erziehung musste eine Vorbereitung auf das Leben sein! Und das Leben war nun mal nicht immer gleich. Mal wehte ein lauer, mal ein rauer Wind, mal musste man sich vor ihm in Sicherheit bringen und durfte ihn ein anderes Mal genießen oder sich von ihm treiben lassen. Wenn Kinder damit fertig wurden, war educazione gelungen. »Basta!«

Sie stieß die Tür zu Carolins Zimmer auf, achtete nicht darauf, dass ihre Enkelin erschrocken in die Höhe fuhr, ging, ohne zu zögern, zum Fenster und riss es auf. Der eiskalte Novemberwind, der ins Zimmer fuhr, war nach Mamma Carlottas Meinung genau richtig, um Flausen aus dem Kopf und Unternehmungsgeist hineinzupusten, um Faulheit aufzuwirbeln, damit sie sich als Ameisenfleiß wieder herabsenken konnte.

»Bist du verrückt, Nonna? Mach das Fenster sofort zu!«

Die Großmutter verrückt zu nennen musste natürlich eigentlich eine weitere erzieherische Maßnahme nach sich ziehen, aber Mamma Carlotta war noch voll auf das ursprüngliche Ziel ihres pädagogischen Wirkens konzentriert, da konnte sie nicht auch noch ein Referat über Respekt und Höflichkeit der älteren Generation gegenüber einarbeiten. Eins nach dem anderen!

»Das Fenster bleibt offen, Carolina, bis du aufgestanden bist, geduscht und gefrühstückt hast. Und dann reden wir beide mal darüber, wie du deine Tage verbringst. Jedenfalls nicht im Bett, so viel steht fest. Basta!«

Sie ließ das Fenster offen, als sie Carolins Zimmer wieder verließ, hörte nicht auf das Zetern, das ihr folgte, und nahm sich vor, nicht länger als eine halbe Stunde auf ihre Enkeltochter zu warten. Danach würde sie ... ja, was eigentlich? Es war nicht leicht, einem volljährigen Menschen mit Drohungen zu kommen, die er sich selbst ausmalen konnte. Und die Angst vor dem Eintreten irgendwelcher schrecklicher Konsequenzen nahm mit zunehmendem Alter leider ab. Aber zusehen, wie ein Kind sein Leben verplemperte, ohne einzugreifen? Nein, das kam für Carlotta Capella nicht infrage. Nach fünfundzwanzig Minuten wusste sie leider immer noch nicht, was sie als Bestrafung ins Feld führen würde, aber zum Glück erübrigte sich die Frage, denn genau als die Frist ablief, erschien Carolin tatsächlich in der Küche. Müde und verkatert, mürrisch und übellaunig, aber immerhin war sie da. Ihre Nonna genoss das gute Gefühl, etwas erreicht zu haben.

In der Zwischenzeit hatte sie, um das Warten zu verkürzen, noch einmal zum Inselblatt gegriffen. Obwohl sie weiterhin mit moderner Lyrik nichts zu tun haben wollte, war sie dennoch an dem Artikel hängen geblieben, der unter dem Gedicht stand, das Mamma Carlotta auf keinen Fall so nennen wollte. Auf Sylt sollte ein Lyrik-Festival stattfinden. Das Wort Festival gefiel ihr außerordentlich. Ein Fest wurde schließlich gefeiert, da konnte ein Festival nichts Unangenehmes bedeuten. Und dann hatte sie etwas gelesen, was ihr in Bezug auf Carolin gut zupass kam. Dafür war sie sogar bereit, Marmelade und Butter wieder aus dem Kühlschrank zu holen und die Kaffeemaschine in Gang zu setzen. Kükeltje setzte auch wieder vorsichtig einen Fuß in die Küche. Das Geräusch der sich öffnenden Kühlschranktür war für sie derart unwiderstehlich, dass sie es riskierte, in einen Familienstreit zu geraten, wenn sie später dafür mit einer Schinkenscheibe im Maul die Flucht ergreifen konnte.

»Schau mal, Carolina!« Mamma Carlotta tippte auf die Titelseite des Inselblattes. »Auf Sylt wird es ein Lyrik-Festival geben.«

Carolins Interesse hielt sich in Grenzen. »Schon gehört.«

»Das wäre doch was für dich. Hast du nicht früher mal Gedichte geschrieben?«

In Carolins Augen erwachte müdes Interesse. »Das ist schon ewig her.«

»Du wolltest mal Schriftstellerin werden.«

»Stattdessen bin ich arbeitslos geworden.« Das müde Interesse war wieder in Tiefschlaf gefallen, wenn nicht sogar ins Koma.

»Dafür kannst du nichts. Das Hotel ist geschlossen worden, nur deshalb hast du deinen Ausbildungsplatz verloren. Du wirst einen neuen finden, di sicuro! In ein paar Jahren bist du eine erfolgreiche Hotelkauffrau.«

»Dann weißt du mehr als ich.«

»Du musst nur Bewerbungen schreiben. Auf Sylt gibt es so viele Hotels ...«

»... und so viele Bewerber.«

»Notfalls gehst du eben aufs Festland.« Dieser Gedanke gefiel Mamma Carlotta zwar gar nicht, aber wenn es nicht anders ging ... »Du könntest es auch in Italia versuchen.«

Doch Carolin winkte ab. »Vielleicht bekommt das Frangiflutti ja einen neuen Besitzer, dann habe ich womöglich eine Chance.« Sie warf ihrer Großmutter einen Blick zu, als wäre diese dafür verantwortlich, dass der Eigentümer des Frangiflutti in einem Sarg von Wenningstedt in seine Heimat zurückgekehrt war.

Mamma Carlotta wischte das Thema aus der Luft. »Für die Organisation des Festivals werden Freiwillige gesucht. Das wäre doch genau das Richtige für dich. Du könntest dich auch für den Wettbewerb anmelden. ›Das beste Gedicht der Insel!‹ Wäre das nichts für dich? Wenn du eins deiner Gedichte vorträgst, bekommst du vielleicht einen Preis.« Mamma Carlotta überflog den Artikel, bis sie gefunden hatte, was dem begabtesten Lyriker winkte. »Ein Buch im Schäfer-Verlag. Deine Gedichte würden gedruckt. Vielleicht auch die Kurzgeschichten, die du damals geschrieben hast. Am Ende bekommst du womöglich die Chance, einen ganzen Roman zu schreiben ...«

Kriminalhauptkommissar Erik Wolf...

Kriminalhauptkommissar Erik Wolf nahm den Blick vom Bildschirm seines Computers, lehnte sich zurück und gähnte. Im Polizeirevier war alles ruhig. Er hörte seinen Assistenten im Nebenzimmer telefonieren, aber die Stimme klang so gedämpft herüber, dass sie Erik nicht störte, und das Telefonklingeln im Revierzimmer drang so leise durch zwei fest verschlossene Türen, dass es an der Peripherie seiner Wahrnehmungen blieb. Der Straßenverkehr vor dem Fenster floss ruhig, ohne jede Aggressivität, das Schreien der Möwen war fern, das Signal eines Zuges, das vom Bahnhof auf der gegenüberliegenden Straßenseite herüberkam, erschreckte niemanden. Es war ruhig auf Sylt, nicht nur in der Polizeistation von Westerland, sondern auf der ganzen Insel. Die Hochsaison war längst vorbei, Sylt gehörte wieder den Einheimischen und jenen Touristen, die das einsame Watt, die atemberaubende Natur, die weiten Strände, die stille Heide zu schätzen wussten und denen es nicht darauf ankam, zu den Schönen und Reichen zu gehören, die sich nachts im Gogärtchen oder im Pony trafen. Die hohe Zeit der Laden- und Handtaschendiebstähle, der Ruhestörer, Randalierer und Erreger öffentlicher Ärgernisse war ebenfalls vorbei. Alle zusätzlichen Polizeikräfte, die der Minister in der Hochsaison zur Verfügung stellte, um die Kleinkriminalität zu verhindern und zu bekämpfen, waren wieder abgezogen worden.

Erik zog die Schreibtischschublade auf und holte eine Tafel Schokolade heraus. Sie lag direkt neben seiner Pfeife, und er nahm sich vor, sie in der Mittagspause noch im Büro zu stopfen und schon auf dem Weg zum Auto anzuzünden. Aber fürs Erste begnügte er sich mit einem Riegel Trauben-Nuss-Schokolade. Wie immer ließ er ihn im Mund schmelzen, bis ihm nur noch die Trauben und Nüsse auf der Zunge lagen, und biss dann genüsslich zu. Herrlich!

Erik Wolf war Sylter. Er war auf der Insel geboren und aufgewachsen, hatte sie nur dann verlassen, wenn es nicht zu umgehen war. Als er seine Frau kennenlernte, hatte er ihr schon beim ersten Ausgehen klargemacht, dass er niemals nach Italien ziehen würde. Aus ihrer jungen Liebe eine feste Beziehung zu machen musste bedeuten, dass Lucia bereit war, mit ihm nach Sylt zu kommen.

