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»In ihren Gedichten ist Martynova eine wilde Anarchistin.« Ulrich Rüdenauer, Badische Zeitung Gedichte sind Flaschenpost, das wissen wir seit Mandelstam und Celan. Diese Post ist Gesang und Gebet, Protokoll und Analyse. Im Idealfall spricht sie aus, was sonst ungesagt und ausgegrenzt bleibt. Olga Martynova arbeitet als Lyrikerin im Bewusstsein des reichen Erbes, das die avantgardistische Kunst des 20. Jahrhunderts hinterlassen hat. Zugleich gibt sie ältere Traditionen nicht preis und bezieht sich etwa mit Dantes »Commedia« auf eine der Hauptquellen der europäischen Poesie, die aus der Trauer um eine gestorbene Frau entstand. Olga Martynovas Gedichte lassen Raum für Trauer und Krieg, für Befragung und Wut, aber auch für das Alltägliche und die Bewunderung der Welt. Vom Ende der neunziger Jahre an hat sie ihre Prosa auf Deutsch, ihre Gedichte auf Russisch geschrieben. Seit dem Tod ihres Mannes, des Dichters Oleg Jurjew, schreibt sie nicht mehr in russischer Sprache.
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Seitenzahl: 47
Olga Martynova
Gedichte
Widmung
VU NEMT MEN A BISELE GLIK
Vu nemt men a bisele Glik
Gantiadi, am Schwarzen Meer, Kolchis 1980er
Wie die N.
In Zfat
Böen im Baum [...]
Ich sah mich Tennis spielen
Hölderlin ist tot
Such nach dem Namen des Windes
LA SPERANZA
La Speranza
Mehr Lebende oder mehr Tote?
Bäume, deine Freunde
Der liebe Gott
Jedem Halm, wenn [...]
Das Gezwitscher der [...]
Heute habe ich wieder die Elster gesehen
SPINNWEBEN IM RAUREIF
Vor der Santa Maria in Aracoeli
Spinnweben im Raureif
Wahlverwandtschaftsblues
Katz für die Zeit
Eine milde Droge ist gewöhnungsbedürftig
Wespengiftturm, benannt – geschehen:
Darum schweigt er
Trotz schlechter Verbindung sprechend, 1
TOLSTOIS TOD
Tolstois Tod
Ist schon ’ne ganze Menge
Pasolinis Tod, Pasolinis »Trilogie des Lebens«
Außer den fahlen [...]
Hans Hermann von Kattes Tod / Der betende Knabe von Sanssouci
Tote klirren hell [...]
Oder Robert Walser,
Edenkobener Tal
Tod und Unsterblichkeit sitzen am Kleistgrab und sprechen zu Kleist
DER TOD SCHEIDET NICHT, ABER DAS LEBEN
Der Averner See
Wieder war die [...]
Ein (aber nicht jedes) [...]
Er hat sie [...]
Wie zeigt man [...]
Trunken von Nüchternheit [...]
Wenn ich beim Kommentieren deiner Gedichte
Ich schreibe bin [...]
GESÄNGE DER NEUEN ZEIT
Trotz schlechter Verbindung sprechend, 2
Gesänge der neuen Zeit
Trotz schlechter Verbindung sprechend, 3
Elsterne Keilschrift
eine atomare Burgkanone [...]
Marina Owsjannikowas Halskette
Die verkohlte Elster [...]
WOMEN WHO HAVE A PAST oder EXEGI MONUMENTUM
Keine Rose ist bloß eine Rose, irgendwie doch
Women who have a past oder Exegi monumentum
Abschied vom Buch
Für O.J.
Weh mir, wo nehm ich
die Suppe,
im Winde die Fahnen dünn,
wehs mir
so oder so,
und der Kapo
im Schatten der Erde.
Die im Winde klirrenden »links«.
Und der Kapo trunken von Küssen:
Vu nemt men a bisele mazl.
Dünn waren die Fahnen.
Wehs mir, vu nehm ich,
wenns Winter ist,
Rosen a bisele,
mazl a bisele,
Schatten, a bisele
Erde, a bisele glik.
Wehs mir, vu nemt men
gelbe Birnen
und wilde Suppe,
a bisele Wasser,
und der Schatten brüllt,
wo nehm ich a bisele
mazl, wenns Winter und Blumen,
und Sonnenschein, wehs mir,
die Mauern stehn
im Schatten der Erde.
