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Die große Sturmjäger Saga von Spiegel Bestseller Autorin Jenny-Mai Nuyen Der Handel mit Magie hat Aradon reich gemacht. Sturmjäger wie die junge Hel sammeln für die Magier auf fliegenden Schiffen die Magie der lebendigen Erde. Doch nun droht dem Land ein Krieg von ungeahntem Ausmaß. Denn fünf dämonische Rächer wurden ausgesandt, um die Ausbeutung der Natur zu beenden und die Magier zu vernichten. Als einer der dämonischen Rächer Hel das Leben rettet, muss sich Hel entscheiden: zwischen ihrer Heimat und ihrer Liebe zu ihrem Feind. Pressestimmen: "Feenlicht ist der wohl vielversprechendste Herbsttitel. Jenny Mai Nuyen entwirft mit der jungen Sturmjägerin Hel eine faszinierende Heldin, die im Laufe ihres Abenteuers erkennen muss, dass Gut und Böse nicht immer ohne Weiteres zu trennen sind ..." (Buchjournal) "Ein Tipp für 'Herr der Ringe'-Fans: Die Sturmjäger von Aradon – Feenlicht von Jenny-Mai Nuyen, dem Jungstar am Fantasy-Himmel." (Focus Schule) "Auf knapp 500 aufregenden Seiten erzählt die gerade mal 21 Jahre junge Autorin Jenny-Mai Nuyen die Geschichte der Sturmjägerin Hel." (BZ) • Romantasy für alle Fans von Sarah J. Maas, Cassandra Clare und Christopher Paolini
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Seitenzahl: 560
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Jenny-Mai Nuyen
Sturmjäger
Buch eins
Feenlicht
Von Morgen Verlag
Copyright © 2023 Jenny-Mai Nuyen
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-948684-01-3
PROLOG
LICHTER
DER SAND
SCHATTEN
UNTER DEN STERNEN
DER HÄNDLER
DURCH DIE WÜSTE
DIE WINDIGE STADT
LETZTE STUNDEN
HAR’PUNAPTRA
NOVA
AUF DER TAUBE
KARAT
AN UND UNTER DECK
ZWISCHENZEIT
ARADON
ZWISCHENZEIT
MAGIER
INS UNGEWISSE
MOIA
DIE TRÄUME DES SCHAKALS
MEDEAH
WRAUDEN
ZWISCHENZEIT
SPUR DES TODES
OZAH
DER WEG IN DIE NACHT
DAS DORF
GONDURILL
DIE KUNST DER ZWERGE
TRÄUME
IM DUNKEL
NACH WESTEN
ERSCHEINUNGEN UND STIMMEN
GEISTER
WIEDERSEHEN
DER DÄMON
MUTTER MEER
TOTENLICHTER
KRIEG
EIN ZIEL
DIE JÄGERIN
Danksagung
PROLOG
Das Kind in der Kiste
Drei Meilen westlich von Har’punaptra, der Hauptstadt der Zwerge und des Handels, trafen sich Sturmjäger und Trollhändler zu einem nicht ganz legalen Geschäft in den Gebirgen der Wüste.
Nachdem das Schwebeschiff sicher zwischen den Klippen gelandet war, wurde eine breite Planke vom Deck geschoben und Kapitän Redwin Gharra ging an Land. Er trug einen Umhang, der an den Schultern verdächtig ausgepolstert wirkte, denn ansonsten war der Kapitän eine schmächtige Erscheinung. Beine gleich Krummsäbeln steckten in Stiefeln aus dickem Keilpferdleder und sein Kopf wippte auf dem dünnen Hals wie eine Distel im Wind.
Gharra war alt. Er war schon fast immer alt gewesen, das Haar dünnte seit seinem zwanzigsten Lebensjahr aus und starke Himmelsstürme hatten die ersten Falten schon im Kindesalter in sein Gesicht gegraben. Außerdem knickten die Knie mit jedem Schritt ein wenig zu tief ein, was ihn gebrechlicher wirken ließ, als der Wahrheit entsprach; tatsächlich kam dieser Gang von einem Leben ohne Boden unter den Füßen, denn Gharra war wie die meisten Sturmjäger auf einem schwebenden Schiff zur Welt gekommen und aufgewachsen.
„Seid gegrüßt, meine lieben Freunde, wie schön, euch wohl und munter zu sehen! Wie geht es euch? Was machen die Kinder?“ Die Trollhändler ließen zu, dass Gharra ihnen der Reihe nach die Hände schüttelte und Schultern tätschelte, als suche er nach versteckten Waffen. Oder Siegeln der fürstlichen Wache Har’punaprtas.
„Kinder sind gut“, knurrte der Anführer der Bande, ein Zwerg mit schwarzen Bartzöpfen. Offenbar hatte er Gharra missverstanden, denn er wies dabei auf die Trolle, die in Ketten hinter ihnen standen. Gharra lächelte nachsichtig. Es war sowieso nicht zu erwarten, dass Trollhändler ein Heim und Familie hatten. Wer sich monatelang durch das Lebendige Land schlug und Bestien fing, gehörte eher zur harten, einsamen Sorte.
„Hübsche Tierchen“, kommentierte Gharra. „Aber sind sie auch kräftig?“
Der Zwerg führte ihn zu den Trollen und klärte ihn über Gewicht („Schwer wie Fels – viel Muskelmasse“), Herkunft („Vom Rande der Kauenden Klippen, die beste Brut“) und Zähmung („Hrchm, also … ungezähmt“) auf. Gharra nickte zu alledem, während er die Kolosse musterte. Dann stieg der Zwerg auf eine Gepäckkiste, sodass er auf gleicher Höhe mit Gharra war, und verschränkte die Arme vor der Brust. Nun ging es ans Verhandeln.
„Ich brauche vierzehn Trolle an der Kurbel“, begann Gharra. „Bei der letzten Jagd sind mir leider drei abhanden gekommen. War ein starker Sturm. Ein weiterer ist bedauerlicherweise von seinen Kameraden gefressen worden. Dann habe ich noch zwei alternde Exemplare, die ich ersetzen will.“
„Also braucht Euer Schiff sechs neue Trolle“, schloss der Zwerg. „Ohne Stadtsteuer liegt mein Angebot bei elf Dukaten pro Stück. Dazu zwölf Finger Lirium in Har’punaptra zu einem Freundschaftsrabatt von fünfzehn Prozent.“
„Acht Dukaten und meine beiden alten Trolle. Die könnt ihr noch verhökern.“
„Zehn Dukaten! Meine Trolle sind von exzellenter Qualität, jung und äußerst genügsam …“
Schließlich einigte man sich auf zehn Dukaten pro Troll und einen kleinen Lirium-Handel in Har’punaptra zu einem späteren Zeitpunkt. Gharra war erstaunt über die rasche Abmachung. Zwerge waren nicht gerade dafür bekannt, leicht nachzugeben. Und die Trolle waren in der Tat erlesen; auf den Sklavenmärkten Har’punaptras würden die Händler das Doppelte verlangen können.
„Noch eins“, nuschelte der Zwerg dann. Gharra, eine Hand schon im Wams, um den Geldring zu zücken, hielt inne. „Wir haben noch ein Angebot. Ein Sonderangebot.“
„Sonderangebot.“ Das klang so vielversprechend wie eine Streicheleinheit von einem Troll. Gharra verzog keine Miene.
Der Zwerg winkte nervös seinen Leuten, die zur Seite traten und eine Kiste herbeischleppten. Das Schloss war zauberfest: Es bestand aus reinem Silber. Mit Bedacht sperrte einer der Zwerge auf. Unauffällig legte Gharra die Finger um den Säbelgriff an seinem Gürtel.
Die Zwerge klappten den Deckel auf. Zum Vorschein kamen ein Haufen Stroh und ein Bündel Lumpen. Bei genauerer Betrachtung stellte es sich als Kind heraus.
„Friss mich das Gras, was soll das?“ Gharra spähte auf das Kind hinab, das die Beine und Arme unter dem Körper angezogen hatte. Struppiges schwarzes Haar wucherte über den Schultern. Ganz langsam drehte es den Kopf zur Seite, bedeckte das Gesicht aber mit den Händen. Dann schob es zwei Finger auseinander und blickte aus einem tränenverquollenen Auge zu Gharra auf.
„Was ist das?“, wiederholte Gharra.
„Ein Menschenkind. Ihr könnt es haben.“
Gharra wandte sich dem Zwerg zu. Der Geldring rutschte mit einem leisen Klirren tiefer in die Brusttasche, als er sich ein wenig reckte. „Mein lieber Freund, ein steuerfreier Trollhandel ist eine Sache, Menschenhandel eine andere. Jawohl, ich bin ein Gegner der Sklaverei und würde weder auf Har’punaptras schwarzen Basaren noch hier in der Wüste, noch sonst einem verlassenen Hinterland Menschen kaufen!“ Gharra machte eine gewichtige Pause. „Noch dazu ist das ein Kind, seh ich aus, als hätte ich Mutterliebe zu verschenken?“
„Es ist ein besonderes Menschenkind“, sagte der Zwerg zögernd.
Gharra kratzte sich das Kinn. „Kann es kochen? Sagt bloß nicht ja, wenn es bei Zwergen kochen gelernt hat, da nehme ich mir lieber einen Troll als Küchenchef. Jedenfalls lass ich nicht mehr als drei Schilling springen. Zwei Schilling.“
„Kein Koch“, sagte der Zwerg. „Wir haben es bei den Kauenden Klippen gefunden. Es muss zu Flüchtlingen aus dem Alten Reich gehören, aber es war verletzt und allein.“
„Hm.“ Gharra blickte wieder auf das Kind hinab und überlegte, ob man ihm vielleicht eine Schatzkarte auf den Rücken tätowiert hatte oder ob es Goldeier legte, aber dann würden die Zwerge es vermutlich nicht verkaufen.
