Sündenweg - Ana Dee - E-Book

Sündenweg E-Book

Ana Dee

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In Borås, die Stadt der Künste genannt, werden zwei junge Frauen ermordet aufgefunden. Ihr Bildnis nach dem Tod gleicht einem unschuldigen Engel, die perfekte Inszenierung von Unschuld. Die ehrgeizige Ermittlerin Sofie Palmgren ist sich sicher, dass dies nur die Handschrift psychopathischen Serientäters sein kann. Die Zeit arbeitet gegen sie und der Täter, der keine Spuren hinterlässt, ist ihr immer einen Schritt voraus. Als auch noch die erhoffte Beförderung ausbleibt, wird Sofie nicht nur beruflich stark zurückgeworfen. Nachdem eine weitere junge Frau vermisst wird, ist ihr klar, dass der Täter bereits das nächste Opfer im Visier hat. Aber was will er mit seinen Inszenierungen bezwecken? Und haben die Frauen Schuld auf sich geladen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sündenweg

SCHWEDEN-KRIMI

ELIN SVENSSON

ANA DEE

Inhalt

Anmerkung

Protagonisten

Epilog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

Anmerkung

Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.

Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Protagonisten

Sofie Palmgren – KommissarinKjell Tomasson – Sofies VorgesetzterBjörn Andersson – Kollege von SofieNina Bergman – RechtsmedizinerinChrister Ekbert – Leiter Kriminaltechnik

Epilog

Der Himmel war wolkenverhangen und das schwache Licht der untergehenden Sonne warf lange Schatten. Hanna rannte durch das hüfthohe Gras, ihre Schritte waren hastig und stolpernd. Ihr Atem ging schwer und das Herz schlug wild in ihrer Brust. Die Wiese erstreckte sich endlos vor ihr, doch der dunkle Wald am Horizont versprach Versteck, Schutz – oder Gefahr. Sie konnte es noch nicht abschätzen. Ihre Beine schmerzten vor Überanstrengung, aber sie hatte nicht vor, langsamer zu werden.

Hinter ihr hörte sie das Rascheln von Schritten, jemand verfolgte sie. Ein flüchtiger Blick über die Schulter zeigte ihr nur vage eine dunkle Gestalt, die stetig näher und näher kam. Sie hetzte immer weiter, um zu entkommen. Ihre Augen waren schreckgeweitet und voller Verzweiflung, weil sie das Gefühl hatte, sich wie in einem Albtraum nur auf der Stelle zu bewegen.

Noch einmal wagte sie einen Blick zurück, obwohl sie wusste, dass dadurch ihr Vorsprung unweigerlich schrumpfen würde. Im Hintergrund zeichnete sich nun deutlich die Silhouette eines Mannes ab, der sie mit bedrohlicher Ruhe verfolgte. Seine Schritte waren gleichmäßig, lautlos und schnell. Er schien auf eine seltsame Art entspannt zu sein, als wäre ihm bewusst, dass er sie bald einholen würde.

Das hohe Gras schlang sich immer wieder um ihre Füße und hinderte sie am Vorwärtskommen. Kostbare Sekunden gingen verloren. Von der Angst getrieben rannte sie weiter. Der Waldrand war zum Greifen nah, und mit ihm die Dunkelheit. Dann wurde sie vom Dickicht verschluckt, als hätte der Wald sie willkommen geheißen. Die Geräusche um sie herum veränderten sich – das leise Rascheln von Blättern, das Wispern der Äste im Wind und das Echo ihrer Schritte auf dem weichen, mit Moos bedeckten Boden.

Nur wenig später konnte sie ihn wieder hören, noch lauter und unheimlicher als zuvor. Die Distanz musste sich stark verringert haben. Sie warf erneut einen ängstlichen Blick zurück und stolperte genau in diesem Moment über eine Wurzel. Der harte Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen, und für einen Moment war es totenstill. Ihre Hände gruben sich in das feuchte Laub, während sie versuchte, die Kontrolle über ihre Atmung zurückzugewinnen. Die scharrenden Schritte kamen näher und näher. Panik ergriff sie, als sie sich mühsam wieder aufrichtete, aber die Beine versagten ihr den Dienst.

Plötzlich legte sich ein Schatten über sie und sie spürte den kalten Atem in ihrem Nacken. Sie wollte schreien, brachte aber keinen einzigen Ton heraus. Ihre Gegenwehr erstarb schon bald, weil sie ahnte, was ihr bevorstehen würde. Er hatte sie manipuliert, sie in die Enge getrieben, bis es keinen Ausweg mehr gab. Der Druck auf ihre Kehle nahm zu und sie rang verzweifelt nach Luft. Sie strampelte mit den Beinen und bohrte ihre Nägel in seine Haut. Aber es nützte nichts und sie wurde von einer allumfassenden Dunkelheit umhüllt.

KapitelEins

Sofie tastete schlaftrunken nach dem Smartphone. „Palmgren“, meldete sie sich und lauschte.

„Wir haben eine weitere Tote“, sagte Björn Andersson, ihr Kollege von der Mordkommission.

„Wo?“

„Das alte Fabrikgelände.“ Andersson erklärte ihr, wohin sie fahren musste.

„Danke, ich mache mich sofort auf den Weg.“

Sie schlug die Bettdecke zurück und blieb eine Minute auf der Bettkante sitzen. Müde strich sie die Haare aus der Stirn und unterdrückte ein Gähnen. Es war kurz nach eins und sie hätte locker noch vier bis fünf Stunden schlafen können.

Dann gab sie sich einen Ruck und verschwand im Badezimmer. Sie schöpfte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um wach zu werden, raffte das Haar zu einem locker sitzenden Pferdeschwanz zusammen und zog sich die Kleidung vom Vortag über. Ein Kaffee wäre perfekt gewesen, aber für ein gemütliches Frühstück war es ein denkbar schlechter Zeitpunkt.

Sie schlüpfte in ihre Sneakers, zog sich die Jacke über und lief zu ihrem Wagen, der noch in der Einfahrt stand. Auch gestern war es wieder spät geworden und sie hatte nicht die geringste Lust verspürt, den Wagen umständlich in der Garage einzuparken. Sie durchquerte die Innenstadt und musste mehrmals abbremsen, weil sie viel zu schnell unterwegs war.

Der Wagen geriet kurz ins Schlingern, als sie die Einfahrt zum verlassenen Fabrikgelände nahm. Der Regen der letzten Tage hatte die Schotterstraße aufgeweicht und in eine kleine Schlammwüste verwandelt.

Sie stellte den Wagen hinter dem von Andersson ab und stieg aus.

„Warum hat das so lange gedauert?“ Andersson schaute demonstrativ auf die Uhr.

„Ich bin schon schneller gefahren als erlaubt“, antwortete sie. „Wisst ihr schon, wer sie ist?“

Er verneinte.

„Passt sie ins Schema?“, fragte Sofie

„Überzeuge dich einfach selbst davon.“

„Okay.“

Sie folgte Andersson. Er hatte trotz seines Alters einen leicht federnden Gang, weil er regelmäßig durch den Wald joggte, und sein graues Haar stand wild in allen Richtungen ab. Sie mochte seinen messerscharfen Verstand und dass er sie wieder auf den Boden der Realität zurückholte, wenn sie abhob und sich bei den Ermittlungen in Widersprüche verstrickte.

Der Himmel über ihnen war dunkel und sternenlos, so, als ob er das Unheil widerspiegelte, das diesen Ort umgab. Das Flutlicht im Inneren drang durch die hohen, zum Teil zerborstenen Fenster nach draußen und warf lange Schatten.

Sofie betrat nach Andersson die Fabrikhalle. Die Atmosphäre war beklemmend und der Wind wehte ihnen den Geruch von Rost, feuchtem Beton und modriger Erde entgegen. Schutt knirschte unter ihren Sohlen und irgendwo klapperte ein loses Blech. Das halb verfallene Gebäude verstärkte das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, obwohl überall ein geschäftiges Treiben herrschte. Die Kriminaltechniker in ihren weißen Anzügen wirkten futuristisch und völlig deplatziert. Mitten im Zentrum dieser trostlosen Umgebung entdeckte Sofie das tote Mädchen. Ihr Körper, leblos und kalt, war zwischen Schutt und verrosteten Maschinen abgelegt worden. Die Haut war blass, schon leichenhaft, und stand im starken Kontrast zu den dunklen Flecken von Blut und Schmutz, die ihr Gesicht und ihre Kleidung besudelten. Das lange, rötlich schimmernde Haar war fächerartig um ihren Kopf ausgebreitet und hatte die Aura eines Heiligenscheins. Ihre Hände waren gefaltet und zwischen ihnen steckte ein kleines Blumenbouquet. Sie trug ein weißes Gewand, einer Jungfrau gleich.

„Na, ihr zwei“, hörte Sofie eine bekannte Stimme hinter sich und drehte sich um.

„Hallo Nina, bist du schon mit der Untersuchung fertig.“

„Ja.“ Die Rechtsmedizinerin nickte mit traurigem Blick. „Wieder ein Leben ausgelöscht, blutjung und wunderschön.“

„Er ist wie ein Phantom, wir bekommen ihn einfach nicht zu fassen.“ Sofie zog fröstelnd die Schultern hoch. „Was kannst du mir zum Thema Todeszeitpunkt sagen?“

„Ich schätze, dass sie seit ungefähr vierundzwanzig Stunden tot ist. Aber Genaueres kann ich erst nach erfolgter Obduktion sagen, weil die kühle Witterung den einsetzenden Verwesungsprozess verzögert haben könnte.“

„Der Strauß in den gefalteten Händen, sind das wieder Akeleien?“, fragte Andersson.

