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Liebe tut weh: Ein skrupelloser Betrüger hat es auf einsame Herzen abgesehen. Aufregung bei der Häkelmafia: Landarztwitwe Witta Claaßen ist auf einen Heiratsschwindler hereingefallen. Die Polizei kann ihr nicht helfen, also eilt Undercover-Ermittlerin Kari Blom zu Hilfe. Alle Spuren führen zum lokalen Theaterfestival. Doch der Hauptverdächtige wird schneller ermordet, als Kari ihn beschatten kann. Also schleust sie sich ins Festival ein, um den Romance-Scammern auf die Schliche zu kommen. Wie sich herausstellt, ist Witta nicht deren erstes Opfer – und nicht ihr letztes ... Urlaubsflair und Krimispannung: der zehnte Fall für Kari Blom.
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Seitenzahl: 468
Veröffentlichungsjahr: 2025
Alter schützt vor Liebeskummer nicht. Diese schmerzliche Erfahrung muss Landarztwitwe Witta Claaßen machen. Denn der charmante Herr, den sie auf einem Datingportal kennenlernt, stellt sich als Betrüger heraus, der Witta um ihr Erspartes erleichtert. Beschämt berichtet sie ihren drei besten Freundinnen davon. Die sind sich einig: So schnell kommt der gewissenlose Casanova nicht davon! Dabei darf Undercover-Ermittlerin Kari Blom natürlich nicht fehlen. Die wollte zwar gerade etwas kürzer treten, schließlich hat sie ein Baby, aber als sie hört, wie Witta über den Tisch gezogen wurde, halten sie keine zehn Pferde mehr auf dem Festland.Zurück auf Sylt, schmiedet sie mit der Häkelmafia einen Plan, der den Romance-Scammer von zwei Seiten einkesseln soll. Einerseits macht Kari das, was sie am besten kann: sich undercover einschleusen, und zwar beim hiesigen Theaterfestival, wo Witta den betrügerischen Romeo auf der Bühne wiedererkannt haben will. Andererseits werfen sie im Internet die Angel aus, wobei Kapitänswitwe Marjike potenziellen Charmeuren auf den Zahn fühlt: Hat es da jemand nur auf ihr Geld abgesehen? Dann wird der Hauptverdächtige ermordet, und alles steht wieder auf Anfang.
Ben Kryst Tomasson, geboren 1969 in Bremerhaven, ist Germanist und promovierter Diplom-Psychologe. Seine Leidenschaft gehört den Geschichten, die das Leben schreibt, den vielschichtigen Innenwelten der Menschen und dem rauen Land zwischen Nordsee und Ostsee.
Im Aufbau Taschenbuch liegt seine gesamte Sylt-Reihe mit Undercover-Ermittlerin Kari Blom vor, die mittlerweile zehn Bände umfasst.
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Ben Kryst Tomasson
Sylter Verrat
Kriminalroman
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Impressum
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1. Witta Claaßen drehte sich vor dem Spiegel und nickte zufrieden. Sie mochte nicht mehr die Jüngste sein, aber gerade jetzt fühlte sie sich wie ein Teenager vor dem ersten Rendezvous. Nun, so etwas Ähnliches war es ja auch.
Das blaue Kleid hatte sie schon seit Jahren nicht mehr getragen. Es war das letzte Geschenk ihres Mannes vor seinem Tod gewesen. Aber es passte immer noch.
Dazu hatte sie die Perlenkette und die Ohrstecker mit den Perlen angelegt. Ihre Beine steckten in einer blickdichten blauen Strumpfhose, ihre Füße in nachtblauen Pumps. Die weiße Dauerwelle war frisch gelegt, das Make-up, für das sie eigens im Beauty-Salon gewesen war, perfekt. Wiederholt hatte man ihr versichert, dass man ihr die mehr als achtzig Jahre nicht ansah. Sechzig, allerhöchstens. Witta hatte sich gefreut, auch wenn sie wusste, dass es professionelle Schmeichelei war.
Sie schenkte ihrem Spiegelbild ein Lächeln. Ihr gefiel, was sie sah. Und Viktor würde es hoffentlich auch gefallen.
Witta warf einen Blick auf die Uhr. In einer Stunde waren sie verabredet. In der Alten Friesenstube, einem der gehobenen Lokale in Westerland. Ob Viktor in Wirklichkeit ebenso gut aussah, wie es den Fotos nach den Anschein hatte? Oder hatte er gemogelt und Bilder verwendet, die uralt waren oder womöglich gar nicht ihn, sondern einen Freund von ihm zeigten? Tatsächlich konnte sie ihn auf keinem der Bilder richtig erkennen, weil er entweder eine tief sitzende Mütze trug oder dem Fotografen halb den Rücken zugewandt hatte. Aber das machte die Sache nur noch interessanter.
