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Schwule Jugendliche gibt es überall. Auf dem Land, in der Großstadt, im Norden, im Süden. An Schulen, im Schwimmverein und im Jugendclub. Aber wie geht es denen? Wie ist das, jung und schwul zu sein? Wie schrecklich, wie schön, wie normal? Diese Fragen haben sich Patrick Fina und Matthias Nebel gestellt. Auf der Suche nach Antworten sind die beiden quer durch Deutschland gereist. Sie haben junge Schwule getroffen und ihre Geschichten aufgeschrieben. Dabei ist dieses Buch entstanden: Ein Portrait von zehn verschiedenen jungen Menschen. Sie erzählen über ihr Coming-out und ihr Leben in einem teils überraschend toleranten, manchmal aber auch erschreckend aggressiven Umfeld. Zehn Jahre sind seitdem vergangen. Zeit, noch einmal nachzufragen: Wie geht es den mittlerweile Erwachsenen? Was haben sie erlebt, wie zufrieden sind sie? Die Autoren fragen aber auch: Warum hat sich gesellschaftlich und politisch so wenig verändert in den vergangenen Jahren? Warum dürfen zum Beispiel Schwule und Lesben in Deutschland immer noch nicht heiraten, warum keine Kinder adoptieren? Wir haben allen Grund, unzufrieden zu sein!
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Seitenzahl: 188
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PATRICK FINAMATTHIAS NEBEL
SÜDLICH VON HETERO
ZEHN JAHRE SPÄTER NACHGEFRAGT
Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,
Himmelstürmer is part of Production House GmbH
www.himmelstuermer.de
E-mail: [email protected]
Originalausgabe, Mai 2017
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.
Fotografie, Layout, Coverfoto: Matthias Nebel
www.matthiasnebel.de
Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
ISBN print 978-3-86361-605-2
ISBN epub 978-3-86361-606-9
ISBN pdf: 978-3-86361-607-6
FÜR LORENZ
N Ä C H S T E R U N D E
Zehn Jahre später nachgefragt
Zehn Jahre sind eine verdammt lange Zeit. Und in den vergangenen zehn Jahren hat sich unser Leben ganz schön verändert. Vor zehn Jahren hatte kaum jemand in Deutschland etwas von Facebook gehört. Das iPhone konnte man hierzulande noch nicht kaufen. Angela Merkel war noch relativ frisch im Amt als Bundeskanzlerin. Ja, ihr jüngeren Leser*innen, die ihr euch gerade wundert: Es gab eine Zeit vor Angela Merkel! Als dieses Buch erstmals erschien, auch das ist zehn Jahre her, war es in den Zügen der Deutschen Bahn sogar noch erlaubt zu rauchen.
Wir sind damals nicht mit dem Zug gefahren, sondern mit dem Wohnmobil. Einmal kreuz und quer durch die Republik. Wir haben zehn ganz wunderbare schwule Jugendliche getroffen. Sie haben uns erzählt, wie das für sie ist, jung und schwul zu sein. In diesem Buch haben wir ihre Geschichten aufgeschrieben. Sie handeln von der Suche nach der eigenen Identität, von Selbstzweifeln, von Frustration, Trennung, Überraschungen und von der Suche nach Glück. Sie handeln von Liebe und davon, wie unterschiedlich Leben sein kann.
Die Geschichten, die wir vor zehn Jahren aufgeschrieben haben, sind immer noch aktuell. Die Probleme und Fragen, mit denen sich schwule Jugendliche herumplagen, haben sich kaum verändert. Deshalb haben wir die Geschichten nicht angefasst: Sie sind in dieser zweiten Auflage noch genau so, wie wir sie 2007 protokolliert haben. Mit einigen Gedanken und Formulierungen von damals sind wir als Autoren heute zwar nicht mehr einverstanden. Wenn wir etwa mit Floskeln um uns geworfen haben oder Sprachbilder schief sitzen. Aber ja: Wir waren vor zehn Jahren gerade einmal 19 und 21 Jahre alt. Noch ganz grün hinter den Ohren – und das merkt man den Texten an manchen Stellen an. Damals haben sich die Sätze aber so, wie wir sie geschrieben haben, richtig angefühlt. Und deshalb lassen wir sie, wie sie sind.