„Ja, exakt sieben Stück“, bestätigte Nina.

„Ich habe mich mal schlau gemacht“, sagte Sofie. „Ein sehr bekanntes Bild zeigt die ‚Anbetung der Könige‘ mit sieben Akelei-Blüten. Sie stehen stellvertretend für die sieben Gaben des Heiligen Geistes und die sieben Schmerzen Marias.“

„Hm, noch nie davon gehört“, sagte Andersson schulterzuckend und schob seine kalten Hände wärmesuchend in die Jackentaschen.

Sofie betrachtete wieder die junge Frau, die zu ihren Füßen lag. Sie war nach ihrem Tod hergerichtet worden und ihr Aussehen glich dem eines Engels – zartrosa gefärbte Lippen, blauer Lidschatten, der auf den geschlossenen Augen matt schimmerte, und sorgfältig gekämmtes Haar, das selbst im grellen Flutlicht seidig glänzte. Aber die Aufmachung täuschte nicht über die Qualen hinweg, die sie während ihrer letzten Stunden erlitten haben musste.

Am Haaransatz war eine Platzwunde zu erkennen und einige ihrer langen Haare klebten an der mit Blut verkrusteten Wunde. An den unbedeckten Stellen waren violett verfärbte Prellungen zu erkennen und die Hand- und Fußgelenke wiesen in Form von aufgeschürften Hautstellen Fesselspuren auf. Einige Fingernägel waren beim Kampf ums nackte Überleben abgebrochen.

„Haben wir den gleichen Täter vor uns?“, fragte sie Nina.

„Ja, leider.“

„Nun sag schon, hat sich der Täter auch in ihrem Intimbereich zu schaffen gemacht?“

„Ich befürchte, dass wir es mit einem Serientäter zu tun haben“, antwortete Nina. „Labia majora und Labia minora sind von ihm ziemlich stümperhaft zusammengenäht worden.“

„Post mortem oder ante mortem?“, fragte Andersson.

„Ante mortem, vor dem Tod, wegen der starken Einblutungen.“

Sofie atmete geräuschvoll aus. „Das muss für die zwei jungen Frauen ein sehr schmerzhafter Prozess gewesen sein. Ich glaube nicht, dass er sie diesmal betäubt hat.“

„Ich gehe auch davon aus, dass ich kein Betäubungsmittel im Blut finden werde“, sagte Nina.

Andersson kratzte sich nachdenklich am Kinn und hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Columbo. „So, wie ich das sehe, will er die Unversehrtheit der Mädchen wiederherstellen und staffiert sie deshalb engelsgleich aus.“

Nina nickte. „Ich denke auch, dass du damit vollkommen richtig liegst.“

„Jetzt frage ich mich allerdings, was sich diese jungen Dinger zuschulden haben kommen lassen, dass er sie auf diese Weise herrichten und töten muss?“

„Das ist euer Part, ich kläre nur das Wie und nicht das Warum“, sagte Nina schulterzuckend. „So, ich bin dann mal wieder …“ Sie nickte ihnen noch einmal zu, bevor sie sich abwandte und die Halle verließ.

„Ich hatte so gehofft, dass es sich nur um einen Einzelfall handelt“, sagte Sofie leise.

„Tja, wer nicht.“

Andersson rieb sich nachdenklich über das unrasierte Kinn. Er wirkte angespannt und müde, was aber auch kein Wunder bei den anfallenden Überstunden war.

„Christer!“ Sofie winkte den Leiter der Kriminaltechniker zu sich heran.

„Ja, ich bin schon auf dem Weg.“ Sein weißer Anzug raschelte leise, als er sich neben sie stellte. Er wirkte wie aus einer anderen Galaxie.

„Was ist mit der Kleidung der jungen Frau?“, fragte Andersson.

„Bereits sichergestellt und eingetütet“, sagte Christer.

„Sehr gut.“ Immerhin etwas, dachte Sofie. „Wo habt ihr die Kleidung gefunden?“

„Im Müllcontainer.“

„Was kannst du mir noch über sie sagen?“

„Dass sie ziemlich teure Designerstücke trug“, antwortete Christer.

„Dann muss sie anscheinend sehr vermögende Eltern haben. Für einen richtigen Job ist sie noch viel zu jung.“

„Ihr werdet schon alles über sie herausfinden. Ich bin froh, dass sich mein Team nur mit der Analyse der Spuren beschäftigen muss und nicht mit den Hintergründen. Sobald es zu persönlich wird, müsste ich meinen Job – den ich übrigens sehr liebe – an den Nagel hängen.“

„Für mich wäre das nichts, stundenlang jeden Stein umzudrehen, um irgendein Haar zu finden“, brummte Andersson.

„Ich sehe schon, wir verstehen uns.“ Christer klopfte ihm auf die Schulter.

„Gibt es weitere Auffälligkeiten?“, erkundigte sich Sofie.

„Nein. Diese junge Frau wurde genauso wie die erste hergerichtet. Wir können nur hoffen, dass ihr den Täter rechtzeitig stoppen könnt, bevor es ein weiteres Opfer gibt.“

„Danke, Christer.“

„Wieder zurück ins Bett?“, fragte Andersson und blickte verstohlen auf die Uhr.

„Gute Frage.“ Sofie zuckte mit den Schultern. „Die Entscheidung liegt einzig und allein bei dir.“

„So, wie ich dich kenne, wirst du gleich ins Büro fahren.“

„Ich glaube nicht, dass ich nach diesem Fund selig weiterschlummern kann.“

„Tut mir leid für dich, aber ich brauche meinen Schlaf. Der Chef wird uns die nächsten Tage und Wochen wieder triezen, bis wir den Fall geknackt haben.“

„Dann solltest du nach Hause fahren“, sagte sie. „Allerdings nur unter der Bedingung, dass du mit Kaffee und reichlich Nervennahrung wieder pünktlich im Büro erscheinst.“

„Eines meiner leichtesten Dinge.“

Sofie warf noch einen letzten Blick auf die junge Frau. Die Luft war schwer von Ungesagtem, die Spannung greifbar. Niemand sagte auch nur ein einziges Wort, als der leblose Körper schließlich auf eine Trage gehievt und abtransportiert wurde. Ein Hauch von Verzweiflung legte sich über den Moment, weil sie nicht dazu in der Lage gewesen waren, es zu verhindern.

Mit einem Gefühl von tiefem Bedauern wandte sich Sofie ab und folgte Andersson nach draußen. Sie verabschiedete sich von ihm und stieg in den Wagen, um ins Büro zu fahren. Obwohl sie nicht die einzige im Dienst war, herrschte auf den Fluren eine gespenstische Stille, die nur hin und wieder von dem Klappen einer Tür unterbrochen wurde.

Jetzt, wo Andersson nicht da war, drehte sie die Heizung auf die höchste Stufe und rieb fröstelnd die Handflächen aneinander. Auch der fehlende Schlaf der letzten Tage sorgte dafür, dass sie nicht nur äußerlich fror. Sie hängte ihre Jacke an den Hacken und setzte sich an den Schreibtisch, um die Vermisstenanzeigen der letzten Tage durchzugehen. Sie musste nicht lange suchen und schickte Andersson sofort eine Message, damit er Bescheid wusste.

Sie notierte die Telefonnummer von Hanna Nilsons Mutter, um sich später mit ihr in Verbindung zu setzen. Ihr Herz wurde schwer, als sie das Foto der Anzeige betrachtete. Hanna hatte ein strahlendes Lächeln, bernsteinfarbene Augen und ihr rötlich schimmerndes Haar war zu einem locker sitzenden Pferdeschwanz zusammengebunden.

Was für eine Verschwendung, dachte Sofie betrübt. Sie erledigte alle Formalitäten, um anschließend mit Andersson aufbrechen zu können.

Nur eine Viertelstunde später schneite Andersson zur Tür herein. „Gute Arbeit“, sagte er und hob den Daumen. „Den Mantel brauche ich sicher nicht erst auszuziehen, oder?“ Er stellte die Kaffeebecher und das Gebäck auf ihrem Schreibtisch ab.

„Nein, ich will die Mutter nicht länger warten lassen.“

Andersson seufzte. „Ich hasse es, schlechte Nachrichten zu überbringen.“

„Wer macht das schon gern?“

Sofie zog sich die Jacke über und lief mit Andersson den langen Flur entlang zum Wagen. Ganz selbstverständlich klemmte er sich hinters Steuer, ohne Sofie zu fragen. Anfangs hatte sie sich noch darüber aufgeregt, aber inzwischen waren ihr seine Marotten egal. Er war ein guter Partner, einen besseren hätte sie sich nicht wünschen können.

Sie fuhren direkt an den Stadtrand und hielten vor einem einstöckigen Wohnhaus.

„Nach Millionärsfamilie sieht mir das aber nicht aus“, kommentierte Andersson die Wohnsituation der Nilsons.

„Ja, eher bescheiden und schlicht“, antwortete Sofie. Sie sah, dass in der Küche Licht brannte, und atmete auf. Immerhin war jemand zu Hause.

„Bist du bereit?“, fragte Andersson.

Sofie nickte stumm und sie stiegen aus. Wie gern hätte sie sich davor gedrückt, Überbringerin dieser grauenvollen Nachricht zu sein. Aber vielleicht konnten Hannas Eltern ihr Aufschluss darüber geben, was geschehen war.