Ihre Häkelfreundinnen hatten sich sofort die schlimmsten Szenarien ausgemalt. Sogar von professionellen Betrügern war die Rede gewesen. Aber in Wirklichkeit waren Marijke, Grethe und Alma nur neidisch. Alma hatte zwar ihren Albert, doch was war ein Chauffeur gegen einen Kapitän zur See? Witta hatte den Glanz in Marijkes Augen gesehen. Ihr verstorbener Mann war ebenfalls Kapitän gewesen, genau wie Viktor. Aber nicht Marijke hatte ihn online kennengelernt, sondern sie, Witta!
Wie sehr hatte sie sich dagegen gesperrt, als Sören bei seinem Besuch im Sommer davon angefangen hatte, dass er ihr einen Computer kaufen wollte! Dieses ganze neumodische Zeug war nichts für sie. Ihr Seniorinnenhandy mit den großen Tasten reichte ihr voll und ganz.
Doch ihr Sohn hatte nicht lockergelassen. Dass sie ihn dann beim Telefonieren sehen könnte, hatte er erklärt. Da er als Flying Doctor im Senegal arbeitete und sie ihn höchstens einmal im Jahr zu Gesicht bekam, hatte sie schließlich nachgegeben.
Sören hatte ihr einen Laptop gekauft, den sie im Haus herumtragen und dort aufstellen konnte, wo sie gerade sitzen wollte. Er hatte ihr das Gerät eingerichtet und gezeigt, wie man sich im Internet bewegte.
Zuerst war sie vorsichtig gewesen, hatte den Computer nur eingeschaltet, wenn sie mit Sören zu einem Videochat verabredet war. Was für ein Wort! Warum musste heute alles mit englischen Begriffen durchsetzt sein?
Dann aber war sie mutiger geworden und hatte festgestellt, dass die Sache viel einfacher war als gedacht. Nur ein paar Mausklicks, und die ganze Welt stand ihr offen.
Weil sie noch mehr vom Leben wollte als die Treffen mit ihren Häkelfreundinnen und die Spaziergänge mit der Sylter Ornithologischen Gesellschaft, in der sie alle Mitglieder waren, hatte sie sich bei einer Partnerschaftsbörse angemeldet. Auch mit über achtzig hatte man schließlich noch Träume. Alma hatte auf ihre alten Tage ihre zweite große Liebe gefunden. Warum sollte ihr, Witta, das nicht auch gelingen?
Sie war ins Fotostudio gegangen und hatte ein paar hübsche Bilder machen lassen, die sie anschließend digital herunterladen konnte. Auch das Hochladen auf die Seite der Partnerschaftsbörse hatte sie geschafft, und schon einen Tag später hatten sich mehrere Männer bei ihr gemeldet.
Eine Weile lang hatte sie mit allen Kandidaten Nachrichten ausgetauscht, bis sie festgestellt hatte, dass sie nur mit einem von ihnen auf einer Wellenlänge war.
Viktor Brauer, Ende sechzig, ehemaliger Kapitän zur See, gut aussehend, höflich und charmant. Er hatte sie nicht bedrängt, sondern sich Zeit gelassen, bis er das erste Treffen vorgeschlagen hatte. Witta hatte zurückhaltend reagiert, obwohl sie darauf brannte, ihn persönlich kennenzulernen. Und nun war es endlich so weit!
Sie schlüpfte in ihren guten blauen Mantel, streifte die langen Handschuhe über und nahm ihre perlenbesetzte Handtasche und die Hausschlüssel von der Anrichte. Anschließend warf sie einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Die Dauerwelle saß, Marlene Dietrich selbst hätte nicht besser aussehen können, befand sie.
Beschwingt öffnete sie die Haustür.
Das Taxi wartete bereits. Normalerweise benutzte sie den Bus, schließlich hatte sie eine Monatskarte. Doch zu dieser besonderen Gelegenheit wollte sie standesgemäß auftreten.
Sie setzte sich in den Fond und nannte dem Fahrer die Adresse. Der wirkte zufrieden, weil es keine Kurzstrecke war. Die Fahrt war sicher nicht billig, aber das würde hoffentlich die einzige Ausgabe an diesem Abend bleiben. Viktor würde doch wohl die Restaurantrechnung übernehmen und sie später nach Hause fahren?
Als das Taxi vor der Alten Friesenstube hielt, spürte Witta, wie ihr Puls raste. Wie lange war es her, dass sie sich zuletzt mit einem Mann getroffen hatte? Mehr als ein halbes Jahrhundert, wenn man von dem kurzen Intermezzo mit Alberts Chef absah. Nach Wilhelms Tod hatte es keinen Mann mehr für sie gegeben. Alberts Chef hatte sich rasch disqualifiziert.
