Suizid – Reden wir darüber - Céline Humm - E-Book

Suizid – Reden wir darüber E-Book

Céline Humm

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Beschreibung

Nimmt sich eine nahestehende Person das Leben, bleiben Mitmenschen meist wortlos zurück. Und es passiert täglich. Mit 34 Jahren verlor Céline Humm ihre Mutter durch Suizid. Sie spürte schnell, dass diese Geschichte aufgearbeitet werden muss, für sie selbst, aber auch für ihre fünf Kinder. Durch ihren offenen Umgang und ihre nahbare, verletzliche Art gelang es ihr, verschiedenste Geschichten von Betroffenen einzusammeln: von Hinterbliebenen über Zugführer bis hin zu Menschen, die sich beruflich mit dem Thema beschäftigen. Wer sind die, die zurückbleiben? Wie gelingt es weiterzugehen? Wieso ist das Thema immer noch behaftet mit Schuld und Scham? Was sagen Fachpersonen zu alldem? Céline Humm fand Antworten und lernte loszulassen – und Frieden zu finden

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Suizid – Reden wir darüber

Céline Humm‚ geb. 1985 in der Schweiz‚ ist medizinische Praxisassistentin‚ angehende Trauerbegleiterin‚ Mutter von fünf Kindern und selbst Hinterbliebene. Ihr Herz schlägt für gutes Essen‚ feine Zutaten‚ für Freundschaften‚ für berührende Geschichten‚ für anregende Texte und hübschen Vintage-Kram.

www.celinehumm.ch

Inhalt

Danksagung

Liebes Mami,

„Seine Sanduhr lief längst.“

„Früher galt Suizid als die schlimmste Sünde, denn es ist die einzige, für die man selbst nicht mehr Buße tun kann.“

„Die meisten Betroffenen möchten nicht sterben, sie wollen, dass ihr unaushaltbarer Schmerz aufhört.“

„Die Liebe hilft bei allem. Sie hat mir das Leben gerettet.“

„Die Verhütung von Suizidmethoden hilft, Menschenleben zu retten.“

„Ich sehe meine Aufgabe in der Trauerbegleitung darin, den Angehörigen in einer schwierigen Lebenssituation Stütze und Wegweiser zu sein.“

„Was zwischen den Gleisen passiert, geht nicht an die Öffentlichkeit.“

„Er hatte Gewissensbisse fast bis zum Schluss.“

„Man kann aber nicht sagen, dass es bei Vollmond und an Weihnachten mehr sind.“

„Ich lebe mit dem Schweigen.“

„Suizid klebt einem wie ein Schatten am Allerwertesten. Ihn wegzukriegen ist fast unmöglich.“

„Der Berg, der sich vor einem Betroffenen aufbaut, ist höher als der Himmel, und ein Weg über ihn hinweg nicht erkennbar.“

„Mit einer guten Begleitung lernt man Strategien, um am Leben zu bleiben nach einem Suizid.“

„Die Bilder vergisst du nicht – nie.“

„Ich hatte plötzlich große Zweifel an meiner eigentlich guten Menschenkenntnis.“

„Heute gibt es Dinge, die sind mir viel wichtiger als dieser Brief.“

„Mehr Dankbarkeit, Demut und der Sinn für Andere würde uns allen guttun.“

„Mein Mutterinstinkt ist zutiefst verletzt.“

„Ein Suizidversuch ist der stärkste Risikofaktor für einen wiederholten Suizidversuch oder Suizid.“

„Wir alle sitzen im Schnellzug und rasen durch unser Leben.“

„Sie hatte viele Hürden zu bewältigen, vielleicht zu viele.“

„Vielleicht hätte eine klare Diagnose geholfen, das Diffuse war schwierig auszuhalten.“

„Fand ein Suizid in der Klink statt, wehte immer etwas Belastendes durch die Gänge, etwas, das die Patienten fragiler machte.“

„Doch plötzlich war da dieser Regenbogen in einem Wolkenfenster am komplett bewölkten Himmel – und das Radio spielte in voller Lautstärke ‚Hello from the other side‘ von Adele!“

„Die Endgültigkeit dieser Sache, der tiefe, tiefe Schmerz ist erst schleichend über die Jahre gekommen. In manchen Momenten ganz heftig, verbunden mit sehr starker Wut.“

Mach’s gut, Mami.