Er konnte sich noch gut an diesen Abend erinnern. Sie hatten in einer Trattoria in Panidomino gesessen, Pasta gegessen, Vino getrunken und sich auf Englisch mit einer Unterhaltung abgemüht. Erik war während einer Toskana-Rundreise in Lucias Dorf gelandet und hatte den Bus mit der Reisegesellschaft allein weiterfahren lassen. Dass Lucia Capella seine große Liebe war, hatte er schon in den ersten Stunden erkannt. Dass es sich umgekehrt genauso verhielt, hatte er zunächst nicht fassen können. Er war doch das Gegenteil eines smarten Italieners! Er war redefaul, stoisch und schwerfällig, während ihre Brüder und alle männlichen Verwandten laut, schnell und unternehmungslustig waren. Er war auch nicht so attraktiv wie ein Italiener, nicht so schlank, sondern von derbem Körperbau, war nicht auf sein Äußeres bedacht, gelte sich niemals die Haare, leistete sich als einzige Extravaganz einen Schnäuzer. Er trug keine flotten Anzüge, sondern am liebsten bequeme weite Hosen, hatte kein Interesse an einem schnellen Wagen und blieb unerschütterlich, wenn die Italiener in seiner Umgebung mit großen Gesten schwadronierten. Aber Lucia hatte behauptet, gerade so gefiele er ihr. Erst als sie seinen Heiratsantrag annahm, hatte er es wirklich glauben können.

Ach, Lucia! Er richtete sich auf. Hatte er ihren Namen laut ausgesprochen, geflüstert oder nur gedacht? Sie fehlte ihm. Ihr plötzlicher Tod, verursacht durch einen unachtsamen Lkw-Fahrer, hatte eine Lücke in sein Leben gerissen, die wohl nicht zu schließen sein würde. Er hatte sich zwar neu verliebt, in Wiebke, dann in Svea, aber bei keiner der beiden hatte er sich wirklich zu Hause gefühlt.

Manchmal quälte ihn das Schuldbewusstsein. Wenn er Lucia nicht nach Sylt geholt hätte, wenn sie in ihrer Heimat geblieben wäre, könnte sie noch leben. Dieser Gedanke peinigte ihn oft, und es half nicht immer, wenn er sich dann sagte, dass Lucia an seiner Seite glücklich gewesen war. Ja, das wusste er ganz genau. Sie hatte nie bereut, ihn geheiratet zu haben. Vielleicht hätte sie sich, wenn man sie vor die Wahl gestellt hätte, für ein kurzes Leben mit ihm entschieden statt für ein langes ohne ihn.

Erik stand auf, um sich ein wenig Bewegung zu verschaffen, ging zum Fenster, steckte die Hände tief in die Taschen seiner bequemen weiten Cordhose und sah hinaus. Ohne das neue Boarding-House auf der andere Straßenseite zu sehen, das seit einigen Monaten den Blick auf den Bahnhof einschränkte, ohne den Intercity zu bemerken, der gerade einfuhr, ohne auf die Gruppe von Radfahrern zu achten, die sich gegen den Wind stemmten, genoss er die bekannten Geräusche, die durchs geschlossene Fenster drangen, und den typischen Geruch seiner Insel, als er das Oberlicht öffnete. Lucia hatte ihn schon bald genauso geliebt wie er. Abgase, Körpergerüche, Abfall, der an einer Straßenecke verfaulte, Kebab, gegrilltes Fleisch, frittierter Fisch, das alles konnte seiner Insel nichts anhaben, nicht einmal in der Hochsaison. Auf Sylt blieb nichts hängen, die olfaktorische Atmosphäre veränderte sich trotz allem nicht, denn die salzige Luft, der klare, ungefilterte Wind, das Unverbrauchte, das immer wieder erneut heranwehte, setzte sich gegen alle unangenehmen Gerüche durch.

Als das Telefon klingelte, zuckte er zusammen, so weit hatte er sich gerade von seinen Aufgaben als Polizeihauptkommissar entfernt. Am anderen Ende war die Geschäftsführerin des Hotel Stadt Hamburg, eine frühere Klassenkameradin von Erik, die er um Rat gefragt hatte, als Carolin ihren Ausbildungsplatz verlor. »Tut mir leid, Erik«, meldete sie sich nun zurück. »Bei uns ist zurzeit nichts zu machen. Aber ich werde die Augen offen halten. Wenn ich was höre, melde ich mich.«

Den tiefen Seufzer stieß Erik erst aus, als er das Gespräch beendet hatte. Es musste unbedingt etwas geschehen! Die schlechte Stimmung in seinem Haus schlug ihm oft schon beim Eintreten entgegen: das Nörgeln seiner Schwiegermutter, das Keifen seiner Tochter und Felix’ laute Stimme, der versuchte, die Aggression mit faulen Witzen zu entschärfen, und damit meist das Gegenteil erreichte. Eine explosive Mischung, die ihm diesmal den Aufenthalt seiner Schwiegermutter auf Sylt verleidete. Vorher hatte er nicht mitbekommen, wie Carolin ihre Tage verbrachte, während er im Büro war, jetzt wurde es ihm an jedem Abend, bei jedem Heimkommen vorgehalten. Sie vertrödelte die Zeit mit Nichtstun, das war die Ansicht seiner Schwiegermutter. Aber natürlich schilderte Carolin denselben Sachverhalt ganz anders. Angeblich war sie zu niedergeschlagen für Hilfe bei der Hausarbeit, zu desillusioniert, um Bewerbungen zu schreiben, und noch viel zu sehr mit ihrem Katzenjammer beschäftigt, um sich zu einem Bewerbertraining anzumelden, das vom Arbeitsamt angeboten wurde. Sie litt sogar unter Depressionen, davon war Carolin überzeugt, und Erik wies sie nie darauf hin, dass sie die Bezeichnung für eine ernsthafte psychische Erkrankung missbrauchte. Er wollte einfach warten, bis die Zeit vorüber war, seine Tochter wieder nach vorn blicken und endlich neue Pläne schmieden konnte.

Wenn Mamma Carlotta hörte, wie Carolin ihren Zustand beschrieb, ihre Lähmung, ihre Unfähigkeit, sich aufzuraffen, dann konterte sie immer mit derselben Frage: Hatte sie etwa, als sie in Carolins Alter gewesen war, die Möglichkeit gehabt, sich ihren Aufgaben zu entziehen? Weil sie zu niedergeschlagen zum Kochen, zu deprimiert zum Wäschewaschen oder zu desillusioniert für die Realitäten des Lebens war? In Carolins Alter war sie bereits verheiratet gewesen, hatte für zwei kleine Kinder zu sorgen und sich damit abfinden müssen, dass ihre Schwiegereltern, die im selben Haus wohnten, mehr und mehr auf ihre Hilfe angewiesen waren. »Konnte ich mich im Bett vor der Arbeit verstecken? No!«

Erik befürchtete jeden Abend, wenn er das Haus betrat, dass Mamma Carlotta seine Tochter derart durchgeschüttelt hatte, dass diese aus dem Elternhaus geflohen war und sich den Straßenmusikanten auf der Friedrichstraße angeschlossen hatte, nur um von der tobenden Großmutter wegzukommen.

Wie wäre Lucia mit dieser Situation umgegangen? Sie war ja wie ihre Mutter gewesen. So sonnig wie sie, so optimistisch und von gleicher unerschütterlicher guter Laune, aber auch so ungeduldig, hitzig und sogar blindwütig, wenn eine Lösung auf der Hand lag und Erik oder die Kinder zögerten, danach zu greifen. Er erinnerte sich, dass Carolin und Felix sich dann manchmal aus dem Haus verdrückten und er selbst einen dienstlichen Termin vorgeschoben hatte, damit Lucia ihre Wut am Inventar des Hauses und nicht an ihrer Familie ausließ.

Es klopfte, und im selben Augenblick schon sprang die Tür auf. Erik hatte oft den Verdacht, dass Obermeister Rudi Engdahl mit der Fußspitze gegen die Tür trat und gleichzeitig die Türklinke herunterdrückte. Er hatte ihm schon mehrmals vorgeschlagen, auf das Klopfen zu verzichten, das keinen Sinn ergab, wenn die Zeit fehlte, zum Eintreten aufzufordern. Aber Rudi Engdahl bestand darauf, das Büro des Dienststellenleiters mit dem nötigen Respekt zu betreten, und dazu gehörte nun mal das Klopfgeräusch. Er war ein überschlanker, fast hagerer Mann von Mitte fünfzig, der aussah wie ein Marathonläufer, aber in Wirklichkeit Sport hasste und sich so wenig wie möglich bewegte. Erik beneidete ihn um seine Figur. Er selbst verabscheute Sport genauso, aber ihm sah man es leider an.