Witta bezahlte den Taxifahrer, der verstimmt wirkte, weil sie das Trinkgeld mehr als knapp bemaß. Mit durchdrehenden Reifen brauste er davon. Witta schüttelte den Kopf. Was für ein Lümmel!
Dann wurde ihre Aufmerksamkeit von dem Mann abgelenkt, der vor dem Lokal wartete, einen Strauß gelbe Rosen in der Hand. Groß und stattlich, im schicken silbergrauen Dreiteiler mit offenem Hemdkragen und einem blauen Tuch im Halsausschnitt.
Witta entwich ein leiser Seufzer. In Wirklichkeit sah Viktor Brauer noch viel besser aus, als es die Fotos hatten vermuten lassen!
Der Kapitän hatte sie entdeckt und kam mit großen Schritten auf sie zu.
»Witta!« Er lächelte breit und bot ihr den Arm. »Wie schön, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen.«
»Das finde ich auch.« Witta hängte sich bei ihm ein. Sie war normalerweise nicht um Worte verlegen, doch in diesem Moment konnte sie nicht weitersprechen. Das Glück, das sie empfand, war so groß, dass es ihr den Atem raubte.
Viktor hatte einen Tisch in einer Nische am Fenster reserviert, in der sie ungestört waren. Eine Kellnerin nahm ihr die Blumen und den Mantel ab und brachte die Karten. Witta schlug sie auf und kniff die Augen zusammen.
Sie hatte die Lesebrille eingesteckt, doch wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, wollte sie das hässliche Ding lieber nicht herausholen. Wenn nur diese verdammten Buchstaben nicht so klein wären! Auch Viktors Gesicht war aus der Nähe verschwommen, aber das störte sie nicht. Im Gegenteil. Das volle gewellte Haar, den gepflegten grauen Bart und die strahlend blauen Augen erkannte sie auch so. Das Verwaschene entfernte nur die Falten.
Viktor erwies sich als Gentleman. Er bestellte einen prickelnden Aperitif, den Hauscocktail »Alte Friesenstube« mit Rhabarber, Vanille und Prosecco zum Anstoßen und machte Vorschläge zu Wein und Essen. Witta musste ihre Karte gar nicht bemühen. Viktor las ihr die auf Friesisch verfassten Beschreibungen der einzelnen Gerichte vor und wies sich damit als echtes Küstenkind aus. Ganz offensichtlich beherrschte er den Dialekt. Er hatte sogar denselben Geschmack wie sie: Als Vorspeise wählte er den Ziegenkäse, als Hauptgericht den Nordseesteinbutt mit kanadischem Hummer. Dazu orderte er eine Flasche stilles Wasser und eine Karaffe Sauvignon Blanc.
Sie fanden rasch gemeinsame Gesprächsthemen. Viktor zeigte sich interessiert an Wittas Erfahrungen als Gattin eines Kampener Landarztes, und sie lauschte fasziniert seinen Geschichten vom Leben auf hoher See. Auch über Musik und Theater redeten sie. Witta fand, dass Viktor für einen Mann auf diesem Gebiet ausgesprochen bewandert war.
Das Essen war so delikat, wie Witta es von ihrem letzten Besuch in Erinnerung hatte, der schon einige Zeit zurücklag. Als ihr Mann noch gelebt hatte, waren sie öfter hier gewesen, mit Freunden oder zu Feiern. Wilhelm hatte viele wichtige Leute auf Sylt gekannt, und Sylts ältestes Haus mit dem Reetdach, den alten Schiffsbalken und dem herrlichen Sommergarten war ein wunderbarer Ort für Treffen.
Die Portionen waren reichlich, nicht so knapp bemessen, wie es sonst in der gehobenen Gastronomie oft der Fall war. Für die rote Grütze oder die Fliederbeersuppe, die als Nachspeise auf der Karte standen, war beim besten Willen kein Platz mehr. Stattdessen nahmen sie einen Espresso und dazu einen Mirabellengeist.
Im Lokal wurde es ruhig. Nur einer der Tische, die Witta von ihrem Platz aus sehen konnte, war noch besetzt. Das Essgeschirr auf ihrem eigenen Tisch war abgeräumt, die Weinkaraffe, die Schnapsgläser und die Kaffeetassen waren leer. Witta wurde langsam nervös. Viktor machte keine Anstalten, die Rechnung zu verlangen. Stattdessen griff er nach Wittas Hand und sah ihr tief in die Augen.
»Ich kann mein Glück kaum fassen«, sagte er. »Du bist eine beeindruckende Frau. Keine, die sich von einem Mann abhängig macht, sondern ihr Leben selbst in die Hand nimmt.«
Was sollte das jetzt heißen? Erwartete er etwa, dass sie bezahlte?