„Es ist ein … besonderes Kind“, wiederholte der Zwerg, offenbar bemüht, diese Besonderheit als vorteilhaft darzustellen. Gharra wurde immer skeptischer. „Das Lebendige Land greift das Kind nicht an. Es war ganz allein da draußen, ohne Feenlicht.“
Gharra zuckte die Schultern. „Das Land stirbt aus. Vielerorts ist es so ruhig geworden, dass es niemanden mehr angreift.“
„Ja, ja. Aber … jedenfalls wollen wir das Kind nicht! Es kommt doch aus dem Alten Reich, mit den Druiden wollen wir nichts zu schaffen haben.“
Gharra, der instinktiv wieder nach seinem Säbelgriff tastete, als er ‚Druide‘ hörte, starrte den Zwerg verständnislos an. „Ein Druidenkind? Ich bin der Liga der Sturmjäger und der Magierschaft treu ergeben!“
Als Gharra den Fuß ausstreckte, um den Deckel wieder über das Kind zu kippen, beeilte der Zwerg sich: „Nein, nein! Es gehört nicht zu den Druiden – seht es doch an, es trägt Bauernkleider. Es hat bloß Kräfte.“
Gharra wurde immer unwohler. Als Sturmjäger setzte er zwar sein Leben aufs Spiel, doch von Gefahren auf dem Boden hielt er sich fern. Politik gehörte zu so einer Gefahr. Und, beim Henker, Kräfte.
„Es ist brav und unkompliziert, ihr braucht es auch nicht regelmäßig füttern. Euch wird es sehr hilfreich sein. Es kann Lirium sehen.“ Der Zwerg sprang von seiner Erhöhung und hob das Kind schwungvoll aus der Kiste. Dann hielt er es zu Gharra empor. Viel sah Gharra trotzdem nicht. Das Kind hatte noch immer beide Hände vors Gesicht geschlagen und starrte aus einem angstvollen Auge zu ihm auf. Wie alt es sein mochte? Fünf? Neun? Gharra wusste so viel über Kinder wie über zwergische Großmütter: Gar nichts.
„Da, es kann Magie sehen. Sieht sie überall, meilenweit. Ideal für die Sturmjagd. Ihr müsst es nur in den Mastkorb stecken und warten, dass es Euch die Richtung zum nächsten Liriumsturm weist.“ Der Zwerg zog die Hand des Kindes wie einen klebrigen Seestern von seinem Gesicht. Gharra hielt die Luft an. Zumindest wusste er über Kinder, dass sie für gewöhnlich zwei gleiche Augen hatten.
Dieses Kind nicht. Das eine war dunkel und tränenverquollen. Das andere, linke war milchig-blau und von einer frisch verheilten Wunde in die Länge gezogen, die quer über die Schläfe führte. Das Kind – ein Mädchen, wie Gharra vermutete – war auf einem Auge blind.
„Soll das ein Scherz sein?“, fragte Gharra höflich. „Dein Kindchen ist blind wie der Mond persönlich.“
„Nur auf einem Auge. Mit dem anderen sieht sie alles. Alles.“ Der Zwerg schüttelte das Kind ein wenig. Die angewinkelten Beine schlackerten unter dem Sackkleid.
Gharra beugte sich hinab. Wasser lief der Kleinen aus Nase und Augen. Gharra konnte sich nicht entscheiden, ob er sie niedlich oder abstoßend fand.
„Dann sag mir doch, mein hübsches Vögelchen, wo ich meinen Finger Lirium trage.“ Gharra breitete die Arme aus.
„Mach“, befahl der Zwerg und streckte den Arm des Mädchens aus. Zögernd löste sie den Zeigefinger aus ihrer Faust. Zu Gharras Überraschung wies sie auf seine linke Schulter. Tatsächlich trug er einen vollen Liriumflakon im Schulterpolster. Dann schwankte der Finger des Mädchens abermals und richtete sich auf sein Schienbein. Kaum hörbar hauchte sie: „D-da ist eine Klinge mit Lirium.“
Gharra starrte an seinem Bein hinab. Unter dem dicken Stiefelleder war sein magischer Dolch nicht zu sehen. Jedenfalls nicht für ihn.
Der Zwerg setzte das Mädchen ab. Sofort senkte sie den Kopf und hielt sich wieder die Hände vor das entstellte Gesicht. Nur das heile Auge lugte zwischen den Fingern hervor.
„Seht Ihr“, brummte der Trollhändler. „Das Kind ist ein Segen für jeden Sturmjäger. In Har’punaptra würde sie uns reich machen.“
„Aber Ihr wollt nicht mit ihr gesehen werden.“
Der Zwerg nickte. „Wir wissen nicht, woher sie kommt. Bis jetzt hatten wir keine Probleme, und auf einem Schiff hoch oben im Himmel wird sie niemand suchen. Aber wer weiß, wer in Har’punaptra hinter einem verschollenen Kind her ist.“
Gharra kratzte sich wieder das Kinn. „Ein Segen … vielleicht aber auch ein Fluch. Ich tue Euch einen Gefallen, wenn ich sie euch abnehme.“ Er schwieg einen Moment. „Also schön, fünf Schilling.“
„Sie ist mindestens einen Dukaten wert! Allein wenn wir ihre Haare und Zähne verkauften, haben wir schon so viel!“
„Ja, und eine Leiche.“
„Nicht unbedingt“, grollte der Zwerg.
Gharra seufzte. „Also schön. Einen Dukaten.“
Und so tauschten einundsechzig Dukaten, sechs Trolle und ein Mädchen ihre Besitzer. Als man die Trolle auf das Schiff gebracht hatte, legte Gharra beide Hände auf die schmalen Schultern des Kindes. Er spürte die Knochen durch den Stoff, was gewiss nicht nur an der Verpflegung der Zwerge lag. Einer der vielen Gründe, weshalb die Menschen aus dem Alten Reich zu fliehen versuchten, war der Hunger, hieß es.
„Mein Name ist Kapitän Redwin Gharra. Aber es reicht, wenn du mich Kapitän nennst. Das bedeutet, dass ich das Kommando habe und alle machen, was ich sage. Und bevor du einen Befehl ausführst, sagst du ‚Aye, Aye, Kapitän‘. Kannst du dir das merken?“
Das Mädchen nickte. Als Gharra sie mit einem erwartungsvollen Blick bedachte, erklang ein leises „Aye, Aye, Kapitän.“
„Sehr schön! Aber ein bisschen lauter nächstes Mal, der Wind weht stark dort oben. Und nun verrate mir deinen Namen.“
Das Kind sah ihn schweigend an.
„Fragt sie was anderes“, mischte sich der Trollhändler hinter Gharra ein, der inzwischen die Käfigwagen für die Weiterreise verschloss. „Sie will ihren Namen nicht rausrücken, falls sie einen hat. Wir haben sie Hel genannt, Licht, wegen dem ...“ Er deutete auf sein Auge.
Gharra runzelte die Stirn. „Wie lange war sie denn bei euch?“
„Fünf, sechs Monde.“
Gharra fragte sich, wie viel von der Zeit sie in der zauberfesten Kiste verbracht hatte. „Ein zwergischer Name für ein Menschenkind. Licht für eine Halbblinde! Na, wenigstens gibt er deiner traurigen Erscheinung ein bisschen Humor mit. Er wird genügen, bis dir dein echter Name wieder einfällt.“ Er stand auf und hielt ihr die Hand hin, um sie auf das Schiff zu führen. Als sie ihre hineinlegte, war er sich nicht sicher, ob sie „Aye, Aye“ murmelte. Für einen Augenblick durchfuhr den Kapitän ein Gefühl zärtlichster Zuneigung, schwer und süß wie der Wind jener Sommerabende, die er im Tiefflug über den Steppen verbracht hatte, damals, vor fast einem halben Jahrhundert, als er selbst ein Kind gewesen war.
Ebenso rasch, wie das Gefühl aufgekommen war, flaute es wieder ab.
Gharra seufzte. Wenn das Kind Ärger bereitete, würde er es in der nördlichen Wüste über Bord werfen, wo der Sand noch gefräßig war. Dabei fiel ihm wieder etwas ein. Mit einem gutmütigen Lächeln blickte er auf das Mädchen hinab.
„Sag mal, mein hübsches Monster, kannst du auch kochen?“
Doch diesmal wartete Kapitän Gharra vergebens auf das „Aye, Aye.“
Und er zog durch Nacht und Wüste
Überzog die Wüste mit Nacht
Und suchte den Tod und Rache
Strahlender Tod erwacht!
Und fand das Licht und ein Mädchen
Ein Mädchen, von Licht bewacht.
Gesprochen in den Hallen vonHellesdîm.
LICHTER
Der Wüstenwind war kühl bei Einbruch der Dämmerung und schwemmte die schwere, stehende Hitze des Tages fort wie ein Schwall Wasser. Es war Hels Lieblingszeit.
Sie stand im Mastkorb, zwanzig Fuß über dem Vorderdeck und gut eine viertel Meile über dem Erdboden. Ihre Hände ruhten auf dem Korbrand, ohne sich festzuhalten; das musste sie nicht. Nach neun Jahren hier oben hatten stürmische Winde die Angst längst davongeweht. Sie fühlte sich frei und sicher.
Das lag auch an der hereinbrechenden Dunkelheit und der Tatsache, dass sie unbeobachtet war. In Momenten wie diesen wagte sie die Augenklappe abzunehmen. Die Luft war eine weiche Berührung auf dem linken Augenlid, das sonst nie jemand anfasste und auch nie anfassen würde. Sogar sie selbst scheute davor zurück. Die Narbe an ihrer Schläfe, die unter den Haaren bis zum Hinterkopf reichte, war bleich und buckelig, aber nicht annähernd so abstoßend wie das Auge. Es war leicht in die Länge gezogen und manchmal, wenn Hel doch versehentlich darüber strich oder in einen Spiegel blickte, ohne die Binde zu tragen – was äußerst selten passierte –, kam es ihr vor, als sei das linke Auge größer als das gesunde. Als sei der milchweiße Ball in ihrem Kopf gewachsen und drücke gegen den Stoff, um ihre Aufmerksamkeit zu erzwingen. Sie blinzelte. Ihre Hände schlossen sich um den Korbrand, als die doppelte Sicht kam.