Nachwort

trauernetz.ch

Beratung für Menschen in Krisensituationen

Céline Humm

Suizid – Reden wir darüber

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

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ISBN: 978-3-86321-662-7

eISBN: 978-3-86321-686-3

Alle Rechte vorbehalten

Danksagung

Einmal ein Buch zu schreiben steht bei vielen auf der Bucketlist. Es stand auch auf meiner. Zugegeben‚ ich hätte lieber über die schönen Dinge des Lebens geschrieben. Und doch begegnete ich trotz der Schwere des Themas so viel Schönem auf dem Weg zu diesem Buch. Jedes einzelne Gespräch‚ jeder einzelne Mensch berührte mich und tut es heute noch. Danke für euren Mut‚ euer Vertrauen‚ euer Engagement – danke fürs Darüberreden!

Dieses Buch entstand in tausenden Stunden inmitten des Alltagswahnsinns und dem randvoll gepackten Familienalltag. Der Suizid meiner Mutter rüttelte auch an uns. Danke Simon für deine Geduld‚ dein unendlich großes Ja zum Leben‚ ganz egal wie hoch die Wellen schlagen‚ danke für deine aufrichtige Liebe.

Ein schützendes‚ tragendes Umfeld. Wie wichtig es ist‚ lässt sich aus jeder einzelnen Geschichte heraushören! – Einige gehen den Weg schon ein halbes Leben lang an meiner Seite‚ andere sind unterwegs abgebogen‚ wiederum andere kamen neu dazu. Danke meinen Weggefährten für eure wunderbare Freundschaft‚ eure Liebe und euren Support.

Danke Mami für das Leben.

Liebes Mami,

da steht sie nun in unserer Küche, Deine uralte orangefarbene Küchenwaage. Du hast uns damit gewogen, als wir Babys waren, und auch all die sorgfältig ausgewählten Zutaten für die weltbesten Kuchen.

Ich habe Deine Nummer gewählt, doch da geht ein Fremder dran. Deine Nummer ist vergeben. Dein Whats-App-Bild ist längst nicht mehr da. Die rote Vintage-Dose, die ich von klein auf kenne, in der Du Vanillezucker und Backpulver aufbewahrt hast, leert sich. Die Kiste mit den Puppenkleidern, die Du fast alle selbst gestrickt hast, möchte ich kaum öffnen. Ich habe Angst, dass der Duft, den ich so gut kenne, verpufft. Dein geliebter alter weißer Golf ist verkauft.

‚Irgendwann wird sie leer sein‘, denke ich jedes Mal beim Öffnen der Sticker-Box. Du hast sie von überall her gesammelt, um die Kuverts und „Päckli“ für all Deine Lieben zu verschönern.

Anouk – mein fünftes Kind – hast Du nie kennengelernt. Mein Leben ist ganz schön voll – voller Kompromisse, Diskussionen und, dem Frieden zuliebe, Schweigen. Streiten und sich Versöhnen. Es ist eine Herausforderung und es ist auch ein bisschen Wahnsinn. Es ist ein Gewusel. Es ist ein sich Finden und ein sich Vergeben. Es ist streng. Es ist intensiv. Es ist aber auch wunderbar.

Ach – ich hätte Dir ganz schön viel zu erzählen.

Und da ist sie, die beängstigende Endlichkeit, die plötzlich an meine Tür klopft.

Es war ein warmer Herbsttag gewesen im September 2019 – einer der letzten, wie ich heute weiß. Ich erinnere mich gut an die folgende Nacht. Es schien, als verabschiede sich der Sommer. Ich schlief nicht gut in dieser ersten stürmischen Nacht in unserem neuen Zuhause, einem 120 Jahre alten Arbeiterhäuschen, das zu einer ehemaligen Seidenweberei gehörte. Es regnete ununterbrochen.

