Sündenkinder - Ana Dee - E-Book
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Ana Dee

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Beschreibung

Nachdem in einem Waldstück nahe Ludvika zwei weibliche Teenager gefoltert und ermordet aufgefunden wurden, herrscht große Verunsicherung. Linda Sventon und ihr Kollege Jörgen Persson werden mit diesem Fall betreut, in dem nichts so ist, wie es scheint. Als ein weiteres Mädchen verschwindet und die Ermittlungen ins Stocken geraten, wird der Fallanalytiker Alex Berg aus Stockholm hinzugezogen. Er erstellt ein Täterprofil, mit dessen Hilfe Linda Sventon und ihr Team den Mörder aufhalten sollen. Doch die unbeantworteten Fragen häufen sich. Was hat es mit den Fällen von Tierquälerei auf sich? Welche Rolle spielt das ungleiche Brüderpaar? Und warum hüllen sich die Eltern der vermissten Kristin in Schweigen? Für Linda Sventon und Alex Berg beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2019

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SÜNDENKINDER

ANA DEE

INHALT

Anmerkungen

Protagonisten

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Nachwort

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

ANMERKUNGEN

In diesem Buch wird auf das Quälen von Tieren nicht näher eingegangen, es existieren auch keine expliziten Beschreibungen.

Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.

Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

PROTAGONISTEN

Linda Sventon – KommissarinLillemor und Elina – Töchter von Linda SventonJörgen Persson – Kollege von Linda SventonFallanalytiker – Alex BergKristin Johansson – vermisstes MädchenElva Johansson – Mutter von KristinPer Johansson – Vater von KristinYva Johansson – verstorbene Schwester von KristinBen Hansson – Vormund von Nils HanssonNils Hansson – jüngerer Bruder von Ben HanssonTilda Beck – erstes OpferKaroline Lindt – zweites OpferLivia Michelsen – drittes Opfer

1

Liv stand etwas abseits und beobachtete Alva, die ganz ungeniert mit Malte, ihrem Exfreund, flirtete. Sein Blick wanderte immer wieder zu ihr herüber und sie wusste, dass er dieses Spiel genoss. Im Prinzip störte es sie nicht, was er nach der Trennung so trieb, aber dass ausgerechnet Alva auf diesen Zug aufspringen musste, versetzte ihr einen Stich. Genau in diesem Augenblick beugte er sich zu Alva herunter und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen.

„Hey, nun guck doch nicht so beleidigt“, sagte Malin und stieß ihr sanft den Ellenbogen in die Seite. „Er ist jetzt dein Ex und kann machen, was er will.“

„Aha, du hältst mich also für eine eifersüchtige Zicke?“ Liv zog fragend die Augenbrauen zusammen.

„Ach was, jetzt komm mal wieder runter“, erhob Malin ihre Stimme, um die dröhnenden Bässe in der Diskothek zu übertönen.

„Du weißt doch ganz genau, was ich von ihm halte“, erwiderte Liv. „Mit jeder X-Beliebigen hätte er sich herumtreiben können, aber dass er sich ausgerechnet Alva herausgepickt hat …“

„Wo die Liebe hinfällt“, unterbrach Malin sie mit einem spöttischen Lächeln.

„Wisst ihr was?“ Livs Augen funkelten zornig. „Ihr könnt mich mal.“ Sie fischte einen Schein aus ihrer Gürteltasche und knallte ihn so hart auf die Tischplatte, dass die Cocktails überschwappten.

„Was soll das?“ Malin schüttelte verständnislos den Kopf.

„Ich werde jetzt gehen. Euch noch viel Vergnügen, bei was auch immer.“

Liv ließ ihre Freundin einfach stehen und schob sich durch die Menge in Richtung Ausgang.

„Wie willst du ohne Auto überhaupt nach Hause kommen?“, rief Malin ihr hinterher, doch Liv hob nur die Faust und streckte den Mittelfinger nach oben.

Draußen vor der Tür atmete sie tief durch und entfernte sich dann mit schnellen Schritten. Das Wummern der Bässe war kaum noch zu hören, als sie auf die Hauptstraße bog. Die Nachtluft war kühl und über Liv wölbte sich ein sternenklarer Himmel.

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie nach Hause kommen sollte. Zehn Kilometer zu Fuß waren schließlich kein Pappenstiel. Der eigentliche Plan war gewesen, dass Malins Vater die Mädchen gegen zwei Uhr abholen sollte, aber sie hatte sich aus Trotz dagegen entschieden.

Liv war gerade siebzehn geworden und hatte an diesem Abend mit ihren Freundinnen so richtig einen draufmachen wollen. Dass es in einem Fiasko enden würde, hätte sie im Traum nicht gedacht. Allein der Gedanke an Alva und Malte brachte ihr Blut zum Kochen. Zum Teufel mit ihnen.

Zornig stöckelte sie auf ihren hochhackigen Riemchensandaletten durch die Nacht. Nachdem sie das Ortsausgangsschild hinter sich gelassen hatte, wurde es still. Und dunkel. Keine Laternen, die ihr den Weg ausleuchteten, keine Menschenseele, die ihre Schreie hören würde.

Fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. Es war eine blödsinnige Idee gewesen, sich allein auf den Weg zu machen, und sie überlegte kurz, wieder umzukehren. Aber diesen Triumph wollte sie Alva und Malte nicht gönnen und beschleunigte stattdessen ihre Schritte. Nichts wie weg von hier.

Liv war noch keine Viertelstunde unterwegs, da hatte sie sich bereits die Fersen an den dünnen Riemchen wundgerieben. Seufzend streifte sie sich die Sandaletten von ihren Füßen. Der Asphalt hatte die Hitze des Tages gespeichert und fühlte sich noch warm unter ihren Sohlen an. Wenn man es recht besah, dann war es eine wunderschöne lauschige Sommernacht. Die Grillen zirpten und es wehte ein laues Lüftchen, das den Geruch von Heu mit sich trug.

Erst als sich Liv ein entgegenkommendes Fahrzeug näherte, wurde sie nervös. Sie könnte zur Not am Waldrand Schutz suchen, aber sie hoffte, dass der Wagen einfach vorüberfuhr.

Das Motorengeräusch wurde lauter und das Licht der Scheinwerfer blendete sie. Kurz darauf hielt das Fahrzeug tatsächlich neben ihr. Es war ein in die Jahre gekommener Geländewagen und Liv blieb wie angewurzelt stehen. Leise surrend fuhr die Seitenscheibe hinunter.

„Hej, so spät noch allein unterwegs?“, erklang die angenehme Stimme eines jungen Mannes.

„Äh … ja, mein Vater wollte mich abholen und ich laufe ihm ein Stück weit entgegen.“ Sie schaute demonstrativ auf ihre Uhr. „Er müsste jeden Moment hier sein.“

„Na, wenn das so ist …“, sagte er. „Ich hätte gewendet und dich nach Hause gefahren. Ist nicht ganz ungefährlich um diese Zeit.“

Der junge Mann beugte sich ein wenig nach vorn, sodass sie sein Profil besser erkennen konnte. Er war ausgesprochen attraktiv und erweckte nicht den Eindruck eines Serienkillers. Dennoch war Vorsicht geboten.

„Dann lass dich nicht wegfangen“, sagte er lächelnd und der Motor heulte auf.

„Warte!“, rief Liv hastig, die nicht allein zurückbleiben wollte. „Würdest du mich wirklich nach Hause fahren? Ich wohne in Ludvika.“

„Kein Problem, so weit ist es ja nicht. Komm schon, spring rein.“

Das Licht im Inneren des Fahrzeugs ging an. Er stieß die Beifahrertür auf und Liv umrundete den Wagen. Seufzend ließ sie sich auf den Sitz fallen. In einer Viertelstunde würde sie die Haustür aufschließen und konnte diesen schrecklichen Abend aus ihrem Gedächtnis streichen.

Der Geländewagen setzte sich mit einem Ruck in Bewegung und wendete. Liv musterte den jungen Mann verstohlen. Der erste Eindruck hatte nicht getäuscht, er war verdammt gut aussehend. Die Sonne hatte einzelne Strähnen seines dunkelblonden Haares aufgehellt und bronzefarbene Haut spannte sich über die sehnigen Arme. Ein verwegener Ausdruck lag auf seinem Gesicht, der ihr ausgesprochen gut gefiel. Er schien nicht so ein verweichlichtes Bürschchen wie Malte zu sein, der sich erst austoben musste, bevor sein Verstand einsetzte.

„Danke, dass du mich mitgenommen hast“, sagte Liv und kuschelte sich in das Polster des Beifahrersitzes. Der junge Mann strahlte eine gewisse Ruhe aus und sie war erleichtert, dass er sie so uneigennützig nach Hause bringen würde.

„Warum hast du nicht vor der Disco auf deinen Vater gewartet?“, fragte er.

„Ich hatte Streit mit meinen Freundinnen“, gestand sie kleinlaut.

„Aber das ist noch lange kein Grund, um allein durch die Nacht zu irren.“

„Ich war ziemlich durcheinander. Mein Ex hat meine beste Freundin geküsst und da sind anscheinend meine Sicherungen durchgebrannt.“ Sie lächelte scheu und errötete.

„Schwieriges Alter, stimmt’s?“ Er lachte, und es war mehr eine Feststellung als Frage. „Trotzdem wäre es sicherer gewesen, wenn du auf dein Taxi gewartet hättest.“

„Hinterher ist man immer klüger“, antwortete sie, „aber ich habe aus meinem Fehler gelernt.“

„Na, das will ich doch hoffen.“ Er musterte sie von der Seite und sein Blick war ernst.