»Trotzdem bist du offen für Neues«, fuhr er fort. »Es ist ja unser erstes Treffen, aber ich glaube, dass mehr daraus werden könnte. Sofern du es dir auch vorstellen kannst.«
Witta biss sich auf die Unterlippe. Viktor war ein Traumbild von einem Mann. Aber was, wenn ihre Häkelfreundinnen recht hatten? Wenn er es nur auf ihr Geld abgesehen hatte?
Er war einige Jahre jünger als sie. Ende sechzig, hatte er in der Anzeige geschrieben. Selbst wenn er ein wenig geschummelt hatte, blieb eine nicht unwesentliche Differenz. Er sah gut aus, war dynamisch und offenbar körperlich fit. Würde er sich wirklich eine ältere Frau suchen?
Viktor streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken. »Wir müssen nichts überstürzen«, erklärte er lächelnd. »Ich wollte dir nur sagen, dass du mir gut gefällst.« Er winkte nach der Kellnerin, die hinter dem gemauerten Bogen auftauchte. »Die Rechnung, bitte.«
Witta merkte, wie sie sich verspannte. Jetzt kam er also. Der Augenblick der Wahrheit.
Die Kellnerin brachte das Kästchen. Witta streifte ihre langen Handschuhe über die Finger und gab vor, interessiert das Muster der blau-weißen Wandkacheln zu betrachten. Sie hatte sicherheitshalber die goldene Kreditkarte eingesteckt, aber wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, wollte sie lieber nicht darauf zurückgreifen.
Viktor klappte den Deckel auf, warf einen flüchtigen Blick auf die Rechnung und zückte seine Brieftasche. Nonchalant schob er ein paar Scheine in das Kästchen und schloss es wieder. Die Kellnerin nahm es mit und brachte es kurz darauf zurück.
Witta erwartete, dass Viktor das Wechselgeld herausnahm, doch er stand stattdessen auf und bot ihr den Arm. »Gehen wir?«
»Ja.« Witta erhob sich ebenfalls. Sie rutschte aus der Bank, und als Viktor ihr den Rücken zuwandte, beugte sie sich über den Tisch und täuschte einen Hustenanfall vor. Rasch öffnete sie das Kästchen, in dem neben ein paar Scheinen und Münzen der Kassenbeleg lag, nahm die Rechnung heraus und versteckte sie in der Hand.
»Alles in Ordnung?« Viktor sah sie besorgt an.
»Ja, ja. Ich hatte mich nur verschluckt.«
Viktor lächelte. Er bat die Kellnerin, ein Taxi zu bestellen, und half Witta in den Mantel, den die Kellnerin ihm gereicht hatte. Witta hängte sich bei ihm ein, und sie verließen gemeinsam das Lokal.
»Ich gehe zu Fuß nach Hause«, erklärte Viktor, als das Taxi in den Gaadt einbog. Er öffnete den Fond, half ihr auf die Rückbank und reichte ihr die gelben Rosen, deren Stiele jetzt mit einem feuchten Tuch und Frischhaltefolie umwickelt waren. Auch mit den Blumen gab man sich in der Alten Friesenstube Mühe.
Viktor beugte sich in den Wagen und hauchte ihr zarte Küsse rechts und links auf die Wangen. »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.« Mit einem Lächeln ging er um den Wagen herum und signalisierte dem Fahrer, die Scheibe herunterzulassen. »Bringen Sie die Dame sicher nach Hause«, sagte er und reichte ihm einen Fünfzig-Euro-Schein.
»Geht klar, Chef.« Der Fahrer schnappte sich den Schein, wendete schwungvoll und gab Gas. Witta drehte sich um und sah, dass Viktor ihr nachwinkte.
»Ein echter Kavalier, Ihr Verehrer, was?« Der Taxifahrer grinste sie im Rückspiegel an.
»Das ist er.« Witta fühlte eine innere Wärme, die nicht nur vom guten Essen und vom Alkohol herrührte. Sie kramte ihre Lesebrille aus der Handtasche und strich den Rechnungsbeleg glatt, den sie immer noch in der Hand hielt. Als sie die Summe sah, musste sie tief durchatmen.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Viktor hatte tatsächlich eine Menge Geld im Lokal gelassen, und dazu kam noch das Taxi.
Der Mann war alles andere als ein Betrüger. Er war ein Goldschatz.
Drei Wochen später
2. Der blaue Passat war bis unters Dach vollgestopft. Dort, wo bis gestern noch Lottas Babyschale befestigt gewesen war, stapelten sich jetzt Jonas’ Reisetaschen. Die letzten Tage hatte er damit verbracht, alles einzupacken. Seit er im Januar bei ihr eingezogen war, hatte sich einiges angesammelt. Nun wirkte die geräumige Altbauwohnung am Blücherplatz, die sie im Herbst letzten Jahres bezogen hatte, fast leer. Kari, die es gern ordentlich hatte, verspürte einen Stich. Jonas’ Chaos nervte sie manchmal, aber zugleich schuf es auch Gemütlichkeit und Wärme.
Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob es die richtige Entscheidung war. War ihr Job es wirklich wert, dass sie darauf verzichtete, ihre Tochter gemeinsam mit Jonas großzuziehen? Und durfte sie Lotta ihrem Vater den größten Teil der Zeit vorenthalten?
Doch jedes Mal, wenn sie sich vorstellte, nie wieder undercover auf Sylt ermitteln zu dürfen, zog es ihr das Herz zusammen. So widerwillig sie damals ihren ersten Auftrag angenommen hatte, so sehr liebte sie die Arbeit auf der Insel inzwischen. Und dafür war es nun einmal nötig, dass nicht zu viele Menschen auf Sylt wussten, wer sie wirklich war.
Tatsächlich war es schon seit einigen Jahren ein Drahtseilakt. Normalerweise durfte man nur undercover ermitteln, wenn niemand im direkten Umfeld davon Kenntnis hatte. Auf Sylt wussten mittlerweile nicht nur Jonas und seine Kollegin Hannah, sondern auch Jonas’ Vater und seine beiden älteren Kinder Bescheid, außerdem Hannahs Lebensgefährte und natürlich die Häkelmafia, diese vier reizenden alten Damen, die Kari bei ihrer ersten Undercover-Ermittlung auf Sylt kennengelernt hatte, und seit einiger Zeit auch noch Almas neuer Lebensgefährte Albert.
Aber bisher war immer alles gut gegangen, und ihr Chef Ole Lund, der eigentlich ein Prinzipienreiter war, vertrat entgegen jeder Vernunft die Ansicht, dass sie so lange weitermachen konnten, bis Kari aufflog. Dann wäre es vermutlich nicht nur mit den Jobs auf Sylt, sondern mit ihrer gesamten Undercover-Karriere vorbei. Wer einmal verbrannt war, wie man es in der Branche nannte, wurde nicht wieder eingesetzt, sondern in den normalen Polizeidienst eingegliedert. Mit diesem Risiko musste sie leben, doch das war etwas anderes, als freiwillig die Segel zu streichen.
Nein, solange niemand sie dazu zwang, würde sie weitermachen. Auch wenn es bedeutete, dass Jonas und sie in Zukunft wieder getrennt wohnen würden und so tun mussten, als würden sie einander nicht kennen, wenn Kari auf Sylt war. Schließlich würde sich ihr kein Gesetzesbrecher anvertrauen, wenn er wüsste, dass sie mit dem Sylter Kriminalhauptkommissar verheiratet war.
Kari wiegte Lotta auf dem Arm. Jonas verstaute die letzte Tasche im Auto. Dann kam er zu ihr. Er hauchte Lotta einen Kuss auf die Stirn und blickte Kari an. »Ich werde dich vermissen.«
Kari sah, dass seine braunen Augen feucht waren. Auch ihr selbst war zum Weinen zumute, aber sie gab dem Impuls nicht nach. Selbstkontrolle war schon immer ihre Stärke gewesen.
»Ich dich auch«, sagte sie.
Ursprünglich hatte Jonas geplant, wenigstens ein Jahr in Elternzeit zu bleiben. Doch dann hatte sich seine Vertretung als Fehlgriff entpuppt, und nun war sein Posten im Polizeirevier Sylt vakant. Die Polizeiverwaltung hatte ihm mitgeteilt, dass er sich entscheiden musste. Er konnte sofort zurückkehren und seinen alten Job wieder antreten. Oder er könnte weiter in Elternzeit bleiben, würde dann aber anschließend eine Stelle auf dem Festland bekommen. Die Position des Sylter Kriminalhauptkommissars musste sofort besetzt werden, so oder so.
Da Jonas nicht nur seinen Vater und seinen Sohn Jasper auf Sylt hatte, sondern auch ein hübsches kleines Kapitänshaus in Keitum besaß, an dem er hing, hatte er sich für die sofortige Rückkehr entschieden. Morgen, am ersten Montag im Oktober, musste er seinen Dienst wieder antreten.
Jonas umarmte Mutter und Kind und hauchte beiden weitere Küsse auf Stirn und Wangen. »Ich rufe dich an, wenn ich da bin.«
Kari sah, wie schwer es ihm fiel, sich von ihr zu lösen. Er fuhr sich durch die braunen Locken, in denen noch immer kein einziges graues Haar zu entdecken war. Dann setzte er sich hinters Steuer und fuhr die Seitenscheibe herunter. Es war ein warmer Tag, der Himmel strahlend blau, die Luft mild, und es wehte nur ein leichter Wind. Von der Förde her war Möwengeschrei zu hören, und gleich darauf ertönte ein Schiffshorn. Ein Sonntag, wie geschaffen für einen Spaziergang an der Ostseepromenade und ein Abendessen irgendwo am Wasser oder im Biergarten. Doch das Schicksal hatte eben andere Pläne.