In dieser Nacht hast Du Dir das Leben genommen.

Wortlos bist Du gegangen. Wortlos blieben wir zurück.

Du hast immer wieder Gedichte geschrieben, ganz schön viele! Ich gebe zu, ich habe sie nie wirklich verstanden. Es war eine Mischung aus Gut und Wirrwarr. Tiefsinniges Zeugs, aber immer etwas drüber und meist war es irgendwie schwer. Heute weiß ich, dass das Schreiben dieser Gedichte Deine Zuflucht war, es war ein Ausdruck von Vielem tief in Dir drin. Beim Aufräumen Deiner Sachen fanden wir eines Deiner letzten Gedichte.

Könnt ich wählen frei

ich wünschte mir allerlei, zum Beispiel Energie für zwei nicht die Mühsal wie Blei.

Möchte ich mich fühlen federleicht, dass die Schwere von mir weicht,

tanzend gehen, spüren in mir das hüpfende Gen, im Winde flanieren und mit dem Schmetterling spazieren. Ich möchte, dass der Himmel streichend weiße Herzen malt und so mein Glück von innen strahlt.

Gedanken, von dieser Erde zu gehen, schlichen sich ein. Diese Idee wurde wohl zu Deinem Freund. Du hast Dich vorbereitet, einen Ort gesucht. Den Ort. Du warst wohl ein paar Mal da, wolltest ganz sicher sein, dass es funktioniert.

Da saß ich nun auf dem Sofa in Schockstarre. Klein, ängstlich, verloren und überfordert. Trotz unserer nicht einfachen Beziehung – Mami darauf war ich nicht vorbereitet. Dein gewaltvoller und einsamer Tod erschütterte mich in jeder Faser meines Seins und es folgte eine Zeit, in der ich Nächte lang weinte, in der ich mir Vorwürfe machte, in der ich wütend war und dachte: ‚Du lässt uns hier ganz schön im Stich.‘ Eine Zeit, in der ich abertausende Erinnerungen und Fotos durchstöberte, in der ich viele Stunden auf dem Stuhl meines Therapeuten verbrachte, um das Geschehene zu begreifen und einzuordnen.

Es fühlte sich an, als stünden 34 schwere Kisten – für jedes meiner Lebensjahre eine – vor meiner Tür. Sie versperrten mir meinen eigenen Weg. Ich war gezwungen, Kiste für Kiste zu öffnen. Es war mir schnell klar: Wenn ich diese Geschichte nicht aufarbeite, nicht Frieden mit ihr finde, wird sie sehr wahrscheinlich mein Leben lang ungut an mir kleben. Also musste ich mich ihr stellen. Für mich. Aber auch für meine Kinder.

Suizid – irgendwie ein dunkler Ort. Meine Recherchen zeigten mir anfänglich Erschreckendes.

2019, in dem Jahr, als Du Dir das Leben genommen hast, starben laut der Statistik von OBSAN.ch in der Schweiz 1.018 Menschen durch Selbstmord. 276 Frauen und 742 Männer, ohne Sterbebeihilfe.

Die Zahlen sind hoch, das Leid der Hinterbliebenen ist groß, es entstehen jährlich soziale und volkswirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe. Darüber zu sprechen ist nicht gerade angesagt.

Warum nehmen sich Menschen das Leben? Tragen wir in der Gesellschaft eine Mitverantwortung? Wo ist die Prävention? Wohin mit dieser Trauer? Wie steht es um meine eigene Stabilität im Leben, bin ich suizidal? Ist die Hemmschwelle, sich das Leben zu nehmen, in unserer Ursprungsfamilie gesunken, Suizid also eine Option, wenn es „nicht weiter geht“? Ist Suizid vererbbar an meine Kinder? Wird meine Beziehung diese Geschichte überleben?

