Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die große Sturmjäger Saga von Spiegel Bestseller Autorin Jenny-Mai NuyenDer Handel mit Magie hat Aradon reich gemacht. Sturmjäger wie die junge Hel sammeln für die Magier auf fliegenden Schiffen die Magie der lebendigen Erde. Doch nun droht dem Land ein Krieg von ungeahntem Ausmaß. Denn fünf dämonische Rächer wurden ausgesandt, um die Ausbeutung der Natur zu beenden und die Magier zu vernichten. Als einer der dämonischen Rächer Hel das Leben rettet, muss sich Hel entscheiden: zwischen ihrer Heimat und ihrer Liebe zu ihrem Feind.Pressestimmen:"Feenlicht ist der wohl vielversprechendste Herbsttitel. Jenny Mai Nuyen entwirft mit der jungen Sturmjägerin Hel eine faszinierende Heldin, die im Laufe ihres Abenteuers erkennen muss, dass Gut und Böse nicht immer ohne Weiteres zu trennen sind ..." (Buchjournal)"Ein Tipp für 'Herr der Ringe'-Fans: Die Sturmjäger von Aradon – Feenlicht von Jenny-Mai Nuyen, dem Jungstar am Fantasy-Himmel." (Focus Schule)"Auf knapp 500 aufregenden Seiten erzählt die gerade mal 21 Jahre junge Autorin Jenny-Mai Nuyen die Geschichte der Sturmjägerin Hel." (BZ)• Ein farbenprächtiger Roman voller Wunder und Magie• Für alle Fans von Jonathan Stroud, Christopher Paolini und Cornelia Funke
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 418
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Jenny-Mai Nuyen
Sturmjäger
Buch zwei
Magierlicht
Von Morgen Verlag
Copyright © 2023 Jenny-Mai Nuyen
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-948684-04-4
Prolog
JAHRESTAG
GUTE NACHRICHT
IM WESTEN
AUFBRUCH
IM HIMMEL
NACHRICHT AUS MOIA
KOMBASA
EIN PIXIEZAHN
DUNKLE TRÄUME
FEUER
DIEBSTAHL
UNTER DER WEIDE
SPUREN
DIE DRITTE
DIE KAUENDEN KLIPPEN
TROLLE
FEENFLUG
FLÜSTERN
FEUERSCHLUCHT
VERLORENER KAMPF
HELLESDIM
SCHWERT UND TRAUM
DIE IMMER DA WAREN
EIN WIEDERSEHEN
DIE EINDRINGLINGE
LIEDER VON DUNKELHEIT
PROBE
ANS ENDE DER WELT
GESCHWISTER
ENTSCHEIDUNG
STERNENNACHT
ERWACHEN
DAS TIEFE LICHT
NEUE WELT
Danksagung
Prolog
Der Westen ist tot. Reglos die Berge, in alle Weite leere Erde ohne Licht. Nur die glimmende Spur des Mannes, der das Totenlicht trägt.
Rosig fiel der Abend über das Zedernwäldchen. Ging wie ein Atemstoß durch Gräser, Holz und Wildblumen und schwemmte ihren schläfrigen Duft auf. Noch flackerte die Wärme des Tages im Dickicht und die Luft schmeckte nach Sommer, roh und jung. Hauchdünn hing dazwischen eine Ahnung der Vergangenheit: Es war der süße Geruch von Blut.
Der Druide hielt im Unterholz inne, als ein Dornenzweig unter seinen Schnürschuhen brach. Echos ebbten durch die Baumwipfel und ließen die Stille danach noch tiefer um ihn sinken. Er schob sich die Kapuze von seinem zusammengebundenen hellbraunen Haar. Sommersprossen bedeckten das Gesicht. Auch im Grün seiner Augen tanzten Punkte, verliehen ihm eine stille Heiterkeit. Er war jung, kaum zwanzig Jahre. Sein Blick schien hell, doch ohne Neugier, als er den sterbenden Mann sah.
Der Mann ächzte. Ringsum im Farn lagen die Überreste seiner toten Gefährten. Fahrig streckte er seinen zerschnittenen Arm nach dem Druiden aus. „Hil… fe …“
Der Druide blieb reglos. Wenn er sich nicht bewegte, vergaß der Mann vielleicht, dass er da war. Lange konnte es sowieso nicht mehr dauern, bis ihn der Tod holte. Doch als merkte der Alte nicht, dass er in seinem eigenen Blut lag, versuchte er sich aufzustützen.
„Überfall … helft … mir“, hauchte er.
Der Druide schloss die Augen. Lästerliche Menschen! Den letzten Atemzug sparten sie sich für sinnlose Worte. Das Land gab, das Land nahm. Menschenblut auf der von Menschen ausgebeuteten Erde – es war ein Tropfen Gerechtigkeit.
Als der Druide die Augen wieder aufschlug, nahm er eine Bewegung hinter sich wahr und fuhr herum. Eine zweite Gestalt stand unter den Bäumen. Rötliches Haar fiel ihr fast bis zur Hüfte und ringelte sich leicht in der feuchten Luft. Selbst aus der Ferne konnte er sehen, wie ausdruckslos die Augen unter den dichten Brauen waren, Öltropfen gleich, die nichts von den Gefühlen preisgaben, die sie haben mochte.
Eine Weile standen sie sich gegenüber und schwiegen. Der Mann hustete blutige Bläschen. Wenigstens hatte er mit dem Winseln aufgehört. Weder der Druide noch die Druidin schenkten ihm Beachtung. Dann begannen sie die Leichen zu umrunden, langsam im Kreis, den anderen stets im Blick. Das Licht ertrank hinter den Zweigen. Bald war alles Schatten und Schemen in schmelzendem Blei. Die Druidin spreizte die Finger. Er spannte reflexartig die Muskeln, obwohl er wusste, dass er unfähig war, etwas gegen sie zu unternehmen. Doch sie griff nicht an – nicht ihn. Kurz schoss ein Vibrieren durch den Boden, als zucke eine Ader im Gewebe der Erde. Ein Aufschrei erklang, dann fiel der Mann mit einem heftigen Schütteln zurück. Zähneklappern drang aus dem Farngestrüpp, schließlich erstarb auch dieses Geräusch. Der Wald hatte seine Stille wieder.
Der Druide und die Druidin waren fast auf Armlänge aneinander herangekommen. In der Dunkelheit konnte er ihre Züge nur ahnen. Er spürte, dass er lächeln musste. Sein Herz zitterte, war ein rauschendes Blatt im Wind.
„Du hast auch noch kein Totenlicht gefunden“, sagte sie, er fühlte ihre Stimme Spinnenweben gleich auf der Haut, zart, unmöglich abzustreifen. Ihre Stimme war sehr schön.
„Glaubst du, ich hätte dich sonst angegriffen?“, entgegnete er leise.
Sie antwortete nicht. Er fragte sich, ob sie ihn attackiert hätte, wäre sie in Besitz eines Totenlichts. Nein, lieber dachte er nicht darüber nach. „Ich verfolge den Mann. Wie du.“
„Den Isen mit dem Totenlicht.“
„Er hat die Karawanenleute überfallen.“ Der Druide blickte auf die Männer in den dunklen Lachen. „Sein Schwert hat sie niedergestreckt. Er kennt die Kräfte des Totenlichts nicht. Vielleicht weiß er nicht einmal, dass er es in sich trägt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er es Totumé überhaupt entwendet hat. Und wie er Mercurin davongekommen ist. Schließlich hat Mercurin doch das Totenlicht aus Har’punaptra.“
Einen Moment schwiegen sie. Sahen sich an. Sie war nicht hübsch, ihr Gesicht zu lang, und sie gab sich keine Mühe, mit Magie etwas daran zu ändern. Doch er träumte von ihrem blassen Hals, ihren Knien, seit er sie zuletzt berührt hatte. Damals, in Hellesdîm, in einem anderen Leben. Einem Traum vor dem Albtraum.
„Ich werde den Isen kriegen, nicht du“, sagte sie leise.
Er schüttelte den Kopf.
„Wenn du das Totenlicht bekommst … Wirst du mich töten, Anetán?“
Seinen Namen zwischen ihren Lippen zu hören, besiegte die letzte Vorsicht. Er streckte den Arm nach ihr aus, sie ließ sich widerstandslos heranziehen, und dann hielt er sie, seine Schwester, seine Konkurrentin, und die vergangenen Wochen der Einsamkeit flohen durch einen Strohhalm in die Ferne.