Gleich beginnt die Fahrt: Wir nehmen euch mit auf unsere Reise quer durch Deutschland. Wir packen das Wohnmobil und fahren los, lernen schwule Jugendliche und ihre Geschichten kennen. Später berichten wir euch noch, was aus den jungen Männern von damals heute geworden ist.
Und am Ende des Buches ziehen wir Bilanz: Ist das Leben als Schwuler oder als Lesbe in Deutschland heute gut? Um die Antwort vorweg zu nehmen: Nein, wir sehen das nicht so. Aber dazu später mehr.
Köln, im März 2017
Patrick Fina & Matthias Nebel
AUFBRUCH
GUTE FAHRT!
Wir waren es Leid. Immer liest und hört man in den Medien von „den Schwulen“. Die Schwulen, die schon wieder halbnackt durch die Städte tanzen. Die schon wieder keine Lust haben auf Safer Sex und eigentlich immer nur unzufrieden sind. Mit allem: der Gesellschaft, der Politik, der Innenarchitektur. Wer soll das eigentlich sein, „der Schwule“? Geht es dem gut, oder eher schlecht? Wie ist das, jung und schwul zu sein? Wie schrecklich, wie schön, wie normal?
Alles passiert gleichzeitig. In ganz Deutschland. 82 Millionen Realitäten. Im Hier und Jetzt. Deshalb also zehn Geschichten. Geschichten, die gleichzeitig passieren, aus zehn verschiedenen Perspektiven. Ganz unterschiedliche Realitäten. Das war der Ausgangspunkt.
Anfang 2006 wird es konkret: das Projekt beginnt. Wie könnte es aussehen? Wie finden wir zehn interessante Jugendliche? Eine Ausschreibung per Mail an Bekannte, dann ein Aufruf beim schwulen JugendMagazin dbna. Es dauert nur wenige Stunden bis uns die ersten Mails erreichen. Jedes Mal so spannend, die Briefe zu lesen. Wer wird es sein? Was hat er erlebt? Wir kommen Menschen nahe, die wir bis eben gar nicht kannten. Wir tauchen ab in fremde Welten. Lassen uns Geschichten erzählen, Lebensgeschichten, stellen Fragen und haken nach. So soll es auch den Leserinnen und Lesern dieses Buches gehen: abtauchen und zuhören. Sich einlassen auf das, was man liest und nachempfinden.
Ende Juli wird es noch konkreter: die Auswahl der Geschichten ist getroffen. Wir kaufen Blöcke und Filme, organisieren Übernachtungen und das Wohnmobil. Stellen eine Route auf: 2539 Kilometer, einmal quer durch die ganze Republik. Von Offenbach über Karlsruhe nach München. Bühlau, Dresden, vorbei an Berlin nach Kiel. Essen, Kapellen und Bonn. Wir treffen Verabredungen mit den Interviewpartnern und packen die Koffer: es geht los.
Matthias kommt mit fünf oder sechs Taschen, in zweien davon sind Kameras. Patrick hat nur zwei Taschen und einen Koffer. Das Wohnmobil wird beladen, hergerichtet. Unser zu Hause in den nächsten zwei Wochen. Mobiles Haus, irgendwo auf den Autobahnen der Republik. Es gibt noch Nudelsalat von Patricks Mutter mit auf den Weg, dann steigen wir ein. Es ist sechs Uhr am Morgen. Das Navigationssystem wird eingeschaltet. Ziel: Offenbach. Route wird berechnet. Wir verlassen die für Patrick heimischen Gefilde, es geht raus auf die Autobahn. Wir sind auf Tour.
LORENZ / 22 / OFFENBACH
»DU KOTZT DEINE GANZE TRAURIGKEIT AUS. DEINEN GANZEN HASS.«
Über Offenbach gibt es momentan nicht viel zu sehen. Einige Flugzeuge im Landeanflug auf den Flughafen von Frankfurt am Main und dicke Regenwolken, die seit einigen Minuten kleine Wasserperlen auf die Stadt schütten. Die Flugzeuge machen einen ziemlichen Lärm, während sie über die Gewerkschaftshäuser donnern. „Das höre ich schon gar nicht mehr“, sagt Lorenz. In seiner Wimper hat sich ein kleiner Regentropfen verfangen: sanfte Landung nach einem langen Fall. Lorenz hat einiges mit diesem Regentropfen gemeinsam. Auch er ist tief gefallen in seinem Leben. Auch er ist sanft gelandet. Und all das, obwohl er gerade erst 22 Jahre alt ist.