Rudi Engdahl drückte die Tür ins Schloss, als sollte niemand hören, was er zu sagen hatte. »Es wurde gerade eine Entführung gemeldet.« Er wies mit dem Daumen über die Schulter zur Tür. »Die Haushälterin eines gewissen Theo Claussen steht draußen. Sie will nur mit Ihnen sprechen.«

»Kidnapping?« Erik wartete lange, damit Rudi Engdahl die Chance hatte, sich vor die Stirn zu schlagen, über das Missverständnis zu lachen und statt von Entführung von Diebstahl zu reden. Aber leider geschah nichts dergleichen. Sein Kollege nickte stumm.

»Ein Kind?«, fragte Erik mit gepresster Stimme, denn er konnte sich kaum etwas Schrecklicheres vorstellen, als ein Kind in den Händen eines gewissenlosen Verbrechers zu wissen.

Zum Glück schüttelte Rudi Engdahl diesmal den Kopf. »Wenn ich es richtig verstanden habe, geht es um eine junge Frau. Zwanzig Jahre alt.«

Erik atmete auf, etwas besser, wenn auch nicht viel.

Engdahl wartete, bis Erik die Information verarbeitet hatte, dann fragte er: »Kann ich die Dame reinbringen?«

Sie hieß Petrine Roesgen, ihr Arbeitgeber war der Besitzer einer Lampenfabrik in Husum, der eine Ferienvilla in Kampen besaß. Petrine Roesgen war etwa in Mamma Carlottas Alter, so mollig wie sie und so ähnlich gekleidet und frisiert. Als Erik ihr den Mantel abnahm, kam eine handbestickte Schürze zum Vorschein, wie seine Schwiegermutter sie in Italien auch gerne trug, und nicht einmal, wenn sie dort eine Besorgung oder einen kurzen Besuch machte, fand sie es lohnenswert, die Schürze abzubinden. Das hatte sie erst auf Sylt gelernt, nachdem Carolin ihr mehrmals eingeschärft hatte, dass auf der Insel der Schönen und Reichen andere Gesetze galten als in einem umbrischen Bergdorf.

Petrine Roesgen schien keine Enkeltochter zu haben, die ihr mit diesbezüglichen Instruktionen zur Seite sprang. Aber ganz fremd waren sie ihr wohl doch nicht, denn sie murmelte eine Entschuldigung, band die Schürze ab und stopfte sie in ihre Tasche. Dann nahm sie Platz, zog einen Brief aus ihrer Tasche und legte ihn auf Eriks Schreibtisch. »Den habe ich heute Morgen auf dem Schränkchen in der Diele gefunden.«

Die Tür öffnete sich, und Sören Kretschmer trat ein. Ein junger Kommissar, der seiner baldigen Beförderung zum Oberkommissar entgegensah. Er hatte einen siebten Sinn dafür, wann sein Chef ihn brauchte. Vielleicht hatte Rudi Engdahl ihm aber auch Bescheid gesagt, dass ein Kapitalverbrechen auf seine Aufklärung wartete. Sören begrüßte Petrine Roesgen flüchtig, dann beugte er sich über den Umschlag.

Herrn Claussen – wenn ihm das Leben seiner Tochter lieb ist!

Natürlich war der Haushälterin sofort klar gewesen, dass sie einen Erpresserbrief vor sich hatte. Auch deshalb, weil die Buchstaben und Wörter aus Zeitungen ausgeschnitten und aufgeklebt worden waren.

»Ich habe Herrn Claussen auf der Stelle angerufen. Er hat mich angewiesen, den Brief zu lesen.«

Sie nahm ihn wieder zur Hand, öffnete den Umschlag, wie sie es am Morgen getan hatte, faltete das Briefblatt auseinander und strich es sorgfältig glatt, bevor sie es Erik reichte.

Er hielt den Brief so, dass Sören, der sich hinter ihn gestellt hatte, gut mitlesen konnte.

Eine Million in bar! Keine Polizei! Heute Abend hören Sie mehr.

»Mein Chef musste sich die Sache erst überlegen, hat eine Weile nachgedacht und geguckt, wie er das Geld zusammenkriegt. Dann hat er zurückgerufen und gesagt, er will trotzdem die Hilfe der Polizei in Anspruch nehmen.«

»Sehr vernünftig«, murmelte Erik. »Wo hält Herr Claussen sich zurzeit auf?«

»In den USA. Geschäftlich. Seine Frau ist auch nicht zu Hause. Die macht Urlaub auf den Malediven.«

»Aber Herr Claussen wird so schnell wie möglich zurückkommen?«, fragte Sören.

»Das geht leider nicht. Er ist unabkömmlich.«

Erik war überrascht, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. Ein Vater, der nicht alles stehen und liegen ließ, wenn seine Tochter entführt worden war?

Sören war weniger dezent in seiner Reaktion. Er fuhr sich durch die schütteren blonden Haare, sein Gesicht, das immer an einen rotbackigen Apfel erinnerte, färbte sich eine Spur dunkler. »Wie bitte? Das kann ja wohl nicht wahr sein!«

»Lales Mutter soll sich um die Angelegenheit kümmern«, fuhr Petrine Roesgen fort, ohne sich eine emotionale Regung anmerken zu lassen.

»Die kommt immerhin aus dem Urlaub zurück?«

»Die ist auf Sylt. Die erste Frau von Theo Claussen. Jetzt ist er mit Helena Helmstetter verheiratet. Lales Mutter heißt Antonia Schäfer. Sie hat nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen.«

»Weiß sie schon Bescheid?«

»Ich nehme an, dass sich Herr Claussen mit ihr in Verbindung setzen wird.« Petrine Roesgen stellte die Tasche auf ihren Schoß, als hätte sie eine Fahrt mit der Straßenbahn vor sich und schlechte Erfahrungen mit unseriösen Sitznachbarn gemacht. »Er hat gesagt, ich solle alles Ihnen überlassen. Sie wüssten schon, worauf es in einem solchen Fall ankommt.«

Erik nickte bestätigend. »Erst mal auf absolutes Stillschweigen. Ich gehe davon aus, dass Sie bisher mit niemandem über die Entführung gesprochen haben?«

»Selbstverständlich.«

»Haben Sie Spuren gefunden?«

»Ja.« Geschwätzigkeit konnte man Petrine Roesgen wirklich nicht vorwerfen, da unterschied sie sich gründlich von Carlotta Capella, die jetzt nicht nur sämtliche Fakten, sondern darüber hinaus auch alle Möglichkeiten, Vermutungen und Eventualitäten aufgezählt hätte.

Sören brachte schon wieder mit den Fingerspitzen seine Frisur durcheinander, die eigentlich nicht einmal den kleinsten Windhauch vertrug, ohne sofort zu zerzausen. »Wir müssen uns das Haus ansehen.«

»Aber wir müssen auch damit rechnen, dass sich der Entführer in der Nähe aufhält. Vielleicht beobachtet er die Villa. Dann merkt er, wenn die Polizei auftaucht.«

Sören grinste. »Da haben wir doch unsere Methoden ...«

Mamma Carlotta war...

Mamma Carlotta war stolz darauf, dass sie mal wieder unter Beweis gestellt hatte, wie gut sie junge Menschen leiten und davon überzeugen konnte, das Richtige zu tun. Sie hatte Carolin erreicht. Dass sie noch nicht geduscht hatte, mit ungeputzten Zähnen und wirr vom Kopf abstehenden Haaren am Tisch saß, darüber wollte Carlotta hinwegsehen. Hauptsache, sie war da und stellte endlich wieder eine andere Miene zur Schau als die der Leidgeprüften, vom Schicksal Bestraften, ungerecht Behandelten und von Überdrüssigkeit Niedergedrückten. Ihr Blick war wach, neben ihr lag ein Hefter, der mit Herzchen und Diddl-Mäusen verziert war, also aus einer Zeit stammte, in der auch sämtliche Schulhefte, Nachrichten an Freundinnen, Geburtstagseinladungen und Briefe nach Italien derart geschmückt waren. Ihre Nonna durfte gleich noch einmal stolz auf ihre erzieherische Begabung sein, weil es ihr gelang, wenn auch nur mit größter psychischer Kraftanstrengung, nichts dazu zu sagen, dass Carolin sich im Pyjama und mit bloßen Füßen an den Tisch setzte. Eigentlich konnte sie es nicht leiden, wenn sie einem Familienangehörigen etwas zu essen vorsetzen sollte, der es nicht für nötig befunden hatte, sich zunächst von der Kleidung und den Gerüchen der Nacht zu befreien. In diesem Fall aber wollte sie großzügig sein, ließ die Espressomaschine dröhnen und holte Butter und Feigenmarmelade wieder aus dem Kühlschrank. Kükeltje rollte sich auf einem freien Stuhl zusammen, nachdem die Herrin des Kühlschranks ihr verzweifeltes Maunzen erhört, den Fettrand einer Schinkenscheibe abgeschnitten und ihr überlassen hatte.