„Wenn ich das Totenlicht habe“, sagte er, „werde ich es dir geben.“
„Und sterben?“
„Saraide …“ Er presste seinen Mund auf ihren, stieß an ihre Zähne und wusste, sie hatte die ganze Zeit gelächelt.
JAHRESTAG
Magische Explosionen erschütterten die Nacht. Der Himmel riss in Licht auf, ehe Wogen aus Lirium zur Erde herabstürzten wie Abertausend verglühende Sterne. Die Halle bebte vor Beifall.
Hel klatschte nicht, denn sie hielt zwei Fruchtpunschgläser in den Händen, einen Teller Knusperkartoffeln, zwei Schalen Karamellmandeln und Likörkirschen und eine kleine Fahne mit dem Wappen Aradons, die gemächlich vor sich hinwehte und dabei bunte Funken versprühte. Hel stieß ein Knurren aus, das im fröhlichen Lärm niemand hörte. Obwohl sie sich wie alle anderen das Feuerwerk ansah, das zum fünfhundertdreizehnten Jahrestag der Magierschaft veranstaltet wurde, waren ihre Gedanken woanders. Genauer gesagt unter der Tafel rechts. Denn dort kauerte Nova.
Eine neue Salve Raketen zischte aus den Dächern der vier Türme. Im nächsten Moment war die Welt in zuckende Blitze getaucht. Dieses Jahr beeindruckten die Feierlichkeiten besonders. Seit Einbruch der Dunkelheit zogen magische Sternschnuppen über den Himmel, und nach jedem donnernden Finale kam noch eine Zugabe, kolossaler als alles davor. Kleinere Schwebeschiffe flogen Runden über der Uferstadt, um Lametta, Girlanden und hin und wieder ein paar Münzen herabregnen zu lassen. An Hausdächern und Turmspitzen wehten leuchtende Fahnen mit dem Pentagramm der Magierschaft. Es war, als hätte ganz Aradon die Tatsache verdrängt, dass das Land am Aussterben war und die Liriumquellen fast vollkommen erschöpft. Stattdessen wurde mit Zauberwerk geprahlt, als müssten die letzten Reserven in dieser Nacht verbraucht werden.
Vielleicht lag der Magierschaft aber auch deshalb so viel daran, ihren Geburtstag zu zelebrieren, da der Krieg gegen das Alte Reich unmittelbar bevorstand. Niemand wusste, welcher Feind sie jenseits der Kauenden Klippen erwartete – falls sie es überhaupt über die lebendige Gebirgskette schafften. Wenn es dafür einen konkreten Plan gab, hielten die Magier ihn geheim. Wenigstens schienen sie so siegessicher zu sein, dass sie ihre Liriumvorräte nicht für den Heerzug sparten.
Ungeduldig verlagerte Hel ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen und gab acht, nichts vom Punsch zu verschütten. Es war nun schon das vierte Mal heute Abend, dass Nova ihr alles in die Hand gedrückt hatte, um hinter Vorhänge oder Möbel zu hechten, weil er glaubte, Aricaa erspäht zu haben. Unfassbare drei Wochen umging er nun schon jede Begegnung mit seiner ehemaligen Verlobten, obwohl der Nordturm, in dem die Sturmjäger untergebracht waren, nur einen Steinwurf vom Westturm der Magier entfernt war. Magenschmerzen suchten ihn heim, wenn ein Bankett mit der Magierschaft anstand, und vor Versammlungen befiel ihn eine einzigartige Schlafkrankheit. Er hatte sogar angefangen, Reparaturen an der Taube vorzunehmen, dem Schwebeschiff seines Vaters, um tagelang draußen auf der Anlegestelle zu bleiben, wo die Schiffe der Liga bis auf Weiteres ruhten.
Aber vor dem heutigen Fest hatte Nova sich mit keiner Ausrede drücken können. Es war die Pflicht eines jeden Sturmjägers, den Entstehungstag der Magierschaft zu feiern. Wenn man sich nicht gerade vor einer heiratswilligen Magierin versteckte, war das ja auch nicht schlimm, im Gegenteil – die Sturmjäger fieberten dem Feiertag sonst das ganze Jahr über entgegen. Die Tafeln bogen sich unter Leckerbissen aus allen Königreichen, die mit der Magierschaft im Bündnis standen: Es gab gegarte Riesenkrabben und gebackenen Walfisch von Moias Küsten, Süßbaumwatte aus den Wäldern von Warhall, Früchte von den Plantagen Kapuas, Felspilze aus Orrún und ein Dutzend zwergischer Spezialitäten – allerdings leicht abgewandelt, sodass sie für menschliche Gaumen genießbar wurden. Zu den gebratenen, geräucherten, kandierten und glasierten Köstlichkeiten wurden reichlich Wein, Rum und Punsch ausgeschenkt. Hin und wieder sang ein Barde über die Gründung der Magierschaft, den Wiederaufbau Aradons nach der Schlacht gegen die Druiden vor Jahrhunderten oder die Entdeckung der Sturmjagd. Es waren bekannte Balladen, sodass die Sturmjäger und Magier manche Strophen mitsangen und die große Halle wie ein Bienenstock zu vibrieren begann. Hel fühlte Erinnerungen in sich aufsteigen, ohne dass sie es verhindern konnte. Gharra hatte zum Jahrestag der Magierschaft immer ein Ständchen gesungen. Er war auf die Bühne gestiegen und hatte laut und schief, aber voller Inbrunst Strumjägerlieder zum Besten gegeben. Hel konnte ihn beinahe sehen, gehüllt in seinen kostbarsten Umhang, ein uraltes Ding aus rotem Samt mit Goldborten und Schulterpolstern, die Hel ihm jährlich etwas mehr ausstopfen musste.
„Hungrig, was?“, meldete sich eine Stimme. Sie sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. Da schob eine Hand die wehende Fahne zur Seite und zwei runde schwarze Haarknoten kamen zum Vorschein. Darunter saß das herzförmige Gesicht einer Zwergin. Als Harlem grinste, erschienen ein paar kleine, schiefe Zähne in den Mundwinkeln. Wie immer hatte die berühmte Attentäterin sich unbemerkt angeschlichen. Allerdings war das beim tosenden Krach des Feuerwerks auch nicht schwierig.
„Ihr seid wirklich ein trinkfreudiges Völkchen, ihr Sturmjäger“, fuhr Harlem fort und nickte den beiden Punschkelchen zu.
„Das ist nicht alles für mich. Ich hasse Likörkirschen … die sind von Nova.“
„Wo ist er denn?“
Wortlos löste Hel ihren Zeigefinger vom Glas und deutete unter die Tafel. Harlem hob die Tischdecke an.
„Hallo, Harlem.“ Nova räusperte sich. Er hockte zwischen zertretenen Weintrauben auf dem Fußboden. „Würde es dir was ausmachen, das Tuch wieder runterzulassen?“
Hel seufzte. „Sie ist gar nicht mehr hier, Nova.“
„Wer?“, fragte Harlem. „Das Dämonenmädchen? Oder ein normales Mädchen?“ Sie kicherte.
Unsicher streckte Nova den Kopf unter der Tafel hervor und spähte in die Menge. Außer den Sturmjägern und einigen Königen und Fürsten, die für den Anlass nach Aradon gereist waren, befand sich auch die gesamte Magierschaft auf dem Fest. Mit ihrem weißen Haar und ihren fließenden Roben konnte man sie leicht verwechseln, vor allem von hinten. Für Nova war höchste Wachsamkeit geboten.
„Sie stand eben genau dort, genau hinter dir“, stammelte er.
Harlem trat zur Seite, damit er aus seinem Versteck krabbeln konnte. Geduckt blieb er neben Hel stehen und nahm sein Essen und den Punsch entgegen, ohne die Menge aus den Augen zu lassen. Niemand schenkte ihnen Beachtung, alle verfolgten das Feuerwerk durch die hohen Bogenfenster auf der anderen Seite des Festsaales.