Lorenz führt uns an vielen Gewerkschaftshäusern vorbei in ein Waldstück und stoppt vor einer Parkbank. „Hier verbringe ich viel Zeit.“ Er zeigt auf die Parkbank, die idyllisch unter zwei großen Bäumen steht. „Wenn man hier sitzt, sieht man die Wohnblöcke nicht und kann den Alltag für kurze Zeit ausblenden.“ Er hat schon häufig auf dieser Parkbank gesessen und das Immergleiche ausgeblendet. Nachgedacht. Über sein Leben, die Liebe. Über die Krankheit, die alles so veränderte. Und darüber, wie stolz er ist, all das überwunden zu haben und heute ein glückliches Leben zu führen.
Lorenz’ Geschichte beginnt, als er ungefähr acht Jahre alt ist. Irgendwo in Offenbach, in einem Probenraum des Jugendchors. „Ich habe mich total in den Chorleiter verliebt“, sagt Lorenz. Er lächelt, als er das sagt und kriegt große Augen. „Ich fand es damals sehr schön, dieses Gefühl, und ich hielt es für normal, in einen Mann verliebt zu sein. Früher oder später würde ich mich auch in eine Frau verlieben, da war ich mir sicher“, erinnert er sich.
Es wurde aber eher später als früher. Schon mit elf Jahren gestand sich Lorenz ein, Jungs viel interessanter zu finden als Mädchen. Auch eine Freundin, die er mit 15 hatte, überzeugte ihn nicht. „Ich hatte sie eigentlich nur, um zu testen, was Sache ist“, erklärt Lorenz. „Danach war ich mir sehr sicher, dass ich schwul sein muss. Ich wusste einfach nicht, was ich mit ihr hätte anfangen sollen, geschweige denn, wo ich sie gerne angefasst hätte.“
Zu diesem Zeitpunkt hatte Lorenz schon einiges durchmachen müssen in seinem Leben. Er war nie der typische Junge gewesen. „Mein Bruder war ein richtiger Frauenschwarm“, erzählt er, „aber bei mir kam das einfach nicht.“ Anstatt mit Freunden über schöne Mädchen zu reden, hörte Lorenz lieber gemeinsam mit seinen Freundinnen Spicegirls. Und Freundinnen hatte er viele. „Ich war immer schon der Hahn im Korb“, sagt er. Nur einen einzigen guten Freund hatte er gehabt, Phillip, mit dem er viel Zeit verbrachte in seiner Kindheit. „Wir sind gemeinsam in die fünfte Klasse gegangen, haben Mittags gespielt und sind häufig im Wald Fahrrad gefahren.“ Was man mit einem guten Freund eben so macht, wenn man noch Kind ist.
Als Lorenz in der siebten Klasse war, ist Phillip weggezogen. „Danach hatte ich keinen männlichen Freund mehr. Niemanden, mit dem ich die Nachmittage mit Fahrrad fahren verbringen konnte.“ Als Philipp weg war, gab es nur noch Freundinnen und das fiel negativ auf in seiner Klasse. „Lorenz ist voll das Mädchen“, sagten die anderen Jungs und ärgerten ihn, wo sie nur konnten. Als Lorenz uns heute davon erzählt, einige Jahre später, wird seine Stimme nachdenklich. Er macht eine lange Pause und beobachtet, wie die Regentropfen vor ihm auf den Boden prasseln. Wer als Kind gemobbt wird, vergisst das so schnell nicht. Lorenz hat heute noch mit der Erinnerung zu kämpfen. Er hatte es schwer in der Schule, bot genug Angriffsfläche. Seine Freundinnen, seine stille Art – und schließlich: sein Körpergewicht. „Ich war als Kind schon immer etwas pummeliger“, erinnert er sich. „Lorenz der Dicke“ haben sie ihn in der Schule genannt. Der dicke Lorenz, der Spicegirls hört und nur mit Mädchen befreundet ist. „Darunter leidet ein Kind“, sagt Lorenz. „Das ist wie eine Charaktereigenschaft, die dich sehr lange Zeit begleitet.“ Ein Stigma, das man nicht mehr los wird.