Währenddessen schlug Carolin mit feierlicher Miene den Hefter auf und betrachtete das erste Blatt mit demselben Gesichtsausdruck, mit dem Carlottas Mutter früher immer die zwei einzigen Fotos angesehen hatte, die sie schön und jung zeigten, als Kommunionskind und als Braut. Wehmütig und stolz!

»Ich muss mir die Wettbewerbsbedingungen ansehen«, sagte Carolin. »Darf man nur ein Gedicht lesen oder zwei oder drei? Und was ist mit den Bewerbungsfristen? Sicherlich muss ich die Gedichte vorher einreichen. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Dann werden sie gelesen, mit anderen verglichen ... Hast du eine Ahnung, wie so etwas abläuft?«

Mamma Carlotta wusste es nicht. »Wir werden zum Kurhaus fahren und uns erkundigen.«

»Wir?« Carolin sah auf, ihre Miene verlor die Feierlichkeit.

Mamma Carlotta wusste, was kommen würde. Die Litanei, die sie ständig von ihren Kindern, Schwieger- und Enkelkindern zu hören bekam. Dass sie ihre Nase nicht in die Angelegenheiten anderer stecken solle. Dass sie nicht immer und überall dabei sein könne. Dass es schrecklich lästig sei, wie sie stets die Probleme, Hoffnungen und Erfolge anderer zu ihren eigenen machte. Um die Vorwürfe im Keim zu ersticken, behauptete sie rasch, sie habe ohnehin an diesem Vormittag einen Besuch im Kurzentrum von Wenningstedt machen wollen. Die Nachbarin arbeitete dort und hatte sie auf eine Fotoausstellung im Foyer aufmerksam gemacht. »Die möchte ich mir ansehen.«

Carolin durchschaute die Lüge sofort. »Du hast dir noch nie im Leben eine Ausstellung angesehen. Da muss man die Klappe halten, wusstest du das nicht?«

Mamma Carlotta sah ihre Enkelin erschrocken an. »È vero?«

Im selben Moment fiel ihr ein, dass es einmal in Città di Castello, der Stadt am Fuße des Berges, auf dem ihr Heimatdorf lag, eine Ausstellung gegeben hatte, die alle besucht hatten, die in Panidomino wohnten. Denn der Maler, der dort seine Bilder zeigte, wohnte am Rande des Dorfes in einem kleinen, alten Bauernhaus, vor dem immer seine Staffelei stand, damit er die schöne umbrische Landschaft sehen und malen konnte. Manchmal trug er sie aber auch ins Dorf, setzte sich vor die Tür der Trattoria und malte die Häuser und die Straße. Die Frauen von Panidomino zogen sich dann besonders hübsch an und verbrachten den lieben langen Tag auf der Straße, weil sie hofften, sich auf einem Bild von Signor Lungarotti wiederzufinden. Aber das war vergeblich gewesen. Auf den Bildern, die in Città di Castello ausgestellt wurden, war kein einziger Mensch zu sehen gewesen, dafür Blumen in Signora Valluzzis Fenster, die es dort nie gegeben hatte, und eine rote Tür, die in Signora Catalanos Schneiderei führte, obwohl sie doch Morgen für Morgen durch eine dunkelgrüne trat. Dieses Bild mit all seinen Mängeln war jedem sofort ins Auge gesprungen, denn es hing direkt neben der Eingangstür des kleinen Museums und hatte auf der Stelle für Aufruhr gesorgt. Die Frauen von Panidomino hatten sich so lange und derart lautstark über die Fehler ereifert, dass der Museumswärter ihnen schließlich den Zutritt zu allen übrigen Bildern verweigerte. Er hielt es wohl für ausgeschlossen, dass diese Frauen mit dem nötigen Ernst und vor allem mit der nötigen Ruhe die Ausstellung betrachten würden.

Mamma Carlotta seufzte. Carolin hatte also recht. »È vero!« Aber sie blieb dabei, dass sie die Ausstellung trotzdem ansehen wolle. »Vielleicht ist das bei Fotografien ja anders. Sie sind nicht so ... so voller Kunst wie gemalte Bilder.«

Carolin hatte ihr nicht zugehört, sondern den Hefter durchgeblättert und zeigte nun auf die letzte Seite. »Ich glaube, dieses Gedicht ist gut.«

Mamma Carlotta beugte sich darüber. »Fürlieb?« Sie wiederholte es mit zugespitztem Mund und zog die Stirn hoch. »Cosa significa? Was bedeutet das?«

»Sich begnügen, zufriedengeben.«

»Allora ...« Besonders gut gefiel Carlotta dieser Titel nicht. »Lies es mir bitte vor.«

Carolin veränderte ihre Haltung und rückte auch ihre Stimme zurecht. Sie, die immer leise und langsam redete, ganz anders als Felix, der auf seine italienischen Vorfahren kam, sprach jetzt zwar ein wenig lauter, dafür aber noch langsamer als sonst. Und vor allem bedeutsam! So wie der Pfarrer, wenn er von Sünde, der Liebe Gottes und der Auferstehung sprach, legte auch Carolin eine Betonung auf jede Silbe, als sollten ihre Zuhörer vor jedem Wort Respekt bekommen, so wie die frommen Bürger von Panidomino Respekt vor dem Fegefeuer.

Fürlieb

Such das Leben in dir

nicht in mir

fühl die Liebe in dir

nicht in mir

freu dich an deinem Lachen

nicht an meinem

denk an dich

wenn du von mir träumst

dann wirst du offen sein

für mich

und alle anderen

Dass Kükeltje die Küche verließ, als habe man ihr saure Milch angeboten, war natürlich reiner Zufall.

Petrine Roesgen rutschte...

Petrine Roesgen rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Es war deutlich, dass sie ihren Auftrag endlich erledigt wissen wollte. Sie gehörte zu denen, die einen regelmäßigen Alltag schätzten, die keine Überraschungen mochten, die gern schon beim Aufstehen wussten, was der Tag am Abend gebracht haben würde. Auf Eriks Fragen nach Theo Claussen, seiner ersten und zweiten Ehefrau und nach der Tochter antwortete sie sichtlich ungern. Selbstverständlich war sie so verschwiegen, wie ihr das bei ihrer Einstellung eingeschärft worden war, das betonte sie immer wieder, und gleichzeitig weder gemütvoll noch feinsinnig, das wurde Erik bald klar. Als er sich nach den Gefühlen der armen Eltern erkundigte, verstand sie ihn zunächst nicht mal.

»Was soll man da groß schnacken?«

Dass ein Vater sich sorgte, wenn die Tochter entführt wurde, war ja wohl klar. Dass eine Mutter, auch wenn sie jahrelang keinen Kontakt zu ihrem Kind hatte, sich genauso sorgte, lag für sie ebenfalls auf der Hand. Und dass es ganz, ganz schlimm war, wenn ein Mädchen gekidnappt wurde, brauchte man doch nicht zu erwähnen. Sie ließ durchblicken, dass auch sie selbst sich Sorgen um Lale Claussen machte, friesisch-herb natürlich, ohne ein tiefes Gefühl erkennen zu lassen, und kurz angebunden, weil sie es nicht gewohnt war, über Emotionen zu reden. Etwas gesprächiger zeigte sie sich erst, als die Rede auf die zweite Frau von Theo Claussen kam. Während sie von Helena Helmstetter sprach, war ihre Stimme lebhafter, ihre Bewegungen wurden eckiger, ihre Finger verknoteten sich. Zu der zweiten Frau von Theo Claussen schien sie eine Meinung zu haben, die sie aus Gründen der Loyalität nicht äußern wollte, zumindest nicht in aller Deutlichkeit.