Harlem suchte sich eine Gabel von den Tabletts und begann ihre Fingernägel daran zu säubern. „Wenn du Geld hast, leg ich sie für dich um.“
Nova wurde blass. „Wie bitte?“
„Du kannst in Raten bezahlen. Aber das ist eine Ausnahme!“
„Nein, wirklich, das ist nicht nötig.“
„Keine Raten?“
„Kein Mord!“, zischte er.
Harlem zuckte die Schultern. Dann bemerkte sie Hels und Novas Blicke. „Nun starrt mich nicht so an, ihr zwei! Jeder gibt irgendwann den Löffel ab.“ Nachdrücklich bohrte sie ihre Gabel in eine Likörkirsche, sodass der Saft herausspritzte. „Um eins klarzustellen, ich wende nur schmerzfreie Methoden an. Schmerzarme Methoden. Sonderwünsche kosten immer extra.“
Draußen explodierten die letzten Lichter und Musik setzte ein. Es war eine bekannte Melodie, die Hel abermals in die Vergangenheit zurückzog. Als sie noch klein gewesen war, hatte Gharra manchmal dieses Lied gesungen, mit zittriger, leiser Stimme, damit sie nach einem Albtraum wieder einschlief. Kurz spürte sie ein Brennen hinter den Augen, schluckte ihre Tränen aber sofort hinunter. Sie war gut darin geworden in den letzten Monaten. So oft und unkontrolliert manche Gefühle auch über ihr zusammenstürzen mochten, meistens konnte sie sie sofort ersticken. Es war, als würde sie Sand über eine Flut kippen, wieder und wieder. Nur wenn sie alleine war, in den endlosen Stunden vor Sonnenaufgang, und nicht schlafen konnte, dann sickerte alles an die Oberfläche –
Der Absturz der Schwalbe. Die Schreie. Das fauchende Prasseln des lebendigen Sandes. Möbel, Fensterscheiben und Menschen in der Luft –
Hel merkte, dass sie schon seit geraumer Zeit nicht mehr auf das Gespräch von Harlem und Nova geachtet hatte, und versuchte sich mit einem kräftigen Schluck Punsch in die Gegenwart zurückzuholen. Ein wattiges Gefühl stieg ihr in den Kopf. Vielleicht war das doch keine so gute Idee. Sie stellte ihren Kelch weg, entschlossen, es für heute gut sein zu lassen.
„Sag mal, hast du eigentlich nie Schwierigkeiten, einen Auftrag auszuführen?“, fragte Nova soeben.
„Doch … wenn ich auf heftigen Widerstand stoße.“ Harlem zwinkerte Hel flüchtig zu, ohne dass Nova es merkte. Hel grinste, aber ganz wohl war ihr dabei nicht. Zwar hatte Harlem offensichtlich Spaß daran, Nova mit ihrem Gerede Angst zu machen, doch frei erfunden war es schließlich nicht. Die Zwergin tötete für Geld. Es war leicht, das zu vergessen, wenn man sie so betrachtete. Mit dem verschmitzten Lächeln hätte sie auch eine zwergische Raupenköchin sein können. Nur wenn man genau in ihre Augen sah, erkannte man, dass tief in ihrem Blick völlige Finsternis herrschte. Eine Leere, als hätte sich die Seele vor langer Zeit verabschiedet und ins Unsichtbare zurückgezogen ... Wer andere tötete, egal aus welchem Grund, tötete dabei auch sich selbst.
Irgendwo stimmten zwergische Blasschnecken eine Melodie an.
„Mein Lied! Ich muss tanzen.“ Harlem klatschte in die Hände und hüpfte fröhlich mitsummend davon.
Nova schüttelte halb fasziniert, halb erschrocken den Kopf. „Also, wenn unsere Mission weitergeht und Harlem mitkommt, lege ich mir ganz bestimmt ein Taschenmesser zu. Oder besser ein paar Lirium-Bomben.“
Hel griff doch noch einmal nach ihrem Kelch und trank ihn ganz leer. Insgeheim teilte sie Novas Misstrauen, auch wenn sie es nicht sagen wollte. „Ich glaube nicht, dass Harlem dir etwas antun würde. Ebenso wenig wie Aricaa hinter dir her ist. Die hat dich sicher längst vergessen.“
Er lächelte sein charmantestes Lächeln, was Hel tief beleidigte. Als könnte er sie damit entwaffnen wie andere, die ihn weniger gut kannten. „Mädchen vergessen mich nicht so leicht. Leider!“
Dass das höchstwahrscheinlich stimmte, konnte seine Selbstgefälligkeit nicht entschuldigen. Hel spitzte die Lippen. „Wenn Aricaa noch an dich denken würde, hätte sie dich längst vergiftet oder mit einem Liriumblitz getötet. Heiraten will sie dich keinesfalls mehr, so feige wie du das Weite gesucht hast.“
Er schien unangenehm berührt. Ohne etwas zu erwidern, warf er sich eine Kirsche in den Mund – und erinnerte sich zu spät daran, dass Harlem mit ihrer schmutzigen Gabel darin herumgestochert hatte. Hastig spuckte er wieder aus. Hel reichte ihm einen Wasserkrug zum Mundspülen.
Inzwischen hatte sich die Tanzfläche mit Sturmjägern gefüllt, die in wilden Kreisen umeinander wirbelten. Sogar ein paar Magier hatten ihren Zauberstab losgelassen, um mitzutanzen. Zu ihrer Überraschung erspähte Hel Meister Olowain im Getümmel. Doch auf den zweiten Blick erkannte sie, dass er nicht klatschend unter den Armen der Sturmjäger hindurchhüpfte, sondern sich einen umständlichen Weg durch die Menge bahnte.
In den zwei Wochen seit ihrer Ankunft in Aradon hatte er die verbotenen Bibliothekshallen der Magierschaft kaum verlassen. Schließlich musste er alles über die Totenlichter herausfinden, die die Dämonen des Alten Reichs suchten. Von seinem Erfolg hing vielleicht die Zukunft der magischen Welt ab. Hätte man der sorgenumwölkten Miene des Magiers in den vergangenen Tagen glauben können, sah es nicht allzu rosig aus.
Meister Olowain bewegte sich auf Hel und Nova zu, geriet dabei in einen Tanzkreis, stolperte eine Runde mit und befreite sich schließlich mithilfe seines Stabes, den er abwehrend vor sich hielt. Endlich war er durch die Menge zu ihnen vorgedrungen.
„Bei allen Himmelsgeistern!“ Der Magier zog ein Taschentuch aus dem Ärmel seines langen, über und über mit Silbergarn verzierten Gewandes und tupfte sich über das Gesicht. „Was … was für eine Stimmung! Vernünftig von euch, nicht zu tanzen. Da ist es belebender und vor allem gesünder, hier zu stehen und Punsch zu trinken. Er steigt schnell zu Kopf, aber wenigstens nicht auf die Füße!“ Er lachte, wischte sich ein letztes Mal über das Gesicht und schien damit auch seine Heiterkeit abzunehmen. Sorgfältig faltete er das Taschentuch zusammen und schob es in seinen Ärmel zurück. „Freunde, es gibt Neuigkeiten. Brandneue Nachrichten, sozusagen. Ich hab es eben erst erfahren. Nach dem Fest wird es eine kurze Versammlung geben, der Vorsitzende Palairon hat sie einberufen. Wir treffen uns nach der Abschlussrede am Ausgang.“
Hel und Nova tauschten Blicke. Eine Zusammenkunft mit Meister Palairon, dem stets gereizten Vorsitzenden der Magierschaft, musste einen wichtigen Grund haben. Sie warteten darauf, dass Olowain mehr verriet, doch er beobachtete nur einen Schwarm murmelgroßer Leuchtkugeln, die zum Takt der Musik schimmernd über ihre Köpfe hinwegschwebten.
„Ah, diese kleinen Spielzeuge waren eine der ersten Erfindungen der Magierschaft. Sie sind so alt wie der Schiffsflug selbst und dabei noch immer so entzückend. Aber nun entschuldigt mich, ich muss Arill und seine Söldner noch von dem Treffen in Kenntnis setzen.“ Er nickte ihnen zum Abschied zu. „Meine Freunde, wir treffen uns später!“
Und schon tauchte er in der Menge unter.