Plötzlich lief eine Ricke mit ihren zwei Kitzen auf die Fahrbahn und der junge Mann legte eine Vollbremsung hin. Liv wurde unsanft nach vorn geschleudert, als das Fahrzeug abrupt zum Stehen kam.

„Mann, Mann, Mann, das war knapp gewesen“, murmelte er.

Die Augen der Tiere leuchteten unheimlich im Scheinwerferlicht und Liv fühlte sich mit einem Mal unwohl. Sie wollte nur noch nach Hause.

„Alles klar?“, fragte er.

„Ja, ja, ist nichts passiert.“

Das Wild wechselte stoisch die Straßenseite, so als wäre es sich der Gefahr nicht bewusst.

„Wir haben es gleich geschafft“, sagte der junge Mann und trat aufs Gaspedal.

Liv strich sich mit einer fahrigen Geste ihr langes Haar nach hinten. „Wie heißt du eigentlich?“, fragte sie leise.

„Namen sind doch nur Schall und Rauch“, sagte er. „Und du?“

„Der war gut“, lachte sie. „Ich bin Livia, aber alle nennen mich Liv.“

„Na dann … schön, dich kennenzulernen, Liv.“

Er warf ihr einen Seitenblick zu, der sie zum Schmelzen brachte, ihr wurde heiß und kalt zugleich. Verdammt, dieser Typ hatte Charisma und sie malte sich aus, wie er den Wagen an den Straßenrand fuhr, um sie leidenschaftlich zu küssen.

„Was hast du gesagt?“ Er sah sie fragend an.

Oh Gott, sie hatte diese Worte doch nicht etwa laut ausgesprochen?

„Nichts, ich habe mich nur geräuspert“, erwiderte sie einen Tick zu hastig. Sie war noch relativ unerfahren, was die Liebe betraf, und hatte das erste Mal noch vor sich. Aber dieser Kerl brachte Saiten in ihr zum Klingen, von denen sie bisher noch nichts geahnt hatte.

Genau in diesem Augenblick setzte er den Blinker und bog auf einen Waldweg ab, so als hätte er ihre sündigen Gedanken erraten. Trotzdem reagierte sie überrascht.

„Wo willst du hin?“

„Ich kenne da eine Abkürzung, dann bist du im Nullkommanichts zu Hause“, antwortete er.

„Okay …“

Trotzdem war ihr nicht wohl dabei, als sich der Wagen holpernd über den Waldweg fortbewegte, und ihre Finger krallten sich ängstlich in das Polster des Beifahrersitzes.

2

Linda Sventon schaute über den Rand ihres Bildschirms, als Jörgen Persson das gemeinsame Büro betrat.

„Einen wunderschönen guten Morgen, Linda. Na, wie hast du geschlafen?“

Er setzte sich gut gelaunt an seinen Schreibtisch und startete leise summend den Rechner.

„Kannst du bitte damit aufhören, so anstrengend gute Laune zu verbreiten?“

„Linda, du sollst nachts schlafen und nicht den aktuellen Fall analysieren.“

„Du hast gut reden. Auf diesen Profiler aus Stockholm“, sie betonte das Wort abschätzig, „kann ich getrost verzichten.“

„Du weißt doch, dass wir momentan feststecken und jede Hilfe von außen willkommen ist.“

„Das gilt vielleicht für dich. Aber ich mag es nicht, wenn mir jemand meinen Job erklären will.“ Sie lehnte sich zurück und taxierte ihn. „Wenn man frisch verliebt ist, hängt der Himmel noch voller Geigen. Warts nur ab, mein Lieber.“

„Sollte das eine Drohung, eine Warnung oder ein gut gemeinter Ratschlag sein?“

„Such dir etwas aus“, erwiderte sie knapp.

„Weißt du was? Ich besorge uns erst einmal einen anständigen Kaffee und dann gehen wir gemeinsam die Zeugenaussagen durch. Einverstanden?“

Sie nickte dankbar und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder der Akte, die vor ihr lag. Die Fotos vom Tatort waren grauenerregend und es tat ihr in der Seele weh, wie grausam diese hübschen Mädchen zugerichtet worden waren.

Tilda Beck war nach einem Kinobesuch mit Freunden spurlos verschwunden und erst Tage später hatte ein Spaziergänger ihre Leiche entdeckt. Ihr Rücken wies etliche Brandmale auf und drei Finger waren gebrochen. Bevor der Täter Tilda im Wald wie Abfall entsorgt hatte, war ihr gesamter Körper mit Bleichmittel behandelt worden, um verräterische Spuren zu beseitigen.

Nachdem eine weitere Vermisstenanzeige eingegangen war, es handelte sich um ein Mädchen in Tildas Alter, ahnte Linda nichts Gutes. Ein Jogger war auf Karoline Lindts sterbliche Überreste gestoßen und auch bei ihr bot sich ein ähnlich furchtbares Bild. Dem Täter bereitete es sichtlich Vergnügen, den jungen Frauen, die auf dem Weg ins Erwachsenenalter gewesen waren, auf entsetzliche Weise Schmerzen zuzufügen. Linda dachte mit Unbehagen daran, wie sie den Eltern die schlechten Nachrichten hatten überbringen müssen.

Sie löste sich vom Anblick der Fotos und schob sie in die Akte zurück. Genau in diesem Moment öffnete Jörgen die Tür und betrat mit zwei dampfenden Tassen das Büro.

„Bitte schön, die Dame“, sagte er lächelnd, als er ihren Kaffee auf dem Schreibtisch abstellte.

„Danke, dass du frischen gekocht hast“, antwortete sie. Dieses lauwarme Gesöff aus dem Automaten trank sie ungern.

Jörgen deutete auf die Akte. „Dieser Fall geht dir besonders nahe.“

„Was erwartest du von einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Töchtern? Ich lebe ständig am Limit, wenn sich auch nur eine von ihnen fünf Minuten verspätet.“

Linda und ihr Mann Arwed hatten sich als Kollegen kennen und lieben gelernt. Trotz der berufsbedingten Belastung verlief ihre Ehe harmonisch, bis zu jenem schrecklichen Tag, bei dem Arwed durch einen Schusswechsel ums Leben gekommen war. Es hatte eine undichte Stelle gegeben und die mafiösen Strukturen einer Hehlerbande waren ihm schließlich zum Verhängnis geworden.

Verstohlen wischte sich Linda eine Träne aus dem Augenwinkel. Mit Anfang vierzig erwartete sie nicht mehr allzu viel vom Leben und hatte den Fokus voll und ganz auf ihre Töchter gerichtet.

„Ich kann erahnen, wie schwer das für dich sein muss“, sagte Jörgen mitfühlend.

Er war nur fünf Jahre jünger, und als er zu ihr ins Team wechselte, hatten sie sich auf Anhieb verstanden. Er brachte die nötige Erfahrung mit und hatte sich der Liebe wegen aus dem Hexenkessel Malmö nach Ludvika versetzen lassen.

Das Klingeln des Telefons riss Linda aus ihren Gedanken und sie nahm den Hörer ab. Sie lauschte der Stimme am anderen Ende der Leitung und ihre Miene verfinsterte sich.

„Schlechte Nachrichten?“, flüsterte Jörgen und sie nickte.

Nur eine Minute später legte sie auf.

„Was gibt’s?“, fragte er.

„Es ist wieder ein Mädchen verschwunden, Livia Michelsen.“

„Seit wann wird sie vermisst?“

„Die Eltern haben bis zum Morgengrauen vergeblich gewartet. Livia Michelsen war mit ihren beiden Freundinnen in einer Diskothek.“

„Was ist passiert?“

„Ich weiß es nicht so genau. Es gab wohl einen Streit zwischen den Freundinnen und dann ist Livia Michelsen allein losgezogen“, antwortete sie.

„Es ist doch immer wieder das Gleiche“, brummte Jörgen. „Warum müssen sich diese jungen Mädchen so fahrlässig in Gefahr bringen?“

„Dafür sind wohl die Hormone verantwortlich, die in diesem Alter Achterbahn fahren“, sagte Linda und dachte dabei an ihre Älteste. Fünfzehn, Zahnspange, Sommersprossen und Weltmeister im Widersprechen. Allein das Zimmer der Heranwachsenden war der reinste Horror. Linda fühlte sich jedes Mal wie bei Ikea, wenn sie das Zimmer mit allerlei Kleinkram wieder verließ.

„Knöpfen wir uns zuerst die Freundinnen vor?“, fragte Jörgen.

„Das wird wohl das Beste sein, solange die Erinnerungen an den gestrigen Abend noch frisch sind.“

Linda leerte die Tasse, schnappte sich ihre Jacke und warf Jörgen den Autoschlüssel zu.

„Du fährst“, sagte sie und stürmte aus dem Büro.

Alva saß wie ein Häufchen Elend zwischen ihren Eltern, die offensichtlich die Beschützerrolle eingenommen hatten.

„Jetzt erzählen Sie uns doch bitte, was an diesem Abend schiefgelaufen ist.“

Linda setzte ein verständnisvolles Lächeln auf, während Alva bis in die Haarspitzen errötete.

„Ähm, ja, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“

Hilfesuchend pendelte Alvas Blick zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter hin und her.

„Es ist enorm wichtig, dass Sie sich an jedes noch so kleine Detail erinnern. Ihre beste Freundin ist spurlos verschwunden, und dafür muss es einen triftigen Grund geben.“

Alva schluckte und knetete nervös ihre Hände.

„Warum ist Livia ohne Sie aufgebrochen?“

Alva senkte ihren Blick, bevor sie mit leiser Stimme zu sprechen begann.