»Es gibt viele, die sie für flatterhaft halten, für egoistisch, nur am Geld interessiert. Aber mit Lale versteht sie sich richtig gut. Ich glaube, die Deern hat die leibliche Mutter total vergessen, jedenfalls nie vermisst. Die erste Frau Claussen habe ich ja nicht mehr kennengelernt, das war vor meiner Zeit. Dass die Frau Helmstetter ein Fliertje sein soll ... nee, nee das kann man nicht sagen. Das wäre zu hart. Sie ist eher ...«

Erik wartete darauf, wie Petrine Roesgen die zweite Frau von Theo Claussen nennen würde, aber die Haushälterin biss sich auf die Lippen und ließ das Wort, das hinter ihrer Stirn stand, dort stehen. Stattdessen fuhr sie fort: »Sie ist nicht so eine, die die Nase in die Luft steckt und sich für was Besseres hält, weil sie nun Geld hat. Die hat auch versucht, sich mit der ersten Frau Claussen zu vertragen. Manchmal hat sie Frau Schäfer sogar angerufen, sie eingeladen, wollte sich mit ihr besprechen, wenn es um Lale ging. Herr Claussen hat oft gesagt, sie solle damit aufhören. Aber Frau Helmstetter hat jedes Mal geantwortet, dass sie sich nicht nachsagen lassen wolle, sie habe Lale die Mutter genommen.«

»Warum ist das Mädchen nach der Trennung beim Vater geblieben?«, fragte Sören. »In den meisten Fällen bekommt doch die Mutter das Sorgerecht.«

»Angeblich war es Lales Wunsch«, antwortete die Haushälterin. »Aber wie gesagt ... das war vor meiner Zeit.«

»Seit wann arbeiten Sie für Herrn Claussen?«

Petrine Roesgen überlegte kurz. »Sieben, acht Jahre etwa.«

»Da war Herr Claussen schon geschieden?«

»Schon lange. Das ist über zehn Jahre her.«

»Und die neue Frau? Seit wann ist er wieder verheiratet?«

»Er war kaum geschieden, da stand er schon wieder vorm Traualtar. Die zweite Frau ist bei ihm eingezogen, kaum dass die erste aus dem Haus war.«

»Wie alt war Lale damals?«

Petrine Roesgen zögerte. »So genau weiß ich das nicht. Aber ich glaube, sie ging noch in die Grundschule.« Ihre Stimme wurde energischer. »Ich fand es nicht in Ordnung, dass Lale keinen Kontakt zu ihrer Mutter haben wollte. Herrn Claussen war es aber wohl sehr recht so. Er hat anscheinend die Mutter bei der Tochter in ein schlechtes Licht gesetzt. Das Mädchen ist ja so leicht zu beeinflussen.« Nun öffnete sie ihre Handtasche und suchte mit energischen Bewegungen darin herum, bis sie einen Zettel zutage förderte. »Die Handynummer von Herrn Claussen«, sagte sie, während sie Erik den Zettel zuschob. Gleichzeitig erhob sie sich. »Er hat gesagt, ich dürfte sie Ihnen geben. Alles andere klären Sie am besten mit ihm.«

Erik brachte sie zur Tür. »Wie kann ich Sie erreichen?«

»In der Villa natürlich. Tagsüber.«

»Sie arbeiten dort, auch wenn die Familie nicht da ist?«

»Das Haus ist groß, ich halte es sauber, gieße die Blumen, kümmere mich um den Garten ...«

»Welcher Arbeit geht Lale Claussen nach?«

»Keiner.« In diesem Fall erlaubte sich Petrine Roesgen einen verächtlichen Tonfall. »Sie ist ja nicht die Hellste.« Auch diese Bemerkung hatte Erik nicht von ihr erwartet. Ob das ihr Arbeitgeber gern gehört hätte? »Die Hauptschule hat sie nur mit Mühe geschafft. Danach wusste sie nicht, was sie tun sollte. Und Herr Claussen wusste es wohl auch nicht. Eigentlich sollte sie natürlich mal in die Firma einsteigen und sie später übernehmen ...« Petrine Roesgen lachte spöttisch. »Aber dass Lale dazu nicht in der Lage sein würde, hat Herr Claussen schnell gemerkt. Er hat versucht, sie in der Buchhaltung einzusetzen, im Verkauf, im Lager, aber nirgendwo hat es geklappt. Nach der Meinung ihres Vaters hat sie sich den Angestellten angebiedert, vergessen, dass sie die Tochter des Chefs ist, Dinge ausgeplaudert, die niemand wissen sollte ... Es war besser, sie wieder aus der Firma zu nehmen, ehe sie Schaden anrichten konnte.«

»Und jetzt?«

Petrine Roesgen zuckte mit den Schultern. »Jetzt bleibt nur noch eine reiche Heirat.«

»Hat Herr Claussen schon jemanden ins Auge gefasst?«

Petrine Roesgen rückte Stimme und Miene wieder zurecht. »Darüber bin ich selbstverständlich nicht informiert. Ich gehöre ja nicht zur Familie, ich arbeite nur für die Claussens.«

»Acht Stunden am Tag. Egal, was zu tun ist.«

»Ganz richtig.« Ihr Gesicht verschloss sich, sie sah jetzt ärgerlich aus. »Mein Arbeitsvertrag sieht vor, dass ich acht Stunden im Haus bin, also bin ich acht Stunden da. Auch wenn vier Stunden reichen würden.« Sie griff noch einmal in ihre Handtasche und zog einen weiteren Zettel heraus, den sie wohl ebenso vorbereitet hatte wie den ersten. »Meine Telefonnummer«, sagte sie und reichte ihn Erik. »Falls Sie mich mal nach Feierabend anrufen wollen. Ein Handy habe ich nicht.«

Erik revanchierte sich mit seiner Visitenkarte und kündigte sein baldiges Erscheinen in der Villa an. Die Adresse hatte er notiert und eine Wegbeschreibung von Petrine Roesgen erhalten. Er legte den Zeigefinger auf die Lippen, während er ihr die Tür öffnete. »Kein Wort zu niemandem!«

Er hätte ihr beinahe die Tür in den Rücken gestoßen, weil sie plötzlich stehen blieb, womit er nicht gerechnet hatte.

»Was ich noch fragen wollte ...« Sie drehte sich um, kam aber nicht ins Zimmer zurück. »Ihre Schwiegermutter ... ist das eine Italienerin?« Das sprach sie aus, als unterstellte sie Erik, mit einer Nackttänzerin oder einer Bewohnerin des Dschungelcamps verwandt zu sein.

Erik antwortete ernst und knapp. »Carlotta Capella! Sie ist zurzeit auf Besuch.«

Petrine Roesgen lächelte erfreut. »Eine sehr ... temperamentvolle Dame. Ich habe sie einmal bei Frau Kemmertöns kennengelernt.«

»Meine Nachbarin?«

»Wir hatten viel Spaß.« Petrine Roesgen Lächeln vertiefte sich, in ihrem Gesicht erschien eine schöne Erinnerung. »Grüßen Sie Ihre Schwiegermutter bitte von mir.«

Der Wind war...

Der Wind war kalt und fuhr aus einem Himmel herab, an dem sich dunkle Wolken ballten, sich übereinanderschoben und einander jagten. Mamma Carlotta hatte den weiten, bequemen Rock gegen ihre einzige Hose eingetauscht, die sie sich extra für Sylt angeschafft hatte und die nie mit ihr nach Panidomino zurückkehrte. Dort trugen Frauen in ihrem Alter keine Hosen, und da man dort auch nicht Fahrrad fuhr, blieb das praktische Kleidungsstück im Schrank des Gästezimmers hängen, wenn es für Carlotta Capella wieder heimwärts ging. Die dicke Jacke, die sie überzog, kam ebenfalls nie in ihren Koffer, schon deswegen nicht, weil sie Erik gehörte, der sie ihr immer zur Verfügung stellte, wenn sie auf Sylt war. Auch Handschuhe brauchte sie in Umbrien nicht, und eine Mütze hatte in Panidomino auch noch nie ihre Locken zerdrückt. Wenn sie auf der Insel war, bediente sie sich daher an Carolins und Felix’ Vorräten.

Auch an diesem Vormittag waren sämtliche dieser Accessoires dabei, als sie neben Carolin zum Kurzentrum radelte. Lange war dort Brachfläche gewesen, nachdem das alte Kurhaus abgerissen worden war und viel politischer Hickhack verhindert hatte, dass unverzüglich ein neues entstand. Jetzt aber prunkte dort das Haus am Kliff, wie das neue Kurhaus getauft worden war. Mamma Carlotta gefiel es sehr gut. Ein weißes Gebäude in traditioneller Bäderstilarchitektur, mit einer umlaufenden Flanierzone, die es ermöglichte, geschützt vor Regen und Wind die Auslagen der Geschäfte zu betrachten. Sie fuhr häufig mit dem Fahrrad am Haus am Kliff vorbei oder spazierte zu Fuß dorthin, machte einen Besuch bei der Nachbarin, Frau Kemmertöns, die am Informationsschalter arbeitete, kaufte sich ein Plunderteilchen in der Bäckerei, bestaunte die Auslagen der Badebuchhandlung oder hielt nach Sonderangeboten in der Boutique Ausschau. Wenn der große Kursaal geöffnet war, betrat sie ihn gern und betrachtete dann durch die riesigen Fenster das Meer, das sich durch die hohen Glasrechtecke so ganz anders darstellte als von der Kliffkante aus. Ohne den Wind zu spüren und die Brandung zu hören, war die Nordsee ein Gemälde, das zum Betrachten, aber nicht zum Erleben einlud. Mamma Carlotta hatte schon oft verwundert festgestellt, dass sie dann Einzelheiten erkannte, die ihr entgingen, wenn sie mit zusammengekniffenen Augen und hochgezogenen Schultern an der Kliffkante stand und sich vom Anblick des Meeres überwältigen ließ.