Hannas Mutter öffnete ihnen die Tür und bevor Sofie sich ausweisen konnte, hatte sie auch schon begriffen. Sie erblasste und der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sofie zeigte ihr trotzdem den Dienstausweis.

„Dürfen wir eintreten?“, fragte sie sanft.

„Natürlich …“, hauchte Hannas Mutter und lief voraus. „Bitte, nehmen sie doch Platz.“ Sie deutete auf eine kleine Sitzgruppe in Fensternähe.

„Es tut mir aufrichtig leid, aber ihre Tochter wurde vor einigen Stunden tot aufgefunden.“

Astrid Nilson schlug die Hände vors Gesicht und ihre Schultern bebten. Sofie ließ ihr die Zeit, die sie brauchte, um diese Nachricht zu verarbeiten. Andersson schwieg meistens in Situationen wie diesen, falls ihm nicht eine wichtige Frage auf der Seele brannte.

Irgendwann verebbten die Tränen und Astrid Nilson hob den Blick. „Ich habe nicht gewusst, dass meine Tochter nicht zum Unterricht erschienen ist. Erst, als eine Freundin angerufen hat, bin ich in Hannas Zimmer gegangen, um nachzusehen. Aber sie war nicht da.“ Astrid Nilsons Unterlippe zitterte. „Wie konnte das nur passieren? Und warum habe ich nichts bemerkt?“ Sie krümmte sich und schluchzte erneut.

Sofie wurde vom Mitleid übermannt, der Anblick dieser gebrochenen Frau schmerzte. Obwohl ein brennender Zorn in ihr schwelte, durfte sie ihren Emotionen nicht nachgeben, musste sachlich und distanziert bleiben.

„Es tut mir aufrichtig leid“, sagte Sofie leise. Sie beugte sich nach vorn und berührte mit einer tröstenden Geste Astrid Nilsons Hand. „Was können Sie mir über Ihre Tochter sagen? Sie ist noch zur Schule gegangen, nicht wahr?“

„Ja, Hanna hatte große Pläne. Seit ihr Vater uns verlassen hat, kommen wir gerade so über die Runden, und sie wollte studieren, um nicht so ärmlich leben zu müssen.“ Astrid Nilson senkte beschämt ihren Blick.

Sofie spürte einen leichten Stoß von Andersson und wusste sofort, worauf er hinauswollte. Aber sie war sich nicht sicher, ob es für diese Frage nicht noch zu zeitig war.

„Ihre Noten waren überdurchschnittlich gut, Hanna war in dieser Beziehung sehr ehrgeizig.“ Astrid Nilson tupfte sich mit einem Taschentuch die Tränen von den Wangen.

„Das ist sehr bemerkenswert“, sagte Sofie anerkennend.

„Ja, sie hat es mir in dieser Hinsicht sehr leicht gemacht, und ich wusste, dass sie es schaffen wird.“

„Haben Sie Ihre Tochter finanziell unterstützt?“

„Ja, natürlich, soweit das eben mit meinem schmalen Gehalt überhaupt möglich war.“

Sofie versuchte, das Gespräch ganz behutsam in die richtige Richtung zu lenken. „Als Ihre Tochter gefunden wurde, hat sie teure Designerkleidung getragen. Haben Sie ihr die Sachen gekauft?“

„Nein, das hätte ich mir niemals leisten können.“

„Und Sie wissen nicht, woher diese Kleidung stammen könnte? Oder wer sie bezahlt hat?“

Astrid Nilson wurde noch eine Spur blasser. „Ich … ich habe gar nicht bemerkt, dass es sich um Designerstücke handelt, und kann es mir absolut nicht erklären.“

„Dürfte ich einen Blick in Hannas Kleiderschank werfen?“

„Ja, sicher …“

Sofie nickte Andersson unauffällig zu. Sie war dankbar, dass er sich im Hintergrund hielt.

Astrid Nilson erhob sich und lief mit einem steifen, hölzernen Gang zur Treppe. Die Stufen knarrten leise unter ihrem Gewicht, als sie nach oben stieg.

„Das ist Hannas Reich“, sagte Astrid Nilson und wandte sich ab, so als könne sie den Anblick des leeren Zimmers nicht ertragen.

Sofie trat ein und nahm die Eindrücke in sich auf. Ein Schreibtisch stand vor dem Fenster, auf dem einige Bücher und Zeitschriften lagen. Daneben befand sich das schmale Bett, auf dem noch eine sehr mädchenhafte pinke Tagesdecke lag. An der gegenüberliegenden Wand stand ein gefülltes Bücherregal und daneben eine Art Schminktisch. Alles wirkte aufgeräumt und sauber, Hanna schien sehr viel Wert auf Ordnung gelegt zu haben.

Sofie öffnete zögerlich den Schrank und schob die Bügel auseinander, was ein leises Geräusch erzeugte. Sie konnte mehrere teuer aussehende Kleidungsstücke ausmachen, an denen teilweise noch ein Preisschild hing.

Nachdenklich drehte sie sich zu Astrid Nilson um. „Haben Sie davon gewusst?“

Hannas Mutter verneinte. „Sie hat ihre Wäsche selbst gewaschen, um mir die Arbeit abzunehmen.“

„Hat Ihre Tochter diese Stücke denn nie in Ihrem Beisein getragen?“

Astrid Nilson zuckte hilflos mit den Schultern. „Und selbst wenn, ich kann die Sachen doch kaum unterscheiden. So ein teures Zeug habe ich mir nie leisten können.“

„Deshalb müssen wir auch herausfinden, woher Hanna die Kronen dafür hatte.“

„Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt wissen will“, antwortete Astrid Nilson mit einem gequälten Gesichtsausdruck. „Können wir wieder nach unten gehen?“, bat sie leise. Der Anblick des leeren Zimmers schien ihr noch mehr zuzusetzen.

„Selbstverständlich.“

Sofie nahm wieder auf der Couch neben Andersson Platz, der geduldig gewartet hatte. Astrid Nilson setzte sich gegenüber.

„Wann haben Sie Ihre Tochter zum letzten Mal gesehen?“, fragte Sofie. Auf der einen Seite empfand sie es als herzlos, Astrid Nilson mit Fragen zu löchern, aber auf der anderen war es für die Ermittlungen enorm wichtig.

„Vor zwei Tagen, als ich am Abend zu meiner Schicht im Krankenhaus aufgebrochen bin. Ich habe lange geschlafen und bin dann losgefahren, um noch einige Besorgungen zu erledigen.“ Sie holte zittrig Luft und versuchte, die Tränen wegzublinzeln, was ihr nicht gelang. „Ich habe ihr einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen, auf dem stand, dass sich das Abendessen im Kühlschrank befindet, und ihr einen schönen Abend gewünscht.“

„Sie haben sich also nicht jeden Tag gesehen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Wenn sich unsere Zeiten überschnitten haben, dann nur sehr selten, weil Hanna oft etwas mit ihren Freundinnen unternimmt … ich meine natürlich unternommen hat.“

Astrid Nilson musste unverschuldet durch die Hölle gehen und Sofie schmerzte der Anblick dieser gebrochenen Frau. Sie konnte es kaum erwarten, den Täter zu überführen und hoffte auf schnelle Ermittlungsergebnisse, die ihnen das ermöglichen würden.

„Können Sie mir die Namen und die Adressen von Hannas Freundinnen geben?“

„Ja, einen Moment.“ Astrid Nilson ging zu einem altertümlichen Sekretär, öffnete das oberste Fach und nahm einen Zettel heraus, den sie Sofie reichte. „Da stehen die Namen und Telefonnummern von Svenja und Lotta drauf, mit denen sie eng befreundet war.“

„Vielen Dank“, sagte Sofie. „Ihre Tochter hat doch sicher ein Smartphone?“

„Ja.“

„Wir brauchen für die Ermittlungen auch die Nummer und den Anbieter.“

Astrid Nilson nannte die Ziffern, die sie auswendig kannte.

„Ich danke Ihnen sehr“, sagte Sofie. „Wir werden noch jemanden vorbeischicken, der sich Hannas Zimmer anschaut und die technischen Geräte mitnimmt, um sie zu untersuchen.“

„Muss das wirklich sein?“

„Es tut mir aufrichtig leid, Sie damit zusätzlich zu belasten. Aber wir müssen jedem Hinweis nachgehen, um den Täter zu fassen, und die Chatverläufe Ihrer Tochter könnten darüber Aufschluss geben.“

„Hanna ist viel mit ihren Freundinnen unterwegs gewesen und war nur sehr selten am Computer. Ich glaube nicht, dass sie da etwas finden werden.“

„Wir folgen nur dem Protokoll“, sagte Sofie mit sanfter Stimme. Sie hatten Astrid Nilson genug zugemutet, es wurde Zeit für den Aufbruch.

Andersson, der geduldig und still neben ihr gesessen hatte, stand zuerst auf. „Ich wünsche Ihnen viel Kraft und bedanke mich für Ihre Kooperation.“ Er nickte Astrid Nilson zu und wandte sich ab.

Nachdem auch Sofie sich verabschiedet hatte, folgte sie ihm nach draußen.

„Ach, das war bitter“, sagte sie und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. „Ich will, dass wir den Typen aufhalten, bevor er weitere Menschen ins Unglück stürzten kann.“

„Das wollen wir alle, aber wir müssen die Auswertungen abwarten. Vielleicht finden die Kollegen den alles entscheidenden Hinweis, der uns zum Täter führt.“

„Nichts lieber als das.“

„Dann ab ins Büro, um die Akten zu wälzen. Leider wird der Kaffee inzwischen kalt sein.“

„Egal. Hauptsache, ich habe überhaupt etwas im Magen.“

Während der Fahrt schaute sie gedankenverloren aus dem Fenster, ohne die Umgebung wahrzunehmen. Jedes Opfer war eines zu viel, und sie fragte sich, ob es ihnen tatsächlich rechtzeitig gelingen würde, den Täter aufzuhalten.