Sogar in seiner Familie war Lorenz vor unangenehmen Bemerkungen nicht sicher. Das Verhältnis zu seinen Eltern war nie gut gewesen. Nicht die typische Familienidylle, wie man sie im Fernsehen zu sehen bekommt. Sie lebten gemeinsam, körperliche Nähe erfuhr er aber nie. Und dann erzählte ihm eine Verwandte, dass er sich endlich männliche Freunde suchen müsse, sonst würde er schwul werden.
Schwul werden. Schwul. Schwul! Davor hatte Lorenz Angst. Dass er Gefühle für Jungs hatte, wusste er schließlich. Aus den anfangs schönen Gefühlen der Verknalltheit war mittlerweile ein Gespenst geworden. Ein Bekannter seiner Eltern war schwul und in seiner Art sehr tuntig. Lorenz wollte nicht so werden. Er bemerkte, wie andere Leute über den Bekannten lachten und wollte nicht, dass man noch mehr über ihn lachte als man es sowieso schon tat. „Ich hatte Angst, eine Witzfigur zu werden“, sagt er und schaut auf den Boden, in die Pfütze vor seinen Füßen, in der die Regentropfen immer wieder kleine Wellen schlagen. Deshalb wollte er sich nie mehr in einen Jungen verlieben. „Ich fand das ekelhaft. Fand mich selbst hochgradig pervers“, sagt er. Wenn er gekonnt hätte, hätte er sich selbst verändert. Hätte sich männliche Freunde gesucht, ein paar Pfunde abgespeckt, die Spicegirls-CDs in den Müll geschmissen und endlich ein Mädchen geküsst. Aber Lorenz konnte nicht, stand da, vor einem Berg von Problemen, die er nicht bewältigen konnte. Ein viel zu steiler Berg für einen viel zu kleinen Jungen. „Vor wenigen Tagen erst habe ich mein Tagebuch von früher gefunden“, erzählt er und macht wieder eine lange Pause. Er atmet kontrolliert ruhig und sortiert im Kopf seine Gedanken. Wenn er sich an die Worte erinnert, die er damals geschrieben hat, schnürt es ihm die Kehle zu. „Ich glaube, dass ich mich eines Tages wegen dieser Scheiße umbringen werde“, lauten die Zeilen, die er in seiner totalen Frustration vor einigen Jahren niederschrieb.
Auch wenn er sich vorgenommen hatte, sich nie mehr in einen Jungen zu verlieben, merkte er bald, dass er mit diesem Vorsatz brechen musste: Lorenz lernte Marco kennen. Sportlich, schlank, schön. Ein toller Junge! Lorenz konnte seine Gefühle nicht im Zaum halten. Bald war er von Kopf bis Fuß verschossen. Versuchte, Marcos Aufmerksamkeit zu erregen und scheiterte kläglich. Er überhäufte ihn mit Anrufen. Versuchte es immer wieder. Aber es schien keinen Weg zu geben, irgendwie an Marco ranzukommen. Trotzdem wollte Lorenz nicht wahrhaben, dass Marco an ihm freundschaftlich, geschweige denn sexuell, gar nicht interessiert war. Er versuchte es weiter und fasste einen Entschluss: um Marcos Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, musste er selbst so werden wie Marco. So sportlich, so schlank, so schön. Lorenz musste so schnell wie möglich abnehmen. Schlank werden, in kurzer Zeit, die Liebe wartet schließlich nicht.
Wie schafft man das? Man treibt entweder viel Sport oder isst nichts mehr. Nichts mehr essen schien Lorenz damals einfacher zu sein. Problem: „Ich habe schon immer gerne und viel gegessen“, sagt Lorenz und lächelt. In einem Artikel in der Bravo fand Lorenz letztendlich die Antwort auf die quälende Frage, wie er schön werden, essen und Unsportlichkeit verbinden konnte: Bulimie. „In der Bravo stand, dass es etwas Schlechtes sei. Aber ich fand das Prinzip so toll, dass ich es ausprobieren wollte“, erinnert er sich.