Früher hatte sie die merkwürdige Überlagerung der zwei Welten kaum ausgehalten, war gelegentlich umgekippt und hatte sich sogar übergeben müssen, vor allem am Anfang, als sie das Leben in der Höhe noch nicht gewohnt gewesen war. Selbst heute brachte sie die doppelte Sicht ein wenig aus dem Gleichgewicht. Deshalb machte sie die Augen meistens zu, wenn sie die Klappe mit der eingearbeiteten Silbermünze nicht trug, die die unheimliche zweite Sicht abschirmte.
Denn sie war keineswegs blind auf dem Ding in ihrer linken Gesichtshälfte. Selbst mit geschlossenen Augen nicht.
Sie konnte Leben sehen. Bei Nacht und Tag, Nebel und Sturm, durch Holz und Wände. Bis zum Horizont bot sich ihr die Welt in Lichtern dar und weihte sie in ihr pulsierendes Geheimnis ein. Sie sah, welche Berge tot waren und in welchem Gestein Lirium, die Essenz der Magie, glühend schwelte und auf einen Ausbruch wartete. Sie sah schwarz funkelnde Adern, die im Erdinneren durch Lehm und Granit schlängelten, und brodelnde Seen, die unter ausgedorrtem Flachland schäumten. Sie sah, wie Lirium perlmuttweißen Spinnweben gleich in Sträucher kroch und sie mit Magie nährte. Lange bevor eine Klippenwand sich auftat und Gräser, Steine, Tiere verschluckte, konnte Hel die Bewegung voraussagen.
Ebenso sah sie den Tod des Lebendigen Landes. Das zähe Entrinnen der magischen Essenz war eine Alltäglichkeit geworden, denn Lirium wurde gejagt, gefangen und verbraucht. Bald würde nichts mehr da sein – vielleicht in zehn Jahren, vielleicht in zwanzig, wenn sie Glück hatten. Was dann geschah, wusste jeder, auch wenn niemand darüber sprach. Ohne Magie würden die Zivilisationen untergehen.
Hel atmete tief durch und hatte das Gefühl, Staub in die Lunge zu bekommen. Wäre Lirium nicht so knapp geworden, hätte die Schwalbe nie so nah an die Kauenden Klippen vordringen müssen. Doch weil die Quellen im Mittland erschöpft waren, musste die Liga der Sturmjäger ihr Jagdgebiet auf unwirtlichere Gegenden ausweiten. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich der wandelnden Gebirgskette zu nähern, die jeden verschlang, der sie durchqueren wollte. Denn hinter den Kauenden Klippen verbarg sich das Alte Reich.
Ein feines Sirren erklang. Im nächsten Moment wehte Hel eine Sandwoge entgegen. Sie kniff die Augen zu. Die Körner trafen sie wie Nadeln, rieselten ihr durch die kinnlangen, schwarzen Haare und in den Kragen ihrer Tunika. Einen Herzschlag später war alles vorbei. Das kam öfter vor, selbst in dieser Höhe. Auch ohne Augenklappe konnte Hel die Wogen nicht immer kommen sehen, denn der Sand war tot und leuchtete nicht.
Mit geschlossenen Augen beobachtete sie ein Blitzen in der Ferne, kaum heller als ein Stern. Sie trat an den äußersten Rand des Mastkorbs. Tatsächlich … gegen Süden trat Licht aus dem Boden, so wie vor einem Liriumsturm. Doch in den südlichen Gebieten war schon lange keine Magie mehr. Oder? Lag dort eine einsame Liriumquelle im toten Land? Sie hatten seit Monaten keinen Sturm mehr gejagt. Wenn sich dort hinten einer zusammenbraute …
Gerade wollte sie nach unten klettern und Alarm schlagen, da verschwand das Funkeln abrupt. Hel hielt inne, ein Bein über dem Korbrand. Der Wind zerrte an ihrem geflickten Mantel. Nichts. Der Funke war erloschen wie ein Kerzenlicht.
Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Sie hatte es sich doch nicht eingebildet.
Hel wartete noch eine Weile, doch nichts regte sich mehr. Schließlich streifte sie sich die Augenklappe wieder über, die um ihren Hals hing, und kletterte die Strickleiter hinab.
Das Vorderdeck der Schwalbe lag verlassen im Dämmerlicht. Weil sie sparsam mit Lirium umgehen mussten, schwebte nur eine einzige Leuchtkugel bei Jureba: Die alte Trolltreiberin saß auf ihrem Balkonsitz, die Beine über den Vorsprung geschwungen, und las ein zerfleddertes Buch. Jureba war eine Isin. Sie war auf den Inseln geboren, die weit draußen im südlichen Meer lagen und nicht zu Aradon gehörten. Ihre Haut war dunkel wie die Planken des Schiffs und ihre Zähne viel länger und spitzer als die der Menschen. Hin und wieder schnalzte sie mit der Peitsche, um die Trolle unter ihr zu Arbeit zu gemahnen. Sieben von ihnen waren an die große Kurbel auf dem Unterdeck gekettet, die unentwegt gedreht werden musste, um das Schiff anzutreiben. Früher war die Kurbel nur in Notfällen eingesetzt worden, doch heute konnte sich niemand mehr leisten, Lirium als einzigen Antrieb zu benutzen. Trollarbeit hingegen kostete nichts.
Im Halbdunkel wirkten ihre Körper wie zusammengepresste Felsbrocken. Massige Arme schoben die Holzpflöcke vor sich her und der Boden bebte im trägen Rhythmus ihrer Schritte. Trolle konnten doppelt so hoch wie Menschen werden und fünfmal so schwer; nur ihr Kopf war kaum größer als ihre Faust und sah zwischen den Schulterbergen geradezu winzig aus. Trotzdem war das Fassungsvermögen ihrer zahnlosen Mäuler nicht zu unterschätzen. Einst waren Zwerge ihre Hauptbeute gewesen – unter Umständen konnten sie sich aber auch Menschen oder Isen in den Rachen stopfen.
In sicherem Abstand blieb Hel stehen. Nicht weil sie fürchtete, auf die Kurbel zu fallen, sondern wegen des Gestanks, den selbst der Himmelswind aus keiner Trollachsel wehen konnte.
„Was liest du da?“, rief sie Jureba zu. Die Antreiberin neigte den Kopf, sodass ihr das Glasgestell, das sie beim Lesen immer trug, auf die Nasenspitze rutschte. Sie besaß ein ganzes Dutzend der geschliffenen Gläser, denn sie gingen regelmäßig zu Bruch. Wenn nicht bei der Sturmjagd, dann weil sie ihr unter die Trolle fielen oder weil sie betrunken gegen Wände lief. Als sie Hel auf der Brücke erspähte, zeigte Jureba ihr Krötengrinsen und hielt den Buchdeckel etwas höher: Fettflecken hatten den blauen Einband längst in ein schmieriges Grau verwandelt. Die geschwungenen goldenen Buchstaben waren schon vor Jahren sorgfältig abgekratzt worden.
Hel grinste ebenfalls. Jureba hatte ihr das Lesen beigebracht und sie dabei in die Vorlieben ihrer Lektüre eingeweiht: Sie verschlang ausschließlich anrührende Balladen, in denen es um liebeskranke Helden ging, die nach einem leidvollen und sehr gesprächigen Leben in Dolche rannten, Gift von den Lippen vergifteter Geliebter küssten oder über Klippen sprangen. Was genau Jureba daran faszinierte, war Hel nie ganz klar geworden. Jedenfalls stellten die Romanzen einen interessanten Gegensatz zu Jurebas anderer Leidenschaft dar, der Trollhaltung. Sie fütterte sie hingebungsvoll wie kein anderer mit blutigen Fleischkeulen und schlug auch nicht zimperlich zu.
„Die Leiden des jungen Waydir“, seufzte Hel, die Jurebas Lieblingsbuch erkannte. Laut sagte sie: „Tolle Schlachtszenen! Achtzehn rollende Köpfe auf drei Seiten!“
„Die Stelle kann man nicht oft genug lesen“, rief Jureba zurück und schwenkte Peitsche und Buch. Vor dem Großteil der Mannschaft – nämlich denen, die nicht lesen konnten – stellte sie den Inhalt ihrer Bücher ein wenig roher dar. Die belesene Besatzung schwieg taktvoll.
„Hast du schon gegessen?“, erkundigte sich Hel.
„Keine Faser! Sei doch so nett und schick Yola mit einem Tritt in den Hintern hoch, ihre Schicht hat längst angefangen.“
„Aye, Aye!“ Hel lief über die Brücke, die im Fahrtwind sanft schwankte. Unter ihr rasselten die Ketten der Trolle. Siebzehn Schritte maß die Brücke jetzt – früher waren es mehr gewesen, als Hel noch kürzere Beine gehabt hatte. Lange Zeit war sie keinen Zentimeter gewachsen, doch letzten Sommer hatte sie endlich einen „Schub gemacht“, wie Gharra behauptete – auch wenn die Bezeichnung Hel reichlich übertrieben schien. Irgendwie war sie schlaksiger und tollpatschiger geworden und zum ersten Mal hatten Hüften und Taille nicht mehr denselben Umfang, aber das war so gut wie alles. Ihr pausbackiges Gesicht mit dem spitzen Kinn und der Stupsnase kam ihr nicht im Entferntesten so erwachsen vor, wie sie sich mit höchstens siebzehn, mindestens fünfzehn Jahren fühlte. Nicht nur Hels genaues Alter war im Dunkel ihrer Kindheit verschollen. Auch ihr Wachstum war vom Hungern in vergangenen Tagen beeinflusst, daran änderte selbst die gute Verpflegung auf der Schwalbe nichts. Wahrscheinlich würde sie immer klein bleiben.