GUTE NACHRICHT
Spät nachts trat Meister Palairon mit einer Magierin auf den Podest, um die letzte Ansprache zu halten. Inzwischen waren die Gäste in so ausgelassener Stimmung, dass kaum noch jemand registrierte, was der Vorsitzende sagte. Es waren die üblichen Floskeln und Lobesreden auf die Gründer der Magierschaft und jene, die sich vor über fünfhundert Jahren gegen Natur und Druidentum erhoben hatten. Dann überließ er der Magierin das Wort, die reglos darauf wartete, dass es still wurde. Ungeduldiges Hüsteln und Murmeln stieg in der Halle. Hel reckte sich, um zu sehen, warum die Magierin nicht anfing. Es war eine jener ranghohen Magierinnen aus der ständigen Eskorte Palairons, die auf keiner Versammlung fehlte. In dem imposanten grauen Kleid und dem breitschultrigen Umhang sah sie aus wie eine große Silberglocke. Obwohl das schwammige Gesicht vollkommen faltenfrei war, wirkte die Magierin wie eine alte Frau. Vielleicht wegen der krötenhaften Augen, von denen das rechte noch durch ein grüngefärbtes Sehglas vergrößert wurde. Oder dem Mund, der unvergnügt nach unten hing.
„Liebe Gäste“, begann sie nun unvermittelt. Endlich wurde es ruhiger. Bedächtig setzte sie die Hände vor sich zu einem Dach zusammen. „Liebe Freunde der ehemaligen Liga. Liebe Brüder und Schwestern der Magierschaft!“ Sie versuchte ein Lächeln. Nur ein Mundwinkel ließ sich nach oben ziehen. „Welche Freude und Ehre, den fünfhundertdreizehnten Gründungstag unseres glorreichen Aradon mit euch zu feiern. Wie die meisten von euch wissen, bekleide ich seit nunmehr neun Jahren das Amt der stellvertretenden Vorsitzenden und gehöre zu den sieben Hüterinnen der Bibliothek. Heute Abend kann ich verkünden, dass ich einen weiteren Dienst in der Magierschaft antreten werde: den der Kriegsbeauftragten.“ Sie legte eine Pause ein und Meister Palairon begann zu klatschen. Die Menge schenkte ihr Beifall. Auch Hel klatschte zögernd. Eine Kriegsbeauftragte – nun war es also wirklich offiziell. Die Magierschaft, die immer höchsten Wert darauf gelegt hatte, allein mit Diplomatie und Handel Druck auszuüben, würde in den Krieg ziehen. Und niemand hatte Einwände! Alle blieben stumm und klatschten, als wäre das Wiederaufleben eines Krieges, der vor Jahrhunderten fast die Welt zerstört hatte, eine freudige Nachricht.
Eine Weile nickte die Magierin lächelnd in alle Richtungen. Dann verhallte der Beifall und sie rieb sich die Finger mit einem leisen Seufzen. „Es ist spät und darum möchte ich nicht lange Vorträge halten. Doch eins kann ich euch versprechen, liebe Freunde: Das Alte Reich wird es nicht leicht haben mit uns. Gute Nacht!“
Während Meister Palairon noch einmal neben die Magierin trat, den Jubel entgegennahm und mit ihr vom Podest schritt, öffneten sich auf ein magisches Zeichen hin alle Doppeltüren. Die plaudernde, singende und scherzende Menge drängte nach draußen, um zu schlafen oder – was Hel bei den meisten eher vermutete – in der Uferstadt weiterzufeiern. Es war, als hätte bei der Rede niemand wirklich hingehört.
Meister Olowain, Harlem und Kelda standen bereits am Ausgang, als Hel und Nova dazukamen. Nova bezog sofort hinter einer Säule Stellung, damit die herausströmenden Magier, unter denen auch Aricaa sein musste, ihn nicht sehen konnten.
„Pienova Nord!“, rief eine laute Männerstimme durch die Menge. Hel drehte sich um und entdeckte Arill und seine Männer. Offenbar hatten die Söldner munter gefeiert. Zumindest ihr Anführer. Während Arill auffällig winkte, mussten Berano und Caiden ihn links und rechts stützen. Die dunklen Augen des Söldners waren glasig, sein sonst so scharfer Blick verschwommen. Auch Relis, die hinter ihren Kameraden herging, hickste so sehr, dass das Kurzschwert an ihrem Gürtel klapperte.
„Immer noch auf der Flucht, Junge?“, schrie Arill, beugte sich hinter die Säule und klopfte lachend gegen den Marmor.
„Verschwinde, du Schnapsdrossel“, kam gedämpft die Antwort.
Arill kratzte sich durch die dichten schwarzen Bartstoppeln und blickte in die Runde. „Wisst ihr, manchmal muss ein Mann … ein Mann sein!“ Weil er der einzige war, der darüber lachte, schlug seine gute Laune schlagartig in Misstrauen um. „Was ist los? Wisst ihr schon was über die geheime Besprechung, das ich nicht weiß? Raus damit! Diese verdammte Geheimniskrämerei unter den Magiern, ich sage euch …“
„Senke deine Stimme“, knurrte jemand. Sie drehten sich um. Meister Palairon hatte sich vor ihnen aufgebaut, umringt von seinen engsten Beratern. Ihr schlohweißes Haar war mit Silberdraht zu kunstvollen Türmen aufgesteckt wie Spitzhüte. Selbst Meister Palairon wirkte heute Abend etwas festlicher als sonst. Zumindest hatte er sich den Bart gekämmt. Hel hätte schwören können, dass auch seine buschigen Augenbrauen gestutzt waren – aber die Vorstellung, dass der Magier seine kostbare Zeit mit einer Schere vor dem Spiegel verbrachte, kam ihr doch zu abwegig vor. Wie immer sah der Vorsitzende mit seinem grimmigen, flachen Gesicht und den ruhelos umherblickenden Augen aus, als erwarte er einen Mordanschlag. Oder plane selbst einen.
Arill verneigte sich hastig. „Meister Palairon!“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, bog der Vorsitzende in einen Seitenflur. Alle anderen folgten ihm. Der Festlärm wurde zu einem undeutlichen Summen und verhallte schließlich ganz, als sie durch hohe Gewölbe in einen Raum gingen, der mit dunklen Steinplatten getäfelt war. In der Mitte stand ein Tisch mit sieben Polsterstühlen auf jeder Seite und einem hohen Sitz am Ende. Samt war vor die Fenster gezogen, nur durch ein paar Ritzen schimmerte das Licht der Uferstadt, weit unten in der Nacht. Eine plötzliche Sehnsucht nach den Tavernen am Wasser befiel Hel. Als Kind hatte sie dort mit den Sturmjägern der Schwalbe gefeiert … Sie schloss die Augen. Sie konnte nicht ständig daran denken. Es war geschehen und vorbei, ihr Leben ging weiter, auch wenn das der anderen beendet war. Sie nahm auf einem Stuhl zwischen Arill und Nova Platz. Das Holz der Armlehnen war überraschend kühl. Der ganze Raum kam ihr jetzt kalt vor. Ein träges Kribbeln stieg von ihren Füßen die Beine hinauf.
Meister Palairon setzte sich auf den hohen Stuhl am Tafelende und ließ den Blick durch die Runde schweifen, wie um sicherzugehen, dass ihm die ungeteilte Aufmerksam galt. Hel blinzelte sich die Schläfrigkeit aus den Augen.