A bisele Erde
im Schatten des Gliks.
Das Gedicht transzendierte die Wirklichkeit nicht mehr. Da stand es und war nur noch sachliche Aussage: so und so, und der Kapo brüllt »links«, und die Suppe war dünn, und im Winde klirren die Fahnen.
JEAN AMÉRY
… подойдет голубь, скажет – гёльдерлин …
… tritt die Taube hinzu, gurrt – Hölderlin …
OLEG JURJEW
Übers. von Steffen Popp
Vu nemt men a bisele mazl,
Vu nemt men a bisele glik.
Jiddisches Lied
Süden. Nacht. Es riecht punktiert nach Brandung und Jod,
Aftershave, Schweiß, Fischernetzen, Sperma, Sonnenbrand,
Parfum, Kaffee im glühenden Sandkästchen,
dessen Glut, klebrigem Wein, Thymian –
all das – samt Lachen, Fluchen, etwas Gitarre,
Gekreische von Rudergabeln, Beschuss
aus gewesenen und kommenden Kriegen –
schreitet durchs Fenster herein,
wo wir auf dem feuchten quadratischen Mond
zwei Mondflecken sind,
ohne Ahnung vom Tod zwischen uns.
Berge um uns und weiter – mit dem Wissen um vorige,
aber ohne Ahnung von künftigen Kriegen,
Mondschnecken lecken den schiefen Himmel vom Fenster ab,
Schicht für Schicht – ohne Ahnung.
… wie die N., weißt du noch,
die nach einer Frühgeburt die Klinik verlassen,
das Kind aber noch im Brutkasten lassen musste …
Man traf sie in Petersburgs weißen Nächten,
im Sommerregen, im Geruch
der nassen Pappelwolle;
sie hatte den Gang einer Wüstenfrau:
ein Tick über dem dämpfenden Asphalt,
ein unsichtbarer Wasserkrug aufm Kopf;
sie durfte wieder alles,
sie kiffte, trank Bier,
war überall dabei mit keiner Spur Bauch,
sagte nur, sie sei im achten Monat schwanger.
Nun, d.h. nach deinem Tod,
mache ich alles mit, was man so tut,
bin nur im fünften Jahr tot
und trage den Brutkasten aufm Kopf,
in dem ein Todesküken piepst.
Lächelst du mit ob der Komik des Ganzen …?
In Zfat stehen Häuser übereinander,
eine vertikale Spielbaukastenstadt
aus und auf dem schwerelosen Stein Israels.
Die Berge um Zfat
sind das zu verschiedener Dichte
verdichtete Licht.
Bald kommt der Shabbat,
Männer mit schwarzen Hüten
(Borsalinos)
oder mit Pelzhüten
(Schtreimels)
sprechen mit ihren Buben und eilen
mit letzten Einkäufen,
die schöne Braut Shabbat zu begrüßen.
Die Hüte sind gegen den Regen
mit klarer Folie überzogen.
Die schmalen Gesichter der Buben
leuchten aus Schläfenlocken
wie die Heiligen der frühen Ikonen
aus dem Gold heraus
(ein Vergleich, den mir sowohl die Väter der Buben
als auch die Heiligenmaler übel nehmen würden).
Auch in dieser Stadt der Kabbalisten
kann ich niemanden fragen,
wozu ihre ganze Weisheit,
wenn sie …
… keinen einzigen
wenn …
… zurückholen
nicht …
ich höre auf. Auf solchen Fragen
ruht das Leben,
die Dirne, vor der
die Braut Shabbat weggesperrt wird.
Aber warum ist dieses verdichtete Licht,
das die hiesige Erde ist,
trotz allem so gewiss.
Böen im Baum / Baum in Böen:
So viel Bewegung, die nirgendwohin führt:
ein Falke im Rüttelflug.
Ein Baum kann zum Mistral tanzen
oder zum Boreas –
seine Wissenschaft sind Geduld und Ausgeliefertsein.
Was macht einen Wald, einen Ozean aus?
Spechte, Zilpzalpe, stecken gebliebene Luftballons,
Nachtigallen, Pirole – Matrosen im Wald –