Aufgewühlt von den unzähligen Fragen machte ich mich auf den Weg. Ich traf viele Menschen und sie alle haben eines gemeinsam: Berührungspunkte mit Suizid. Ich traf unzählige Menschen, die mir durch meine Geschichte ihre erzählten. Ich traf Menschen, die paradoxerweise aus der Gesellschaft ausgestiegen sind, um etwas Gutes für sie zu tun. Menschen wie Fritz, den Bildhauer, oder Rolf, den Schulhausmeister, die keine Hinterbliebenen aus erster Reihe und doch tief betroffen sind. Ich traf Menschen, die sich tagtäglich unermüdlich für Prävention und Hinterbliebene einsetzen. Ich traf Menschen, die Suizid quasi in ihrer Stellenbeschreibung stehen haben. Ich traf Menschen, die sich ins Leben zurückgekämpft haben, und ich traf Menschen, die beruflich immer wieder mit Suizid konfrontiert werden.

Schnell wurde mir klar, dass es sich um ein wahnsinnig breites Thema handelt, ein komplexes und kompliziertes Zusammenspiel verschiedener Faktoren.

Durch meinen offenen Umgang mit dem fragilen Thema, meine nahbare und verletzliche Art gelang es mir, verschiedenste Geschichten einzusammeln. Ich tippte sie Zeile für Zeile.

Das Darübersprechen ist heilsam. Es verbindet und ich habe Antworten bekommen.

Heute weiß ich aber auch, dass ein unerklärbares Überbleibsel, ein immer fehlendes Puzzleteil wie ein Schatten in mir hängen bleiben wird. Ich werde nie das vollständige Bild sehen können. Dies gilt es wohl anzunehmen und zu akzeptieren. Einmal mehr habe ich aber gesehen, dass Krisen, die Menschen in ganz unterschiedlicher Weise treffen, auch immer eine Chance sein können, das Leben neu zu denken.

An dieser Stelle spüre ich ganz stark, dass es Zeit ist, Frieden zu schließen, Deinen Willen, liebes Mami, zu respektieren und Dich ein Stück weiter loszulassen.

„Seine Sanduhr lief längst.“

Marc‚ 45‚ und ich sind am Helvetiaplatz in Zürich verabredet. Wir setzen uns in den Außenbereich einer Bar. Bei Drink‚ Tee und Zigaretten erzählt er mir die Geschichte seines Bruders – dem mit dem Schatten auf der Seele. Er beginnt:

„Jetzt muss ich weinen. Ich würde ihm gerne sagen‚ dass ich ihn liebe und ihn vermisse. Das Gefühl von Vermissen tut so weh wie am Tag‚ als er sich das Leben genommen hat.

Im Frühling 2001 erschoss sich mein Bruder in seiner Wohnung. Er war 27 Jahre alt‚ ich 25. Es war nicht sein erster Versuch. Es schien‚ als wäre es eine Art Karriere‚ sich erfolgreich das Leben zu nehmen. Kurz vor seinem letzten Versuch trat er einem Waffenclub bei und übte das Schießen. Jeder seiner Versuche war präziser und näher am Tod.

Mein Bruder sprach mit mir offen über seine Probleme. Seine suizidalen Absichten fingen an‚ als er allein wohnte. Er glaubte‚ dass die Menschen schlecht über ihn sprächen‚ es schien‚ als würde sich jeder peinliche Moment einbrennen. Keinen davon konnte er überwinden. Er kämpfte mit sozialen Ängsten. Die Kollegen nahmen Abstand. Ich hingegen fühlte mich verantwortlich‚ versuchte‚ ihn ‚rauszuholen‘‚ zeigte ihm meine Welt. Doch es passte nicht mit meinen Freunden. Es fühlte sich an‚ als würde ständig eine schwarze Wolke über mir schweben. Ging ich meinen Weg‚ hatte ich ein schlechtes Gewissen‚ fühlte mich egoistisch. Ich lebte mit permanenten Schuldgefühlen. Rückblickend war ich total überfordert mit der Situation. Heute weiß ich‚ dass auch ich Hilfe gebraucht hätte. Ständig kickte sein Leid in mein Leben.

Ich hatte schon auch Hoffnung für ihn. Ich wünschte ihm ein Wunder. Oder dass er gehen konnte. Mein Leidensdruck wuchs und wuchs. Die Hoffnung auf sein Glück hingegen schwand.