Also fing Lorenz nach und nach an, sich nach dem Essen den Finger in den Hals zu stecken. Natürlich so, dass seine Eltern das nicht mitbekamen. Er genoss dieses Ritual. Er konnte essen, so viel er wollte. Er würde trotzdem abnehmen. Ob das nun gesundheitlich okay war oder nicht, interessierte ihn erst einmal nicht. Für ihn zählte nur das Abnehmen. Um jeden Preis. Da setzt man doch gerne seine Gesundheit aufs Spiel. Und die ersten Erfolge sprachen für diese absurde Praxis. „Schon nach kurzer Zeit nahm ich ein paar Kilo ab“, erklärt Lorenz.
Wenn Marco Lorenz in der Schule anschaute, war der ganze Tag gerettet. Tat er es nicht, fiel Lorenz in einen tiefen See von Traurigkeit, aus dem er nur schwer wieder rauskam. An diesen schlechten Tagen kam er nach Hause, setzte sich vor den Fernseher und begann zu essen. Er schaufelte alles in sich rein, plünderte regelrecht den Kühlschrank. „Ich machte immer weiter, es waren Unmengen. Danach erbrach ich wieder alles. Es war toll: Man konnte so viel essen, alles, was einem schmeckte und wie viel man wollte und es wirkte sich nicht auf die Figur aus.“
Wie eine Flut erpackte ihn die Sucht, riss ihn mit sich und zog ihn weg von den Ufern der Realität. Wenn er seinen ganzen Mageninhalt ausgekotzt hatte, fing er wieder an zu essen. Schaufelte sich wieder voll, kotzte sich wieder frei und fing erneut an zu essen. Kotzen. Wieder essen. Kotzen. Und natürlich durfte man mit dem Kotzen nicht lange warten, damit ja nichts verdaut wurde. „Im Laufe der Zeit entwickelte ich Systeme“, erinnert sich Lorenz. „In welcher Reihenfolge muss was gegessen werden, damit es nachher beim Erbrechen leichter ging. Brot war zum Beispiel schwer wieder rauszubekommen. Eis und Süßigkeiten gingen ganz einfach.“ Manchmal ist er sogar extra früh aufgestanden und hat sich noch vor der Schule das Abendessen aufgewärmt und reingehauen, um es dann in der Schule wieder zu erbrechen.
Schnell bemerkten auch andere, dass Lorenz abnahm. „Das trieb mich natürlich noch mehr an“, erinnert er sich. Er kaufte sich die Men’s Health und fing gleichzeitig mit Muskeltraining an. Es dauerte nicht lange, bis Lorenz die ersten Komplimente bekam. Zum ersten Mal in seinem Leben Komplimente. Was kann so schlimm an dieser Krankheit sein, wenn sie ihm doch so viel geben konnte. Lorenz war zu sehr in Ekstase, um zu sehen, dass er einen Fehler machte.
Heute weiß er, dass er damals eine riesige Dummheit beging. „Ich habe mich gehasst für meine Gefühle, die in mir schlummerten und habe diesen Hass gegen meinen Körper gerichtet, um mir weh zu tun.“ Er kam nicht damit klar, schwul zu sein. Das Gespenst saß tief in ihm, hatte sich festgekrallt. Er traute sich nicht mehr, in sich hineinzusehen. Anstatt das Gespenst zu vertreiben, kämpfte er gegen sein Übergewicht. Das war einfacher, war realer, war normaler. Er war besessen von der idealen Idee eines makellosen Körpers und fühlte sich ganz befreit und leicht. „Du kotzt deine ganze Traurigkeit aus, deinen ganzen Hass“, sagt er. Da war es egal, dass das Erbrechen auch häufig sehr weh tat und Schmerzen bereitete. Schmerzen nahm er gerne in Kauf, wenn es ihm dadurch besser ging.