Mit einem Sprung legte sie das letzte Stück zurück und landete auf dem Hinterdeck – früher hatte sie sich oft ausgemalt, wie die Brücke just in diesem Moment riss und sie sich in aller Knappheit retten musste. Natürlich war die Brücke nie gerissen. Links und rechts säumten sie Rohre mit Lirium. Selbst wenn sich alle Taue auflösten, würde sie noch in der Luft schweben.
Vor Hel lag der Eingang ins Schiffsinnere. Auf die Trollquartiere und Frachträume türmten sich zwei Etagen, die die Mannschaft bewohnte. Darüber thronte ein fünfeckiger Pavillon, die Kapitänskajüte. An den Flanken des Schiffes waren die Träger befestigt: große Ballons aus Keilpferdleder, umspannt von versilberten Drahtnetzen, mit denen bei der Sturmjagd Lirium gefangen wurde. Sie waren jetzt fast leer.
Eine Spiraltreppe führte ins erste Stockwerk und knarzte Hel eine vertraute Melodie, wie unter den unzähligen hastigen Füßen davor, die sie glatt getreten hatten. Sie mündete in einen schmalen Flur voller Türen. Hel schlug eine davon auf und betrat den Speiseraum.
Ein säuerlicher Geruch empfing sie. Offenbar gab es Sandwurm. Schon wieder.
„He, Hel! Schon was gesichtet?“ Perrin, einer der Matrosen, ließ ein Deck Spielkarten durch seine Hände flattern. Die anderen Sturmjäger am Tisch blickten hoffnungsvoll zu ihr auf.
Sie schüttelte den Kopf. „Nichts Neues. Ist Gharra oben?“
„Schon den ganzen Tag“, sagte Perrin. „Spielst du mit? Gleich gibt’s Essen.“
„Wenn man das Zeug so nennen mag“, grummelte sie, stieg über den Tisch und rutschte zwischen Lino und Yola, die beiden Gehilfen von Jureba. Mit ihrem breiten Kreuz und den flächigen Gesichtern glichen die Geschwister einander wie ein Ei dem anderen, abgesehen von dem kleinen Unterschied, dass Lino ein Junge war und struppige Koteletten hatte.
„Jureba wartet auf dich“, richtete Hel Yola aus, die diese Nachricht ebenso wenig rührte wie alles andere, was man ihr sagte. Gelassen nahm sie die Karten in die Hand, die Perrin austeilte.
„Ich hab eine Glückssträhne“, meinte sie seelenruhig. Hinter ihren kräftigen Armen lagerte ein Haufen Kupfermünzen. Hel warf einen raschen Blick in die Runde, während sie ihre Karten annahm. Wie es aussah, gründete Yolas Glückssträhne sich auf Meister Zarips Pech: Ausgerechnet der Zahlmeister der Schwalbe, ein alter Sturmjäger, der das windige Deck für die Vorratskammern im Schiffsbauch aufgegeben hatte, kauerte verbittert über seinen letzten drei Münzen. Sonst hielt Meister Zarip sich den Kartenspielen fern, doch die Langeweile, die mit dem Verschwinden von Lirium einherging, ließ so manchen Sturmjäger seine Prinzipien vergessen. Dem Zahlmeister war das heute teuer zu stehen gekommen. Der Rest der Mannschaft machte sich einen Spaß daraus, dem geizigen Zarip Münze für Münze vom Geldring zu ziehen, denn anders als sie spielte er nicht regelmäßig genug, um alle Betrügereien der Sturmjäger zu durchschauen.
„Ja, Yola muss die Runde noch bleiben“, gluckste der dünne Relik, der trotz seiner dreißig Jahre wie ein Knabe im Wachstum aussah. Hinterlistig lugte er auf Meister Zarips Karten. „Drei Kupfermünzen sind noch zu holen.“
„Wer sagt denn, dass nach den Münzen Schluss ist?“ Oriw, der berüchtigtste Sturmjäger der Schwalbe und unangefochtene Meister jeden Wetttrinkens, entblößte seinen Goldzahn. „Meister Zarip trägt doch ein hübsches Halstüchlein, also ich würde darum spielen! Daran wisch ich meinen Säbel sauber.“
Bleich vor Zorn fasste Meister Zarip nach seinem seidenen Tuch. „Das ist von meiner verstorbenen Großtante!“, fauchte er ins Gelächter. Hel kannte keinen Sturmjäger, der sich so piekfein kleidete wie der Zahlmeister. Sein Sortiment an Halstüchern, Anstecknadeln und Manschetten war schier unerschöpflich, genau wie seine verstorbene Verwandtschaft, die ihm die kleinen Schätze vermacht hatte. Allerdings ging das Gerücht um, dass die toten Stiefgroßmütter allesamt erfunden waren und Zarip sich den Plunder selbst zusammenhortete. Während unter den Sturmjägern ein Streitgespräch über tote, vielleicht nie am Leben gewesene Angehörige begann, wanderten Hels Gedanken zu dem eigenartigen Funkeln zurück. Wie hatte es einfach auftauchen und verschwinden können, mitten in der toten Wüste? Sie musste mit Gharra sprechen. Durch das Fernrohr konnten sie sich die Stelle genauer ansehen.
Aber davor gewann sie vielleicht noch ein bisschen Kupfer ... Hel betrachtete ihre Karten und schob die zwei Nixen nebeneinander, außer denen ihr Blatt nicht viel hergab. Hatte sie nicht noch eine Magierkarte im Stiefel … ?
„Du bist dran!“ Lino stieß ihre Schulter an und versuchte dabei einen Blick auf ihre Karten zu erhaschen. Hel legte alle außer den Nixen zurück und zog eine Vier, einen Kobold und einen Reiter vom Stapel. Nicht gerade ein Glücksgriff. Sie räusperte sich und ließ die Hand unauffällig unter den Tisch zu ihrem Stiefel gleiten.
In dem Moment schwang die Küchentür auf. Die Sturmjäger grölten, als Bassia aus Dampf und Rauch erschien wie ein Bote der Unterwelt, im Arm einen zischenden Kessel. Aus den Schubladen unter dem Tisch wurden Schüsseln befördert und heimlich deponierte Spielkarten sorgsam entfernt.
„Platz“, grunzte Bassia. „Macht Platz, ihr Dreckskerle.“
Er wuchtete den Kessel auf den Tisch und warf sich die beiden Handlappen über die Schultern. Seine muskelbepackten und tätowierten Arme gemahnten an seine Zeit als Söldner, das knochige, sonnengegerbte Gesicht war gezeichnet von gefährlichen Fußreisen durch die Wüste. Dass er gerne kochte – oder überhaupt etwas gerne tat –, war schwer zu glauben, zumal sich seine kulinarischen Künste nur durch Bescheidenheit auszeichneten. Genau genommen konnte er gerade einmal ein Gericht: Sandwurm. Gepökelt, gebraten, gehackt oder in Essig eingelegt, das Fleisch des wirbellosen Wüstentiers war Bassias Spezialität. Deshalb hatte Kapitän Gharra ihn auch als Koch angeheuert, denn Sandwurm war seine Leibspeise. Leider sah es bei der Mannschaft anders aus. Trockener Zwieback war beliebter.
„Und was hast du uns heute gezaubert?“, fragte Oriw mit einem beängstigenden Grinsen. Er und Bassia konnten sich nicht ausstehen. Jedenfalls war Hel zu dem Schluss gekommen, obwohl sie die beiden Männer beim besten Willen nicht verstand. Sie piesakten sich unaufhörlich, ohne dabei den feinen Ton zu verlieren. Wenn die Nächte lang wurden und die Weinfässer sich leerten, tauschten sie hin und wieder ein paar Kinnhaken aus. Waren erst genug Krüge zerschmettert, wünschten sie sich gute Nacht und gingen zu Bett. Es war, als hätten sie einen Pakt geschlossen, ihren andauernden Streit unter keinen Umständen zu beenden, sei es durch Diplomatie oder Gewalt. Hel konnte nur vermuten, dass sie ihre Feindschaft insgeheim genossen. Sie gab ihnen Beschäftigung in ereignislosen Zeiten.
„Es gibt Zwielbelsuppe mit Sandwurm“, erwiderte Bassia, die Zähne ebenfalls zu einem Lächeln gefletscht. Ein Murren von Meister Zarip veranlasste den Koch, seinen gefährlichen Blick von Oriw abzuwenden.
„Zwiebeln?“, jammerte der Zahlmeister. „Warum bei allen Gemüsen Zwiebeln? Wir haben Kartoffeln, vier Kisten voll!“
Bassia breitete die Arme aus. „Seh ich aus, als wüsste ich, wie man Kartoffeln macht?“
Zarip säuselte leise Verwünschungen. „Die Großcousine meines Vaters, eine fabelhafte Köchin war das, in Speck gebratene Kartoffeln und Käse mit Pilzen und zum Nachtisch Feigen …“
„Du hast überhaupt noch nie dieses Zeug gegessen, denn dein Täntchen hat’s nie gegeben!“, blaffte Bassia.
„Ich steig aus.“ Hel legte ihre Karten unter den Stapel, bevor das allabendliche Tischgespräch losging. Außerdem hatte sie den Magier doch nicht mehr im Stiefel.