„Liv hatte Streit mit Malin.“

„Und weiter …“, drängte Linda sanft.

Es war Alva unangenehm, die Erinnerung an diesen Abend preiszugeben.

„Ich habe mich die meiste Zeit mit Livs Exfreund Malte unterhalten.“

„War das der Grund für das Verschwinden Ihrer Freundin?“, fragte Jörgen.

„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.“ Alva rang nach Worten. „Er hat mich geküsst.“

Alvas Mutter stieß geräuschvoll die Luft aus und warf ihr einen erstaunten Blick zu. Dieses Verhalten hatte sie ihrer Tochter anscheinend nicht zugetraut.

„Liv ist danach wütend weggelaufen“, fuhr Alva fort. „Malin hat noch versucht, sie aufzuhalten. Die Diskothek war gut besucht und als Malin den Ausgang endlich erreicht hatte, war Liv schon weg.“

„Welchen Weg könnte Ihre Freundin genommen haben?“, fragte Linda.

Alva zuckte ratlos mit den Schultern. „Ein Kumpel von Malte, der zum Rauchen nach draußen gegangen war, hat sie die Hauptstraße entlanglaufen sehen.“

„Wer war dieser Kumpel?“

„Da müssen Sie Malte fragen.“

„Was ist dann passiert? Haben Sie nach Livia gesucht?“

Schweigen.

„Wir haben weitergefeiert“, gestand Alva zögerlich.

Ihre Mutter schüttelte verständnislos mit dem Kopf. „Was habt ihr euch nur dabei gedacht? Vor genau solchen Szenarien haben wir euch immer gewarnt. Wie sollen wir Livias Familie je wieder unter die Augen treten?“ Sie stand auf und ging zum Fenster, wo sie mit verschränkten Armen in die Ferne starrte.

„Mama, es tut mir wirklich leid“, sagte Alva mit leiser Stimme.

„Dafür ist es jetzt zu spät. Diese Ungewissheit muss für Livias Mutter die Hölle sein.“

„Ist Ihnen vielleicht eine männliche Person aufgefallen, die Interesse an Ihrer Freundin gehabt haben könnte?“, fragte Linda.

„Nicht dass ich wüsste. Entweder waren Liv und Malin zusammen auf der Tanzfläche oder sie haben am Tisch gestanden und ihre Cocktails getrunken.“

„Ist das alles, was Sie uns über diesen Abend sagen können?“

Alva nickte stumm.

„Gut, das war es dann auch schon.“

Linda und Jörgen erhoben und verabschiedeten sich, danach brachte Alvas Mutter sie zur Tür.

„Das mit Livias Freund habe ich nicht gewusst“, sagte sie entschuldigend.

„Kinder in diesem Alter gehen ihre eigenen Wege“, antwortete Linda. „Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.“

„Ja, es ist nicht so leicht“, seufzte Alvas Mutter.

Linda wandte sich ab und lief mit Jörgen zum Wagen. Sie war schon gespannt darauf, was Malin zu diesem Abend zu sagen hatte.

Die Fahrt währte nur kurz und Linda und Jörgen hielten vor einem imposanten Neubau. Ein gepflegter Vorgarten und ein akkurat gepflasterter Weg führten zu einer doppelflügeligen Eingangstür.

Malins Mutter öffnete ihnen und bat sie ins Haus. Sie war perfekt gestylt und schien sehr viel Wert auf ihr Äußeres zu legen. Ihr Ehemann saß im lichtdurchfluteten Wohnzimmer und trug Anzug und Krawatte. Nervös wippte er mit dem Fuß und Linda ahnte, dass er zurück in seine Firma wollte.

„Also gut, bringen wir es hinter uns“, sagte Malins Mutter. „Möchten Sie vielleicht einen Kaffee oder einen Tee?“

„Nein, danke“, lehnte Linda das Angebot höflich ab und widmete ihre Aufmerksamkeit Malin, die ihnen ganz entspannt gegenübersaß.

„Wir haben soeben Ihre Freundin Alva befragt“, eröffnete Jörgen das Gespräch.

„Ich weiß“, antwortete Malin mit fester Stimme.

Sie muss in diesem Dreiergestirn den Ton angegeben haben, dachte Linda, als sie das selbstbewusste Mädchen unauffällig musterte.

„Würden Sie uns den gestrigen Abend noch einmal aus Ihrer Sicht schildern?“, fragte sie.

„Liv war an diesem Abend nicht sonderlich gut drauf“, erzählte Malin.

„Wegen Alva und ihrem Exfreund?“

„Ach, das wissen Sie schon?“

„Ja, Alva hat uns davon in Kenntnis gesetzt“, erwiderte Linda.

„Na ja, sie hat sich tierisch aufgeregt, weil Alva mit Malte herumgemacht hat“, erklärte Malin nüchtern. „Dabei war sie doch diejenige gewesen, die diese Beziehung beendet hat.“

Malin schien sehr abgeklärt zu sein und die Reaktion auf das Verschwinden der besten Freundin nicht unbedingt angemessen. Aber Linda war nicht hier, um zu richten.

„Alva hat von einem Kumpel gesprochen, der Livia beim Verlassen der Diskothek gesehen hat. Kennen Sie diesen Mann?“

„Nein, nicht persönlich. Er war immer mit Malte unterwegs.“

„Können Sie uns die Adresse von Malte geben?“

„Tut mir leid, ich weiß nicht, wo er wohnt.“

„Welchen Weg hat Livia genommen?“, fragte Linda.

„Sie ist die Hauptstraße entlanggegangen. Aber was danach passiert sein könnte, weiß ich nicht.“

„Wäre es möglich, dass sich Livia aus verletztem Stolz verkrochen hat und deshalb nicht nach Hause gekommen ist?“, hakte Jörgen nach.

„Das glaube ich nicht. Liv ist nicht abgebrüht genug, um ohne ein Wort zu verschwinden und alle in Aufruhr zu versetzen“, erklärte Malin nüchtern.

„Und warum haben Sie nicht nach ihr gesucht?“ Linda war von Malins Verhalten überrascht. Im negativen Sinne.

„Wir wollten Liv auf der Rückfahrt auflesen, aber sie stand nirgends am Straßenrand. Wir haben vermutet, dass sie sich vielleicht ein Taxi genommen hat.“

„Sie haben es sich ganz schön leicht gemacht“, sagte Linda und ein leiser Vorwurf schwang in ihrer Stimme mit.

„Was hätten Alva und ich denn tun sollen? Es war ihre Entscheidung, wir haben sie nicht dazu gezwungen.“

„Das erklären Sie mal Livias Mutter“, merkte Jörgen an.

„Gut, war es das jetzt?“

Malins Vater war aufgestanden und man sah ihm deutlich an, dass ihm die Richtung missfiel, in die das Gespräch driftete.

„Ich denke schon“, antwortete Linda. „Es könnte jedoch sein, dass wir uns bei weiteren Fragen wieder an Ihre Tochter wenden müssen.“

„Kein Problem, aber dann nur in Anwesenheit unseres Anwalts.“

„Selbstverständlich“, erwiderte Linda lächelnd, obwohl sie sich über sein arrogantes Auftreten ärgerte. Sie erhob sich und schritt zur Tür. „Danke, wir finden schon allein hinaus.“

Jörgen folgte ihr wortlos nach draußen.

„Was für eine schrecklich nette Familie“, stöhnte Linda, als sie sich auf den Beifahrersitz fallen ließ.

„Ja, die meinen, mit Geld alles kaufen zu können. Ich fand Malin schon sehr …“, er suchte nach dem passenden Wort.

„Speziell?“, half Linda ihm auf die Sprünge.

„Genau“, sagte er lachend. „Und jetzt bin ich wirklich gespannt, wen uns der Boss aus Stockholm vor die Nase setzt.“

„Oh je, erinnere mich bloß nicht daran. Hoffentlich ist es nicht so ein notorischer Besserwisser, der uns das Leben zur Hölle macht.“

„Linda, nun warte doch erst einmal ab. Solange wir ihn nicht persönlich kennengelernt haben, können wir uns kein Urteil erlauben.“

„Ich habe ihn gegoogelt, seine Pressefotos sprechen Bände. Er ist mir nicht sympathisch, und damit Ende der Diskussion.“

„Ganz wie du meinst“, antwortete Jörgen und richtete seinen Fokus wieder konzentriert auf die Straße.

3

Alex Berg steuerte seinen Wagen in Richtung Ludvika. Die ländliche Region versprühte einen idyllischen Charme mit viel Wald und zahlreichen Seen, dennoch war auch hier das Verbrechen zu Hause. Nachdem ein drittes Mädchen spurlos verschwunden war, hatte man ihn hinzugezogen, denn die Zeit drängte. Mit seinen dreiundvierzig Jahren verfügte er über genügend Berufserfahrung und hoffte, mit seinem Wissen schnell zur Lösung des Falles beitragen zu können.

Inzwischen hatte er sein Ziel erreicht und das Navigationsgerät lotste ihn durch die Straßen der Innenstadt, in denen es beschaulicher zuging als im fernen Stockholm. Aber dieser Ortswechsel kam ihm nach der Trennung von Sylvia gerade recht. Dieses rothaarige Biest hatte ihn ganz schön zum Narren gehalten, und das wurmte ihn noch immer.

Er stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz der Polizeibehörde ab und stieg die Stufen zum Eingang hinauf. Am Empfang meldete er sich an und wurde gebeten, sich einige Minuten zu gedulden.