Erst nach dem Rausch kam das schlechte Gewissen – „Was machst du hier eigentlich?“ fragte er sich dann. Aber es hielt ihn nicht davon ab, wieder zu kotzen. Immer, wenn es Lorenz schlecht ging, wenn er sich zum Beispiel mit seinen Eltern gestritten hatte, verzog er sich in die Küche und machte sich etwas zu Essen. Zur Strafe esse ich euch jetzt den Kühlschrank leer, sagte er dann immer. Diesen Wink mit dem Zaunpfahl haben seine Eltern nie verstanden. Sie waren ahnungslos, tappten bei ihrem Sohn im Dunkeln. Wie sollten sie auch etwas ahnen? Äußerlich gesehen ging es Lorenz so gut wie nie zuvor. Er nahm ab und er schien glücklich zu sein. Den Schrei nach Anerkennung, der hinter dieser Krankheit steckte, vernahmen sie nicht. Dabei war er so eindeutig: „Ich wollte schlank sein, um geliebt zu werden.“
Die Schulferien nutzte Lorenz zum Abspecken. Innerhalb von sechs Wochen sank sein Gewicht von 70kg auf 58kg. Nahrung nahm er quasi gar nicht mehr zu sich und zusätzlich ging er alle zwei Tage joggen. Klar, dass selbst den allerletzten Klassenkameraden auffiel, dass Lorenz sich Mühe gab. Als die Schule wieder anfing, passte er in die Hosen seiner zwei Jahre jüngeren Schwester. Hosengröße 28, darauf war Lorenz ganz besonders stolz. In der Schule fand er schließlich Anschluss bei einigen anderen. „Als ich merkte, dass ich durch die Bulimie Anerkennung bei anderen fand, hatte sich die Krankheit endgültig verselbstständigt“, erinnert er sich. Das konnte er aber gut in Kauf nehmen, denn immer weiter ging es mit seinem Leben aufwärts. Auch in der Schule, wo seine Leistungen immer besser wurden. „Klar – ich habe meinen körperlichen Perfektionismus auch auf meine schulischen Leistungen ausgebreitet“, erklärt Lorenz. Ein Perfektionist in jeglicher Hinsicht, der nach außen hin eine schöne Fassade aufgebaut hatte und innerlich kaputt ging.
Glücklich war Lorenz natürlich immer noch nicht, und das bemerkte er – seine Gefühle für Jungs hatten sich wegen seines dünneren Körpers ja nicht in Luft aufgelöst. Er wollte sich mitteilen, fand aber nie den Mut, mit seinen Freunden über seine Homosexualität zu sprechen. Trotzdem begann er langsam, sich seinen Freunden anzuvertrauen. Meist wenn er Alkohol getrunken hatte, erzählte er ihnen von seiner Bulimie. „Wenn ich heute darüber nachdenke, fiel es mir damals leichter zu sagen ‚Ich habe Bulimie’ als zu sagen ‚Ich bin schwul und in Marco verliebt, und ich weiß nicht, wie ich damit klarkommen soll.’“
Seine Freunde waren geschockt. Wussten, wie gefährlich Bulimie ist und rieten Lorenz, eine Therapie zu machen. Anfangs wehrte er sich gegen den Gedanken, er könne krank sein. Wieso auch? Seit er sich regelmäßig den Finger in den Hals steckte, ging es ihm viel besser als zuvor. Seine Freunde blieben hartnäckig und überredeten ihn, sich bei einem Jugendpsychologen zu melden. Und weil sie nicht aufhörten, auf ihn einzureden, ließ Lorenz sich auf diesen Vorschlag ein. Er rief bei einem Jugendpsychologen an, ging sechs Monate lang zu ihm und erzählte ihm von seiner Bulimie. Wirklich ehrlich war er dabei nie, denn Marco und seine Homosexualität erwähnte er mit keinem Wort. Trotzdem profitierte Lorenz aus diesen sechs Monaten. Ihm wurde bewusst, dass er die Krankheit als Ventil benutzte. Als Ventil für seine Gefühle, für die er sich so sehr hasste. Und ihm wurde klar, dass Essen zum Überleben wichtig ist – nichts Negatives, sondern eben doch etwas Gutes.