Sie füllte zwei Schalen mit Suppe, und nachdem sie alle auffindbaren Wurmstücke aus einer Schale in die andere versetzt hatte, kletterte sie über den Tisch. „Ich bin bei Gharra. Yola, du solltest wirklich bald Jureba ablösen. Du weißt doch, wie sie es hasst, wenn das Essen kalt ist. Viel Glück beim Spielen, Zarip!“ Als sie am Zahlmeister vorbeistieg, lehnte sie sich zu ihm hinab und raunte: „Lino hat drei Könige.“
„Drei Könige? Ja, aber … ich hab doch schon zwei Könige!“
Eilig lief sie aus dem Raum und stieß die Tür auf. Hinter ihr verblasste das Gezanke der Mannschaft im Küchendampf. Sie stieg die Treppen nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Wollige Stille und Dunkelheit herrschten in den höheren Fluren. Als endlich die eisenbeschlagene Tür über ihr erschien, ging ihr Atem schwer. Hel musste die Schüsseln in eine Hand nehmen, während sie den Türring aufdrehte. Wind hauchte ihr entgegen. Hier oben, auf der höchsten Plattform des Schiffs, schien der Himmel näher zu sein als die Erde. Das Land war längst in Nacht ertrunken.
Aus den Bogenfenstern der Kapitänskajüte drang ein matter Schimmer. Hel klopfte an und drehte den Türring, ohne auf Erlaubnis zu warten. Suppe schwappte auf ihr Handgelenk, als sie eintrat. Fluchend schob sie die Tür mit dem Fuß hinter sich zu.
„Gharra? Ich bin’s!“, rief sie in den leeren Raum.
DER SAND
„Hel?“ Der Lehnstuhl am Fernrohr knarzte, als Kapitän Gharra hinter der Lehne auftauchte. „Ach, mein hübsches Monster. Und Abendessen!“ Er schnupperte. „Sandwurm?“
„Was sonst.“
Gharra überhörte den missvergnügten Ton und nahm die Schüssel entgegen. Der Kapitän der Schwalbe war in den letzten Jahren deutlich gealtert. Zwar konnte der gefütterte Rock kaschieren, wie Gharra abmagerte, doch über seine Erschöpfung täuschte das nicht hinweg. Er war stiller geworden als früher und zog sich immer mehr zurück; die Zeiten, in denen der Kapitän brüllend und fluchend über das Deck gepoltert war, lagen lange zurück. Vielleicht, weil auch die Zeit der Sturmjagd zu Ende zu gehen schien.
„Hmm“, machte Gharra und atmete tief den Duft der Suppe ein. Hel musste lächeln. Wenigstens schien er im Alter die kleinen Freuden des Lebens entdeckt zu haben. „Im Schrank muss noch sauberes Besteck sein. Und bring den Wein vom Nachttisch her, ja?“
Hel holte zwei Löffel und Kelche und die halb geleerte Flasche. Nachdem sie die Löffel an ihrer Tunika abgewischt und den letzten Weintropfen aus der Flasche geschüttelt hatte, setzte sie sich auf die Truhe unterhalb des Fensters.
Sie aßen ihr Mahl schweigend. Aber das störte Hel nicht. Im Gegenteil, die Ruhe hier oben war eine willkommene Abwechslung zum Lärm des Speiseraums. Gharras vertrautes Schmatzen, das Platschen eines Wurmstücks, das ihm vom Löffel rutschte … all das erinnerte Hel an den Frieden so mancher Abende, die sie allein verbracht hatten. Es war eine Tradition, die nur ihnen gehörte.
Als Hel den letzten Schluck Suppe getrunken hatte, war Gharra noch längst nicht mit seiner Portion fertig. Das lag vor allem am Zittern der Hände; die meiste Suppe tropfte in die Schüssel zurück, bevor er den Löffel im Mund hatte.
Hel nippte am Wein. Es war ein süßer, dunkler Trank aus den Schwesterreichen, Moia vermutlich oder Orrún. Gharra hatte ihr von den Ländern erzählt, in denen er einst gejagt hatte: von tiefen, geheimnisvollen Wäldern im Mittland, den fernen Küstengebieten im Süden und sogar den westlichen Steppen, wo die bekannte Welt endete. Hel war selbst nie dort gewesen. Heute bestimmte die Magierschaft, wo welches Schiff jagte, und die Schwalbe war, schon so lange Hel sich erinnern konnte, in den Wüstenregionen unterwegs.
„Ich habe etwas gesehen“, begann Hel nachdenklich, als sie die Hälfte ihres Kelchs geleert hatte. „Es war nur ganz kurz da … ein Funkeln.“
Gharra hielt im Kauen inne.
„Kein Sturm“, beeilte sie sich. „Eher ein … ja, ein Aufleuchten. Es war gleich wieder weg. So was hab ich noch nie gesehen, mitten im toten Land. Vielleicht habe ich mich nur getäuscht, aber …“
Bevor sie den Satz beenden konnte, stellte Gharra die Schüssel weg und stemmte sich aus dem Stuhl hoch. „Tix! Wo steckst du, du vermaledeiter – Hel, sieh mal dort auf dem Schreibtisch nach, meine Kette müsste zwischen den Schriftrollen liegen.“
Hel ging hinüber und fand unter halb ausgerollten und bekritzelten Landkarten ein gläsernes Medaillon. Darin glomm ein Herz, kaum größer als Hels Daumennagel.
Gharra hatte den Pixie irgendwann auf den Märken von Aradon erstanden, wo Geister aller Art feilgeboten wurden. Die Kinder wohlhabender Händler hielten sich Kobolde als Haustiere, Magier mit Verfolgungswahn vertrauten auf Gnome, um sich vor Feinden zu schützen, und auch in der Liga der Sturmjäger erfreuten sich Geister wegen ihrem Gespür für Lirium großer Beliebtheit. Wobei das Erfreuen relativ war. Man musste etwas von einem Geist besitzen – sei es ein Knöchelchen, ein Auge, ein Fuß oder das Herz –, um sich seine Dienste zu erzwingen. Freiwillig gab ein Geist höchstens einen Tritt. Doch zum Glück hatten sie eine Schwäche für Tauschgeschäfte und opferten ihre Freiheit nicht selten für einen Fingerhut voll Lirium.
Ungeduldig nahm Gharra das Medaillon an sich und schwenkte die Kette hin und her. „Tix! Komm her!“ Das Herz flackerte violett auf, und bald strahlte ein ganz ähnliches Licht durch die oberste Schublade des Schreibtischs. Hel zog sie auf. Inmitten himmlischer Messgeräte, alter Notizen, abgesprungener Knöpfe und Flakons schwebte ein kleines, schnarchendes Wesen mit weit gespreizten Gliedern. Das Gesicht sah aus wie von einem Frosch, wären nicht die spitzen Zähne und Ohren gewesen, die mit jedem grunzenden Atemzug erzitterten. Ein Kreis aus Helligkeit umstrahlte den Pixie, denn anders als bei Wesen aus Fleisch und Blut war das Licht, das alles Lebendige umgab, bei Geistern sichtbar.
Vorsichtig stupste sie den Pixiebauch an, der für den Rest des spinnenhaften Körpers eindeutig überproportioniert war. Sofort wachte Tix auf – falls er überhaupt geschlafen hatte. Pfeilschnell schoss er auf Hel zu, umschwirrte sie viermal und streckte ihr die Zunge heraus. Winzige Spucketropfen landeten auf ihrer Nasenspitze.
„Tix!“ Gharra rang die Hände. „Hör auf mit dem Schabernack und komm her.“
Tix salutierte, wobei er die Hand an sein gerecktes Hinterteil legte. „Zu Diensten, Meisterchen!“ Auf Umwegen schwirrte er zu Gharra. „Was gibt’s? Frühstück?“
„Du sollst Bericht erstatten. Hel hat möglicherweise einen Sturm gesehen.“
„Nein, nein. Es war bestimmt kein Sturm, bloß –“
Gharra zerrte bereits am Fenster. „Ach verflixt! Hilf mir mal, mein Golddukaten.“
Hel zog das Fenster für ihn auf. Rauschender Fahrtwind drang ins Zimmer ein.
„Wo hast du das Licht gesehen?“
„Im … Südwesten“, sagte sie kleinlaut und deutete in die Richtung. Gharra scheuchte Tix nach draußen, wobei der Pixie acht gab, dass die Hand des Kapitäns nicht sein Licht berührte. Nähe war Geistern grundlegend zuwider. Doch kaum war er draußen, schlüpfte Tix durch das Fenster wieder herein.
„Hast du nicht verstanden? Sieh nach, ob sich ein Sturm zusammenbraut!“, befahl Gharra.
„Aye, Aye!“, zirpte Tix inbrünstig. Dann schwebte er auf der Stelle und kratzte sich gelassen die Fußsohlen.
„Worauf wartest du denn noch?“
„Auf meine Wegzehrung!“ Der Pixie riss das Maul so weit auf, dass er sich selbst hätte verschlucken können. Gharra stieß leise Flüche aus, zog aber dann einen Flakon aus der Innentasche seines Rocks. Er hatte die Größe eines kleinen Fingers, weshalb man Flakons dieser Art einen Finger voll Lirium nannte. Man trug ihn stets bei sich, wie Geldring und Dolch. Gharra schraubte den silbernen Verschluss auf und tauchte den Daumen in die Öffnung. Aufgeregt umschwirrte ihn der Pixie. Kaum hatte Gharra den Daumen herausgezogen, stürzte sich Tix darauf und schleckte die schwarz funkelnde Substanz ab. Gharra ertrug es mit Fassung. Als der letzte Funke vertilgt war, ließ Tix von ihm ab und schwirrte in die Nacht hinaus. Abschiedslos. Wenn man die zwei Rülpser nicht zählte.
„Gieriges Viech“, knurrte Gharra und schüttelte die violette Spucke von seinem Finger. Seufzend ließ er sich in den Stuhl fallen. Obwohl sein Blick aufmerksam in die Nacht hinausging, kam er Hel unendlich müde vor. Die Arme schienen sich an den Lehnen festhalten zu müssen, damit er nicht einfach zwischen den Polstern versank.