„Ich gehe davon aus, dass die Konzentration der meisten hier nicht von Dauer sein wird, also machen wir es kurz. Meister Olowain.“ Der Vorsitzende schnipste mit den Fingern. „Fangt an.“
„Ja, sehr gerne. Danke.“ Olowain nickte feierlich. „Meine Freunde, wie ihr wisst, haben wir in allen Reichen der bekannten Welt nach dem Isen fahnden lassen, der das Dämonenmädchen getötet hat. Selbst der Zwergenkönig Moradin hat sein Wort gegeben, dem Isen kein Asyl in Gondurill zu gewähren, sollte er dort vorbeikommen. Und wenn man bedenkt, wie starrköpfig die Zwerge von Gondurill sich bisher gezeigt haben, wenn es um die Zusammenarbeit mit Aradon ging, ist ein solches Versprechen alle Achtung wert. Natürlich könnte der Ise sich noch auf den Inseln verstecken, wo ihn sicher keiner seiner Landsmänner verraten würde – das war in der Tat unsere größte Sorge. Andererseits ziehen die wenigsten Isen auf die Inseln zurück, sobald sie einmal den Komfort eines zivilisierten Lebens mit Magie kennengelernt haben …“ Olowain räusperte sich, als der Vorsitzende der Magierschaft ungeduldig auf den Tisch trommelte. „Wie dem auch sei, wir haben den ersten Hinweis erhalten. Vor zwei Stunden, während der Festlichkeiten, erreichte uns eine Eilige Feder. Der isische Auftragsmörder, bekannt unter dem Namen Karat – was übersetzt ‚Schakal‘ bedeutet, wenn ich mir diese kleine Anmerkung erlauben darf –, wurde in den Gebirgen des Mittlands gesichtet.“ Olowain holte Luft. „Genauer in Tridad, einer Handelsstadt nördlich der Eisenberge von Warhall. Kürzlich wurde dort ein Händlertross überfallen. Die Waren – laut Bericht Eisenkessel, Geschirr und größere Mengen Zwiebelschnaps, eine Spezialität aus Warhall, die sehr beliebt ist aufgrund ihrer gesundheitlichen …“ Olowain erwachte aus seinem Redeschwall, als der Vorsitzende die Faust auf den Tisch fallen ließ, und fuhr hastig fort: „Jedenfalls wurden die Waren unbeschädigt liegengelassen, die Händler und ihre Leibwachen getötet. Nur Wegzehrung und etwas Geld wurde gestohlen. Ich vermute, dass der Räuber alleine war und die Beute deshalb nicht mitnehmen konnte. Doch welcher Räuber kann schon ganz alleine eine Karawane überfallen? Er müsste dafür dämonische Kräfte besitzen.“ Olowain schwieg einen Moment. Hel wusste, dass alle Gefährten an das Dorf denken mussten, in das sie gekommen waren, nachdem das Dämonenmädchen dort alles Leben ausgerottet hatte. Die starren Leiber der Menschen dort, die wirkten, als hätte sie ein tödlicher Schlaf überkommen. Nova rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
„Wie gesagt, eine eilige Feder erreichte uns vorhin“, fuhr Olowain etwas lauter fort. „Karat wurde in Tridad gesichtet. Die Betreiberin eines Badehauses behauptet, er sei für eine Nacht bei ihr eingekehrt. Weiter deutet sie an, zu wissen, wohin er unterwegs sei. Und vor allem, in wessen Auftrag.“
Meister Palairon blickte nervös zwischen den Gefährten umher, als sei der Auftraggeber womöglich unter ihnen. Hel glaubte, dass er Kelda eine Sekunde länger beäugte als alle anderen. Die Isen, die nun einen Anspruch auf Land und Lirium erhoben, waren Aradons größte Bedrohung – größer vielleicht noch als das Alte Reich, das irgendwo jenseits der Kauenden Klippen lauerte. Längst waren die isischen Rebellen zahlreich genug, um ganze Städte in ihre Gewalt zu bringen. Kämen Waffen wie die Totenlichter in ihren Besitz, konnte das das Ende der Menschenherrschaft bedeuten.
„Also brechen wir nach Tridad auf?“, fragte Arill.
Olowain nickte. „Und zwar so bald wie möglich. Das heißt, morgen. Ist die Taube bereit?“
„Die Triebwerke wurden letzte Woche mit neuem Lirium aufgefüllt“, sagte Nova zögerlich. „Wir müssen nur Vorrat an Bord bringen, je nachdem, wie groß die Mannschaft sein soll.“
„Keine Mannschaft“, schaltete sich Meister Palairon ein. „Es dürfen keine Sturmjäger mehr eingeweiht werden. Ihr“, er sah die Gefährten einem nach dem anderen an, „seid doch genug, um ein Schiff zu steuern. Schließlich geht ihr nicht auf Sturmjagd.“
Hel und Nova tauschten Blicke. Im Prinzip konnte ein Schwebeschiff zwar von einem einzelnen bedient werden, doch wenn sie in einen Sturm gerieten oder aus irgendeinem Grund die Getriebe versagten, sodass sie auf Trollkraft angewiesen waren, konnte eine Fahrt ohne ausreichende Besatzung tödlich enden.
„Also, ich würde davon abraten“, sagte Hel. „Auch wenn es unwahrscheinlich ist, könnte immer noch ein Liriumsturm …“
„Ich dachte, du kannst Magie sehen“, fiel ihr Meister Palairon ungeduldig ins Wort. „Dann wirst du das Schiff rechtzeitig von Stürmen wegsteuern können, oder nicht?“
„Ich bin dafür, dass mindestens Kapitän Nord mitkommt“, schlug Nova vor. „Ein erfahrener Sturmjäger wie er sollte dabei sein.“
Hel wusste, dass Nova seinen Vater nur mitnehmen wollte, um ihn im Auge zu behalten. Ohne Nova, der sich um ihn kümmerte, fiel er womöglich in alte Gewohnheiten zurück und versuchte sich die Langeweile in Aradon mit Wein wegzutrinken.
Meister Palairon brummte. „Nord kann mitkommen. Aber er wird nicht in die Mission eingeweiht. Immerhin … hat er seine Nase oft genug in Angelegenheiten der Magierschaft gesteckt.“ Der Vorsitzende schmunzelte unterschämt. Nova bemühte sich, seinen Blick gelassen zu erwidern, doch er konnte nicht verbergen, wie schwer es ihm fiel. Dass seine Eltern ein Sturmjäger und eine Magierin waren, war noch immer ein Skandal.
„Mein Vater steckt seine Nase ja nicht absichtlich in fremde Angelegenheiten“, sagte Nova und lächelte angespannt. „Er hat bloß eine sehr lange Nase.“
Hel wäre fast für ihn im Boden versunken. Eine peinliche Stille trat ein.
„Wie auch immer“, sagte Olowain und versuchte eine sachliche Miene aufzusetzen. „Ohne Zwischenfälle können wir Tridad in fünf Tagen erreichen. Sobald wir wissen, wohin Karat unterwegs ist, holen wir ihn hoffentlich recht bald ein.“
Meister Palairon beugte sich vor, als wollte er den ganzen Tisch packen. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen wurde zu einer tiefen Narbe. „Ich will den Isen lebendig. Koste es, was es wolle, und wenn ihr ihn den ganzen Weg nach Aradon in einer zauberfesten Kiste tragen müsst.“
Hel beobachtete Meister Palairon mit einem flauen Gefühl. Unter den hängenden Lidern schienen seine Augen seltsam leblos, als würde er sie alle nur wahrnehmen, aber nicht erkennen.
„Womöglich hat er Verbündete oder Befehlshaber bei der Isenbewegung. Wenn jemand unter Verdacht steht, tötet ihn.“
Harlem nickte knapp. Fragen standen ihr ins Gesicht geschrieben, doch sie zögerte. „Was ist mit den Dämonen des Alten Reichs? Ich dachte, wir sind hinter ihnen her und nicht mehr hinter den Isen.“
„Der Ise“, knurrte Palairon, „ist der Schlüssel, um das Alte Reich zu besiegen.“
Hel und Nova waren die einzigen, die verstanden, was der Vorsitzende damit meinte. Außer ihnen war niemand in die Geschichte der Totenlichter eingeweiht. Eine klebrige Furcht breitete sich in Hel aus. Was genau hatte Palairon mit dem Totenlicht vor? Wollte er etwa selbst Träger des Lichts werden? Hel schluckte hörbar. Ein Dämon irgendwo in den westlichen Wäldern war ihr noch lieber als ein Dämon in den Türmen Aradons.
„Was, ähm, hat die Magierschaft dann eigentlich vor mit dem … Isen?“, fragte sie. Meister Palairon durchbohrte sie mit seinem Blick.
„Das ist eine Angelegenheit der Magierschaft, meine liebe Hel, und muss dich nicht weiter kümmern“, sagte Olowain schnell. „Es wird so sein wie bisher: Du setzt deine außerordentliche Fähigkeit ein, Lirium zu sehen, um den Dämon aufzuspüren, und um alles andere machst du dir keine Gedanken.“
„Ich dachte, wir suchen jetzt den Isen“, schaltete sich Arill ein.
„Dann hör auf zu denken, Söldner“, schnaubte Meister Palairon.
„Der Ise ist ein Dämon“, erklärte Olowain leise.