Kari winkte Jonas hinterher, bis er um die nächste Ecke verschwunden war. Eine Weile stand sie einfach nur da und sah die Straße hinunter, bis sich Lotta auf ihrem Arm regte und leise zu weinen begann. Kari streichelte über den weichen Flaum auf ihrem Kopf.
»Ja, kleine Maus«, flüsterte sie und spürte, wie ihr das Herz schwer wurde. »Jetzt müssen wir zwei allein zurechtkommen.«
Nun flossen die Tränen doch. Kari wischte sie ungeduldig mit dem Handrücken weg und ging zurück ins Haus. Ganz sicher wollte sie nicht, dass irgendjemand sie heulend vor der Tür stehen sah.
Sie würde Lotta jetzt in den Kinderwagen mit den großen Rädern setzen und eine Runde mit ihr laufen gehen. Joggen war Karis große Leidenschaft und das beste Mittel gegen trübe Stimmung. So viele Jahre war sie allein zurechtgekommen, und sie würde es auch jetzt schaffen. Wirklich allein war sie ja gar nicht. Schließlich hatte sie Lotta.
Wie es wohl sein würde, ihr Leben ganz auf das Kind auszurichten? Bisher hatten Jonas und sie alles geteilt, und er hatte ihr Freiräume verschafft, um auch ihren eigenen Interessen nachzugehen. Jetzt musste sie sich vollkommen ihrer Tochter widmen. Die Vorstellung machte ihr ein wenig Angst. Doch auch das würde sie schaffen.
...
Jonas Voss lehnte sich im Autositz zurück und blickte aus dem Wagenfenster auf das Wattenmeer, das rechts und links des Hindenburgdamms an ihm vorbeizog. Er hatte Glück gehabt und einen Platz auf dem Oberdeck des Sylt Shuttles ergattert. Jetzt fuhr der Zug auf die geliebte Insel zu, die er in den letzten Monaten nur selten gesehen hatte. Im Juli hatte der Trubel um Jasper ihn für zwei Wochen zurückgeholt, doch davon abgesehen hatte er Sylt nur kurze Besuche abgestattet. Jasper war bei seinem Großvater gut versorgt, und das Kapitänshaus in Keitum war bis zu den Ereignissen im Juli an die Kommissarin vermietet gewesen, die ihn während der Elternzeit vertreten sollte.
Jetzt stand das Haus leer.
Jonas freute sich darauf, es wieder in Besitz zu nehmen, und als er auf der rechten Seite seine Insel erblickte, die Küstenlinie von Braderup bis hinauf nach List, machte sein Herz unwillkürlich einen Satz. Er konnte nicht leugnen, dass ihn in den letzten Monaten immer wieder die Sehnsucht gequält hatte. So schön es in Kiel und in Karis neuer Wohnung am Blücherplatz war, Sylt hatte ihm gefehlt. Das Licht, das hier noch ein bisschen heller war, der Wind, der rauer war, und das Meer, das grau, wild und frei war und nicht so sanftmütig und babyblau wie die Ostsee.
Aber es gab eben auch Lotta, seine Tochter, sein Sonnenschein. Es war ein unfassbares Glück, mit Mitte vierzig noch einmal Vater zu werden. Natürlich hatte er das alles mit Finja und Jasper schon zweimal erlebt, trotzdem erschien ihm jeder Moment kostbar und neu.
Nun würde er so vieles verpassen. An den Wochenenden konnte er nach Kiel fahren, aber unter der Woche war Kari mit seiner Tochter allein.
Hätte er sich anders entscheiden sollen? Auf den Job auf der Insel verzichten und in Kiel bleiben? Es zerriss ihm das Herz, dass er sich von Kari und Lotta trennen musste, auch wenn es immer nur für ein paar Tage war. Aber sein Zuhause auf Sylt aufzugeben hätte ihn ebenfalls zerrissen.
Nun, die Entscheidung war gefallen. Ab morgen war er wieder im Dienst in Westerland, nach wie vor im Interimscontainerbau in der Stephanstraße. Die Sanierung des alten Präsidiums gegenüber dem Bahnhof zog sich länger hin als gedacht. Immer neue Mängel traten zutage. Es würde noch geraume Zeit dauern, bis er sein altes Büro wieder beziehen konnte.
Der Autozug passierte den Bahnhof in Keitum und rollte durch das Gewerbegebiet in Tinnum auf Westerland zu. Gleich darauf erreichten sie die Verladestation. Die Wagen vor Jonas setzten sich in Bewegung, und ein paar Minuten später war er bereits auf der Straße.