Bei seinem letzten Versuch fand ich ihn. Danach dachte ich‚ es könnte gut werden. Er wirkte ausgeglichener. Doch die Wahrheit war‚ dass er längst ganz genau wusste‚ dass er von hier gehen würde. Seine Sanduhr lief längst.

Nach dem Tod meines Bruders weinte und redete ich vier Tage lang ununterbrochen. Ich hatte Angst‚ dass nicht viele Menschen zu seinem Abschied kommen würden. Aber die Kirche war voll. Wir sprachen von Anfang an offen über die Todesursache. Sein Suizid beschäftigte viele Menschen. Auch die Schuldgefühle. Mein Vater hatte danach ein Burn-out.

Ich habe meinem Bruder einen Brief mit vielen schönen Momenten geschrieben‚ die wir zusammen hatten. Aber auch über die schwarze Wolke und über das große Loch‚ das er hinterließ.

Er hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Aber für mich hätte das ohnehin nichts geändert. Ich wünschte mir entweder das Leben für ihn oder den Tod‚ aber keine schwarze Wolke mehr.

Die erste Zeit habe ich gebetet‚ obwohl ich Atheist bin. Ich hatte das Gefühl‚ so könnte ich mit ihm sprechen‚ ohne das Gefühl zu haben‚ zu spinnen. Es war ein Gefühl von Festhalten.

Am Anfang war da viel Empathie von den Menschen rundum‚ aber diese verging schnell. Ebenso schnell kehrte der Alltag wieder ein. Die Menschen wurden dieses Themas müde und sagten‚ es sei doch langsam auch okay. Ich aber fühlte mich lange Zeit außerhalb der Gesellschaft.

Damals hatte ich auch das Bild‚ mit etwas abschließen zu müssen. Heute ist es jedoch Teil meines Rucksacks. Ich sehe keinen Sinn im ‚Abschließen‘. Ich habe den Suizid meines Bruders in mein Leben integriert. Würde ich die Trauer nicht mehr empfinden‚ hätte ich Angst‚ ihn zu verlieren. Ich spüre heute Verlust‚ ich hätte ihm gern meine Kinder vorgestellt.

Ich lernte damit zu leben. Mit der Zeit wird der Schmerz weniger. Heute‚ 20 Jahre später‚ lebe ich gut damit. Manchmal spüre ich Wut auf das Universum. Ich hätte gerne Familienausflüge mit ihm zusammen gemacht.

Mein Bruder war krank. Er hatte einen Schatten auf seiner Seele. Die Diagnose kenne ich nicht‚ das ist aber auch nicht wichtig. Er hatte jede kleinste Verletzung oder Enttäuschung konserviert und zerbrach schließlich daran. Er hatte keine Strategie‚ anders damit umzugehen.

Heute bin ich versöhnt. Ich weiß‚ ich habe damals vieles versucht. Es war aber ein langer‚ langer Prozess. Der Tod ist für mich kein Thema‚ ich stehe mitten im Leben. Manchmal macht es mir Angst‚ dass diese dunkle Seite vielleicht auch in mir erwachen könnte‚ genetisch sein könnte. Aber ich bin sehr positiv gestimmt‚ sehe im Leid Chancen‚ empfinde in Schmerz Romantik. So fühlt sich Leben an.

Es war unglaublich schmerzhaft‚ aber ich habe aufgrund des Suizids meines Bruders auch ganz viel Schönes erlebt‚ zum Beispiel meine Frau kennengelernt.

Ich denke‚ man darf sich das Leben nehmen. Ich empfinde es aber als etwas‚ das unserem menschlichen Gencode völlig widerspricht. Aber ich kann von diesen Menschen nichts verlangen. Es ist letztlich ihr Leben.

Ich glaube‚ für meinen Bruder gab es kein Sein in diesem Leben. Das gibt mir Frieden.“

„Früher galt Suizid als die schlimmste Sünde, denn es ist die einzige, für die man selbst nicht mehr Buße tun kann.“

Ich treffe Monika Götte‚ 35. Sie ist Pfarrerin in Stäfa‚ einer Gemeinde am Zürichsee. In ihrem Büro‚ das einem gemütlichen Wohnzimmer gleicht‚ sprechen wir über unsere Gesellschaft‚ die Wichtiges verlernt hat.