„Hoffentlich findet dieser vertrottelte Pixie den Sturm“, murmelte Gharra. „Sieben Monate liegt die letzte Jagd zurück. Ach was, schon fast acht Monate. Acht Monate ohne einen Sturm zu sichten …“
Hel wusste nicht, was sie sagen sollte. Fast bereute sie, Gharra von dem Aufblitzen erzählt zu haben. Vielleicht hatte sie es sich tatsächlich nur eingebildet! So oder so würde er enttäuscht sein, denn ein Sturm braute sich gewiss nicht zusammen. Hätte sie doch einfach gar nichts gesagt … Weil sie nicht tatenlos auf die schlechte Nachricht warten wollte, die Tix ohne Zweifel bringen würde, zündete sie den Kerzenständer und die beiden Bettlaternen an. So konnten sie wenigstens das Lirium der Leuchtkugel sparen. Hel reckte sich nach dem honigfarbenen Ball, der bis jetzt reglos an der Zimmerdecke geschwebt hatte, und sein weiches Licht erlosch in ihrer Hand. Ihr war, als würde etwas im Raum sterben. Allein das Kerzenflackern hielt die Dunkelheit in den Ecken, bedrohliche Schatten balgten sich plötzlich hinter den Möbeln. Hel behagte der Flammenschein nicht, zu sehr erinnerte er sie an Verarmung, an Trostlosigkeit und das Verschwinden der Stürme. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass die Menschen früher nur Feuer gehabt hatten, bevor die Sturmjagd erfunden worden war. Wehmütig legte sie die Leuchtkugel auf den Schreibtisch. In einer Welt ohne Magie wollte sie niemals leben. Hoffentlich war sie tot, bevor Lirium ganz aufgebraucht war.
Als hätte Gharra ihren Stimmungswechsel gespürt, schenkte er ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Du bist so schnell groß geworden. So klein warst du mal, und es kommt mir wie gestern vor!“ Er hob die Hände, um ihre einstige Größe darzustellen. Demnach hatte sie einmal in seinen Stiefel gepasst.
Gharra tat oft so, als wäre sie schon immer auf der Schwalbe gewesen. Weil sie nie widersprach, dachte er wohl, sie hätte den Tag vergessen, an dem er sie den Zwergen abgekauft hatte. Doch sie erinnerte sich daran. Sie erinnerte sich an fast alles. Aber die Lügen, die Gharra ihr zuliebe erfand, rührten sie.
„So schnell verfliegt die Zeit. Andererseits … ich kann mich nicht erinnern, was wir früher ohne dich gemacht haben. Seit du dein erstes Wort gesprochen hast – und das war hier in diesem Raum, weißt du noch? Was hast du doch gesagt? Ich glaube, es war ‚Sturm‘ oder ‚Jäger‘ oder, ach nein, ‚Kapitän‘ hast du gesagt! Haha, ‚Kapitän‘, das war dein erstes Wort … Jedenfalls entdeckst du seitdem fast alle Stürme. Trotz der schwierigen Zeiten hat die Schwalbe immer gute Erträge gebracht. Im ganzen Land werden Schiffe eingezogen und Sturmjäger entlassen, aber uns zählt die Magierschaft zu den besten der Liga. Bevor die Schwalbe für immer nach Aradon muss, fressen alle Magier ihre Roben. Wenn nur noch ein einziges Schiff auf Sturmjagd geht, dann ist es die Schwalbe!“ Gharra hatte die Faust bedeutungsvoll erhoben und senkte sie nun, um auf Hel zu weisen. „Und das ist dir zu verdanken, mein süßes Monsterkind.“
„Du hast auch schon ohne mich zu den besten Sturmjägern der Liga gehört“, erwiderte Hel, die solches Lob immer ein wenig befangen machte – auch wenn keine Mannschaft da war, um sie mit neidischen Blicken zu bejubeln.
Gharra betrachtete sie liebevoll. Seine Augen waren wie Murmeln, trüb und feucht, und er blinzelte, als müsse er die Müdigkeit noch ein letztes Mal verscheuchen, ehe sie ihn endgültig in die Dämmerung zog. „Wie du trotz meiner Erziehung so bescheiden sein kannst, ist mir ein Rätsel“, murmelte er. „Vielleicht liegt es daran, dass du verunstaltet bist. Ja, wenn überhaupt ein Mensch mit deiner Gabe bescheiden bleiben kann, dann wohl ein Mädchen ohne Eitelkeit. Wegen deinem Auge wirst du nie für den Hochmut anfällig sein, der mit der Schönheit einhergeht. So ist die Welt doch gerecht. – Sei nicht betrübt, mein Goldstück!“
„Bin ich nicht“, entgegnete sie ein bisschen zu nachdrücklich. Hel lächelte kühl. „Ich bin ganz zufrieden mit dem, was ich habe.“
Gharra lehnte sich zurück. „Eben, eben … du warst sowieso immer anders. Etwas Besonderes. Eine Familie und irgendwann auf dem Boden leben, wäre nichts für dich, der Himmel ist dein Zuhause.“
Hel merkte, dass sie auf ihrer Lippe kaute, und hörte auf. „Wir beide sind echte Sturmjäger. Du warst auch nie länger auf dem Boden als nötig!“
Gharra lächelte. „Oh, oh doch … vor langer Zeit. Ich schätze, jeder versucht es mal mit einer Familie. Aber für mich war das nichts. Ja, wir beide sind echte Sturmjäger!“
Etwas in Hels Schultern vereiste und fiel schwer in ihre Magengrube. „Du hast eine Familie?“, stotterte sie.
„Ich habe es versucht.“ Gharra schloss beide Hände um das Medaillon mit dem Pixieherz und räusperte sich. „Und der Versuch ist misslungen. Du wirst denselben Fehler nicht begehen, mein süßes Monsterkind, ich habe dir schon alles vorgelebt. Nein, du sollst in der Luft bleiben, wo du hingehörst, so lange, bis der letzte Funke Magie am Horizont erlischt.“ Er streckte die Hand nach ihr aus und zog sie vor sich. Mit einem zitternden Lächeln legte er das Medaillon in ihre Faust. „Nach mir, Hel, sollst du Kapitän der Schwalbe sein.“
Hel war sprachlos. Wie erstarrt stand sie da, in einer Hand das Pixieherz, in der anderen ihren Weinkelch. „Aber …“ Sie musste schlucken. „Du bist doch …“
Gharra winkte ab. „Nein, ich bin noch nicht senil. Aber glaubst du, ich höre meine eigenen Knochen nicht ächzen? Ich kratze bald ab. Wird ja auch Zeit. Und dann will ich, dass du dich um die Schwalbe kümmerst.“
Sie konnte nur den Kopf schütteln. Sie, Kapitän des Schiffs? Der Mannschaft? Sie, Hel, das Kind, die Halbblinde? Gharra hatte wohl längst die Wirklichkeit aus den Augen verloren. So ruhig wie möglich erwiderte sie: „Nur wegen der zweiten Sicht bin ich noch lange nicht geeignet, Kapitän zu werden.“
„Finde ich auch.“ Gharra nickte und griff nach seinem Kelch. Nachdenklich beobachtete er, wie der Wein im Kerzenschein leuchtete. „Ein Kapitän muss vor allem pflichtbewusst und entschlossen sein. Nun gut … eine imposante Erscheinung ist auch nicht hinderlich, und ein gepflegtes Äußeres hat nie jemandem geschadet. Allerdings ist das alles Hühnerkacke, wenn er nicht ein gewisses diplomatisches Geschick besitzt.“ Mit einem vielsagenden Blick nippte Gharra an seinem Wein.
Hel lächelte gequält. Wahrscheinlich meinte er damit, dass sie sich seltener betrank und stritt als alle anderen Sturmjäger auf der Schwalbe. Das lag aber nur daran, dass man sie nicht ernst nahm, beschwipst noch weniger als nüchtern.
„Ich bin dir dankbar, Gharra“, murmelte sie. „Für alles, und dass du mir so viel zutraust. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass Oriw und die anderen …“
„Oriw?“, schnaubte Gharra. „Mit Diplomatie meine ich nicht, dass du süße Worte mit den Sturmjägern wechselst. Wenn einer der Männer dir nicht den gebührenden Respekt erweist, gibt es zurzeit genug andere Sturmjäger, die dir die Stiefel küssen würden, wenn du sie auf der Schwalbe anheuerst! Nein, um die Mannschaft musst du dir keine Sorgen machen. Sie werden dich achten. Vorsichtig musst du nur mit der Magierschaft sein. Du weißt ja … wie viele Schiffe eingezogen werden. Und es zählt längst nicht immer die Fähigkeit eines Kapitäns. Sondern auch seine Freundlichkeit den Magiern gegenüber. Darum wirst du die Schwalbe erben. Du und nicht Orriw oder sonst einer von den ehrenhaften Helden, die nicht wissen, dass auch Gehorsam manchmal ein Zeichen von Schläue ist.“
Hel antwortete nicht. Was sollte sie sagen? Natürlich war sie immer für ihre Gabe gelobt worden, aber wirklich etwas zugetraut hatte man ihr nie. Sie war viel zu nett und rücksichtsvoll, um irgendwem Befehle zu erteilen – noch dazu Jägern, die viel älter waren als sie! Doch nun war es gerade ihre Freundlichkeit, die Gharra überzeugte.
„Die Entscheidung eilt ja nicht“, wich sie aus.