In Richtung Keitum war wenig Verkehr, die meisten fuhren in die entgegengesetzte Richtung. Am Sonntagnachmittag verließen Heerscharen von Wochenendurlaubern die Insel. Jonas durchquerte den Kreisel und bog in die Siedlung ab, vorbei an der kleinen Teestube und Oma Wilmas Heimatküche durch die Bahnhofstraße – vertraute Wege, die ihn willkommen hießen. Als er in den Osterwai einbog und das kleine Haus mit den blauen Fensterläden erblickte, übermannte ihn die Rührung. Er war wieder zu Hause!
Der Garten sah ein wenig verwildert aus, doch davon abgesehen wirkte das Haus nicht so verlassen, wie er es erwartet hatte. Er stellte den Passat vor dem Gartenzaun ab und durchsuchte Hose und Jacke nach dem Hausschlüssel.
Hatte er ihn bei Kari liegen lassen? Oder gedankenverloren in eine der Reisetaschen gesteckt? Das würde ein wunderbares Bild abgeben, wenn er anfing, sämtliche Taschen vor dem Haus auf der Suche nach dem Schlüssel auszuleeren.
»Paps?«, erklang eine vertraute Stimme an seinem Ohr.
Jonas hob den Kopf. Er hatte nicht damit gerechnet, irgendjemanden hier anzutreffen. Ein wenig hatte er sich sogar davor gefürchtet, in ein kaltes, einsames Haus zurückzukehren. Er war noch nie gern allein gewesen, und die letzten neun Monate hatten ihn verwöhnt und ihm das Familienleben mit Kari beschert, das er sich immer gewünscht hatte. Dennoch war er jetzt hier!
»Finja!« Jonas’ Herz machte erneut einen Satz. Seine Tochter studierte seit einem Jahr in Hamburg Geowissenschaften und war nur noch selten auf Sylt. Er vermisste sie, aber das sagte er ihr nie. Finja war schon früh ihre eigenen Wege gegangen und hatte sich abgegrenzt. »Wieso bist du hier?«
»Rate mal.« Seine Tochter sah stirnrunzelnd zu, wie er die Seitenfächer mehrerer Reisetaschen auf dem Rücksitz öffnete und darin herumwühlte. »Was machst du denn da?«
»Ich suche meinen Haustürschlüssel.«
»Das kannst du auch später tun«, rügte ihn seine Tochter. »Die Tür ist offen.«
»Natürlich. Entschuldige.« Jonas lächelte verlegen und trat zu ihr. Wie immer, wenn er ihr gegenüberstand, zögerte er. Durfte er sie umarmen? Oder war ihr das zu viel?
Finja nahm ihm die Entscheidung ab. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und hauchte ihm Küsse auf beide Wangen. »Willkommen daheim. Jasper wollte ein großes Schild aufstellen, aber ich war dagegen.«
Jonas blinzelte. War sein Sohn etwa auch hier? Solange Jonas bei Kari in Kiel gelebt hatte, hatte Jasper bei seinem Großvater gewohnt. Sie hatten abgesprochen, dass er wieder umziehen sollte, wenn Jonas zurück war, doch er hatte nicht erwartet, dass Jasper bereits da sein würde.
Im nächsten Moment flog die Haustür auf, und Jasper stürmte auf ihn zu. »Paps!«
Jasper war mittlerweile sechzehn, hatte aber nach wie vor kein Problem damit, sich von seinem Vater herzen zu lassen. Er warf sich in Jonas’ Arme und drückte ihn so fest, dass Jonas die Luft wegblieb. Gewachsen war er, nicht länger ein schlaksiger Teenager, sondern ein junger Mann mit breiten Schultern und tiefer Stimme. Auf seiner Oberlippe zeigte sich ein zarter Flaum. Die blonden Locken fielen ihm lässig in die Stirn.
Jasper griff nach seiner Hand und zog ihn zum Haus.
»Warte«, protestierte Jonas. »Ich muss noch die Sachen ausladen.«
»Nicht jetzt.« Jasper zog ihn unbeirrt weiter. Jonas sah aus dem Augenwinkel, wie Finja die Wagentüren schloss, ehe sie ihnen hinterherkam.
Jasper führte Jonas durch die offene Tür und den Flur ins Wohnzimmer. Jonas klappte der Mund auf.
Der gesamte Raum war mit bunten Ballons und Girlanden dekoriert, und über der Anrichte hing ein Banner mit der Aufschrift »Willkommen zu Hause«. Aus der offenen Küchentür kam ein köstlicher Duft nach gebratenem Fisch und Kartoffeln.
»Gefällt es dir?« Jasper grinste. »Finja fand die Idee blöd, aber Opa und ich haben uns durchgesetzt.«
Redlef Voss trat aus der Küche. Er strahlte über das ganze wettergegerbte Gesicht, das von einem dichten Bart und wirren grauen Haaren umrahmt war. »Hallo, mein Sohn. Schön, dass du wieder da bist.«
Er trat zu Jonas, zog ihn in die Arme und drückte ihn fest an seine Brust. Jonas spürte, wie alle Sorgen von ihm abfielen. Er war nicht allein, sondern geborgen im Kreis seiner wunderbaren Familie. Zwar konnte er nicht jeden Tag mit Kari und Lotta zusammen sein, aber er hatte weitaus mehr als ein einsames Haus und einen guten Job.