„Das Thema Suizid traf mich ganz plötzlich und mit voller Wucht. Stäfa liegt eingebettet in Reben am See. Zwischen Wohnhäusern‚ idyllischen Spazierwegen und dem Rebberg führt das Bahngleis hindurch. Wenn der Zug notfallmäßig bremsen muss‚ hört man die Hupe und das Bremsgeräusch weithin. Für einige spielt sich das Geschehen quasi im Garten ab‚ die anderen sitzen im Zug‚ manche sind gerade ausgestiegen. Das halbe Dorf weiß Bescheid. So war es auch an diesem Tag: Es war ein junger Mann‚ er wurde nur 19 Jahre alt.

Ich war gerade mal 25‚ nicht viel älter also‚ und ich wusste: Ich werde diesen jungen Mann beerdigen müssen. Das beschäftigte mich unglaublich. Zudem hatte ich eine hochsuizidale Freundin‚ um die ich immer wahnsinnig Angst hatte.

Etwa ein Jahr danach saß ich selbst im Zug‚ nichts ahnend‚ vertieft in ein Buch. Bis es rumpelte und wir stillstanden. Ich ahnte‚ was jetzt kommen würde: die Durchsage ‚Personenunfall‘.

Ganz Verschiedenes ging mir durch den Kopf. Ich musste an den Menschen unter unserem Zug denken‚ an seine Familie und Freunde. Innerlich bereitete ich mich darauf vor‚ hier vielleicht Seelsorge leisten zu müssen. Ich war überrascht und schockiert zugleich‚ wie unterschiedlich die Menschen in meinem Waggon damit umgingen – alle anders‚ aber irgendwie auch alle gleich überfordert. Inklusive mir.

Einige schimpften laut‚ bei anderen sprach der Galgenhumor – wohl alles Strategien. Ich bin überzeugt‚ wären wir auf offener Straße in einen Unfall gefahren‚ hätte niemand so reagiert. Und doch schaffte ich es nicht‚ zu sagen: ‚Seid doch bitte alle still‚ es ist gerade jemand gestorben!‘

In der Vorbereitung auf die Beerdigung des jungen Mannes fing ich an‚ mich mit dem Thema Suizid zu beschäftigen‚ fragte mich‚ wie Menschen dazu kommen‚ sich das Leben zu nehmen‚ und was in ihnen vorgehen muss. Meine Freundin erzählte mir‚ dass es sie immer wieder‚ wie bei einem Magneten‚ zum Gleis ziehe und dass sie sich beispielsweise an einer Wartebank festhalten müsse‚ bis die Stimme in ihrem Kopf schweige. Durch ihre Schilderungen bekam ich eine kleine Ahnung‚ was in diesen Menschen vorgehen muss.

Bei der Beerdigung des jungen Mannes war ich sehr nervös‚ ich war wie in einem Film. Es kamen viele junge Menschen zum Friedhof und in die Kirche. Sie standen am Anfang des blühenden Lebens! Und nun standen sie am Grab ihres Freundes‚ mussten Abschied nehmen. Das war unfassbar traurig und falsch!

Die Beerdigung ist ein wichtiger Teil‚ aber für die Hinterbliebenen fängt die schwierige Zeit dann erst an. Mich beschäftigt so ein Ereignis vielleicht ein paar Wochen‚ aber letztlich ist es nicht mein persönlicher Verlust oder mein persönliches Leid. Das schafft Distanz.

Ich hatte damals nicht viel Erfahrung‚ es war meine fünfte Beerdigung. Ich fühlte mich unbeholfen und war danach sehr erschöpft. Aber es ist auch so‚ dass die Menschen eine Erwartung an mich haben. In meinem Beruf habe ich eine Funktion; in diesem Fall musste ich die Dinge zusammenhalten und in diesem Moment Wegweiserin sein.