„Och, man weiß nie – vielleicht rutsche ich aus, wenn ich mich gleich da rüber ins Bett begebe. Oder ich sauf mich zu Tode an diesem köstlichen Tropfen. Apropos, sieh mal nach, ob noch eine Flasche unter dem Fenster steht, gleich hinter dem Tisch.“
„Auf keinen Fall“, grinste Hel. Doch sie trank ihren Kelch aus und ging hinüber, um nachzusehen. Einen großen Schluck hatte sie jetzt nötig. Tatsächlich stand eine Flasche unter dem Fenster, doch sie war leer.
„Wenn du willst, hole ich eine von unten.“ Sie sammelte das Geschirr und die Flaschen ein, die im Raum verstreut waren. Gharra nickte. Als sie die Tür öffnen wollte, sagte er leise: „Ich habe den Antrag auf die Erbschaft schon an die Magier verschickt.“
Hel biss die Zähne zusammen und lächelte. Dann öffnete sie die Tür. „Lass uns gleich in Ruhe darüber –“
Das Schiff bebte. Einen Herzschlag lang spürte Hel die Leere unter den Füßen, die Hunderte von Metern Leere. Alles stürzte zur Seite weg.
Hel schrie auf. Das Geschirr flog in die Kajüte zurück und zerschellte an den Regalen. Die Tür knallte ins Schloss. Tief aus dem Schiffsinneren rollte ein markerschütterndes Grollen, ließ Boden und Wände vibrieren und das Holz knarzen.
„Was passiert?“, rief Gharra. Ein jäher Windzug brauste durch das Fenster und wischte sein Haar zur Seite. „Ein Sturm! Ein Sturm!“
Überall klirrten Gegenstände zu Boden.
„Das ist kein Sturm!“ Hel stemmte die Tür auf und taumelte hinaus. Das Schiff lag schräg in der Luft. Irgendwo in der Dunkelheit des Himmels bewegte sich etwas. Mit fiebrigen Fingern riss sie sich die Augenklappe vom Gesicht.
Ein Schrei erklang.
Jureba.
Die zweite Sicht kam wie ein jäher Rausch aus Farben und Licht. Hel konnte nicht glauben, was sie ihr zeigte.
Eine gigantische Woge schoss aus der Tiefe empor. Sand. Lebendiger Sand, schillernd und funkelnd vor Lirium. Die tobende Masse stürzte auf das Schiff nieder, riss den Mastkorb wie ein Streichholz um, zerschmetterte die Brücke, die Kurbel, die Trolle und Jureba.
Hel fehlte die Luft, um einen Schrei auszustoßen. Gelähmt vor Schock sah sie, wie die Gestalt im strahlenden Licht ertrank.
Jureba. Jureba, die ihr das Lesen beigebracht hatte. Die nach Pfefferminz und Trollmief roch und die zur Schwalbe gehörte wie die knatternden Planken. Nach einem ganzen Leben war Jureba einfach so, in zwei Sekunden, tot.
Die Brückenrohre, durch die Lirium floss, platzten. Wirbel aus funkelnder Magie schossen hervor. Die Schwebkraft des Schiffs. Ohne Lirium würden sie abstürzen.
Hel rannte los. Kein Gedanke drang zu ihr durch, sie reagierte einfach, schlitterte die Außentreppe hinab, hastete über das Hinterdeck, stürmte in die Kabine des Steuermanns und drehte das Rad, das den Liriumfluss des Schiffes regulierte. Tief unter ihr schien das Herz der Schwalbe stillzustehen. Kein Lirium entwich mehr durch die offenen Rohre, alles erstarb, verstummte; aus weiter Ferne vernahm Hel die Rufe der Mannschaft und ein feines, boshaftes Prasseln … dann drehte sie ein zweites Rad. Es war schwer und klemmte. Sie musste sich mit ihrem ganzen Körpergewicht dagegenstemmen. Endlich glitt es herum. Neue Rohre begannen zu gluckern und zu beben – die Ersatzleitungen, die nicht über die Brücke führten, sondern an der Reling entlang.
Die Tür schlug auf und Sillis, der Steuermann, stürzte herein. „Mach zu!“, schrie er. Er stieß Hel zur Seite und drehte das Rad zurück.
„Aber die Hauptrohre sind zerschmettert!“, protestierte Hel.
Sillis fuhr herum, das Gesicht schien vor Panik wie Wachs zu schmelzen. Für eine Sekunde starrte er ihr entblößtes Auge an, und Hel wollte instinktiv die Hand heben, um es zu verdecken – stattdessen ballte sie zitternd die Faust um das Medaillon, das sie immer noch festhielt.
„Alle Rohre sind zerschmettert.“
„Was?“
Ehe die Bedeutung der Worte Hel erreichen konnte, barsten die Fenster. Hundert spitze Schmerzen erstrahlten in ihrem Rücken. Eine unbekannte Wucht riss sie zu Boden, presste sie nieder, presste die Luft aus ihren Lungen. Ihr Schrei ging unter im heißen Rasseln von Abermillionen lebendigen Sandkörnern.
Direkt unter ihr krachte es.
Der Boden brach ein. Holzsplitter spritzten in alle Richtungen. Auch sie stürzte hinab, hinauf und zu beiden Seiten. Im Fall irrten Schreie und jähe Lichter vorbei. Sie prallte auf. Die Welt wurde schwarz und flammte dann in hundert irrsinnigen Bildfetzen wieder auf. Ein Bett schoss waagrecht durch den Flur, Wände bogen sich wie Ledergürtel. Und Sand, überall.
Kaputte Fenster wurden zu Kehlen und pfiffen ein rasendes Fahrtlied. Der Sand kroch durch die Ritzen der Trümmer, Hel hörte das Brüllen der Männer, die er fraß. Ob auch sie schrie, wusste sie nicht. Der Sand schloss sie in seine übermächtige Faust und trank alles. Dann Dunkelheit, gepeitscht von Schreien und Stille.
SCHATTEN
Hel hatte oft vom Tod geträumt. Auch nach Jahren bei den Sturmjägern war sie noch nachts hochgeschreckt, die Augen verklebt von grausamen Bildern.
Im Schlaf sah sie Menschen sterben, ein Boden, vor dem man nicht fliehen konnte, wölbte sich unter panischen Füßen, Kiesel klapperten in höhnischem Gekicher, die Erde tat sich zum Schlund auf, ein grinsendes Maul, auf dessen krustigen roten Lippen Dörfer und Städte zischend schmolzen, vieles stürzte in die glühende Finsternis der Erde und was nicht fiel, wurde unter Wogen aus Granit zermalmt –
„Wir leben auf einem Grab“, flüstert eine Stimme bei Kerzenschein. Wie die Kerze muss man zittern. Sich ducken. Wird von Schatten belauert. „Wir rackern uns auf unserem eigenen Grab ab. Wofür? Für sie? Nicht für uns!“
Zwei Arme tragen sie durch die Finsternis, vertraute Arme, sie riechen gut, nach Wärme, nach Arbeit und Erde, feines Frauenhaar kitzelt ihre Wange, auch das Haar riecht schön, wieso weint sie? Und dann müssen sie rennen, Schreie zerreißen die Nacht, Schmerzen durchdringen ihre Glieder und alles wird in die Länge gezogen, ehe kirschende Steinzähne es wieder zusammenpressen, das Gras reißt auf und offenbart schwarzes, feuchtes Fleisch, hungriges Fleisch, hungrig nach Fleisch und die Arme sind kalt, sie klammern gierig wie fressende Erde –
Immer wieder stürzte Hel aus den Albträumen in ihr Bett zurück. Doch ihr taumelndes Herz verriet ihr, dass es mehr als Träume waren. Welche Erinnerungen auch immer in ihr begraben lagen: Sie waren entsetzlich.
UNTER DEN STERNEN
Die Wüste hatte Jahrhunderte vorüberziehen sehen. Im Wechsel von Tag und Nacht öffnete sie ein Auge, glühende Sonne und tränender Mond. Nichts blieb ihr verborgen.
Durch die Weiten ihres gelben Gesichts zog eine Narbe, geschaffen von Menschenhand und Zauberkraft: die Kauenden Klippen. Mancherorts schliefen die Berge. Andernorts regte sich das lebendige Gestein, durchbrach malmend den Boden und stieß seine Hauer in den Himmel. Auf Zahnkronen, wo Moos und manchmal Schnee den nackten Fels bezog, senkte der Nebel seinen Rocksaum und verbarg die Grenzen des Alten Reichs vor neugierigen Blicken.
Am Fuß der Klippen, den starren Augen der Wüste ausgeliefert, lag ein Trümmerhaufen. Vor einer Nacht noch war er ein Schiff gewesen.
Ein trockenes Ächzen bahnte sich den Weg durch die Kehle. Hel wollte ausspucken, was auch immer auf ihrer Zunge klebte, ihren Hals verstopfte, doch sie fand nicht die Kraft. Sand, unter und über ihr.
Bilder durchzuckten sie Gewittern gleich. Was, was bei allen Geistern, war geschehen …? Funken von Lirium verglommen ringsum, die körnige Masse verlor ihre Lebenskraft ebenso rasch, wie sie sie bekommen hatte. Zurück blieb nur Totes. Und Hel.
Irgendwann kehrte ein Licht zurück. Klein und violett. Es umschwirrte aufgeregt ihre Faust, die sich noch immer um ein glimmendes Medaillon schloss … Das Licht warf winzige Glasscherben durch die Luft, dann schluckte es das Herz mit einem Happs hinunter und verschwand kichernd. Hel sank in Fieberträume.
In der Ferne stand eine Gestalt. Der Umhang flatterte im Nachtwind. Langsam schritt die Gestalt die Dünen herab. Nun konnte Hel sie auch mit ihrem gesunden Auge sehen, vom bleiernen Licht des Mondes umrissen.