Sie stellten ihre Räder vor dem Eingang ab, wo ein großes Plakat für das Lyrik-Festival warb. »Das beste Gedicht der Insel!« Neben dieser Schlagzeile war das Konterfei der Verlegerin zu sehen, die das Festival organisierte, darunter die Namen aller Sponsoren, die nötig waren, um es zu finanzieren.

Mamma Carlotta trat näher heran, um sich Antonia Schäfer anzusehen, die im Inselblatt als Frau von großem Engagement gelobt worden war, eine, die auch viel für den Nachwuchs tat und jungen Schriftstellern eine Chance bot, die bisher vergeblich nach einem Verlag gesucht hatten. Carlotta kam nicht dazu, sich in das Gesicht der Verlegerin zu vertiefen, denn ein Datum fiel ihr auf. Die Bewerbung für die Teilnahme am Wettbewerb war seit zwei Tagen abgelaufen.

Sie warf Carolin einen Blick zu, die damit beschäftigt war, ihr Fahrrad sorgfältig abzuschließen, dann entschied sie, ihrer Enkelin zu verschweigen, dass ihre Karriere als Lyrikerin womöglich an einem lächerlichen Termin scheitern würde. Zwei Tage! Das konnte doch nicht so schlimm sein. Ein hoffnungsvolles Talent sollte deswegen nicht zu Ruhm und Ehre kommen?

Sie sorgte dafür, dass Carolin das Plakat nicht näher in Augenschein nehmen konnte, und zog sie durch den Eingang. In ihrem Dorf hatte es einmal einen Nähwettbewerb gegeben. Es war darum gegangen, das schönste Sommerkleid anzufertigen, das dann von einem Modegeschäft in Città di Castello verkauft werden sollte. Dummerweise war Carlottas Ältester zu diesem Zeitpunkt krank geworden, ihre Jüngste hatte sich beim Sportunterricht verletzt und konnte nicht mehr zu Fuß zur Schule gehen, sondern musste von ihrer Mutter mit einer Schubkarre hingebracht werden, außerdem stand die Apfelernte an. Wie sollte man da einen Termin einhalten? Das war selbstverständlich unmöglich. Genauso selbstverständlich war es gewesen, den Organisator, der zum Glück ein alter Schulfreund und mit ihr zusammen zur Kommunion gegangen war, davon zu überzeugen, dass eine Ausnahme gemacht werden musste. Das würde sie in diesem Fall auch versuchen. Zwar wusste sie, dass Friesen keine so dehnbare Auffassung von Recht und Gesetz hatten wie Italiener, aber sie war trotzdem optimistisch. Hauptsache, Carolin war aus ihrer Lethargie geweckt worden. Ihre Nonna musste unbedingt dafür sorgen, dass sie der Verlegerin ihre Hilfe zusicherte, noch ehe sich herausstellte, dass die Bewerbungsfrist abgelaufen war. Dann würde Carolin keinen Rückzieher mehr machen können und die Zeit des Nichtstuns hätte ein Ende.

Frau Kemmertöns war hocherfreut, als Mamma Carlotta und Carolin vor ihr erschienen. »Das Lyrik-Festival? Ja, das ist schon in Vorbereitung. Schön, dass sich endlich Freiwillige finden, die sich an der Organisation beteiligen wollen. Das wird Frau Schäfer freuen.« Sie holte eine Liste hervor. »Ich trage dich ein, Carolin.« Sie wies Richtung Kursaal. »Frau Schäfer ist in dem Büro der Veranstaltungsleiterin. Am besten, du gehst gleich zu ihr und lässt dich einweisen.«

Sie erklärte Carolin den Weg und stellte sich darauf ein, eine kleine Plauderei mit Mamma Carlotta zu beginnen, während Carolin mit Frau Schäfer sprach. Aber daraus wurde nichts. Carlotta Capella ließ sich selten abschütteln, wenn etwas Neues winkte. Ein Gespräch mit einer Verlegerin! Noch nie hatte sie mit einer Frau gesprochen, die Bücher herstellte, die später in Buchhandlungen verkauft und in Büchereien verliehen wurden! Das war viel zu spannend, als dass sie für eine Plauderei darauf verzichtet hätte. Und dass Carolin nicht bemerkte, wie ihre Nonna ihr folgte, war besonders günstig. So konnte Carlotta nach ihr in das Büro schlüpfen und sah ihre Enkelin mit großen, unschuldigen Augen an, als diese erkennen ließ, dass ihr die Anwesenheit ihrer Großmutter nicht gefiel. Aber da sie in Gegenwart von Antonia Schäfer keinen familiären Streit vom Zaun brechen wollte, beließ sie es bei einem nonverbalen Rausschmiss, der allerdings Mamma Carlottas Gewissen nicht erreichte. Gleich nachdem Carolin sich der Verlegerin vorgestellt hatte, drückte auch sie deren Hand und erklärte wortreich, dass sie mitgekommen sei, weil sie es gewesen war, die ihre Enkelin auf das Lyrik-Festival aufmerksam gemacht hatte.

So deutete Frau Schäfer zu Carolins Ärger auf beide Besucherstühle und lächelte, als sie Platz genommen hatten. »Sie wollen also beide bei der Organisation mithelfen? Wie schön.«

Mamma Carlottas Neugier kühlte schlagartig ab. Damit hatte sie nicht gerechnet. Selbstverständlich wollte sie nur mit Rat und nicht unbedingt mit Tat zur Seite stehen, wollte Carolins Talent preisen, damit sie beim Wettbewerb mitmachen durfte, obwohl die Bewerbungsfrist verstrichen war, und erklären, dass ihre Enkelin unbedingt eine sinnvolle Beschäftigung brauche, und dabei natürlich einfließen lassen, dass das Mädchen völlig unschuldig an ihrer Arbeitslosigkeit war. Stattdessen sollte sie nun erklären, dass ihr Erscheinen missverstanden worden war? Sehr unangenehm.

Carolin bejahte und warf ihrer Nonna einen fragenden Blick zu. »Du etwa auch?«

Mamma Carlotta erging sich wortreich in der Vermutung, dass ihre Mitarbeit vermutlich nicht hilfreich sei, weil sie nichts von Lyrik verstand und ohnehin viel zu wenig Deutsch sprach, um sich mit etwas so Anspruchsvollem wie der deutschen Literatur zu befassen, aber ihre Rechnung ging nicht auf. Antonia Schäfer erklärte ihr, dass es für das Verteilen von Flyern, das Sortieren von Bewerbungsunterlagen und den Verkauf von Eintrittskarten nicht nötig sei, einen lyrischen Text zu verstehen.

Sie war eine Frau von Mitte vierzig, groß und schlank, von Respekt einflößender Attraktivität. Die dunklen Haare trug sie streng zurückgekämmt, am Hinterkopf mit einer großen Hornspange festgesteckt, an ihren Ohren baumelten große Kreolen. Ihr Gesicht war stark gepudert, die Wangenknochen hatte sie mit Rouge betont. Die Lippen waren knallrot geschminkt, die Augen schwarz umrandet, die Wimpern dick getuscht. Sie trug einen dunklen Hosenanzug und darunter ein schlichtes cremefarbenes Shirt, das von einer dicken modischen Kette zu etwas Besonderem gemacht wurde.

Carolin betrachtete sie, als habe sie soeben ihr Vorbild gefunden. Sie selbst hatte die Blässe in ihrem Gesicht stehen lassen, hatte die Haare einfach im Nacken zusammengebunden, trug eine bequeme Jeans und einen in die Jahre gekommenen Pullover. Als sie ins Hotelfach eingestiegen war, waren der violette Lippenstift, der helle Puder mitsamt den dicken Puderpinseln, der schwarze Kajalstift und die rabenschwarze Wimperntusche im Müll gelandet. An einer Hotelrezeption musste man solide aussehen, und Carolin hatte sich von einem Tag zum anderen für schlichte Eleganz entscheiden müssen, weil der Hoteldirektor es von ihr verlangte. Mamma Carlotta war sehr froh, dass die Haut ihrer Enkelin nicht mehr so weiß war, als hätte sie einen langen Krankenhausaufenthalt hinter sich, ihre Augen nicht mehr aus einem traurigen schwarzen Rahmen blickten, der im Laufe eines Schulmorgens bis zu den Augenringen verwischte, und ihre Augenbrauen nicht mehr aussahen wie die des Kohlehändlers von Città di Castello.