KapitelZwei

Der Konferenzraum war von leisem Stimmengemurmel durchdrungen, nicht nur Sofie wirkte abgespannt. Etwas musste mit Lennart, ihrem Chef, passiert sein. Aber Genaueres konnte keiner der Kollegen sagen.

Andersson stieß sie mit dem Ellenbogen sacht in die Seite, um auf sich aufmerksam zu machen.

„Allmählich könnte Hilmar zur Sache kommen“, raunte er. „Wir stecken in den Ermittlungen fest und die Zeit rennt uns davon.“ Er schien verärgert zu sein.

„Keine Ahnung, warum das so lange dauert“, antwortete sie im Flüsterton.

Als die Tür geöffnet wurde, verstummten augenblicklich die Kollegen. Hilmars ernste Miene sprach Bände und Sofie fragte sich, was für eine Welle sie gleich überrollen würde.

„Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen“, hob Hilmar seine Stimme, als er zum Podium getreten war. „Leider muss ich Ihnen an diesem Morgen schlechte Nachrichten überbringen.“ Er stockte und rang um Fassung.

„Verdammt, er soll einfach sagen, was Sache ist“, brummte Andersson und wippte nervös mit dem Fuß.

„Lennart ist in der Nacht bei einem Autounfall tödlich verunglückt, als er von einem Truck von der Straße gedrängt wurde. Sein Wagen hat sich an einem Abhang mehrmals überschlagen und Lennart ist noch an der Unfallstelle seinen schweren Verletzungen erlegen.“

„Warum hat ihn der Truck von der Straße gedrängt?“, rief einer der Kollegen dazwischen.

„Sekundenschlaf.“

Die darauffolgende Stille war kaum zu ertragen.

Hilmar holte geräuschvoll Luft. „Ich kann noch nicht genau sagen, was das für unser Team bedeuten und wer Lennarts Nachfolge antreten wird. Er ist ein guter Chef gewesen und wird uns allen fehlen.“ Hilmar nickte den Kollegen zu und verließ das Podium.

„Und das ausgerechnet jetzt.“

Andersson schluckte schwer und schloss für einen Moment die Augen. Sie konnte ihm ansehen, dass er mit seinen Gefühlen zu kämpfen hatte. Genau wie sie.

„Ich kann es einfach nicht begreifen, dass er uns auf dem Flur nie wieder entgegenkommen wird.“

Sie musste blinzeln, weil die Umgebung vor ihren Augen verschwamm. Ja, sie hatte immer gehofft, eines Tages Lennarts Nachfolge antreten zu können. Aber wenn, dann nicht auf diese Art und Weise. Der heutige Tag hatte wieder einmal gezeigt, wie fragil und vergänglich dieses Leben doch war, und dass sie jeden wunderbaren Moment auskosten sollte.

„Ich hoffe, dass du seine Nachfolge antreten wirst“, raunte Andersson ihr zu. „Du bist mehr als dafür geeignet.“

„Warten wir es erst einmal ab.“

„Keine Bescheidenheit vortäuschen. Du bist ein kluges Köpfchen und die Aufklärungsquote unseres Teams kann sich sehen lassen.“

Obwohl Andersson die älteren Rechte auf die Anwartschaft dieses Postens hatte, verzichtete er freiwillig darauf. Er wollte die Verantwortung für das Team nicht übernehmen, wollte lieber ermitteln, und reichte diese Aufgabe deshalb nur zu gern an Sofie weiter.

„Natürlich wäre es toll, irgendwann Lennarts Nachfolge anzutreten. Aber das hier geht mir einfach zu schnell und fühlt sich komplett falsch an. Ich will nicht ins kalte Wasser geworfen werden.“

„Du kannst dir der Unterstützung der Kollegen sicher sein. Außerdem verfügt niemand außer dir über die entsprechende Qualifizierung für diesen Job.“

„Warten wir es erst einmal ab“, antwortete sie im Flüsterton.

Der Konferenzraum leerte sich, Andersson und sie waren die letzten, die ihn verließen. Während sie den langen Flur entlangschritten, war Sofie von ihren zwiespältigen Gefühlen hin- und hergerissen.

Auf der einen Seite liebte sie es, zu ermitteln und mit Andersson zusammenzuarbeiten. Aber auf der anderen würde sie die Beförderung schon begrüßen. Nur eben nicht jetzt, und nicht unter diesen traurigen Umständen. Außerdem war da noch die innere Uhr, die übermäßig laut tickte. Sie war Anfang dreißig und der Wunsch nach einer Familie nistete sich immer öfter in ihre Gedankenwelt ein.

„Sofie?“

Andersson musterte sie, weil sie unvermittelt stehengeblieben war.

„Na ja, ich bin schon ein wenig überfordert mit der Situation“, gestand sie ihm.

Andersson öffnete die Tür zum Büro und ließ sie eintreten.

„Was liegt dir auf der Seele?“

„Der Fall.“ Sie setzte sich an den Schreibtisch und blickte über den Rand ihres Bildschirmes hinweg zu Andersson. „Ich meine, wenn wir den Täter bereits verhaftet hätten, wäre ich vielleicht geneigt, mit dem Gedanken zu liebäugeln, dein Boss zu werden. Aber so?“ Sie zuckte ratlos mit den Schultern. „Ich will den Täter verhaften, es ist mir ein mehr als dringendes Bedürfnis.“

„Falls dir der Job angeboten wird, dann solltest du zugreifen. Das ist deine Chance, dich zu bewähren.“ Andersson nickte ihr aufmunternd zu. „Du hast schon einige Jahre Erfahrungen sammeln können und dich weitergebildet, das befähigt dich dazu.“

„Ich danke dir sehr für deine Unterstützung, aber vielleicht muss ich mich erst an den Gedanken gewöhnen. Lennarts plötzliches Ableben ist wie ein Tsunami über uns hereingebrochen.“

„Das kannst du laut sagen, ich bin fix und fertig.“ Andersson wandte sich kurz ab und schaute aus dem Fenster, so, als ob er die intensiven Gefühle der Trauer vor ihr verbergen wollte. Seine Stimme klang belegt, als er weitersprach. „Wir sollten uns jetzt wieder auf das Wesentliche konzentrieren und das Morden stoppen.“

„Du gehst also auch davon aus, dass es nicht bei zwei Opfern bleiben wird?“

„Ja. Ich habe das Gefühl, dass der Täter gerade erst zur Hochform aufläuft.“

„Sehe ich auch so, und gerade das macht mir Angst. Solange wir die Verbindung zwischen den beiden jungen Frauen nicht geknackt haben, tappen wir weiterhin im Dunkeln.“

„Gibt es kein verbindendes Element?“

„Nein, absolut nicht. Die beiden Opfer haben verschiedene Schulen besucht und wohnen jeweils am anderen Ende der Stadt. Während die eine Familie gut betucht ist, hat Astrid Nilson ihre Tochter allein großgezogen.“

„Hobbies, Freunde?“

„Bis jetzt gibt es keine gemeinsame Schnittstelle. Während Ylva mit der hochgewachsenen Figur eines Models punkten kann, ist Hanna eher eine unscheinbare junge Frau auf dem Weg ins Erwachsenenalter. Unser Täter wählt sie demzufolge nicht nach dem Aussehen aus, um sie stellvertretend zu töten. Es muss ein anderes Merkmal sein, das diese jungen Frauen verbindet.“

„Tja, das ist der Knackpunkt dieses Falles. Ohne Motiv wird es schwer, überhaupt ein Täterprofil zu erstellen.“ Andersson fuhr sich müde über die Augen.

„Sehe ich auch so. Ich werde Hannas Freundinnen befragen, in der Hoffnung, dass sie vielleicht mehr über sie wissen.“

„Willst du das übernehmen?“

Sie wusste, dass Andersson Befragungen nicht sonderlich mochte. „Ja, das wird wohl das Beste sein.“

„Ihr Frauen habt eindeutig mehr Feingefühl.“

„So kann man es auch sagen, wenn man sich davor drücken will.“

„Bitte nicht unfair werden.“ Ein gequältes Lächeln huschte über sein Gesicht.

Sie seufzte. „Ein richtig bescheidener Tag heute.“

„Das kannst du laut sagen.“

„Gut, dann werde ich jetzt die Freundinnen von Hanna Nilson anrufen und fragen, wann sie Zeit haben.“

„Mach das.“

Nur eine halbe Stunde später stieg Sofie vor einem verklinkerten Einfamilienhaus aus dem Wagen. Der Wind trieb die Blätter vor sich her und blies ihr die kalte Luft ins Gesicht. Es war kalt, viel zu kalt für diese Jahreszeit, und sie sehnte sich schon jetzt nach den warmen Sommertagen zurück. Natürlich mochte sie auch die heimelige Stimmung des Julfestes, wenn sie sich in ihren eigenen vier Wänden verkriechen konnte. Sie liebte es, mit dicken Wollsocken und einem heißen Tee auf der Couch, sich einfach gestrickte Liebesfilme anzusehen. Dann konnte sie den Arbeitsalltag ausblenden und ihre einsame Seele mit genügend Nahrung versorgen.