Der Fremde ging um die Trümmer. Sein Blick erkundete alles, doch er fasste nichts an, kam nicht näher, blieb nicht stehen. Ruhig setzte er seinen Gang fort. Wie lange war er schon da? War er überhaupt da? Hel wusste es nicht mehr, sie sah so vieles, so vieles … Jureba und ihr Buch, das blaue Lieblingsbuch mit den Flecken. Eine Erde, die sich auftut und weiches Frauenhaar in die Tiefe reißt. Sandwogen, die in den Himmel schießen, durch die Luft flatternde Spielkarten und Gesichter, einst vertraut und nun wie Papiermasken zerfetzt –
Plötzlich knarrte und schabte es. Bewegung brach aus. Dann wurde etwas Schweres zur Seite geschoben. Kalte Helligkeit ergoss sich über Hel. Hände schoben sich unter ihren Körper und hoben sie aus dem Sand. Endlich fiel der Druck von ihrer Brust. Sie schnappte nach Luft, hustete, würgte. Feiner Staub rieselte aus ihrem Mund und Klumpen aus Sand.
„Du lebst“, schwamm irgendwo eine Stimme, fern und doch nah. Hel folgte dem Echo, das bald in der Dunkelheit abtauchte wie ein Schwarm weißer Fische.
Sie träumte. Sie sah die Schwalbe vom Himmel stürzen, aus der Ferne wirkte der Fall beinahe gemächlich. Sandwolken geleiteten das Schiff zur Erde. Zärtlich zerdrückten die lebendigen Dünen das Holz, ehe die Kiefer mitten im Kauen die Kraft verloren, der Sandmund aufklappte und die Zunge schlaff ins zertrümmerte Schiffsinnere glitt. Der Mond ging unter. Als der Tag nahte, ragte der zerborstene Bauch der Schwalbe aus dem Sand wie ein Gerippe. Das Leben, das das Schiff aus der Luft gerissen und Hels Welt zerschmettert hatte, war geisterhaft verschwunden, so wie es gekommen war.
Hel träumte von einer Kiste voll Stroh, in der sie lebendig begraben war und geschaukelt wurde. Sie tippte mit den Fingern gegen ihr Gesicht, immer einer nach dem anderen, um die Zeit zu messen. Doch bald wusste sie nicht mehr, wie oft sie schon beide Hände durch hatte, und wie viele Finger es in der Dunkelheit überhaupt gab. Augen hatte sie nur eins. Nur eins. Ein Auge und ein Loch, gefüllt mit pochendem Schmerz.
Draußen redeten die Zwerge von einem verfluchten Kind, von einem Kind, das doch eigentlich tot sein müsste mit einer so grässlichen Verletzung – dass die Verletzung grässlich schnell heilte, gewiss war sie verflucht. Hel nannten sie sie: Licht. Aber so hieß sie nicht wirklich. Sie hatte ihren Namen nur vergessen. Vor nicht langer Zeit hatte sie ihn doch noch gewusst … Ein schwarzer Schlund im Boden hatte ihn gefressen, zusammen mit … ja, was? Was hatte sie noch verloren außer einem Auge und der Erinnerung?
Sie schwankte in der Dunkelheit, kannte keine Zeit und hatte Schmerzen …
Jemand bettete sie behutsam auf schwarzes Tuch, das vielleicht der Himmel war. Ein Geruch ging davon aus, kaum wahrnehmbar, mehr Aura als Duft. Etwas Vertrautes aus einer fremden Welt.
Feines Klirren. Hel blinzelte und stöhnte auf, als ihr Rücken brannte. Irgendwo war Tageslicht. Kam das Stechen von Sonnenstrahlen? Konnte Licht Splittern gleich verletzen?
Eine Hand berührte ihre Haut. Eine Hand streifte flüchtig ihre Wange, bevor sie ihre Kleider aufschnitt.
Als sie zu sich kam, war es Nacht. Ein harter Boden drückte gegen ihre Knochen und irgendetwas war um ihren Oberkörper gewickelt. Sie wollte stöhnen, doch ihre Lippen waren zu trocken, um sich voneinander zu lösen. In der Nähe schwebte Helligkeit. Ihr wurde schwindelig, sie musste die Augen schließen.
Jemand war über ihr: Die zweite Sicht zeigte ihr das Licht seines Lebens. Er berührte ihren Mund. Wasser glitt ihren Hals hinab. Sie zwang sich aufzublicken, doch nur der Rand einer Kapuze war auszumachen. Finger hoben ihren Nacken und halfen ihr beim Trinken.
Sie wollte etwas sagen, aber schon zog eine neue Ohnmacht herauf. Fiebrig klammerte sie sich ans Bewusstsein. Als die Gestalt sich abwandte, glitt der Lichtschein unter die Kapuze und offenbarte für eine Sekunde das Gesicht. Hel zog zitternd die Luft ein.
Augen trafen sie ins Herz und explodierten zu Unendlichkeit, grau und blau wie Himmel und Meer, und sie segelte überstürzt in einen jäh hereinbrechenden Schlaf.
Der Durst weckte Hel. Ihr Körper schmerzte vor Trockenheit. Mit einem papierartigen Geräusch rissen ihre Lippen auseinander. Wasser. Sie brauchte Wasser.
Ächzend drehte sie sich zur Seite und zog die Knie an, stützte sich auf die Arme und saß schließlich aufrecht. Wenigstens halbwegs.
Funken tanzten vor ihren Augen, und das lag nicht nur daran, dass ihre Augenklappe weg war und die zweite Sicht sie durcheinanderbrachte. Als das schwindelige Flimmern endlich verebbte, sah sie sich um.
Sie war in einer Höhle. Mächtiger Fels beugte sich über sie, durch den hier und da Lirium pulsierte. Links konnte sie den Himmel erkennen, bestäubt mit blassen Sternen.
Wo war sie? Und seit wann – und wie …?
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie in einen Umhang gehüllt war. Verwirrt hielt sie den dunklen Stoff hoch. Er roch nach Wüste und etwas Vertrautem. Hel schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war sie nur schon mehrere Stunden damit zugedeckt und hielt den schwachen Geruch deshalb für bekannt. Sie schob ihn von sich weg und merkte, dass ihre Kleider fehlten. Der Schreck durchfuhr sie fast schmerzhaft. Sie trug nur noch ihre Stiefel und die kurze Leinenhose. Ihr Oberkörper war bandagiert.
Fröstelnd zog sie die Knie an und blickte in alle Richtungen. Wer hatte sie verbunden?
Sie rappelte sich auf und biss die Zähne zusammen, als ein Stechen durch ihre Rippen fuhr. Gut möglich, dass etwas gebrochen war. Mühevoll kam sie auf die Beine. Einen Moment lang stand sie nur da, schlang die Arme um ihre Rippen und schloss die Augen. Verfluchte zweite Sicht! Überall sah sie Leben leuchten. Wenn sie doch ihre Augenklappe oder irgendwas aus Silber gehabt hätte. Wankend kletterte Hel aus der Höhle nach draußen.
Der Wind heulte, sonst störte kein Geräusch die schlafende Welt. Ihre unbeholfenen Schritte schienen Hel unnatürlich laut. Sich an der Felswand abstützend, stakste sie ein Stück durch die Dunkelheit. Der Mond lag irgendwo hinter dem Geröll verschüttet und blich den Himmel aus, doch hier unten gab es kaum Konturen. Hel stolperte und riss mit ihren Füßen Steinbrocken aus dem Boden, denn der sandige Fels war weich und leicht zu brechen. Schließlich erreichte sie einen Vorsprung, auf dem ein einzelner Felsbrocken lag wie von einem Riesen hingeworfen. Hel ließ sich mit dem Rücken dagegen sinken und verschnaufte nach dem Laufen. Sie kniff die Augen zu, versuchte, das ferne und nahe Glimmen so gut es ging zu ignorieren. Sie musste nachdenken. Sich konzentrieren. Alles der Reihe nach.
Die Schwalbe war abgestürzt. Sie hatte gesehen, wie Jureba … vom Sand … Wie hatte der Sand so weit in die Höhe schießen können? Das Land war tot gewesen, seit Tagen hatte sie kaum Anzeichen von Lirium entdecken können. Und selbst wenn das Land plötzlich lebendig geworden war, konnte eine solche Menge Sand unmöglich in den Himmel jagen und ein Schiff verschlingen. Deshalb waren Schwebeschiffe ja die sicherste Art zu reisen. Das Land fraß, was ihm über das Gesicht lief, aber im Himmel gab es keinen Boden, der sich auftat. Nur eins konnte einem Schiff gefährlich werden, und zwar ein Sturm. Ein Liriumsturm. Was die Schwalbe angegriffen hatte, war etwas anderes gewesen. Der Sand hatte sich von der Erde gelöst wie eine abgehackte Faust, die dennoch die Kraft besitzt, etwas zu zerquetschen. Es ergab keinen Sinn.
Eine Weile ließ sie den Blick durch die Nacht schweifen. So zeitlos, wie die Landschaft vor ihr lag, kam sie Hel wie ein Wandbild vor. Es konnte nicht echt sein. Das alles konnte nicht wirklich passiert sein.
Ein plötzliches Schluchzen stieg in ihr auf. Gharra! Und Jureba. Die Zwillinge. Zarip und Oriw, Perrin und auch Bassia. Die Menschen, die Räume und Decks, die ihr Zuhause waren. Ihr Leben. Das konnte doch nicht weg sein. Verschluckt vom Land, das ihr jetzt gegenüberlag, glupschäugig und nackt, übermächtig in seiner Gleichgültigkeit. Hel atmete schwer, obwohl sie längst nicht mehr außer Atem war. Der Augenblick erdrückte sie. Selbst wenn sie all die Verzweiflung hinausschrie, sie würde ungehört in der Taubheit des Landes ertrinken.
Sie grub die Fingernägel in ihre Handflächen, bis der Schmerz endlich Tränen in ihre Augen trieb. Und wieso war nur sie hier, im Nirgendwo? Jemand schuldete ihr Antworten, eine Erklärung …