Carolin nickte zu allem, was Antonia Schäfer erklärte. »Mein Verlag ist klein, Mainstream-Texte veröffentliche ich nicht. An Lyrik liegt mir sehr viel, ich habe aber auch einige Anthologien mit Kurzgeschichten herausgebracht. Ebenfalls zwei oder drei Romane von sehr guten Autoren, die in großen Publikumsverlagen keine Chance bekommen hätten. Meine Lyrik-Festivals veranstalte ich jedes Jahr, und immer an anderen Orten. Diesmal also auf Sylt.« Bisher war sie sehr ernst gewesen, jetzt lächelte sie herzlich. »Noch irgendwelche Fragen?« Sie griff nach einem Stapel von Flyern, teilte ihn und schob die eine Hälfte Carolin, die andere Mamma Carlotta zu. »Wenn Sie die verteilen würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Wohnen Sie hier in Wenningstedt?«

Sowohl Carolin als auch Mamma Carlotta waren so schwer beeindruckt, dass sie nur nicken konnten. Eine für Carolin nicht weiter erstaunliche Reaktion, für ihre Großmutter jedoch außergewöhnlich.

»Ich habe bereits Flyer mit Ankündigungen verteilen lassen. Dies ist nun das Festivalprogramm, alle Lesungsorte sind vermerkt, sämtliche Namen der Lyriker und vor allem die der Sponsoren. Am besten in jeden Briefkasten stecken, in den Geschäften darum bitten, dass sie ausgelegt werden, in Kneipen, Cafés und Imbissstuben auf die Theken legen ...«

Sie wurde vom Telefonklingeln unterbrochen und nahm ab, ohne ihre Anweisungen zu Ende zu führen. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, verlor das Geschäftsmäßige, Angespannte und wurde privat. Sie runzelte die Stirn, als gefiele ihr der Anruf nicht. »Theo?« Diesen Namen sprach sie aus, wie die Jünger »Jesus« gerufen hätten, wenn er ihnen statt beim Abendmahl auf der Latrine erschienen wäre. »Was willst du?«

Was dann geschah, versetzte sowohl Carolin als auch Mamma Carlotta in Unruhe. Antonia Schäfer wurde blass, Schweiß trat ihr auf die Stirn, ihr Blick wurde starr, sie griff nach der Schreibtischkante, als brauchte sie einen Halt. »Was? Wie ... wie kann das ... das darf doch nicht wahr sein.«

Kein Zweifel, sie erhielt eine schreckliche Nachricht, womöglich sogar eine Todesnachricht?

»Ja, gut. Klar, mache ich. Ist doch wohl selbstverständlich. Nach Kampen? Okay. Sofort?« Nun sah sie auf und starrte die Frauen, die vor ihr saßen, an, als hätte sie die beiden zwischenzeitlich vergessen. Ihr Blick ging über sie hinweg, während sie Zustimmendes ins Telefon murmelte, immer wieder nickte und schließlich flüsterte: »Gut, ich fahre nach Kampen. Ja, sofort.«

Sie legte den Hörer zurück, als wäre er aus Glas und könnte bei einer heftigen Bewegung zerbrechen. Dann schöpfte sie tief Luft und sammelte Kraft. »Sorry, ich muss ...« Sie brach ab, stand auf und wühlte fahrig auf ihrem Schreibtisch herum, als wüsste sie nicht, wonach sie suchte.

»Können wir Ihnen irgendwie helfen?«, fragte Mamma Carlotta leise, während Carolin aufstand und zur Tür ging, als hielte sie es für das Beste, Antonia Schäfer allein zu lassen.

Diese hatte gerade ihren Autoschlüssel gefunden und betrachtete ihn, als fragte sie sich, was sie damit anfangen sollte und wie er überhaupt in ihre Hände gekommen war. Sie zitterten. Die ganze Frau zitterte mit einem Mal und sank auf den Stuhl zurück.

Mamma Carlotta sprang auf und ging zu ihr. Sanft legte sie eine Hand auf Antonia Schäfers Schulter. »Was können wir für Sie tun?«

Die Verlegerin blieb eine Weile unbeweglich sitzen, so, als täte ihr die Berührung gut und als wollte sie so schnell nicht wieder darauf verzichten. Dann fuhr ihr Kopf in die Höhe, sie schüttelte die Schwäche ab. Indem sie aufstand, schüttelte sie auch Mamma Carlottas Hand ab. »Sorry, ich muss weg. Es ist wichtig.«

»Können Sie denn Auto fahren?«, fragte Mamma Carlotta.

Antonia Schäfer betrachtete ihren Autoschlüssel lange, als müsste sie über die Beantwortung der Frage nachdenken. Und als Mamma Carlotta sah, dass ihre Hände noch immer zitterten, ergänzte sie: »Meine Enkelin hat einen Führerschein. Sie könnte Sie fahren.«

Carolin schob die Tür wieder ins Schloss, die sie soeben geöffnet hatte. »Ja, selbstverständlich.«

Die Ferienvilla der...

Die Ferienvilla der Claussens lag am Brönshooger Weg, gleich am Anfang von Kampen. Der rote Lieferwagen mit der Aufschrift ABC – Bad und Sanitär bog in die Straße ein und fuhr langsam von Haus zu Haus, als schaute der Fahrer bei jeder Tür nach der Hausnummer. Erik war zufrieden, Sören machte seine Sache sehr gut. Wer diesen Wagen sah, würde nicht an die Polizei denken, auch der Entführer nicht. Über die roten Overalls, die sie trugen, hatten sie bei Fahrtantritt noch gelacht, jetzt jedoch stiegen sie aus wie zwei Männer, für die diese Kleidung selbstverständlich war. Sie beobachteten ihre Umgebung unauffällig, während sie Werkzeug aus dem Wagen holten und zur Eingangstür gingen.

Erik hatte die Stimme von Theo Claussen noch im Ohr. »Ich kann nicht zurückkommen, völlig unmöglich. Ich bin in einer Klinik.«

»Sie sind krank?«, hatte Erik erstaunt gefragt. »Ich dachte ...«

»Ja, ja, ich bin geschäftlich in Chicago. Aber nun bin ich eben im Krankenhaus. Mindestens eine Woche noch. Aber dass Sie meiner Frau nichts davon sagen! Ich meine ... Lales Mutter. Soll sie ruhig denken, dass ich nicht zurückkommen kann, weil mir die Geschäfte wichtiger sind als meine Tochter. Sie hat sowieso eine schlechte Meinung von mir, noch schlechter kann die gar nicht werden.«

Erik hatte weder der Klang von Theo Claussens Stimme noch der Tonfall und erst recht nicht seine Wortwahl gefallen. Er hatte Sören, der über Lautsprecher mithörte, einen Blick zugeworfen, als hätte man ihm einen Matjes hingehalten, der schon zwei Tage außerhalb des Kühlschranks verbracht hatte.

»Die wird mit Freuden die großartige Mutter spielen, die sie nie war. Lale wollte nach der Scheidung nichts mehr von ihr wissen. Damit hatte Madame nicht gerechnet. Nun wird sie Gelegenheit haben, sich wieder einzumischen. Soll sie doch!«

Auf Eriks Bitte, den Namen der Klinik zu nennen, reagierte er nicht. Und als Erik fragte, woran er litt, ob er einen Unfall gehabt habe oder ob er plötzlich erkrankt sei, wurde mit einem Mal die Telefonleitung so schlecht, dass Theo Claussen ihn nicht mehr verstehen konnte. Er rief noch, er könne nichts mehr hören ... dann brach die Verbindung ab.

Petrine Roesgen öffnete ihnen, diesmal trug sie eine dunkle Schürze mit weißer Stickerei, als schiene ihr alles Farbenfrohe an diesem Tag nicht passend. Sie ließ die beiden eintreten, ohne mehr als ein mürrisches »Moin« von sich zu geben. Erst als Erik und Sören in der Diele standen, erlaubte sie sich ein kleines Lächeln. »Eine nette Verkleidung.«

Erik stellte den Werkzeugkasten neben der Haustür ab und sah sich um. Er hatte noch nicht viele dieser Ferienvillen von innen gesehen, aber die Häuser, die er kannte, ähnelten sich alle auf bestimmte Weise, nicht nur von außen, auch innerhalb ihrer vier Wände. Fast alle waren im friesischen Stil erbaut worden und besaßen ein Reetdach, das schrieb die Stadt Kampen sogar vor. Sie waren mit Friesenwällen eingefasst, auf denen es so üppig wucherte, dass der Hauseingang und die Fenster von der Straße aus kaum zu sehen waren. Und innen herrschte ein Komfort, der nicht auf den ersten Blick zu erkennen sein sollte. Mobiliar im friesischen Stil, weil es schlicht wirkte, die Bewohner die Traditionen hochhalten wollten und sich zur Anpassung verpflichtet fühlten. Ob Theo Claussen sich einbildete, das sei ihm gelungen, wusste Erik natürlich nicht. Er selbst fand die Einrichtung trotz des erkennbaren Bemühens, sie bescheiden zu halten, protzig und überdimensioniert. Die Schränke zu groß, die Teppiche zu dick, die Wohnaccessoires viel zu erlesen. Das Haus eines reichen Mannes, da konnte man noch so viel Wert auf Traditionen gelegt haben. Der Alkoven in der Diele, der zur Garderobe umfunktioniert worden war, zeugte nur von schlechtem Geschmack, nicht von der Wertschätzung einer Landessitte, und der kleine Tisch mit den geschwungenen Beinen entlarvte die angebliche Anteilnahme am Brauchtum sowieso als Hintergedanken. Kein schönes Haus, fand Erik, kein Haus, das seine Gäste empfing und seine Bewohner heimrief, nur ein Haus, das etwas darstellen sollte, was dem Besitzer wichtig war.