Sie blendete die Gedanken aus, öffnete das Gartentor und folgte einem Plattenweg aus dunklem Schiefer zum Eingang. Noch bevor sie auf den Klingelknopf drücken konnte, öffnete Lotta, Hannas beste Freundin, die Tür.

„Hallo“, sagte sie knapp.

„Ich bin Sofie Palmgren, wir hatten miteinander telefoniert. Darf ich reinkommen?“

„Meine Mutter ist noch nicht da“, sagte Lotta. „Sie will bei diesem Gespräch dabei sein.“

„Kein Problem, das ist ihr gutes Recht“, antwortete Sofie und zwang sich zu einem Lächeln. Lotta war noch minderjährig und durfte sowieso nicht ohne das Beisein eines Elternteiles befragt werden.

Genau in diesem Moment fuhr ein Wagen vor. Eine Frau, Ende vierzig, stieg aus und näherte sich ihnen mit schnellen Schritten. Mit einem ernsten Blick streckte sie die Hand aus, um Sofie zu begrüßen und sie ins Haus zu bitten.

„Setzen Sie sich doch.“ Lottas Mutter deutete auf einen bequemen Sessel, in dessen weichem Polster sie regelrecht versank. So einen würde sie sich auch für ihre eigenen vier Wände wünschen.

„Möchten Sie etwas zu trinken? Kaffee oder Wasser?“

„Nein danke“, sagte Sofie. „Ich möchte Ihrer Tochter nur paar Fragen zu Hanna Nilson stellen.“

„Was für eine schreckliche Sache“, erwiderte Lottas Mutter und griff nach der Hand ihrer Tochter. „Ich kann nur hoffen, dass sie dieses Monster schnell fassen, damit wir uns auf den Straßen wieder sicher fühlen können.“

„Wir geben unser Bestes“, versicherte Sofie und beugte sich leicht nach vorn. „Lotta, deine beste Freundin hat in letzter Zeit sehr hochwertige Kleidung getragen. Weißt du vielleicht, woher Hanna die Kleidungsstücke hatte?“

„Sie wollte nicht mit mir darüber reden. Sie hat mir nur erzählt, dass sie zweimal in der Woche für mehrere Stunden arbeiten geht, wenn ihre Mutter Spätschicht hat.“

„Ist das ein Nebenjob gewesen?“

„Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ihre Mutter davon nichts mitbekommen sollte.“

„Warum?“

Lottas Wangen glühten. „Sie hat wohl einen gefälschten Ausweis benutzt, um sich als volljährig auszugeben.“

„Weil Hanna den Job sonst nicht bekommen hätte?“

„Ja, ich glaube schon.“ Lotta wurde zunehmend nervöser, als sie die fragenden Blicke ihrer Mutter bemerkte.

„Was hat sie dir noch erzählt?“

„Dass sie richtig viel Geld verdient.“ Lotta strich sich fahrig eine Strähne hinters Ohr.

„Was genau hat sie in diesem ominösen Job gemacht?“

„Darüber hat Hanna geschwiegen. Ich hatte das Gefühl, dass es ihr peinlich ist.“

„Also kannst du mir nichts darüber sagen?“

Lotta schüttelte den Kopf und Sofie konnte ihr ansehen, wie unwohl sie sich bei dieser Befragung fühlte.

„Ehrlich gesagt, bin ich schon ein wenig verwundert“, sagte Lottas Mutter. „Warum hast du mit mir nie über Hannas Job gesprochen?“

„Weil Hanna es mir im Vertrauen erzählt hat“, antwortete Lotta. „Sie wollte sich nur ein paar Designerklamotten kaufen und dann wieder aufhören.“

„Das alles klingt wenig vertrauenserweckend.“ Lottas Mutter musterte ihre Tochter zweifelnd.

„Handelt es sich um eine unseriöse Tätigkeit?“, fragte Sofie.

„Dazu kann ich wirklich nichts sagen. Hanna war nur an dem Geld interessiert, mehr nicht.“

Lottas Stimme vibrierte leicht. Das Mädchen schien sich unter ihrem Blick zu winden, aber Sofie blieb hart.

„Ist dir dieser Job bedenklich vorgekommen?“

„Ja, irgendwie schon“, gab Lotta zu. „Innerhalb kürzester Zeit so viel Geld zu verdienen, ist nicht normal.“

„Hast du dir Sorgen um Hanna gemacht?“

„Natürlich“, gestand Lotta leise.

„Bist du ebenfalls an diesem Job interessiert gewesen und hast Hanna danach gefragt?“

Lotta warf ihrer Mutter einen scheuen Blick zu, bevor sie antwortete. „Ja. Aber sie hat gesagt, dass sie mir diesen Job niemals zutrauen würde.“

„Du hast sie tatsächlich gefragt?“, sagte ihre Mutter enttäuscht. „Obwohl wir dich finanziell immer unterstützt haben?“

„Na ja, der Gedanke hat sich toll angefühlt, sein eigenes Geld ausgeben zu können, ohne jemanden fragen oder darum bitten zu müssen.“

„Ach Lotta …“

„Anhand des Honorars, dass Hanna erhalten hat, und ihrer Weigerung, dir mehr darüber zu erzählen, gehe ich davon aus, dass der Job außerhalb einer legalen Tätigkeit lag“, sagte Sofie.

„Das sehe ich auch so“, stimmte Lottas Mutter ihr zu und wandte sich wieder an ihre Tochter. „Du hättest dich damit in Lebensgefahr begeben, das ist dir schon klar?“ Sie war außer sich.

Lotta verzog das Gesicht. „Du musst dich nicht aufregen, es ist doch nichts passiert.“

„Ja, aber du bist nah dran gewesen. Wie hätte ich dir helfen sollen, wenn du in Gefahr gewesen wärst?“

„Selbst wenn ich gewusst hätte, was das für ein Job ist, heißt das doch noch lange nicht, dass ich ihn auch gemacht hätte“, rechtfertigte sich Lotta.

Sofie vermied es, für Lottas Mutter Partei zu ergreifen, damit das Mädchen nicht abblockte.

„Konntest du heraushören, um was für eine Art von Tätigkeit es sich gehandelt hat?“, fragte Sofie nochmals. „Oder hast du einen leisen Verdacht? Hanna ist schließlich deine beste Freundin gewesen.“

Lotta wischte sich verstohlen über die Augen, dieses Gespräch setzte ihr zu. Sie hatte ihre beste Freundin verloren und musste jetzt Rede und Antwort stehen, für Dinge, die sie nicht zu verantworten hatte.

„Nein, ich weiß es einfach nicht. Einmal habe ich gedacht, dass sie vielleicht bei einem Escort-Service arbeiten könnte. Aber das hat sie lachend verneint und gesagt, dass sie niemals so weit gehen würde.“

„Himmel, und du hast dich auch noch für diesen Job interessiert“, rief Lottas Mutter entsetzt.

„Mama, bitte, es ist doch nichts passiert.“

Sofie schaltete sich sofort wieder dazwischen. „Schade, dass die Angaben so vage sind.“

„Tut mir leid, dass ich nicht helfen konnte.“

„Gibt es vielleicht jemanden, der dir spontan einfällt, mit dem Hanna vielleicht gesprochen haben könnte?“

„Ja, da hat es jemanden gegeben, aber ich habe sie nur von weitem gesehen.“

„Keinen Namen?“

„Leider nicht.“

„Kannst du sie beschreiben?“

„Kastanienbrauens, langes Haar, schlanke Figur und sie hat eine weit geschnittene Jeans und eine karierte Jacke getragen.“

„Danke.“ Sofie notierte sich die Angaben und schaute wieder auf. „Wenn dir doch noch etwas einfallen sollte, dann meldest du dich bitte. Jeder noch so kleine Hinweis könnte wichtig sein.“ Sie schob das Visitenkärtchen mit ihrer Telefonnummer über den Tisch und stand auf, um sich zu verabschieden. Lottas Mutter begleitete sie zur Tür.

„Haben Sie schon eine Spur?“, fragte sie.

„Keine Sorge, wir sind gut in unserem Job“, antwortete Sofie.

„Sie weichen mir aus.“

„Über laufende Ermittlungen darf und will ich nicht sprechen.“

Lottas Mutter nickte ihr noch einmal zu und schloss die Tür hinter ihr. Sofie hatte sich mehr erhofft und kehrte enttäuscht in die Behörde zurück.

KapitelDrei

Svenja zapfte ein Bier, schenkte den Wein ein und stellte die Gläser auf das Tablett. Vorsichtig umrundete sie die Tische und hatte immer noch Angst, einem der Herren die Getränke über den Anzug zu schütten. An die enganliegende Arbeitsbekleidung hatte sie sich inzwischen gewöhnt, auch wenn das knappe Oberteil unter den Achseln ein wenig zwackte.

Die Gäste waren meist gut betucht, von ganz jung bis zum Rentenalter war alles dabei. Sie musste sie nur bedienen, aber all diese Männer, die ihre Frauen betrogen, hinterließen einen bitteren Nachgeschmack. Es konnten schließlich nicht alle Single sein, weil auch hin und wieder ein Ehering am Finger aufblitzte.

Was in den Zimmern vor sich ging, davon bekam sie hinter dem Tresen kaum etwas mit. Aber sie wollte sich nicht beschweren, das Trinkgeld war fürstlich und das Arbeiten angenehm. Da hatte sie tagsüber in ihrem realen Job bedeutend mehr Stress.

„Na, Süße, hast du schon über mein Angebot nachgedacht?“

Der ältere Mann, den alle Olof nannten, tätschelte ihren Po. Sie ignorierte diese Geste und lächelte freundlich.