„Hallo. Schön, dass Sie da sind“, sagte eine Stimme hinter ihm und er drehte sich um. Lächelnd streckte die Frau ihm ihre Hand entgegen und er schlug ein. „Ich bin Linda Sventon, die leitende Ermittlerin in diesem Fall.“

„Angenehm, Alex Berg.“

Er musterte sie prüfend und bemerkte sofort, dass sie sich in seiner Gegenwart unbehaglich fühlte.

„Bitte folgen Sie mir, ich zeige Ihnen Ihr zukünftiges Büro.“

Mit schnellen Schritten eilte sie voraus.

„Ich hatte nicht erwartet, dass Sie mir ein eigenes Büro zur Verfügung stellen“, sagte er.

„Nun ja, das war nicht meine Idee. Zwei Kollegen sind für den Zeitraum Ihrer Anwesenheit in den Keller gezogen.“ Sie versuchte gar nicht erst, ihren Unmut darüber zu verbergen.

„Dann sollten wir schnellstens den Täter zur Strecke bringen.“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen.

„Genau das ist der Plan“, erwiderte sie selbstbewusst. „So, da wären wir.“ Sie stieß die Tür auf und deutete auf sein neues Reich. „In zehn Minuten haben wir Teambesprechung im Konferenzraum. Dann bringe ich Sie auf den neuesten Stand.“

„Sehr gut. Und wo muss ich hin?“

„Der Raum befindet sich am Ende des Flures, letzte Tür links“, antwortete sie.

„Vielen Dank.“

Geräuschvoll fiel die Tür ins Schloss. Die Dame hat ordentlich Pfeffer unterm Hintern, dachte er amüsiert.

Er hängte sein Jackett an die Garderobe und öffnete das Fenster, um die warme Sommerluft in das staubige Innere zu lassen. Das Büro hatte die Ausmaße einer Umkleidekabine und er bedauerte die Kollegen, die sich nach seinem Aufenthalt den Raum wieder teilen müssten.

Da es sich nicht mehr lohnte, den Rechner einzuschalten, ging er die Nachrichten auf seinem Smartphone durch. Die Kollegen in Stockholm schienen ihn nicht zu vermissen, was man von seinen Studenten nicht gerade behaupten konnte. Die waren auf Zack und wussten genau, warum Berg die Vorlesungen verschoben hatte. Er arbeitete auch als Dozent an der Uni und gab Seminare in Kriminologie.

In weniger als zwei Minuten würde die Teambesprechung beginnen. Er schnappte sich seine Unterlagen und verließ das Büro. Der Flur war wie leer gefegt, die Kollegen hatten sich bereits im Konferenzraum eingefunden. Als er eintrat, verstummte das leise Stimmengemurmel.

„Hallo“, grüßte er kurz und setzte sich an einen der vorderen Tische.

„Da wir jetzt vollzählig sind, können wir mit der Besprechung beginnen. Alex Berg“, sie deutete in seine Richtung, „ist Fallanalytiker aus Stockholm und wird uns nach Kräften unterstützen. Ich fasse unsere bisherigen Ermittlungsergebnisse noch einmal kurz zusammen, bevor es mit den wichtigsten Details zum Fall weitergeht.“

Sie trank einen Schluck aus dem Wasserglas, das auf dem Podium stand und Alex bemerkte ihre Nervosität. Seine Anwesenheit schien die sonst so toughe Ermittlerin aus dem Konzept zu bringen. Er beobachtete Linda genau, während sie ihm den Stand der bisherigen Ermittlungen näherbrachte. Sie war forsch, energiegeladen und ausgesprochen attraktiv.

„… wir haben festgestellt, dass es dem Täter Freude bereitet, die jungen Frauen zu quälen. Das Maß der Verletzungen hat sich bedauerlicherweise bei dem letzten Leichenfund gesteigert“, beendete sie ihren Vortrag. „Herr Berg, vielleicht möchten Sie sich jetzt zu diesem Fall äußern.“

Er erhob sich und schaute in die Runde.

„Kriminalhauptkommissarin Sventon hat Ihnen bereits alles zu meiner Person gesagt, weshalb ich gleich auf den Täter zu sprechen komme. Die Art und Weise, wie er vorgeht, ist sehr ausgeklügelt und zeichnet sich durch stark psychopathische Züge aus. Er liebt und perfektioniert es, sich auf die Lauer zu legen und zu jagen. Obwohl ich bei Livia Michelsen schon den Eindruck habe, dass es sich hier um eine reine Zufallsbekanntschaft handelte, die ihm sehr gelegen kam. Aber das ist eine reine Hypothese, solange wir nicht wissen, was genau mit ihr passiert ist.“

„Was können Sie uns über das Alter und die Persönlichkeit des Täters sagen?“, rief ein junger Polizist ungeduldig dazwischen und fing sich sofort einen mahnenden Blick von Linda Sventon ein.

„Immer schön der Reihe nach“, lächelte Berg nachsichtig. „An der deutlichen Zunahme der zugefügten Verletzungen können wir messen, dass sich der Täter in eine Art Euphorie hineinsteigert. Das Rad seiner Triumphe dreht sich schneller und schneller und er kann sich diesem Strudel kaum noch entziehen. Die Abstände, in denen er tötet, werden sich rapide verkürzen.“

Berg legte eine künstliche Pause ein, um das Gesagte sacken zu lassen. Dann fuhr er fort.

„Wir haben es hier mit einem Täter zu tun, dessen Persönlichkeitsstruktur noch nicht vollständig ausgereift sein dürfte. Sein Alter liegt deshalb schätzungsweise zwischen zwanzig und dreißig Jahren.“

„Wie kommen Sie darauf, dass er noch so jung ist?“, meldete sich eine junge Polizistin zu Wort, die ihm sehr ehrgeizig erschien.

„Karoline Lindt ist ganz unbefangen zu ihm in den Wagen gestiegen, Sie kennen die Zeugenaussagen ja bereits. Jede junge Frau würde bei einem älteren Mann zögern.“

„Von diesem Standpunkt aus habe ich das noch gar nicht betrachtet“, stimmte sie ihm zu.

„Sehen Sie.“ Er nickte ihr zu. „Der Täter hat einen hohen Intelligenzquotienten und überlässt nichts dem Zufall, was man auch an dem eingesetzten Bleichmittel erkennen kann. Ich gehe davon aus, dass auch Livia Michelsen zu seinen Opfern gehört. Wahrscheinlich fährt er nachts die Landstraßen entlang, immer auf der Suche nach jungen Frauen, die in sein Beuteschema passen.“

„Waren das alle Gründe?“, meldete sich die junge Polizistin erneut zu Wort.

„Ich habe die Obduktionsberichte und die Fotos vom Fundort genau studiert. Bei den Verletzungen der Opfer existiert noch kein festes Muster, der Täter ist anfangs ziemlich wahllos vorgegangen. Man hat das Gefühl, dass er austestet, was ihn am meisten stimuliert. Die Qualen der Opfer müssen grausam gewesen sein.“

„Warum hat er die Opfer nicht vergewaltigt?“, richtete sie auch schon die nächste Frage an ihn.

„Es geht ihm nicht um die sexuelle Orientierung, sondern darum, seine Macht zu demonstrieren. Er will besitzen und nicht binden, körperliche Nähe lässt er selten zu. Den Rachegedanken möchte ich an dieser Stelle nicht ausschließen.“

„Was können Sie zu seiner Vergangenheit sagen?“, warf Linda Sventon ein.

„Ich vermute, dass er wohlbehütet aufgewachsen ist und es sehr gut verstand, seine Mitmenschen zu manipulieren. Auch hier kommt mir wieder das klassische Bild eines Tierquälers in den Sinn, der erprobt und übt, bevor er den nächsten Schritt wagt.“

„Wir suchen also nach einem jungen, äußerst intelligenten Mann, der aus geordneten Familienverhältnissen stammt.“

„Ich hätte es nicht besser formulieren können“, antwortete er.

„Das bedeutet für uns, dass wir im Anschluss alle Anzeigen wegen Tierquälerei durchgehen müssen, die in den letzten Jahren erstattet wurden.“

„Genauso wäre ich auch vorgegangen.“

Seine Antwort war eigentlich als Lob gedacht, aber Linda Sventon warf ihm einen skeptischen Blick zu. Sie fühlte sich von ihm in die Schranken verwiesen, obwohl sie sich eigenhändig in diese Position manövriert hatte. Vielleicht änderte sich ihre Meinung mit der Zeit.

„Gibt es noch Unklarheiten?“ Fragend schaute Alex in die Gesichter. „Gut, dann würde ich vorschlagen, dass wir uns jetzt den Fällen von Tierquälerei widmen.“

4

Kristin lag auf dem Bett und hatte die Bluetooth-Box auf volle Lautstärke gestellt. Die harten Bässe hallten durchs Haus und nur Sekunden später wurde auch schon die Zimmertür aufgerissen.

„Kristin, ich kann bei diesem Lärm unmöglich arbeiten. Das Exposé muss für die Kunden zusammengestellt werden.“

„Ja und?“, erwiderte Kristin trotzig.

„Das Haus zahlt sich nicht von allein ab, wie du sicher weißt“, antwortete Elva, ihre Mutter.

„Dann ziehen wir eben in eine Mietwohnung“, konterte Kristin.

„Bei dem Krach, den du täglich veranstaltest?“ Elva holte tief Luft. „Die Leute würden uns hochkant wieder rausschmeißen. Du bist unhöflich, grüßt die Nachbarn nicht und machst nur, wonach dir der Sinn steht.“

„Ja, schon klar“, entgegnete Kristin gereizt.

„Dreh endlich die Musik leiser, oder ich werfe das Ding zum Fenster raus.“ Zornig deutete Elva auf die Box.