Nach den sechs Monaten in Therapie glaubte Lorenz, sein Leben neu geordnet zu haben. Er glaubte, einen Ausweg aus seinen Problemen gefunden zu haben und nun besser mit seiner Krankheit umgehen zu können. Aber es dauerte nicht lange, bis die nächste Enttäuschung kam und Lorenz wieder tief in eine Depression fiel. In ein tiefes Loch, das alles wieder von vorne losgehen ließ. Essen, kotzen, sich gut dabei fühlen, schlechtes Gewissen. Immer und immer wieder.
Insgesamt drei Jahre lang quälte sich Lorenz mit dieser Krankheit herum. Drei lange Jahre, drei Jahre wie auf einer Welle: mal stärker ausgeprägt, mal schwächer. Erst, als Lorenz in der elften Klasse Matze kennenlernt, verändert sich wirklich etwas in seinem Leben. Er hatte einen besten Freund gefunden. Jemanden, bei dem er sich nicht verstellen musste. Jemand, der ihn so nahm, wie er war, der ihn mochte und akzeptierte und ihm das auch sagte.
Ungünstigerweise verliebte sich Lorenz in Matze. Er gestand ihm seine Gefühle, erklärte ihm, dass er schwul ist und auf Männer steht und sich in ihn verliebt hatte. Matze fand das in Ordnung und machte kein Problem daraus. Zum ersten Mal in seinem Leben stieß Lorenz auf Verständnis. „Ich begann, langsam aber sicher, mich so zu akzeptieren, wie ich bin“, erinnert sich Lorenz. Da war jemand, der ihm wichtig war, und dem es einfach egal war, ob er schwul war oder nicht. Das machte aus dem schreckenerregenden Gespenst einen alten Lappen aus der Geisterbahn. Wenn er jetzt in sich hineinsah, bekam er keine Angst mehr. Er fühlte sich wieder wohl in seinem Körper.
Er begann, sich bei mehr und mehr Freunden zu outen und wurde immer selbstbewusster und emotional stabiler. Und plötzlich war auch das Bedürfnis, sich den Finger in den Hals zu stecken, nicht mehr da. „Ich habe die Krankheit dadurch überwunden, dass ich merkte, dass mich andere Leute so mögen, wie ich bin, und sie mir ganz viel Mut gemacht haben“, sagt er heute. Lorenz strahlt, als er uns das sagt. Ihm wurde gezeigt, was es bedeutet, sein Leben zu genießen und dass es wichtig ist, seine Gefühle zuzulassen.
Wenn Lorenz heute an diese Zeit zurückdenkt, denkt er nichts Schlechtes. „Ich glaube, das war meine Art, erwachsen zu werden. Ich habe gelernt, mit mir, meinem Körper, meiner Sexualität und meinen Gefühlen umzugehen.“ Heute kann Lorenz sehr gut mit sich selbst umgehen. „Der eine ist vielleicht Linkshänder, ein anderer braucht eine Brille. Ich bin schwul“, sagt er. Heute ist es ihm egal, was andere Leute über ihn sagen oder denken, solange er weiß, dass er mit sich selbst und dem, was er tut, glücklich ist. Denn glücklich ist Lorenz heute mit seinem Leben, darüber braucht er gar nicht lange nachzudenken. „Früher ging es mir total dreckig“, sagt er. „Ein ständiges Auf und Ab. Ich hatte kaum noch Kraft zu leben. Heute habe ich viel Kraft. So viel, dass ich anderen davon etwas abgeben kann.“
Ein Coming-out lohnt sich immer, findet Lorenz heute. Wegen der Freiheit, die man dadurch bekommt. Er hält inne, als er das gesagt hat. Denkt darüber nach. „Schreibt das bitte genau so“, wünscht er sich und lächelt uns an.
Wieder donnert ein Flugzeug über Offenbach, wieder tut es das sehr laut. „Die Dinger sind schon ganz schön laut, wenn man darauf achtet“, sagt Lorenz.
Mittlerweile hat es aufgehört zu regnen. Keine Tropfen mehr, die vom Himmel fallen, hinunter in die Pfütze vor Lorenz’ Füße und kleine Wellen schlagen. Die Wogen haben sich geglättet. Nach jedem Sturm kommt irgendwann die Ruhe, das ist Leben.
145 KM