„Haben Sie noch einen Wunsch?“, fragte sie höflich.

„Ja, dich zum Nachtisch.“ Er stieß ein heiseres Lachen aus.

„Ich bediene nur.“

„Eben, genau aus diesem Grund will ich dich auch.“

„Tut mir leid, aber das steht nicht zur Debatte.“

Sie lächelte noch immer, als sie sich umdrehte und zur Theke zurückkehrte. Dieser Olof war ihr suspekt, sie mochte seine großspurige Art einfach nicht. Er hatte ihr eine Menge Geld geboten, damit er sich mit ihr amüsieren konnte. Aber sie hatte dankend abgelehnt. Obwohl es schon verlockend war, so viel Geld in den Händen zu halten. Jedoch hatte sie in diesem Laden nur angeheuert, um sich nebenbei etwas dazuzuverdienen und zur Seite zu legen. Was die anderen Mädchen dort taten, ging sie nichts an.

Arne, ein junger Mann aus gutem Haus, spendierte eine Runde Champagner. Mara saß auf seinen Knien und kicherte, während er an ihrem Ohrläppchen knabberte. Mara war auch diejenige gewesen, die sie angesprochen hatte, ob sie nicht Lust hätte, in diesem Etablissement zu kellnern. Anfangs hatte sie sich nicht viel dabei gedacht. Sie gehörte nicht zu diesen Mädchen, die mit weiblichen Attributen gut ausgestattet war. Man schaute oft an ihr vorbei oder über sie hinweg, wahrscheinlich, weil sie noch immer sehr jung, unschuldig und beinahe knabenhaft wirkte.

Aber in diesen vier Wänden schien das völlig anders zu sein. Ständig wurde sie von den männlichen Gästen nach dem Alter gefragt und mit eindeutigen Angeboten überhäuft. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie begriffen hatte, warum das so war – es ging immer nur um Macht, Unterdrückung und Demütigung. Das war das einzig wahre Vergnügen. Ihr kindliches, eher unreifes Aussehen zog diese Männer an wie die Motten das Licht.

„Svenja? Alles okay?“ Lisa, die hinter der Theke stand, musterte sie aufmerksam.

„Entschuldige, ich war mit meinen Gedanken gerade woanders.“

„Lass die Herren bitte nicht zu lange warten. Wir wollen doch nicht, dass der Champagner warm wird.“ Lisa zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

„Schon klar, dass käme einem Verbrechen gleich“, antwortete Svenja lachend.

Nach fünf Stunden war sie froh, als sich der anstrengende Abend dem Ende neigte und der letzte Gast endlich gegangen war. Sie verabschiedete sich von den Kolleginnen und trat durch den hinteren Ausgang hinaus in die dunkle Nacht. Die kühle Luft ließ sie erschaudern und sie schlug den Kragen der Jacke hoch. Dann lief sie los und hastete den schmalen, schlecht beleuchteten Weg entlang. Ihre Schritte hallten auf dem Asphalt wider, dem einzigen Geräusch um sie herum. Der schwache Schein der Straßenlaternen warf verzerrte Schatten, die sich geisterhaft bewegten, sobald sie aus den Augenwinkeln verschwunden waren.

Svenja konnte noch immer den Champagner auf ihren Lippen schmecken, den ihr ein Gast spendiert hatte. Eine flüchtige Erinnerung an das Lächeln und die flüsternden Gespräche des Abends. Aber jetzt, in diesem Augenblick, fühlte sich alles so fern, so unwirklich an. Als sie plötzlich ein leises Räuspern hörte, drehte sie sich um. Aber außer den sich windenden Schatten war niemand zu sehen. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie das Tempo erhöhte. Jemand war hinter ihr, da war sie ganz sicher.

Eine bedrückende, beängstigende Spannung lag in der Luft und sie konnte die Furcht spüren, die sich wie eine kalte Hand um ihren Brustkorb legte. Ihr Blick wanderte suchend umher und jeder dunkle Schatten schien mit einem Mal eine potenzielle Bedrohung zu sein. Der Weg nach Hause zog sich quälend in die Länge, fast so, als würde er sich mit jedem Schritt immer weiter ausdehnen.

Das Geräusch hinter ihr – das, was sie nicht sehen konnte – kam näher und näher. Ihre Sinne waren geschärft, während allmählich die Panik hochkochte. Warum hatte sie ausgerechnet heute ein Glas getrunken und das Auto stehenlassen? Wo sie doch schon seit Tagen das Gefühl hatte, beobachtet zu werden? Sie musste sich zusammenreißen, um nicht panisch davonzulaufen und um Hilfe zu rufen. Nur noch zwei Straßen, dann hatte sie es geschafft.

Ihr Atem ging stoßweise, als sie den Schlüsselbund aus der Tasche angelte, mit zitternden Händen die Tür aufschloss und ins Innere stürzte. Aber das vertraute Gefühl von Sicherheit, das sie sonst empfand, wollte sich einfach nicht einstellen. Sie war allein, und was auch immer hinter ihr gelauert hatte, würde sie auch weiterhin verfolgen.

Sie trat ans Fenster heran und blickte nach unten. Bis auf eine getigerte Katze, die die Straßenseite wechselte, war niemand zu sehen. Sie wollte sich gerade abwenden, als sich ein Schatten aus dem gegenüberliegenden Hauseingang löste. Die Glut einer Zigarette leuchtete kurz auf und erhellte auf gespenstische Art das Gesicht des Mannes, der zu ihr aufschaute.

Hastig wich sie zurück und stieß dabei gegen die Tischkannte. Sie stieß einen wütenden Fluch aus und zog die Vorhänge zu. Jetzt konnte sie niemand mehr beobachten.

Nach einer ausgiebigen Dusche und einem kleinen Mitternachtssnack zog sie sich ins Schlafzimmer zurück. Sie gönnte sich noch eine Folge ihrer Lieblingsserie und löschte anschließend das Licht. Aber an Schlaf war nicht zu denken, unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Trotz der Stille tobte ein Sturm in ihrem Kopf. Immer wieder tauchte die dunkle Silhouette des Mannes auf, der sie beobachtet hatte. Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich aus, weil sie wusste, dass das kein Zufall gewesen war.

Furcht mischte sich mit Verwirrung und einem dumpfen Unbehagen. Warum hatte er sie angesehen? War sie tatsächlich das Ziel seiner Beobachtung? Sie fühlte sich wie in einem Netz aus Unsicherheit und Angst gefangen, unfähig, sich daraus zu befreien. Nicht nur die Dunkelheit nistete sich tiefer und tiefer in ihrer Seele ein.

Ihre Gedanken wanderten zurück zu den Augen dieses Mannes, die durch die Glut der Zigarette für den Bruchteil einer Sekunde zu erkennen gewesen waren – eine Mischung aus Bedrohung und Geheimnis. Was wollte er von ihr? Die Frage schlich sich wie Gift in ihre Gedanken, ließ sie nicht mehr los. Sie spürte die Sorge, die davon ausging und ihr Herzschlag beschleunigte sich, während sie weiter grübelte. Dabei brauchte sie dringend den Schlaf.

Von der Furcht getrieben, sprang sie schließlich wieder aus dem Bett. Vorsichtig schob sie die Vorhänge auseinander und schaute nervös auf die Straße hinunter. Das fahle Licht der Straßenlaternen warf lange Schatten auf dem nassen Asphalt, aber der Fremde, der sie zuvor noch verfolgt hatte, war verschwunden. Eine Welle der Erleichterung durchflutete sie, aber die Furcht war immer noch tief in ihrem Inneren verankert. Sie konnte einfach nicht ausblenden, dass junge Frauen auf den Straßen momentan nicht mehr sicher waren.

Zumindest eine von ihnen hatte im selben Club gearbeitet, was ihr zu denken gab. Der heutige Abend hatte für einen Vorgeschmack gesorgt, was in den nächsten Tagen auf sie zukommen würde, und sie dachte tatsächlich darüber nach, zur Polizei zu gehen. Aber was sollte sie denen erzählen? Sie hatte schließlich eine Verschwiegenheitsklausel unterschrieben. Sobald sie ihr Schweigen brechen würde, wäre eine fünfstellige Strafzahlung fällig, und sie hatte nicht den Hauch einer Chance, dem Ganzen zu entgehen. Vielleicht wäre es das Beste, zu kündigen und wieder zurück in die Heimat zu ziehen.

KapitelVier

Sofie war eine der letzten gewesen, die das Büro verlassen hatten. Die Uhr zeigte kurz nach Mitternacht und sie beschloss, mit einem Drink ihr aufgewühltes Gemüt zu besänftigen. Der Weg zur Bar fühlte sich wie ein Ausweg an, ein Versuch, den Schmerz und die Verwirrung abzuschütteln. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um den Unfalltod ihres Vorgesetzten. Aber es war nicht nur Trauer – es war ein Geflecht aus Wut, Schuld und Hilflosigkeit, das sich in ihrem Innersten verwoben hatte. Lennart war mehr als nur ein Chef gewesen – er war ein Mentor, jemand, dem sie vertraut hatte. Jetzt fühlte es sich an, als hätte man einen Teil von ihr weggerissen, und sie konnte nicht einmal verstehen, warum das so war.

Und dass die Ermittlungen so schleppend verliefen, goss nur noch mehr Öl ins Feuer ihrer inneren Unruhe. Sie hatte gehofft, dass die Wahrheit schnell ans Licht kommen würde. Stattdessen zog sich das Ganze hin, als hätte man absichtlich alles in Nebel gehüllt.