Maulend stülpte sich Kristin die Kopfhörer über. „Zufrieden?“

Elva seufzte und die Tür flog mit einem Knall wieder ins Schloss.

So ging das Tag für Tag und Kristin sehnte ihre Volljährigkeit herbei, um endlich ausziehen zu können. Seit dem Tod ihrer Schwester war alles noch schlimmer geworden. Yva hatte sich überschätzt und war beim Baden im See zu weit hinausgeschwommen. Trotz aller Bemühungen hatten selbst die geübten Taucher ihren Leichnam nicht bergen können.

Yva war der Liebling ihrer Eltern gewesen – intelligent, schlank, hochgewachsen und wortgewandt. In der Schule brillierte sie mit guten Noten, war Klassenbeste und hatte eine vielversprechende Zukunft vor sich.

Tja, Pech gehabt, dachte Kristin verächtlich.

Sie war das genaue Gegenteil ihrer Schwester. Sie hatte das rote Haar ihres Großvaters geerbt und ihr Gesicht war mit unzähligen Sommersprossen bedeckt. Seit sie denken konnte, kämpfte sie vergebens gegen die überzähligen Pfunde an und von der Quälerei in der Schule wollte sie gar nicht erst sprechen. Nur mit Ach und Krach war sie in die nächste Stufe versetzt worden.

Natürlich wurde sie immer wieder wegen ihres Aussehens gehänselt, das hatte eine tiefe Kraterlandschaft auf ihrer Seele hinterlassen. In ihrem Jugendzimmer hortete sie deshalb einen Geheimvorrat an Süßigkeiten, um diese Leere zu füllen.

Wenn der Druck an manchen Tagen unerträglich wurde, stopfte sie bis zum Erbrechen die Süßigkeiten in sich hinein. Außerdem hatte sie sogar schon einmal versucht, sich zu ritzen. Doch als das Blut aus ihrer weißen Haut hervorgequollen war, hatte sie erschrocken innegehalten. Nein, dieses Opfer wollte sie nicht bringen und der einst so hässliche Schnitt war glücklicherweise narbenlos verheilt.

Kristin drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Nach dem Tod ihrer Schwester hatte sie gehofft, dass sich die gesamte Aufmerksamkeit ihrer Eltern nun auf sie übertragen würde. Doch weit gefehlt. Stattdessen hatten sie sich in ihrer Trauer von Kristin abgewandt und sie noch mehr vernachlässigt.

Tränen schimmerten in Kristins Augen und sie wischte sie schniefend mit dem Handrücken fort. Noch zwei lange Jahre würde sie bis zu ihrer Volljährigkeit warten müssen, und es kam ihr wie eine Ewigkeit vor.

Einmal hatte ihre Mutter sogar erwähnt, dass sie ein sogenannter Unfall gewesen war, ohne auch nur einmal darüber nachzudenken, was diese Worte in ihr auslösen könnten. Es war die Hölle, unerwünscht zu sein – zu Hause und in der Schule.

Durch Kristins zurückhaltende und teils abweisende Art waren die meisten Freundschaften zerbrochen und sie blieb im Grunde ihres Herzens auch lieber für sich. Die Süßigkeiten hinter dem Schrank waren immer für sie da, spendeten Trost und halfen ihr über den schlimmsten Kummer hinweg. Dass sie davon nicht dünner wurde, nahm sie billigend in Kauf.

Manchmal stellte sie sich sogar vor, ihrem Leben ein Ende zu setzen, um endlich bei Yva zu sein. Entgegen allen Vermutungen hatte sie sich mit ihrer Schwester immer recht gut verstanden. Yva hatte ihr Schminktipps gegeben, sie bei der Kleiderwahl beraten und bei Problemen zugehört.

Es klopfte an die Zimmertür und Per, ihr Vater, steckte den Kopf zur Tür hinein.

„Hast du nichts Besseres zu tun, als den ganzen Nachmittag auf dem Bett zu liegen und Musik zu hören? Wie wäre es mit Lernen?“ Er musterte sie verärgert. „Übrigens, das Abendessen ist fertig. Es wäre nett gewesen, wenn du wenigstens den Tisch gedeckt hättest“, brummte er missgelaunt und schloss die Tür.

Kristin rollte genervt mit den Augen. Morgens, mittags, abends – immer dieselben Vorwürfe.

Wie wäre es zur Abwechslung damit: „Hallo Kristin, schön dich zu sehen. War dein Tag auch anstrengend wie meiner? Ich bin wirklich froh, wieder zu Hause zu sein.“

Seufzend schwang sie ihre Beine aus dem Bett und schlurfte in die Küche, wo sie sich an den Tisch setzte.

„Kristin“, schlug Elva den üblich vorwurfsvollen Ton an. „Hättest du dir nicht wenigstens die Hände waschen und die Haare kämmen können?“

„Ich geh ja schon“, murrte Kristin und verschwand im Badezimmer.

Beim Händewaschen fiel ihr Blick in den Spiegel. Das rote Haar stand wirr vom Kopf und der Blick aus den smaragdgrünen Augen wirkte gequält. Trotzdem fiel ihr auf, dass sie gar nicht so unansehnlich war, wie sie bisher immer geglaubt hatte. Auch Yva hatte ihr das schon einige Male bestätigt.

Aber wozu das Ganze, fragte sie sich, wenn man nicht geliebt wurde? Wenn der Job der Eltern mehr Zeit in Anspruch nahm als das Familienleben?

Jungs interessierten Kristin nicht die Bohne, außerdem waren die in diesem Alter ziemlich kindisch. Sie war eine Träumerin, die am liebsten den ganzen Tag im Bett verbrachte, um andere Welten zu erschaffen und der Realität zu entfliehen.

Frustriert trocknete sie die Hände am Handtuch ab und kehrte in die Küche zurück. Elva hatte bereits die Teller gefüllt und die schwedische Sommersuppe mit Lachs, Kartoffeln und frischem Lauch verbreitete ihr köstliches Aroma.

Kristin aß mit Appetit und beim dritten Nachschlag bemerkte sie den missbilligenden Blick ihrer Mutter. Wütend knallte sie den Löffel auf den Tisch.

„Was?“, polterte Kristin. „Bin ich dir zu fett?“

„Kristin!“, ermahnte Per. „Kannst du dich nicht einmal zusammenreißen?“

„Meine Güte, so viele Kalorien wird diese dämliche Suppe ja wohl nicht haben“, schimpfte sie und sprang auf. „Falls mich jemand sucht, ich bin in meinem Zimmer.“

Zornig stapfte sie die Stufen hinauf und zog die Tür geräuschvoll hinter sich zu. Dann kniete sie sich neben den Schrank und zog die raschelnden Tüten hervor.

Nachos, Waffeln, Lakritze, Weingummis und vier Tafeln Nuss-Nougat-Schokolade. Kristin lief schon jetzt das Wasser im Munde zusammen. Zuerst waren die Nachos dran, die sie mit einer Flasche süßer Limonade hinunterspülte, dann folgte eine ganze Tafel Schokolade. Die bunte Tüte mit dem Waffelgebäck lachte Kristin förmlich an und verzückt riss sie diese auf, um sie in sich hineinzustopfen. Oh Mann, das tat so gut. Trotz des Völlegefühls konnte sie auch den Weingummis nicht widerstehen.

Nur wenige Minuten später hing sie würgend über der Kloschüssel und heulte wie ein Schlosshund dabei. Anschließend spülte sie ihren Mund und putzte sich die Zähne. Ihr Gesicht war verquollen und gerötet.

„Scheiße“, murmelte sie und warf sich aufs Bett.

Das eben noch so wohlig warme Gefühl war verschwunden und dem kalten Elend gewichen. Sie hasste, was sie tat, aber sie kam einfach nicht dagegen an. Manchmal wünschte sie sich sogar, dass ihre Mutter sie dabei erwischte, um endlich zu begreifen, was ihr Desinteresse angerichtet hatte. Dass sie sich in diesem Moment der Schwäche zu Kristin herunterbeugte, ihr sanft die Haare aus der Stirn strich und ihr tröstend zuflüsterte, dass alles wieder gut werden würde.

Doch stattdessen hockte Elva in ihrem Büro, um das ach so wahnsinnig wichtige Exposé zu vervollständigen.

Was für ein beschissenes Leben, dachte Kristin zutiefst verletzt und kämpfte erneut gegen die Tränen an.

5

Jetzt komm schon, Nils, steig endlich ein.“ Ben hielt seinem jüngeren Bruder ungeduldig die Wagentür auf.

„Ich mach ja schon“, brummte Nils und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.

„Ben, hätten Sie vielleicht eine Minute?“

Inga Larsen, Nils’ Betreuerin, kam mit wehenden Haaren angelaufen. Ausgerechnet jetzt, dachte Ben genervt.

„Was gibt es denn so Dringendes?“

„Könnten wir das vielleicht drinnen besprechen?“

Sie musterte ihn verstohlen und strich sich verunsichert eine blonde Strähne hinter das Ohr. Ben war sich seiner Wirkung auf Frauen durchaus bewusst, doch Inga Larsen konnte ihm gestohlen bleiben.

„Nils, warte bitte einen Moment auf mich, bin gleich zurück.“ Er knallte die Autotür zu, schob lässig seine Hände in die Hosentaschen und folgte ihr.

„Hier entlang.“ Inga Larsen zeigte auf den Pausenraum und ging voraus. „Bitte setzen Sie sich doch“, forderte sie ihn auf.

„Ich stehe lieber“, antwortete Ben selbstbewusst.