Ratlos blickte der Söldner zwischen den Magiern hin und her, bis Palairon sich mit einem Knurren erhob. „Genug der Fragerei! Ihr seid hier, um einen Auftrag zu erfüllen, und nicht, um zu diskutieren! Das ist alles.“ Mit einer unwirschen Bewegung erhob er sich. Sein Zauberstab schwebte dicht neben ihm her, als er aus dem Raum verschwand.
Hel und Nova verabschiedeten sich von den anderen, als sie im Stockwerk der Sturmjäger ankamen. Meister Olowain war im Westturm geblieben, wo die Magier ihre Unterkünfte hatten, und Kelda hatte sich längst auf den Weg in die Uferstadt gemacht. Nur Harlem und die Söldner schliefen in den Zimmern, die den Gefährten zur Verfügung gestellt worden waren. Für Hel und Nova kam es nicht infrage, sich von den anderen Sturmjägern der Liga zu trennen – alles hatte sich verändert, aber wenigstens dieses bisschen Gewohnheit wollte Hel sich bewahren.
Der Teppich dämpfte ihre Schritte und die Müdigkeit saß ihr wie Watte in den Knien, doch ihre Gedanken waren hellwach. Jeden Tag hatte sie damit gerechnet, wieder aufzubrechen, trotzdem fühlte sie sich überrumpelt. Natürlich kam die Nachricht nicht überraschend, und sie hatte lange genug Zeit gehabt, sich auf die Weiterreise einzustellen. Aber erst jetzt waren mit einem Schlag all die Zweifel und die Fragen wieder da. Wenn sie den Isen fanden, würde dessen Totenlicht in Meister Palairons Besitz wandern. Wenn sie ihn nicht fanden, würden die Dämonen des Alten Reiches womöglich sein Totenlicht rauben. So oder so wäre das Totenlicht in den falschen Händen …
„Wenn der Ise dieselben Fähigkeiten hat wie das Dämonenmädchen, das zuvor das Totenlicht getragen hat“, sagte Nova gähnend, „können wir ihn unmöglich hierher entführen. Wie stellen die Magier sich das vor? Immerhin besitzt der Ise jetzt dämonische Kräfte.“
Hel brummte zustimmend. Sie bogen um die Ecke und kamen in die große Speisehalle der Sturmjäger. Zwei einsame Leuchtkugeln schwebten über der Tafel und einem Heer aus Krügen und Flaschen. Wie erstarrte Tänzer schienen sie darauf zu warten, dass die Musik zurückkehrte und das Fest wieder begann. Hel hob eine Leuchtkugel aus der Luft und ließ sie verlöschen. Gerade streckte sie sich nach der zweiten aus, als ein dumpfes Rumpeln erklang. Verdutzt drehte Hel sich um. Nova war zwischen zwei Stühle gefallen. Oder gesprungen. Bevor Hel fragen konnte, ob alles in Ordnung war, hörte sie Schritte auf der Treppe. Sie drehte sich um.
Aricaa kam langsam die Stufen herab. Ihr prächtiges Kleid war in einer eleganten Schleife über die Brust geschlungen und fiel nach hinten zu einer Schleppe aus.
„Ho“, sagte Hel. Mehr ließ sich von einem Hallo nicht herauswürgen.
Aricaa blieb ein paar Stufen über ihr stehen. Das stupsnasige Gesicht der Magierin erinnerte Hel immer noch an ein Kaninchen, doch sie wirkte ernster, erwachsener als noch vor ein paar Monaten, bevor sie zu ihrer Ausbildung nach Aradon gekommen war. Vielleicht hatte Hel aber auch nur den Eindruck, weil sie Aricaa damals so kindisch erlebt hatte – eben frisch verliebt in Nova.
„Guten Abend, Hel“, sagte Aricaa nach einer langen Pause. Hel wunderte sich, dass sie ihren Namen überhaupt kannte. Obwohl sie zusammen von Har’punaptra bis Aradon gereist waren, hatten sie nie ein Wort gewechselt. Es war tatsächlich das erste Mal, dass sie miteinander sprachen.
„Weißt du, wo Nova ist?“ Aricaa bemühte sich um eine gefasste Miene, doch in den Falten ihres Gewandes kreuzte sie nervös die Finger.
„Nicht, äh, direkt … er müsste irgendwo in der Nähe sein.“ Hel wiederstand dem Drang, zu den Stühlen zu blicken. Ein dunkler Verdacht beschlich sie, dass sein Fuß herauslugte. Vielleicht war es auch nur eine Flasche. Hoffentlich dachte Aricaa, es sei eine Flasche.
„Ich hatte angenommen, er sei bei dir.“
„Wieso?“, japste sie und klang wie ein Trottel.
„Ihr seid doch immer zusammen.“ Arica musterte sie. Wenn Worte Dolche wären, dachte Hel, hätte sie jetzt ein paar tödliche Stichwunden. Sie schluckte. „Wir sind gut befreundet. Aber er war ja oft … lange krank in letzter Zeit. Also, ja.“ Bei diesem ungeschickten Gestotter musste Aricaa klar sein, dass das eine Lüge war. Hel sah sie schuldbewusst an. „Er war mit seinen Gedanken ganz woanders seit den Dämonen und dem Krieg, der …“
„Hat er dir gesagt, warum er mir aus dem Weg geht?“ Aricaa reckte sich; es auszusprechen musste sie viel Mut gekostet haben.
Hel ließ die Schultern fallen. „Er ist in einer sehr schwierigen Phase. Er mag Euch sehr, das weiß ich. Aber Nova …“
„Ist Nova“, beendete Aricaa den Satz. Sie lächelte bitter.
„Ich nenne ihn auch ganz gerne Windbeutel.“
Sie sahen sich an und grinsten. Trotz allem, was zwischen ihnen stand, kam eine merkwürdige Nähe auf, flüchtig wie ein Sonnenstrahl. Wenn Aricaa keine Magierin gewesen wäre und Hel keine Sturmjägerin und wenn es Nova nicht gäbe, hätten sie sich womöglich gut verstanden. In diesem Moment dachten sie dasselbe.
Aricaa kam die Stufen herab. Hel fiel auf, dass die Magierin gar nicht viel größer war als sie selbst.
„Wenn du Nova siehst, sag ihm bitte, dass ich morgen den ganzen Tag frei habe.“ Sie zögerte. „Und dass ich im Aussichtsturm bei der Westbrücke bin. Und warte.“
Hel nickte. „Ich sage es ihm. Er kommt bestimmt.“
Aricaa atmete lang durch die Nase aus. „Danke. Weißt du, ich … wünschte, ich würde ihn kennen wie du.“ Hastig ging sie an Hel vorbei. Hel hätte schwören können, dass ihr Blick über die Stelle glitt, wo Nova kauerte. Sie drehte sich um und sah Aricaa nach, die den Flur hinuntereilte, ein heller Fleck in der übermächtigen Dunkelheit. Bald war sie um die Ecke verschwunden.
Erschöpft ließ Hel sich auf einen der Stühle sinken und fuhr sich durch die Haare. Zuletzt hatte Jureba sie ihr auf der Schwalbe geschnitten, vor mehr als einem halben Jahr. Inzwischen konnte sie sich schon einen kleinen Zopf im Nacken binden.
Nova streckte ächzend die Beine aus und setzte sich auf, sodass er mit Hel auf einer Höhe war.
„Du bist unverbesserlich“, murmelte sie.
Er antwortete nicht. Dann wandte er sich ihr zu und sah sie so lange an, bis sie sich ebenfalls zu ihm drehte.
„Aber es stimmt“, sagte er leise. „Sie kennt mich nicht wie du.“
„Nein. Deshalb findet sie dich ja toll.“
„Charmant wie gewohnt, Hel, trotz der späten Stunde.“ Er rappelte sich auf, schlang die Arme um sie und zerzauste ihr das Haar. Hel versuchte sich aus seiner Umklammerung zu winden.
„Es ist übrigens ein Zeichen von geistiger Unterlegenheit, wenn man seine körperliche Überlegenheit ausnutzt!“, keuchte sie, kam endlich frei, sprang die Stufen hinauf und schüttelte sich die Haare wieder glatt.
„Wo hast du denn diesen Unsinn her?“ Er lief ihr nach.