Sie stellte den Wagen in einer Nebenstraße ab, um die wenigen Meter zu Fuß zurückzulegen. Während sie durch die kühle Abendluft lief, kämpfte sie gegen die widersprüchlichsten Emotionen an. Sie wollte stark sein, aber die Ungewissheit nagte an ihr. Warum war alles nur so verworren und undurchsichtig?

In der Bar hoffte sie, für einen Moment den Kopf freizubekommen. Das Dröhnen der Musik und das Rauschen der Gespräche um sie herum, begrüßte sie als willkommene Ablenkung. Obwohl sie wusste, dass sich der Schmerz nicht mit einem Drink besänftigen ließ, orderte sie einen Cocktail und schob sich mit dem Glas in der Hand durch die gefüllte Bar. Während sie sich durch die Menge bewegte, stieß sie versehentlich gegen einen Mann, der sich genau in diesem Moment zu ihr umdrehte. Der Inhalt des Glases ergoss sich über das Jackett, das er sich locker über den Arm gelegt hatte.

„Sorry!“, rief sie noch im Augenblick des Malheurs.

Der Mann, groß und gut aussehend, starrte auf den dunklen Fleck, der sich in Sekundenschnelle um ein Vielfaches vergrößerte. „Können Sie nicht aufpassen? Das Jackett ist neu“, sagte er verärgert.

Sofie war inzwischen leicht genervt von der überfüllten Bar, und von der harschen Reaktion des Mannes. „Erstens, war es keine Absicht, und zweitens, haben Sie im Weg gestanden.“

„Im Weg?“, wiederholte er und funkelte sie an. „Vielleicht sollten Sie lernen, wie man ein Glas hält.“

Sie schaute zornig zu ihm auf. „Und vielleicht sollten Sie sich erst einmal beruhigen. Das Jackett kann man auch in die Reinigung bringen, ist doch nur ein bisschen Alkohol.“

Er versuchte, den Fleck mit einer Serviette abzutupfen, aber der Ärger blieb in seinen Augen. „Nur ein bisschen Alkohol? Das Jackett war teuer.“

Sofie hob resigniert die Hände. „Okay, wie wäre es, wenn ich die Kosten der Reinigung übernehme? Dann sind wir quitt.“

Der Mann blickte kurz auf das Jackett und dann wieder zu ihr. „Lieber nicht, wer weiß, was noch alles schiefgeht.“

„Ich denke, das reicht jetzt. Suchen Sie sich eine andere Person, an der sie Ihren Frust auslassen können.“

Sie schob sich an ihm vorbei in Richtung Bar, um einen neuen Cocktail zu ordern, aber er umfasste ihren Oberarm und hielt sie zurück. Er atmete tief durch und schien sich langsam zu beruhigen.

„Tut mir leid, ich habe etwas überreagiert.“

„Etwas?“

„Können Sie die Entschuldigung nicht einfach annehmen?“

Sie nickte. „Einverstanden.“

„Um unsere hitzigen Gemüter zu beruhigen, werde ich uns einen Drink spendieren. Haben wir einen Deal?“

„Deal“, sagte sie mit einem Lächeln und ging in Richtung Bar. Als sie sich zu ihm umdrehte, bemerkte sie, dass er sie mit dem Jackett in der Hand und einem leichten Lächeln auf den Lippen unverhohlen musterte. Er war ein wenig älter als sie, vielleicht Ende Dreißig, Anfang vierzig. Sein kastanienbraunes, leicht gewelltes Haar fiel ihm in die Stirn, er hatte einen klaren, wachen Blick und volle Lippen.

Rasch wandte sie den Blick ab. Himmel, was war nur mit ihr los? Sie war in die Bar gekommen, um ihren Kummer zu ertränken, und nicht, um einen Typen aufzureißen. Aber dieser Mann hatte etwas an sich, das sie in Schwingungen brachte.

Er schloss zu ihr auf und fragte nach ihren Wünschen. Dann bestellte er zwei Cocktails. „Ich habe gesehen, dass gerade ein Tisch frei geworden ist. Wollen wir uns setzen?“

„Sehr gern.“

Er begleitete sie zum Tisch und rückte ganz gentlemanlike den Stuhl zurecht, damit sie Platz nehmen konnte.

„Übrigens, ich bin Kjell.“

„Und ich bin Sofie.“

„Schön dich kennenzulernen.“

„Danke.“

Ihre Finger kreisten gedankenverloren um den Rand ihres Cocktailglases. Die Stimmung war angenehm gedämpft, das Lachen und die Gespräche um sie herum verschwammen. Als sie aufschaute, bemerkte sie erneut seinen Blick. Seine Augen leuchteten im warmen Licht. Mit einem leichten Lächeln hob sie ihr Glas und prostete ihm zu. Das Eis war gebrochen.

Die Unterhaltung floss mühelos dahin, er erzählte von dem Umzug und seiner Aufregung über den neuen Job, den er morgen antreten würde. „Es fühlt sich wie ein Neuanfang an“, sagte er, während er sie mit seinem umwerfenden Lächeln anschaute.

„Dann wünsche ich dir viel Erfolg und nette Kollegen.“

„Danke, ich bin sehr zuversichtlich. Übrigens, das Jackett hatte ich mir gerade gekauft, um einen guten Eindruck zu hinterlassen. Ich bin nur kurz in die Bar, um mir für den morgigen Tag Mut anzutrinken.“

Er lachte, ein warmer, tiefer Klang, und sie konnte plötzlich die Spannung zwischen ihnen spüren. Dieser Mann könnte ihr gefährlich werden.

Sie unterhielten sich noch eine Weile, bis er sich schließlich nach vorn neigte, wobei seine Hand ganz zufällig ihre streifte. „Ich muss leider los“, sagte er. „Aber es war mir ein Vergnügen, dich kennenzulernen.“

„Dito“, erwiderte sie. „Auch für mich wird es Zeit, aufzubrechen.“

Sie erhoben sich beinahe zeitgleich und Sofie folgte ihm nach draußen. Vor der Bar drehte er sich zu ihr um. Unter dem sternenklaren Nachthimmel blickte er sie noch einmal an, bevor er ihr Kinn hob und sie sanft, aber bestimmt küsste. Ihre Lippen berührten sich in einer zarten, flüchtigen Geste, die dennoch voller Versprechen steckte.

„Viel Glück morgen“, flüsterte sie, während er sich von ihr löste. „Vielleicht sieht man sich mal wieder.“

„Vielleicht“, erwiderte er und lächelte ihr zu, dann hatte ihn die Dunkelheit auch schon verschlungen. Sie blieb noch einen Moment lang stehen, die Wärme des Kusses auf ihren Lippen, und sah ihm nach, während das Gefühl einer besonderen Begegnung noch in der Luft hing. Aber sie glaubte nicht, dass sie ihn wiedersehen würde, weil sie keine Nummern ausgetauscht hatten. Wahrscheinlich war er auch nur auf der Durchreise, wer wusste das schon.

Sie legte die Strecke zu Fuß zurück. Die Luft war kühl und ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, aber zum Glück war es nicht sehr weit. Ihr Haus lag in völliger Dunkelheit, was ihr an langen Abenden wie diesen immer einen leichten Stich versetzte, weil niemand auf sie wartete. Sie trat durch die Tür und wurde von einer bedrückenden Stille empfangen. Kein Lachen, keine Stimmen, nur das leise Ticken der Wanduhr begleitete sie. Achtlos kickte sie die Schuhe von den Füßen, während ihre Schultern erschöpft herabsanken. Die Einsamkeit, die in jeder Ecke des Hauses lauerte, war kaum auszuhalten. Aber sie hatte dieses Leben selbst gewählt, das ihr normalerweise auch nichts ausmachte.

Katze Isa strich ihr maunzend um die Beine und für einen kurzen Moment fühlte Sofie etwas Wärme. Ihre Finger glitten durch das samtig weiche Fell der Katze, aber das vertraute Gefühl linderte nicht den Schmerz.

Ausgerechnet heute fühlte sie sich verloren, und der Gedanke, jeden Abend in dasselbe leere Haus zurückzukehren, ließ sie beinahe schwermütig werden. Dabei wusste sie noch nicht einmal, warum sie so empfand. Ihr Blick wanderte durch den Raum und sie sehnte sich nach einer Stimme, einer Berührung, etwas, das die Kälte in ihrem Inneren vertreiben könnte.

Sie gab sich einen Ruck, fütterte Isa und verschwand im Badezimmer. Auch heute war es wieder später als beabsichtigt geworden und sie fiel erschöpft ins Bett. Der leichte Alkoholgehalt des Cocktails ließ sie rasch einschlafen, bevor sie sich wieder in einem Geflecht aus Selbstvorwürfen und Zorn verfangen konnte.

Sofie riss blinzelnd die Augen auf, aber wider Erwarten befand sie sich in völliger Dunkelheit. Sie drehte den Kopf nach links und erwartete, dass der Mond silbern durch die Vorhänge des Schlafzimmerfensters schimmerte. Aber das tat er nicht, eine allumfassende Finsternis hatte sich über sie gelegt. Sie wollte die Arme bewegen, was kaum möglich war. Die Enge um sie herum drückte auf ihre Brust, der Bewegungsradius war stark eingeschränkt. Ihr Herz flatterte wie ein gefangenes Vögelchen im Käfig und die Luft war stickig und heiß. Die Holzkiste, in der sie lag, glich einem Sarg, und sie wurde von einer Welle der Panik erfasst.