„Ihre Entscheidung“, lautete Ingas knappe Antwort.

„Worum geht es überhaupt?“ Ben schaute demonstrativ auf seine Armbanduhr.

„Nun ja, wie soll ich sagen …“

Ben atmete geräuschvoll aus und wartete darauf, dass Inga Larsen endlich auf den Punkt kam.

„Nils hat sich in letzter Zeit stark verändert. Früher war er stets mit Freude bei der Arbeit, aber das hat deutlich nachgelassen.“

„Aha.“

Gehäuse für Taschenlampen zusammenzuschrauben, war auch keine irrsinnige Herausforderung. Ihm wäre da schon längst der Kragen geplatzt.

„Aber am meisten Sorge bereitet uns sein aggressives Verhalten.“

„Das kann nicht sein, Nils ist sanft wie ein Lamm“, verteidigte Ben seinen Bruder.

„Da muss ich Ihnen leider widersprechen. Er hat vor zwei Tagen einen Kollegen an der Schläfe verletzt.“

„Ich glaube Ihnen kein einziges Wort.“ Ben ballte die Hände zu Fäusten.

„Wäre es nicht besser, wenn Sie Nils in einer Einrichtung für betreutes Wohnen unterbringen würden? Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass er dort draußen im Wald gut aufgehoben ist. Sie wohnen immer noch im Haus Ihres Vaters und das kann sich durchaus negativ auf die Psyche Ihres Bruders auswirken.“

„Suchen Sie wieder das Haar in der Suppe? Sie können mich gern zum Wagen begleiten und Nils persönlich fragen, was er davon hält.“

„Bitte Ben, reagieren Sie nicht über“, versuchte sie, ihn zu besänftigen.

„Ach? Ich reagiere über?“

Ben drehte sich um und lief nach draußen. Inga Larsen eilte ihm hinterher. Am Wagen angekommen, riss er schwungvoll die Beifahrertür auf.

„Nils, würdest du ihr bitte erklären“, er deutete mit dem Daumen in Inga Larsens Richtung, „wo du in Zukunft wohnen möchtest?“

„Ben, jetzt beruhigen Sie sich.“ Inga Larsen gab sich alle Mühe, um die Wogen zu glätten.

„Aber ich wohne doch bei dir.“ Nils war sichtlich verwirrt.

„Das habe ich auch gedacht. Aber Frau Larsen ist mit unserer Wohnsituation nicht zufrieden.“

Nils zögerte. „Ich bin gern bei dir“, sagte er schließlich. „Es ist mein Zuhause.“

„So, jetzt haben Sie es gehört.“ Ben warf ihr einen bitterbösen Blick zu. „War’s das jetzt? Können wir fahren?“

Inga Larsen nickte stumm.

Er umrundete den Wagen, stieg ein und knallte die Fahrertür zu. „Bist du angeschnallt?“, fragte er.

„Ja, schon die ganze Zeit“, antwortete Nils.

„Okay, dann halt dich fest, wir fahren.“

Ben trat aufs Gaspedal, bis der Motor heulte, und fuhr mit durchdrehenden Reifen davon. Voller Genugtuung schaute er in den Rückspiegel und sah Inga Larson in einer Staubwolke stehen.

Schon vor Jahren hatte er geschworen, sich um seinen Bruder zu kümmern und ihn nie im Stich zu lassen. Die gemeinsame Kindheit war von Rückschlägen geprägt gewesen, angefangen hatte es mit dem Tod ihrer Mutter. Bei der Geburt seines jüngeren Bruders waren Komplikationen aufgetreten. Nils hatte den Eingriff zwar überlebt, aber eine geistige Behinderung zurückbehalten, während seine Mutter an inneren Blutungen verstorben war. Von nun an waren sie ihrem Vater, einem passionierten Jäger, schutzlos ausgeliefert.

Um das karge Gehalt eines Forstarbeiters aufzubessern, hatte er alles abgeschossen, was ihm vor die Flinte gelaufen war. Oft war er tagelang unterwegs gewesen und hatte seine Söhne während dieser Zeit sich selbst überlassen, bis sie ihm schließlich wegen körperlicher und seelischer Vernachlässigung weggenommen worden waren. Danach hatte er sich zu Tode gesoffen.

„Tolles Leben“, murmelte Ben.

„Was hast du gesagt?“, fragte Nils.

„Ach, nichts …“, antwortete Ben und bog auf den holprigen Waldweg ab. Der klapprige Geländewagen bewegte sich im Schritttempo vorwärts und kam vor einem Holzhaus, das versteckt hinter Bäumen lag, zum Stehen.

„Ende der Fahrt, aussteigen“, sagte Ben und schlug die Autotür zu. Ein Schwarm Krähen erhob sich laut protestierend in die Lüfte.

Ben öffnete den Kofferraum, um die Einkäufe ins Haus zu tragen. Kaum hatte er die Tür zur Hütte aufgeschlossen, strömte ihm der vertraute Geruch von kaltem Essen und Holz entgegen.

„Nils, wo bleibst du denn?“, rief er ungeduldig.

„Ich komme ja schon“, antwortete sein Bruder und stapfte zum Haus. „Was gibt’s denn heute?“

„Wie wäre es mit gebackenem Fisch?“

Das war Nils’ Lieblingsessen und er klatschte freudig in die Hände. „Oh ja, das ist eine gute Idee.“ Er mochte die knusprige Kruste und träufelte mit Vorliebe Zitronensaft darüber.

„Okay, kleiner Bruder, dann wirst du aber die Kartoffeln schälen.“

„Na gut“, willigte Nils ein. Er setzte sich an den Tisch und Ben stellte ihm die Schüssel mit den Kartoffeln vor die Nase.

„Und, wie war dein Tag?“, fragte Ben. Er hoffte, dass Nils von sich aus erzählte, warum er handgreiflich geworden war.

„Weiß nicht.“

„Aber du musst doch wissen, wie dein Tag gewesen ist?“

„So wie immer“, antwortete Nils ausweichend.

„Ich habe gehört, dass du nicht immer sehr nett gewesen bist.“

„Ach, hat Inga wieder gepetzt?“ Nils zog einen Flunsch.

Ben setzte sich ihm gegenüber und suchte Blickkontakt. „Was ist los?“

Nils zuckte mit den Schultern. „Nichts ist los.“

„Doch. Ich weiß ganz genau, wenn du lügst.“

Sein Bruder griff sich verstohlen an die Nasenspitze.

„Genau, die ist ganz schwarz vom Lügen.“

Ben verkniff sich ein Grinsen. Er konnte ihm nie lange böse sein. Dennoch musste er der Sache auf den Grund gehen. Auch ihm waren die Stimmungsschwankungen von Nils nicht entgangen. Sein Bruder hatte sich des Öfteren heimlich davongestohlen und war stundenlang fortgeblieben. Ben befürchtete, dass das vielleicht mit seinem aggressiven Verhalten zusammenhängen könnte.

„Komm schon, Brüderchen, raus mit der Sprache.“

Nils schürzte die Lippen und ein trotziger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. „Ich bin okay.“

„Nein, das bist du nicht, sonst hätte die Larsen nicht mit mir gesprochen. Etwas muss vorgefallen sein.“

„Sven hat mich gehänselt, weil ich im Wald wohne. Er hat mich einen Troll genannt“, beichtete Nils.

„Aber du lachst doch immer über solche dummen Scherze. Warum diesmal nicht?“

Nils zuckte erneut mit seinen Schultern und Ben sah ihm deutlich an, dass er etwas verheimlichte. Sein Bruder hatte sich verändert, ging auf Distanz.

„Jetzt mach es mir doch nicht so schwer. Verdammt, was ist los mit dir?“, drängte Ben.

„Ich habe Hunger“, erwiderte Nils und stellte sich stur.

Er wollte nicht darüber sprechen, das musste Ben wohl oder übel akzeptieren. Aber die nächste günstige Gelegenheit würde er beim Schopfe packen, um seinem Bruder auf den Zahn zu fühlen. Er nahm die Packung mit dem Fisch aus dem Gefrierfach und erhitzte das Öl in der Pfanne. Gedankenverloren wendete er den Fisch.

„Bin fertig“, sagte Nils und schob die Schüssel mit den geschälten Kartoffeln über den Tisch.

„Danke.“

„Kann ich jetzt auf mein Zimmer?“, fragte Nils mit gesenktem Blick. Er wollte einem erneuten Kreuzverhör aus dem Weg gehen.

„Klar. Ich rufe dich dann, wenn das Essen auf dem Tisch steht.“

Nils war noch immer traumatisiert und litt unter starken Verlustängsten, weil sie getrennt voneinander in Heimen aufgewachsen waren. Vielleicht hatte er Angst, dass seine so heile Welt wieder aus den Fugen geraten könnte.

Aber für Ben käme eine räumliche Trennung von seinem Bruder nie infrage. Er wusste, wie verkorkst sie beide waren, und dass Nils’ Vertrauen erneut schweren Schaden nehmen würde. Allein die Vorstellung, eine Familie zu gründen, entlockte Ben ein sarkastisches Lachen. Dieser Zug war definitiv abgefahren. Obwohl diese Liv schon ein süßes Mäuschen …

Hastig drehte er das Gas herunter, der Fisch wäre ihm beinahe angebrannt.

„Nils, das Essen ist fertig“, rief er laut.

„Ja, ich komme.“

Nils stapfte die Stufen hinunter. Sein Küchenstuhl schabte über den unansehnlichen Dielenboden, als er am Tisch Platz nahm.

„Die Zitrone fehlt“, merkte er stirnrunzelnd an.