„Bin ich selbst drauf gekommen.“
„Mit dieser Formulierung? Glaub ich nicht.“
Sie puffte ihm gegen den Arm, und Nova blieb stehen. „Hel, es ist ein Zeichen geistiger Unterlegenheit, seine körperliche Kraft einzusetzen.“
„Zum Glück hab ich die nicht eingesetzt, sonst würdest du schon bewusstlos auf dem Boden liegen!“
Lachend schlenderten sie auf ihre Schlafräume.
Im dunklen Zimmer schälte Hel sich aus ihren Kleidern und kroch unter die Bettdecke. Ein angenehmes Gefühl, zu fallen, überkam sie. Glatte, rasche Träume zogen auf.
Sie geht durch ein regloses Land.
Blau gemalte Berge und Wälder am Horizont.
Es sind Leichen. Riesenhafte Leichen einer ausgestorbenen Welt.
Mit jedem Schritt knirscht der Boden, blassblauer Staub, knisternde Haut einer Mumie.
Der Tod im Land greift nach ihrem geringen Licht wie gierige Knochenfinger.
Sie spreizt die Hände. Nicht sie wird Licht verlieren, sie wird Licht nehmen.
Gras und Moos zu beiden Seiten verdorren.
Neue Kräfte strömen durch ihren Körper, der eins ist mit dem großen Körper Erde.
Sie denkt an einen Nachmittag zurück, auf einer felsigen Anhöhe. Beim Altar des Wassers. In Hellesdîm. Ihrer Heimat. Seiner. Meiner Heimat.
Mit ausgebreiteten Armen vor dem Altar, einem flachen Steinbecken, die Gezeiten rufen. Sie ist Wolkenmasse. Federleicht und tonnenschwer. Weich und finster, mächtig, zart. Sie, nur ein Gedanke.
Der Himmel kracht.
Die Sonne ertrinkt in aufquellenden Schatten und dann fällt Regen. Das leere Steinbecken füllt sich mit laut klatschenden Tropfen.
„Du hast es vollbracht, Mercurin“, sagt die vertraute kratzige Stimme ihres, seines Meisters. „Du wirst ein Druide der Ewigen Vier sein, Hüter der Elemente, Herr und Diener des Blauen Elements!“
Wie ein Blitzschlag erstrahlte Mercurins Gesicht vor ihr: Erschrocken starrte er sie an, schweißnass aufgewacht in einer fernen Nacht. „Hel?“
Die Erinnerung stürzte davon und sie blieb schutzlos und allein zurück, im Dunkel ihres Herzklopfens.
Mercurin, dachte sie. Dachte sein schönes Gesicht. Er sah sie an, seine Augen die Farbe eines sterbenden Abendhimmels, voller Schreck, voll Traurigkeit. Er murmelte Verse, die sie nicht genau verstehen konnte, die ihr aber vage vertraut vorkamen. Sein Blick glitt langsam über sie. Stumm sagte er ihr, sie solle die Augenklappe abnehmen, und sie nahm sie ab, und er sah sie in ihrer Blöße. Hel fühlte sich so beschämt, so hässlich, dass es wehtat. Doch er verzieh ihr. Nein, es war kein Mitleid. Es war Bewunderung. Sie konnte nicht begreifen, dass er etwas Bewundernswertes an ihr fand.
„Warum bist du hier? Warum bist du noch hier, bei mir, immer …?“
Ohne Antwort zu geben, lief Hel vor ihm davon, mit Füßen, die schneller glitten als Schatten am Meeresgrund.
IM WESTEN
Sie waren bei ihm, immerzu, und manchmal war ihre Nähe so überwältigend, dass Karat sich in ihren verschlungenen Gedankenarmen vergaß.
Hier in den nördlichen Gebirgswäldern nieselte es fast die ganze Zeit, der Boden war feucht und strotzte vor dunkelgrünem Leben. Er lag zusammengekauert zwischen Wurzeln und Farn. Zwischen Traum und Wachsein. Karat hielt die Augen geschlossen, so ließen sich die Stimmen besser ertragen. Und die Lichter.
Diese Lichter, sie trieben ihn in den Wahnsinn. Er sah sie erst seit Kurzem. Oder vielleicht fielen sie ihm erst seit Kurzem auf. Jedenfalls konnte er sich nicht daran erinnern, sie früher schon einmal bemerkt zu haben: die Funken, die überall waren, in Pflanzen, Tieren, Menschen und manchmal auch der Erde. Sogar er selbst strahlte dieses Licht aus. Sanft bebte es mit seinem Pulsschlag, ein schwarzglimmender Schleier, Licht zwar, aber mehr das Gegenteil von Helligkeit. Ähnlich wie das Schimmern, das sonst nur Pixies, Kobolde und andere Geisterwesen umgab. Er war nicht sicher, ob er es mit den Augen sah oder mit einem anderen, neuen Sinn.
Als er den Händlertross vor einigen Tagen überfallen hatte, war das Licht der Männer mit ihrem Tod erloschen. Die platzenden Funken waren so schrecklich schön gewesen, Karat hatte im Kampf innegehalten und einfach nur das Wunder des Sterbens betrachtet. Dann hatte ihn eine wirre Angst gepackt, nein, es war eher Panik gewesen – Panik vor seiner eigenen Verzückung vielleicht, diesem schmelzendwarmen Gefühl, das wie Tränen durch sein Innerstes lief und alles zum Bröckeln brachte. Ihre Stimmen sagten ihm, dass er fliehen sollte, zurück in die Schatten der Wälder. Er packte sich einen Proviantbeutel und ließ die toten Männer liegen.
Ihre Stimmen sagten ihm vieles. Sie lenkten ihn, wenn er nicht weiterwusste, und genau genommen wusste er nie weiter. Seine Vergangenheit, nichts als ölige Spuren im Sand. Die Zukunft, ein Wüstenhorizont. Aber sie wussten für ihn. Sie sagten und zeigten ihm, was wichtig war. Durch sie erinnerte er sich an Dinge, die er nie erlebt hatte. Er sah einen aufbrechenden Boden, der Menschen in die Tiefe riss, gigantische Lichtfontänen aus den Tiefen der Erde, die alles Leben tilgten und Städte in ihrem weißen Atem verglühen ließen. Und die tiefen Lichter, sie gehorchten ihm. In einer Erinnerung, die ihm nicht vertraut war, hob Karat alte, bleiche Menschenhände, denn das Licht unterlag seinem Willen. Die Himmelswinde füllten sich mit zischenden, rasselnden Funken und radierten Festungen einfach aus. Schwebeschiffe stürzten ab, wenn er die Faust ballte. Denn das Tiefe Licht war sein Herr. Und er beherrschte das Tiefe Licht. Und ich bin ... das Tiefe Licht!
Luftschnappend öffnete Karat die Augen. Immer wieder zerrten die Visionen ihn so weit von der Wirklichkeit fort, dass er das Atmen vergaß. Wie ein Ertrinkender tauchte er aus den dunklen Tiefen auf und fuhr sich über die Brust, um sicherzugehen, dass er noch da war und lebte. Sein Herz trommelte nach einem neuen, schwereren Takt. Aus Gewohnheit griff er nach dem Araidann, das er auf dem Rücken trug. Das isische Säbelschwert rief ihm ins Gedächtnis, wer er war: Karat, der Schakal. Karat, der bezahlte Tod. Vor Ewigkeiten ein Junge von den Inseln der Isen, einer von tausenden entführten Kindersoldaten im Krieg zwischen Moia und Lhun, einem Reich, das vor mehr als zwei Jahrzehnten untergegangen war. Karat. Das war sein Name, der einzige, an den er sich noch erinnerte. Erinnern musste. Dabei kam ihm dieser Mann, der er angeblich war, reichlich fremd vor.
Hatte der Junge von den Inseln den Krieg damals tatsächlich überlebt? Hätte überhaupt ein Junge diese Erfahrungen überleben können …
Schwerfällig richtete er sich auf und schob den Farn beiseite. Irgendwo hinter klauenförmigen Ästen schwamm Mondlicht. Die Nacht war noch jung, doch an Schlaf konnte Karat jetzt nicht denken. Überhaupt schien Schlaf sehr lange her. Lange Zeit ... wie lange hatte er hier gelegen? Es konnten Minuten oder Tage vergangen sein, alles war merkwürdig sprunghaft geworden. Tag und Nacht hatten sich längst in ein geteiltes Grab gelegt, Arm in Arm zerfallen zu Dämmerstaub. Verwirrt fuhr Karat sich durch die dunklen Haare, die nur noch lose zurückgebunden waren. Laub knisterte zwischen den krausen Locken. Er schlug sich auf die Wangen.