Er wandte sich Petrine Roesgen zu. »Nun zeigen Sie uns bitte, wie Sie das Haus heute Morgen vorgefunden haben, was anders war als sonst ...«

Sie wies zu dem Tisch, der zwischen Wohnzimmer- und Küchentür stand. »Dort habe ich den Brief gefunden. Er lehnte an der Vase.«

Erik trat näher heran und verbot sich, den Wert der bunt bemalten Vase zu schätzen, die weder zu dem Tisch noch zu dem Rest der Einrichtung passte. »Gleich wird ein weiteres Auto unserer Firma vorfahren. Der Chef der kriminaltechnischen Untersuchungsstelle. Er wird nach Spuren suchen.« Erik blickte zu der großen zweiflügeligen Glastür, die ins Wohnzimmer führte. Er konnte die verglaste Rückfront sehen, hinter der sich eine weite Rasenfläche dehnte. Das Meer war zwar nicht zu erkennen, aber man konnte es erahnen. »Wie ist der Entführer ins Haus gekommen?«

»Er hat die Alarmanlage ausgeschaltet.« Petrine Roesgen ging Erik und Sören voraus ins Wohnzimmer. Eine Wohnhalle, die sich über zwei Etagen erstreckte. Eine breite Treppe führte zu einer Galerie, von der mehrere Türen abgingen, die vermutlich zu Schlaf- und Gästezimmern gehörten. Eine der Türen war nicht ganz geschlossen.

Petrine Roesgen folgte Eriks Blick. »Lales Zimmer«, sagte sie. Dann stutzte sie und runzelte die Stirn. »Ich habe die Tür ins Schloss gezogen.«

»Hält sich noch jemand hier auf?«, fragte Erik schnell.

»Natürlich nicht!« Petrine Roesgen stieg die Treppe hoch. »Ich habe in Lales Zimmer geschaut, es war leer. Und ich bin sicher, dass ich die Tür zugezogen habe. Ich schließe immer alle Türen.«

»Vielleicht saß sie nicht fest im Schloss und hat sich wieder geöffnet.« Erik trat hinter Petrine Roesgen in ein Mädchenzimmer mit viel rosaroter Farbe und jeder Menge Kitsch. Erik dachte an Carolin, die jünger war als Lale. Auch sie hatte einmal dieses Barbie-Ambiente geliebt, mittlerweile aber ihre vier Wände längst umgestaltet. Vielleicht lag das daran, dass sie sich seit Antritt ihrer Ausbildung zu den Erwachsenen zählte.

Petrine Roesgen schien seine Gedanken zu erahnen. »Sie liebt diese Sachen und kann sich nicht von ihnen trennen. In dem Haus in Husum, dem Hauptwohnsitz der Familie, sieht es wohl anders aus, aber hier wollte Lale alles so lassen, wie es ihr als Kind gefallen hat.«

Sie zog die Tür sehr nachdrücklich ins Schloss, bevor sie die Treppe wieder herunterstieg, an dessen Fuß Sören seinen Chef erwartete. Er sah ihn fragend an, aber Erik schüttelte nur leicht den Kopf. Eine Tür, die nicht fest verschlossen war und sich wieder geöffnet hatte! Mehr nicht.

Jetzt erst betrachtete er den großen Raum mit den hohen weißen Wänden. Auf dem Terrakottaboden lagen helle Teppiche, eine geblümte Polsterlandschaft stand mitten im Raum. An der einzigen Wand, die kein Fenster besaß, hatte ein überdimensionales Bücherregal seinen Platz, das so wenige Bücher enthielt, dass die Hälfte der Regalböden ausgereicht hätte.

Sören murmelte: »Das hat so schon im Geschäft gestanden. Wetten, dass der Claussen das inklusive der Bücherdekoration gekauft hat?«

Erik grinste, dann fielen ihm die zahlreiche Kunstbände auf, die quer auf den Regalböden lagen. Auf den Rücken stand »Picasso«, »Cézanne«, »Chagall«, »Dali« ... Sie sahen so aus, als wäre in ihnen häufig geblättert worden.

Vor dem breiten Sofa, auf dem mindestens fünf Personen Platz nehmen konnten, stand ein Glastisch auf glänzenden Metallbeinen, darauf ein Whiskyglas mit einem fingerbreiten Rest. Jetzt fiel Erik auch der kleine Barwagen auf, der in der Nähe der Terrassentür stand. Er war gut gefüllt mit Flaschen verschiedener Größen, Formen und Farben.

»Lale trinkt nur selten Whisky«, sagte Petrine Roesgen. »Eigentlich nur mit ihrem Vater zusammen. Herr Claussen nimmt gerne einen Whisky nach dem Essen.«

»Wie konnte der Täter die Alarmanlage ausschalten?«, fragte Erik.

Petrine Roesgen machte eine fahrige Bewegung Richtung Eingangstür. »In den Briefkasten integriert gibt es ein Tastenfeld. Wenn man da einen Code eingibt, wird die Alarmanlage aktiviert beziehungsweise deaktiviert.«

»Sie kennen den Code?«

»Selbstverständlich! Sonst käme ich ja nicht ins Haus.«

»Haben Sie beim Eintreten bemerkt, dass die Alarmanlage ausgestellt war?«

»Ja. Aber zunächst habe ich mir nichts dabei gedacht. Ich nahm an, dass Lale vergessen hatte, sie zu aktivieren.«

»Ist das schon öfter vorgekommen?«, mischte sich Sören ein.

Petrine Roesgen zögerte. »Nein, eigentlich nicht. Aber ... ich konnte es mir vorstellen. Sie ist immer ein bisschen unzuverlässig. Und so leichtsinnig.«

Erik wanderte durchs Wohnzimmer, warf einen Blick ins Esszimmer und auch in die Küche, die mustergültig aufgeräumt war. Dann kehrte er zu der Haushälterin zurück und zog seinen Notizblock hervor. »Wer kennt noch den Code für die Alarmanlage?«

»Nur die Familie und ich.«

»Welchen Umgang hat Lale Claussen?«, fragte Sören. »Hat sie Freunde hier auf Sylt? Leute, die schlechten Einfluss auf sie haben?«

Petrine Roesgen zögerte erneut. »Sie hatte mal einen Freund. Aber den hat der Vater ihr schnell ausgetrieben.«

Erik runzelte die Stirn. »Ausgetrieben?«

»Ich habe gehört, wie Herr Claussen seine Tochter angeschrien hat. Der Kerl käme ihm nicht ins Haus. Ein Italiener! Ein Kellner! Sie brauche gar nicht den Versuch zu machen, ihn vorzustellen.«

»Und daran hat sie sich gehalten?«

Wieder zögerte Petrine Roesgen. »Sie hat immer getan, was ihr Vater wollte. Dem hatte sie nichts entgegenzusetzen.«

»Der junge Mann war also nie hier in der Villa?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Seinen Namen kennen Sie nicht?«, erkundigte sich Sören.

Petrine Roesgen bedauerte. »Der ist nie erwähnt worden.«

Erik spürte Ungeduld. »Nachdem der Entführer die Alarmanlage außer Kraft gesetzt hatte, musste er einen Weg finden, ins Haus zu kommen.«

Petrine Roesgen nickte eifrig. »Ich habe sofort im Atelier nachgesehen. Die Glastür ... da reicht ja ein großer Stein. Und wenn die Alarmanlage nicht scharf ist ...«

»Atelier?« Sören sah die Haushälterin fragend an.

»Frau Helmstetter ist Malerin.«

»Aha.« Sören schienen die vielen Kunstbände im Bücherregal einzufallen. »Hobbymalerin oder ...?«

»Das kann ich nicht beurteilen«, fiel die Haushälterin ihm ins Wort und verriet damit, dass sie durchaus eine Meinung zu der Malerei von Frau Helmstetter hatte, sie aber um nichts in der Welt geäußert hätte. »Ich hab’s nicht so mit Kunst.«

Erik ging zur Tür. »Der Entführer ist durchs Atelier eingestiegen? Führen Sie uns bitte hin.«

Petrine Roesgen drückte sich an ihm vorbei durch die Tür. »Das wäre ja viel zu auffällig gewesen«, murmelte sie. »Lale wäre doch gleich aufmerksam geworden, wenn sie gehört hätte, dass Glas splitterte. Nein, nein, der Entführer hat einen anderen Weg gewählt.«

Mamma Carlotta sah...

Mamma Carlotta