„Moment, kommt sofort.“

Ben schnitt zwei Früchte auf, die Nils genüsslich über seinem Fisch ausdrückte. „Lecker.“

„Dir muss es schmecken“, kommentierte Ben und setzte sich ihm gegenüber. „Hast du heute noch etwas vor?“, fragte Ben.

„Ja, ich muss weg“, murmelte Nils zwischen zwei Bissen.

„Wohin willst du?“

„In den Wald natürlich“, antwortete Nils.

„Wann kommst du wieder?“

„Weiß noch nicht.“

„Bau keinen Mist, Nils. Du willst doch sicher nicht, dass sie dich wieder in ein Heim stecken?“

Nils schüttelte energisch seinen Kopf.

„Dann sind wir uns ja einig.“

Sein Bruder schaufelte hastig die Mahlzeit in sich hinein. Dann sprang er auf und stellte seinen Teller in die Spüle. „Bis später“, sagte er und kurz darauf fiel auch schon die Haustür hinter ihm ins Schloss.

Ben beobachtete durch das Küchenfenster, wie die hochgewachsene Gestalt seines Bruders zwischen den Bäumen verschwand, und er beschloss, ihm das nächste Mal zu folgen.

Er wandte sich ab und setzte warmes Wasser für den Abwasch auf. Sie lebten in sehr bescheidenen Verhältnissen, denn sein Vater hatte nichts in dieses Holzhaus investiert. Ein uralter gusseiserner Ofen sollte sämtliche Räume beheizen, was er natürlich nicht tat. Obwohl Ben zwei elektrische Radiatoren besorgt hatte, war es im Winter oft bitterkalt. Die alte Waschmaschine verrichtete auf gut Glück ihren Dienst und auch sonst gab es keinerlei Annehmlichkeiten, die ihnen das Leben erleichtert hätten.

Ben wäre gern weggezogen, näher an die Stadt heran, aber von seinem knappen Gehalt als Paketbote konnte er sich die Mieten nicht leisten. Er war nicht dumm, keineswegs. Aber sein Leben war bedauerlicherweise nicht so verlaufen, wie er es sich gewünscht hätte. Im Heim wäre er beinahe auf die schiefe Bahn geraten, hatte aber noch rechtzeitig die Kurve gekriegt.

Nach der Vollendung seines achtzehnten Lebensjahres war er in das Haus im Wald zurückgekehrt und hatte verzweifelt darum gekämpft, dass Nils wieder bei ihm einziehen durfte. Anfangs hatten sich die Behörden quergestellt, doch dann war es Ben mithilfe eines patenten Anwalts gelungen, seinen Bruder zu sich zu holen.

Sie hatten viel durchgestanden und waren gemeinsam durch die Hölle gegangen.

Besonders Nils hatte unter dem unberechenbaren Verhalten des Vaters gelitten. Nach dessen strengen Anweisungen musste er das Wild häuten und zerteilen. Immer wieder hatte Ben eingegriffen, wenn Nils mit blutigen Fäusten und tränenüberströmt vor dem Tier hockte und ungelenk versuchte, das Fell von den Muskeln zu lösen. Doch sein Vater war stark wie ein Bär gewesen und hatte ihn meist mit einem harten Schlag abgewehrt.

Ben verscheuchte die hässlichen Gedanken und sah aus dem Fenster. Die dunklen Tannen bewegten sich sanft im Wind und die Sonne schickte ihre goldenen Strahlen durch das Gewirr der Äste.

Der Wald ist ein verwunschener Ort, der seine Geheimnisse niemals preisgibt, obwohl er ständig wispert und säuselt, dachte Ben. Es könnte so schön sein, ohne die Erinnerungen an dieses frühere Leben.

Er räumte das saubere Geschirr in den Schrank und ging nach draußen, um Holz zu hacken. Der Vorrat für den Winter musste aufgestockt werden. Die Forstarbeiter überließen ihm meist kostenlos die Stämme, für die sich ein Transport nicht mehr lohnen würde.

Ben spuckte in seine Handflächen und die Axt sauste kraftvoll nieder. Das Holz gab klackernd nach und die Scheite fielen zu Boden. Er liebte es, mit seinen Muskeln zu spielen und sich auf diese Weise zu verausgaben. Zwischendurch warf er die Holzscheite in die Schubkarre, um sie anschließend im Schuppen zu stapeln.

Nach zwei Stunden harter Arbeit legte er eine Pause ein. Er öffnete eine Flasche Mineralwasser und leerte sie gierig Zug um Zug. Das Eichhörnchen, das sie täglich besuchte, stibitzte einige Sonnenblumenkerne aus dem Futterhäuschen. Es war sehr zahm und im zeitigen Frühjahr, direkt nach seiner Winterruhe, fraß es ihm sogar aus der Hand.

Ben hockte sich auf die Steinstufen und hielt nach Nils Ausschau. Auch früher war sein Bruder gern durch den Wald gestreift, um die Tiere zu beobachten. Doch er war nicht stundenlang fortgeblieben. Dieses Verhalten sah seinem Bruder überhaupt nicht ähnlich. Einmal hatte sich Nils verlaufen und vor Panik laut nach Ben gerufen. Schluchzend hatte er sich an ihn geklammert und selbst auf den Heimweg seine Hand nicht mehr losgelassen.

Seufzend machte sich Ben wieder an die Arbeit. Eine Stunde würde er noch abwarten, bevor er sich auf die Suche machte. Abermals fielen die Holzscheite klackernd auf den mit Tannennadeln übersäten Waldboden. Das Eichhörnchen hatte sich mittlerweile aus dem Staub gemacht und selbst das Vogelgezwitscher war verstummt. Von Zeit zu Zeit hüllte sich der Wald in Schweigen und eine unheimliche Aura trat zutage.

Für Ben ein eindeutiges Zeichen. Er lehnte die Axt an den Hackklotz, fuhr die letzte Ladung in den Schuppen und ging ins Haus, um sich frisch zu machen. Er hielt seinen verschwitzten Kopf unter den fließenden Wasserhahn und rubbelte anschließend die Haare mit einem Handtuch trocken. Um seine Frisur zu richten, fuhr er kurz mit den Fingern durchs Haar und zog sich ein sauberes Shirt über.

Auf dem Weg nach draußen schnappte er sich noch einen Apfel und biss kraftvoll hinein. Der Gedanke, dass Nils in ernsthaften Schwierigkeiten stecken könnte, ließ ihm keine Ruhe.

Er folgte dem schmalen Waldweg bis zur Lichtung und bog dort nach rechts ab. Immer wieder formte er seine Hände zu einem Trichter, um den Namen seines Bruders zu rufen. Ein Specht unterbrach erschrocken seine Arbeit und zwei junge Rehböcke flohen ins Dickicht. Doch von Nils fehlte weiterhin jede Spur, dabei entfernte er sich nur selten vom Haus.

Ben hielt einen Moment inne, um auf die Geräusche zu achten. In der Ferne hörte er das Knacken von vertrockneten Zweigen und rannte los. Das konnte nur Nils sein. Kurz darauf herrschte wieder eine seltsame Stille und Ben musste auf sein Bauchgefühl vertrauen. Endlich entdeckte er seinen Bruder. Nils hockte am Ufer des Baches und wusch die Hände im klaren Wasser.

„Hey, was machst du da?“

Nils sprang erschrocken auf. Sein Gesicht war von einer flammenden Röte überzogen.

„Spionierst du mir etwa nach?“, fragte er empört.

„Nein.“ Ben packte ihn derb am Handgelenk und forschte in seinem Gesicht. „Aber du kannst nicht geschlagene drei Stunden wegbleiben, ohne mir Bescheid zu geben.“

„Ich bin erwachsen, ich darf das.“ Trotzig versuchte Nils, sich loszureißen.

„Da muss ich dich leider enttäuschen, noch habe ich die Vormundschaft.“ Ben ließ sich nicht provozieren. „Kürzen wir die Sache einfach ab. Du sagst mir in Zukunft, wo du dich aufhältst, und ich lasse dich im Gegenzug gehen. Einverstanden?“

„Nein“, widersprach Nils.

„Auch gut. Dann wirst du die nächsten Tage in deinem Zimmer verbringen.“ Ben verstärkte seinen Griff.

„Du darfst mich nicht einsperren“, protestierte Nils zornig.

„Und ob ich das kann. Oder hast du das Gespräch mit Frau Larsen schon vergessen?“ Ben zog seinen Bruder näher zu sich heran. „Und jetzt kommst du mit nach Hause.“

Widerstand war zwecklos und Nils stolperte ihm hinterher. Schweigend legten sie den Weg zurück und hatten nach einer halben Stunde das Haus erreicht.

„So, da wären wir“, sagte Ben und stieß Nils in den Flur. Dann schloss er die Tür von innen ab. „Bruderherz, das ist kein Spiel mehr. Ich will auf der Stelle wissen, wo du gewesen bist?“

Nils kniff die Lippen zusammen und versteckte die Hände hinter dem Rücken. Erst jetzt bemerkte Ben die dunklen Flecken auf seinem Shirt.

„Ist das Blut?“

Nils schüttelte vehement seinen Kopf und Ben war sofort klar, dass er log.

„Hast du dich verletzt?“

„Weiß nicht …“

„Du musst doch wissen, ob du dir wehgetan hast. Zeig deine Hände“, forderte Ben ihn auf.

Nils streckte ganz langsam seine Arme aus. „Alles gut, siehst du“, sagte er beschwichtigend.

„Und woher hast du dann die Flecken?“, fragte Ben erneut.

„Beeren. Ich habe Beeren gegessen“, antwortete Nils hastig.