„Komm zu dir!“ Erst nach einem Moment wurde ihm klar, dass er mit sich selbst gesprochen hatte. Die Erkenntnis war so erschreckend, dass er fast den Kopf schüttelte. Nur Verrückte redeten mit sich selbst. Mit einem seltsamen Lächeln, das in seinen Mundwinkeln juckte, stand er auf und begann sich einen Weg durch das Unterholz zu schlagen. In der Finsternis versanken selbst die Umrisse des Mondes, doch das andere Licht war da und wogte überall auf wie ein stummes Orchester. Er sah Tiere vorüberhuschen, sah Tiere in ihren Höhlen unter der Erde schlafen, weil ihr Licht sie verriet. Das Licht hatte keine Geheimnisse vor Karat. Es war eins mit ihm.
Eins habe ich. Aber die anderen drei ... denn es gibt vier. Doch nur einer wird sie alle in sich tragen können.
Plötzlich war der Dämon da. Mit geschlossenen Augen sah Karat ihn deutlich vor sich: Der unheimliche Junge beobachtete ihn. Er las in seinen Gedanken, folgte ihm in all seine Träume. Mein Bruder, mein Todfeind. Ich bin dir auf der Spur, flüsterte der Dämon. Ich werde dich kriegen. Warte nur. Warte.
Karat keuchte. Er sah den Jungen näher kommen, sein wehender Umhang verwandelte sich in den vorbeiziehenden Nachthimmel und jeder seiner Schritte legte Meilen zurück. Die kalte Farbe seiner Augen war ein Todesversprechen, so sicher und unaufhaltsam wie der stahlblaue Morgen. Schweiß brach ihm aus, Karat wischte sich zitternd über den Nacken. Er wusste, dass der Junge ihn verfolgte: Ihre Stimmen hatten ihn gewarnt. Der Junge mit den dämonischen Kräften wollte ihm das Kostbarste wegnehmen, trachtete nach dem Licht, nach dem Tiefen Licht in ihm ... Karat presste sich beide Hände auf das Herz, als könnte es ihm herausfallen.
Er musste erfahren, was die Lichter bedeuteten. Tief in ihm war die Antwort und schlummerte in Ölblasen. Tief in der Erde.
„Wohin laufe ich“, murmelte er und wieder merkte er erst einen Moment später, dass er Selbstgespräche führte. Argwöhnisch sah er sich um, als könnte ihn jemand gehört haben. Ihm war, als käme Lachen aus dem Unterholz. Lichter glitten vorüber, viel zu groß für Tiere oder Liriumfunken im Wind. Karat blinzelte. Sie waren da, natürlich. Zu gegebener Zeit würde er erfahren, wer sie waren. Zu gegebener Zeit würde er verstehen, wohin sie ihn führten. Denn das taten sie: ihn führen. So wie der Schwertkämpfer sein Araidann führte, durch Schatten und durch Sonnenschein.
Tage verstrichen und Nächte vergingen, ohne Erinnerungen zu hinterlassen. Andere Erinnerungen entfalteten ihre schwarzen Blüten in Karat, rankten sich tückisch um die Gegenwart und raubten ihr ihren Platz.
Karat sah, wie die Welt unterging und die Völker in Lichtfluten ertranken. In einem Krieg, der fünf Jahrhunderte zurücklag, hatte er mit seinen eigenen Händen die Erde umgegraben, um das Tiefe Licht hervorzubringen. Wie wunderschön es war! Wie wunder-, wunderschön der Tod das Leben umschlingen konnte ... verschlingen ... mit Haut und Haaren fressen.
Was tue ich hier? Wo war ich fünfhundert Jahre? Die Fragen schliefen im Kern des Rosengestrüpps, das sein Gedächtnis durchwucherte. Er hatte in einem Grab gelegen, unter feuchtem Lehm und dunkler Erde und Granit, mit einem Herzschlag für jedes verstreichende Jahr, während weit über ihm die Zeit der Menschen vorüberraste. Jetzt war er zurück. Und die Zeit der Verfluchten war vorbei.
AUFBRUCH
Hel erwachte, als der Tag anbrach. Fahrig befreite sie sich aus ihrer Bettdecke. Der Stoff war feucht vor Schweiß und sie zitterte. Höchstens drei Stunden waren vergangen, seit sie sich hingelegt hatte, doch sie würde nicht mehr schlafen können, das wusste sie. Sie wollte auch nicht. Die Augen zu schließen bedeutete, wieder in der Dunkelheit zu versinken, in der alles passieren konnte ... Sie fuhr sich über die Stirn, als könnte sie so die Bilder wegwischen. Woher kamen nur diese Träume ... Als Erinnerungen an das eben Gesehene in ihr hochstiegen, stand sie so hastig auf, dass ihr schwindelig wurde.
Sie zog sich die Augenklappe auf, schlüpfte in ein frisches Hemd, ihre grüne Wolltunika und Beinlinge, stieg in ihre Halbstiefel und schlang sich den Gürtel um die Taille. Zuletzt legte sie sich ein leeres Feenlicht an einer Lederschnur um den Hals. Der Stein war durchsichtig wie Glas – erst wenn er sich mit Lirium füllte, würde er seine Farbe ändern und schließlich schwarz zu funkeln beginnen. Oft hatte Hel den Wandel eines Feenlichts beobachtet und sich gefragt, wie es funktionierte. Angeblich gab es Leute, die das Geheimnis der Magierschaft entschlüsseln wollten – doch Feenlichter ließen sich nicht zertrümmern oder schmelzen. Die Magier mussten eine andere Methode anwenden, um das gesammelte Lirium wieder aus den Feenlichtern zu bekommen.
Den magischen Umhang aus Moia, der vor Kälte, Regen und Feuer schützte, packte Hel in ihren Quersack, zusammen mit Arills Weste, dem einzigen Erinnerungsstück, das ihr von der Mannschaft der Schwalbe geblieben war. Nachdenklich fuhr sie über den Stoff, als sie ihn einpackte. Sie hatte die Weste nie gewaschen und manchmal, wenn sie verstohlen daran roch, glaubte sie vertraute Gerüche wahrzunehmen ... von Abenden in der Schiffsküche bei gebratenem Sandwurm ... und von Wüste, ihrer Reise durch die Wüste mit ihm, Mercurin ... Das war stets der Moment, in dem sie die Weste wieder weglegte. Wahrscheinlich bildete sie sich die Gerüche sowieso nur ein. Trotzdem war das alte Kleidungsstück mit den abgerissenen Ärmeln und dem zerschlissenen Kragen das Kostbarste, was sie besaß.
Nach ein paar Silbermünzen für ihre Augenklappe, um die zweite Sicht abzuschirmen, hatte sie kaum mehr einzupacken. Eine Tüte Kirschsaftpulver noch und so viele Datteln, wie hineinpassten. Außerdem hatte sie im Lesezimmer der Liga eine Ausgabe von Jurebas Lieblingsbuch gefunden: Die Leiden des jungen Waydir. In Gedenken an die isische Sturmjägerin, der Hel das Lesen verdankte, hatte sie das Buch geklaut. Jetzt schob sie es zwischen ihre Kleider in den Quersack und schnürte alles zu.
Bevor sie ging, sah sie sich noch einmal im Zimmer um. Zwischen diesen vier Wänden hatte sie die letzten Wochen geschlafen, es war ihr erstes Zuhause gewesen seit dem Absturz der Schwalbe vor fast einem halben Jahr. Dennoch war ihr nichts im Raum vertraut. Das Eichenholzbett war so steif und streng wie ein Vertreter der Magierschaft, die dunklen Wandschränke schienen sie wie stumme Zeugen aus ihren Schlüssellöchern zu mustern. Es roch sogar wie in den Ratssälen des Westturms, nach kühlem Stein und dem Staub von Jahrhunderten. Hel trat hinaus und schloss die Tür hinter sich. Sie würde das Zimmer nicht vermissen. Nicht einmal die Ruhe und Bequemlichkeit. In der unmittelbaren Nähe der Magierschaft würde sie sich nie wirklich wohlfühlen.