Kalter Schweiß bedeckte ihre Haut, als sie mit beiden Händen hektisch nach einer Öffnung, nach einem Ausgang tastete. Aber ihre Fingerspitzen trafen nur auf hartes Holz. Verzweifelt kratzte sie mit ihren Nägeln daran entlang, erst ganz behutsam, dann immer brutaler, während die Angst sich wie ein Schraubstock um ihren Brustkorb schloss. Die Holzsplitter bohrten sich tief ihre Haut, ohne dass sie den Schmerz wahrnahm – die Panik war zu überwältigend. Obwohl sie den Widerstand spürte, machte sie weiter und weiter, bis ihre Fingernägel splitterten. Erst jetzt durchzuckte sie ein scharfer, dumpfer Schmerz, aber sie konnte einfach nicht aufhören.

Ihre Kehle brannte, als sie zu schreien versuchte, aber sie presste nur mühsam einen wimmernden Laut hervor. Der Sauerstoff schien immer knapper zu werden, als wenn sie sich in einem Vakuum befinden würde. In ihrem Kopf begann es zu schwirren, die Ränder ihres Bewusstseins flackerten, aber die Panik hatte sie fest im Griff. Sie trommelte mit den blutenden Händen gegen das Holz und ihre Stimme überschlug sich in stummen Schreien, die niemand hören konnte. Die Stille um sie herum war unerbittlich und wurde nur von einem Schluchzen unterbrochen, von dem sie nicht einmal wusste, ob es das eigene war. Ihre Glieder zitterten unkontrolliert, während sie verzweifelt dagegen ankämpfte, bis sie in einem samtigen Schatten versank …

Mit einem kehligen Laut fuhr sie aus dem Schlaf. Ihr Herz klopfte ein Stakkato, während sich ihre Finger in das weiche Laken krallten. Das schwache Morgenlicht drang durch die Vorhänge und der Verkehr rauschte. Der Albtraum hing wie ein schwerer Schatten über ihr, zwar sehr vage, aber doch beunruhigend. Sie spürte das Kribbeln der Angst in ihrem Nacken und sie zitterte leicht, als sie sich aufsetzte.

Sie versuchte, die Bilder des Traums zu fassen, aber sie entglitten ihr, verschwommen wie Nebel. Es war ein Gefühl von Verlorenheit, von Bedrohung, von Gefahr. Diese Träume machten etwas mit ihr. Schon seit geraumer Zeit litt sie darunter, ohne zu wissen, woher sie stammen könnten. Aber ausgerechnet jetzt häuften sie sich.

Sie setzte sich auf, fuhr sich durchs verschwitzte Haar und schaute auf die Uhr. Es war bereits kurz vor sechs, sie konnte auch gleich aufstehen. Auf Socken tappte sie in die Küche, um die Kaffeemaschine anzustellen. Während sie sich das Frühstück zubereitete, versuchte sie, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Aber sie waren noch immer in dem dunklen Labyrinth des Albtraums gefangen.

Sie setzte sich an den Küchentisch und stocherte lustlos im Rührei herum. Auch der Geschmack des Kaffees war bitterer als sonst. Sie fragte sich, welche Bedeutung der Traum haben könnte, ob er eine Art Vorwarnung oder einfach nur die Nachwirkungen der Ereignisse der letzten Tage war.

Als sie schließlich zur Polizeibehörde aufbrach, fühlte sie einen inneren Widerstand. Die Anspannung nahm zu und die Straße wirkte länger als sonst. Irgendwo tief in ihr keimte das Bedürfnis nach Antworten, nach Klarheit – aber gleichzeitig war da auch die Furcht vor dem, was sie in ihren Albträumen finden könnte.

KapitelFünf

Kjell verließ nur ungern das warme Bett. Aber die Aufregung, die er in jeder Faser seines Körpers spürte, steigerte seine Nervosität, weil heute ein neues Kapitel begann. Sein erster Tag als Vorgesetzter – eine Rolle, die sowohl Verantwortung als auch Macht mit sich brachte. Leider schien der Morgen nicht so perfekt zu verlaufen, wie er es sich erhofft hatte. Nach seinen Barbesuch hatte er sich noch mit dem Fleck auf dem Jackett beschäftigt und mühsam versucht, ihn auszuwaschen. Aber als er das Jackett jetzt im morgendlichen Licht betrachtete, schimmerte der Fleck noch leicht durch. Er war ein unverbesserlicher Perfektionist, und seine Gedanken kreisten um den Eindruck, den er schon in Kürze hinterlassen würde.

Als er im Speisesaal des Hotels saß, spürte er wieder diese explosive Mischung aus Ruhelosigkeit und Vorfreude. Die Vorfreude, endlich das Zepter in der Hand zu halten, wurde von der unterschwelligen Sorge getrübt, ob er dem Druck auch gewachsen war. Würde sein zerknittertes Jackett seine Autorität untergraben? Oder konnte er sich über den Makel hinwegsetzen und trotzdem souverän wirken? Und warum machte er sich ausgerechnet jetzt über diesen Bullshit Gedanken? Weil dieses Jobangebot völlig überraschend für ihn gekommen war?

Nach zwei Tassen starken Kaffees und einem Teller mit Rührei und Bacon stieg er schließlich in seinen Wagen und brach in Richtung Polizeibehörde auf. Während der Fahrt versuchte er, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die Straßen zogen an ihm vorüber, ohne dass er groß davon Notiz genommen hatte.

Sein Ziel rückte unaufhörlich näher, und mit ihm die unausweichliche Konfrontation mit seiner neuen Rolle. Sein Nacken kribbelte vor lauter Anspannung, als er den Wagen auf dem Parkplatz abstellte und das Gebäude betrat. Er meldete sich an, schritt den langen Flur entlang und grüßte freundlich, sobald ihm ein Kollege entgegenkam. Vor der Tür des Konferenzraumes atmete er tief durch und trat ein.

Er hasste es, im Mittelpunkt zu stehen, und die neugierigen Blicke seiner neuen Kollegen ruhten auf ihm. Aber da musste er jetzt durch. Er ging zum Podium, verschränkte seine Hände und versuchte zumindest, entspannt zu wirken. Als er zu sprechen begann, bemerkte er einen leichten Anflug von Nervosität in seiner Stimme, und hoffte, es irgendwie überspielen zu können. Dieser Moment war enorm wichtig für ihn.

„Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich war anfangs skeptisch, als mir die Stelle angeboten wurde. Aber inzwischen kommt mir dieser Neustart wie gerufen und es ist mir eine Ehre, in Zukunft mit Ihnen zusammenzuarbeiten …“

Mit jedem weiteren Satz wurde seine Stimme fester, als er von den Herausforderungen und der Verantwortung sprach. Ein Funken Entschlossenheit blitzte auf – er war jemand, der die Dinge anpackte und mit Leidenschaft führte. Im Stillen hoffte er, dass seine Kollegen ihm mit der gleichen Offenheit begegneten, mit der er auf sie zuging, weil ihm die Zusammenarbeit auf Augenhöhe wichtig war. Er wollte das Gefühl vermitteln, dass er mit Zuversicht und klarer Vision sein neues Team führen würde.

Plötzlich sah er sie und stockte. Schlagartig waren alle Blicke auf diese Frau gerichtet. Er räusperte sich nervös, um seine Stimme wiederzufinden.

„Ich hoffe, Sie haben inzwischen einen Eindruck erhalten, was mir in der Zusammenarbeit mit Ihnen wichtig ist. Natürlich bedauere ich sehr, dass Lennart das Team nicht mehr leitet. Aber ich bin mir sicher, dass wir auch diesen Fall erfolgreich abschließen werden.“

Während er lächelte, blickte er in die ernsten Gesichter seiner neuen Kollegen. Alles fühlte sich so fremd an, und dann diese Frau, die er auch noch geküsst hatte. Das würde seinen Einstieg enorm verkomplizieren. Anschließend stellten sich seine Kollegen persönlich vor und er musste sich eine Menge Namen merken. Als schließlich die attraktive Kollegin an der Reihe war, beschleunigte sich sein Herzschlag.

„Sofie Palmgren“, sagte sie knapp und wandte sich, ohne mit der Wimper zu zucken, wieder ab. Sie tat einfach so, als wären sie einander noch nie begegnet. Er verfluchte sich für diesen Kuss und würde eine Strategie entwickeln müssen, um ganz normal mit Sofie umgehen zu können. Keine guten Aussichten.

Allmählich leerte sich der Konferenzraum und Kjell schloss sich den Kollegen an. Als er sah, dass Sofie im Aufenthaltsraum verschwand, lief er hinterher, um den Vorfall in der Bar zu klären. Ausgerechnet jetzt prallten berufliche und persönliche Welten aufeinander, was die ohnehin schon angespannte Situation mit einer zusätzlichen emotionalen Schwere belastete.

Sofie stand mit dem Rücken zu ihm, als ob sie der Situation entfliehen wollte.

„Wir müssen reden“, sagte er.

Sie drehte sich zu ihm um und er konnte in ihrem Gesicht lesen wie in einem Buch. In ihr schien ein Sturm aus widersprüchlichen Gefühlen zu toben – Verwirrung, Unsicherheit, vielleicht auch ein Anflug von Zuneigung. Der Kuss, den sie miteinander geteilt hatten, schwebte wie ein unausgesprochener Makel im Raum. Einerseits versuchte er, professionell zu bleiben, andererseits spürte er die emotionale Nähe zu ihr. Und das machte alles nur noch schwieriger.

Sofie holte tief Luft, um die richtigen Worte zu finden.