„Na, wenn das so ist …“ Ben gab sich vorerst mit dieser Antwort zufrieden. Er wusste, dass sein Bruder eine absolute Naschkatze war. „Deswegen hast du dir also die Hände gewaschen?“

Nils nickte.

„Dann hilf mir beim Aufräumen.“

„Aye, aye, Sir!“ Nils grinste breit und machte sich ans Werk.

Ben beobachtete verstohlen seinen Bruder. Nils verheimlichte ihm etwas und die Flecken auf dem Shirt stammten mit Sicherheit nicht von Beeren. Er würde in den nächsten Tagen ein wachsames Auge auf ihn haben.

6

Linda hatte bereits einen Stapel Akten vor sich liegen, als Jörgen das Büro betrat.

„Na, schon wieder fleißig?“, begrüßte er sie.

„Die Sache mit der Tierquälerei hat mir keine Ruhe gelassen. Deshalb bin ich extra eher aufgestanden, um die Zeit zu nutzen.“

„In Ordnung, dann packen wir es an.“ Jörgen nahm sich die obere Hälfte des Stapels und schlug die erste Akte auf. „Hast du schon nach Jahreszahlen sortiert?“

Genervt schaute Linda auf. „So schnell bin ich nun auch wieder nicht. Lillemor hat sich natürlich wieder quer gestellt, weil sie das Frühstück für Elina zubereiten sollte. Es war das übliche Kräftemessen zwischen uns und ich bin froh, wenigstens eine Stunde gewonnen zu haben.“

„Schon okay, ich habe verstanden.“ Er breitete die Unterlagen auf seinem Schreibtisch aus. „Welchen Zeitraum hältst du für angemessen? Die letzten fünf bis sechs Jahre?“

„Ja, das kommt ungefähr hin. Wir sieben die älteren Fälle einfach aus und falls wir nicht fündig werden, können wir die aussortierten Akten immer noch durchgehen.“

„Möchtest du auch einen Kaffee, bevor wir loslegen?“

„Gerne, immer her damit.“ Sie kramte das Kleingeld aus ihrer Hosentasche und schob es Jörgen über den Tisch. „Du besorgst den Kaffee und ich bezahle.“

Er quittierte ihre Ansage mit einem breiten Grinsen und ging zur Tür. Linda widmete sich wieder den Unterlagen. In diesem Dokument ging es um einen Hundezüchter, der seine Tiere geschlagen und nicht artgerecht gehalten hatte. Die Akte konnte definitiv zurück ins Archiv. Auch im nächsten Fall handelte es sich um einen Nachbarschaftsstreit, bei dem die Tauben des Besitzers vom Himmel geschossen worden waren. Bei Nummer drei wurde es allerdings interessant.

Eine unbekannte Person hatte die zwei Katzen der Familie bestialisch zugerichtet. Die grausamen Einzelheiten der Tat ließen Linda das Blut in den Adern gefrieren. Wer machte so etwas?

Jörgen öffnete die Tür und stellte Linda den Becher Kaffee vor die Nase. Dann zog er seine Schreibtischschublade auf und stellte eine Packung Kekse auf den Tisch.

„So wie ich dich kenne, hast du mit Sicherheit noch nicht gefrühstückt.“

„Stimmt, nach der Diskussion mit Lillemor war dafür keine Zeit geblieben“, lächelte Linda und reichte ihm die Akte. „Ich sollte rasch zugreifen, bevor mir noch der Appetit vergeht.“

„So schlimm?“ Jörgen zog fragend die Brauen hoch.

„Oh ja, Kinder und Tiere, das geht mir auch noch nach Jahren unter die Haut.“

Jörgen schlug den Ordner auf und überflog die Zeilen.

„Meine Güte, wer hat sich denn hier ausgetobt?“

„Sag ich doch“, antwortete Linda. „Das ist der erste Fall, der ins Raster passt.“

Den gesamten Vormittag über sichteten Linda und Jörgen die Akten. Der Stapel wuchs nur sehr langsam an, aber das zügelte nicht ihren Eifer.

„Sind wir endlich durch?“, fragte Jörgen. Er streckte sich und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf.

„Ja, wir haben es tatsächlich geschafft“, erwiderte Linda. „Wie viele Fälle hast du herausgefischt?“

„Nur drei Stück. Und bei dir?“

„Das Doppelte.“ Sie schob ihm die Akten über den Tisch. „Jeder einzelne Fall ist tragisch. Aber was mir sofort aufgefallen ist, sind die Adressen.“

„Die Adressen?“

„Ja. Sie liegen in einem Radius von zwei Kilometern nah beieinander.“

„Das könnte bedeuten, dass der Täter selbst Anwohner ist oder seinen Beutezug dorthin verlegt hat.“

„Wir sollten getrennt voneinander die ehemaligen Besitzer der Tiere befragen“, schlug Linda vor.

„Effiziente Arbeitsteilung“, antwortete Jörgen. „Machen also wir fifty-fifty?“

„Einverstanden. Ich werde mit der Familie anfangen, denen die zwei Katzen gestohlen wurden.“

Linda hatte Glück, eine junge Frau öffnete ihr die Tür.

„Guten Tag. Mein Name ist Linda Sventon und ich bin von der Kriminalpolizei. Sie sind doch Emma Olsson, die vor vier Jahren Anzeige erstattet hat?“

„Ja, die bin ich. Kommen Sie doch herein.“

Emma Olsson führte Linda in ein modern eingerichtetes Esszimmer, in dem weiße Kiefernmöbel dominierten. Ein getigerter Kater betrat den Raum und rieb schnurrend sein Köpfchen an Lindas Beinen.

„Das ist Enno“, kommentierte Emma Olsson. „Aber er darf nicht mehr nach draußen.“

„Das kann ich gut verstehen“, erwiderte Linda und strich mit ihren Fingern durch das samtig glänzende Fell des prächtigen Katers.

„Können Sie noch einmal wiedergeben, auf welche Weise Ihre Tiere verschwunden sind?“

„Wir haben Lilly und Lola als kleine Kätzchen vom Tierschutz übernommen und nach der Kastration durften sie unbegrenzten Freigang genießen. Das ging natürlich nicht lange gut, im Alter von zehn Monaten sind Lilly und Lola plötzlich verschwunden.“

Emma Olsson atmete tief durch, um sich zu sammeln.

„Wir haben überall nach ihnen gesucht und Zettel in der Nachbarschaft aufgehängt. Nach ungefähr acht Tagen erhielten wir die erste Rückmeldung, dass Lola gefunden worden war. Den Anblick werden wir nie vergessen, sie war grauenvoll zugerichtet.“ Emma Olsson wandte sich hastig ab, damit Linda ihre Tränen nicht bemerkte.

„Ich habe den Fundort und die Verletzungen aus der Akte entnommen“, sagte Linda mit leiser Stimme.

„Jedenfalls hat uns ein Nachbar später erzählt, dass er eine Lebendfalle zwischen den Hecken entdeckt hatte. Wir haben sie einem Schrotthändler mitgegeben, um dieses grausame Schicksal weiteren Tieren zu ersparen.“

„Warum steht von der Falle nichts in den Unterlagen?“, fragte Linda.

„Warum wohl? Die Akte war zu diesem Zeitpunkt schon längst geschlossen worden.“ Enttäuschung spiegelte sich auf dem Gesicht von Emma Olsson wider.

„Ich bedauere sehr, dass die Kollegen nicht an diesem Fall drangeblieben sind.“

„Warum kommen Sie ausgerechnet jetzt vorbei? Nach all den Jahren werden keine verwertbaren Spuren mehr existieren.“ Emma Olsson warf ihr einen fragenden Blick zu.

„Es geht um einen aktuellen Fall, mehr darf ich Ihnen nicht dazu sagen“, erwiderte Linda.

„Die Mädchen!“, rief Emma Olsson überrascht. „Deshalb sind Sie also hier.“

„Wie ich bereits erwähnt habe, geht es um einen anderen Fall“, entgegnete Linda mit Nachdruck.

„Sie können mich nicht für dumm verkaufen“, antwortete Emma Olsson triumphierend. „Ich habe ein Buch darüber gelesen, dass potenzielle Mörder anfangs nur Tiere quälen. Wäre die Polizei damals am Ball geblieben, dann …“

„Bitte, Frau Olsson, Spekulationen führen doch zu nichts.“ Linda erhob sich. „Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.“

„Bitte versprechen Sie mir, dass Sie mich informieren, falls Sie den Täter fassen konnten.“ Emma Olsson lief aus dem Esszimmer und kehrte kurz darauf zurück. „Hier, meine Karte.“

„Ich werde mich bei Ihnen melden“, versprach Linda und Emma Olsson begleitete sie zur Tür.

„Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.“

„Danke, Frau Olsson, den werden wir brauchen.“

Linda öffnete den Wagen und stieg ein. Emma Olsson könnte glatt bei uns anfangen, dachte sie. Die Frau hatte nicht unrecht. Wenn die Kollegen an den Fällen drangeblieben wären, hätten die nachfolgenden Morde vielleicht verhindert werden können.

Linda startete den Motor und scherte aus der Parklücke. Es hatte keinen Zweck, sich mit Spekulationen zu verzetteln. Sie legte die kurze Strecke innerhalb weniger Minuten zurück und hielt vor einem hübschen Bungalow, der in Falunrot gestrichen war.

„Bereit für Fall Nummer zwei“, murmelte sie und stieg aus. Ein älterer Herr öffnete ihr die Tür. Er rückte seine Brille zurecht und musterte Linda mit zusammengekniffenen Augen.

„Was kann ich für Sie tun?“