Redlef gab ihn wieder frei. »Wasch dir die Hände und setz dich. Das Essen ist gleich fertig. Und dann wollen wir alles hören. Wie geht es Lotta und Kari? Und was sind eure Pläne?«
Jonas ging ins Gästebad. Als er hörte, wie Finja und Jasper darüber debattierten, ob Kerzen auf dem Tisch stehen sollten, musste er lächeln. In diesem Moment wusste er, dass er sich richtig entschieden hatte. So schön es war, Lotta aufwachsen zu sehen – er wollte auch nicht verpassen, wie seine beiden großen Kinder erwachsen wurden.
3. »Wo bleibt sie denn?«
Grethe Aldag sah sich suchend um. Auf dem Platz vor der Musikmuschel in Westerland herrschte reger Betrieb. Die Band stand bereits auf der Bühne und stimmte die Instrumente. Marijke, Alma und Grethe waren frühzeitig da gewesen und hatten vier Plätze in der ersten Reihe besetzt. Sonntagsnachmittags hörten sie sich das Kurkonzert an, das war ein lieb gewonnenes Ritual.
Marijke und Alma waren zu Fuß gekommen. Die beiden Frauen hatten sich schon am Morgen in Almas Wohnung in Westerland getroffen und eine prächtige Schwarzwälder Kirschtorte für den Nachmittag gebacken. Damit Marijke nicht noch einmal mit dem Wagen losmusste, um Grethe in Keitum und Witta in Kampen abzuholen, hatten sie verabredet, dass die Freundinnen den Bus nach Westerland nahmen. Nach dem Konzert wollten sie alle zusammen zu Alma in die Kjeirstraße und den Kuchen verspeisen.
Von Witta allerdings fehlte nach wie vor jede Spur.
Marijke zog ihr Smartphone aus der Handtasche. Sie hatte bereits mehrfach bei Witta angerufen, sowohl auf dem Handy als auch auf dem Festnetz, doch diese hatte keinen der Anrufe entgegengenommen und auch nicht zurückgerufen.
Langsam begann Marijke, sich Sorgen zu machen.
»Vielleicht sollten wir zu ihr fahren und nachsehen, ob alles in Ordnung ist.«
»Ach was.« Grethe winkte ab. »Bestimmt ist sie mit dem fantastischen Viktor unterwegs und hat vergessen, uns Bescheid zu sagen. Oder ihr Guthaben ist mal wieder aufgebraucht.«
Witta war ausgesprochen knauserig, das wussten sie alle, schließlich kannten sie sich schon seit der gemeinsamen Grundschulzeit. Sie vertrat den Standpunkt, dass es reichte, ein funktionierendes Handy zu besitzen. Der Notruf ließ sich auch ohne Guthaben nutzen, und wer mit ihr sprechen wollte, konnte ja sie anrufen.
»Sie könnte sich doch Viktors Handy ausleihen«, wandte Alma ein.
»Vielleicht hat er keins«, erwiderte Grethe. »Oder Witta hat vergessen, ihr Gerät an die Steckdose zu hängen, und jetzt ist der Akku leer, und sie kommt nicht an ihre gespeicherten Kontakte.«
Marijke steckte ihr Smartphone zurück. Grethes Argumente waren nicht von der Hand zu weisen. Trotzdem hatte sie ein ungutes Gefühl.
»Es geht los.« Grethe setzte sich, und Alma und Marijke taten es ihr gleich.
Marijke sah sich noch einmal um. Die Bänke auf den Treppen hatten sich gefüllt, und die Plätze unten, direkt vor der Musikmuschel, waren allesamt besetzt, bis auf den einen, den sie für Witta reserviert hatten.
Die Band begrüßte das Publikum und sagte den ersten Titel an. Es war eine flotte Nummer, die Marijke nicht kannte. Alma sprang sofort auf und begann, neben den Bankreihen zu tanzen.
Marijke zögerte. Sie mochte es nicht, angestarrt zu werden, doch die Musik ging wirklich ins Blut. Schließlich gab sie sich einen Ruck und gesellte sich zu Alma.
Der Bäckerwitwe war es vollkommen gleichgültig, ob man sie beobachtete. Vielleicht genoss sie es sogar. Jedenfalls war sie ein Blickfang in der leuchtend pinkfarbenen Steppweste, die sich mit den orangerot gefärbten Haaren biss. Sie hatte ein gutes Taktgefühl, und ihre Bewegungen waren geschmeidig. Man merkte, dass sie regelmäßig zur rhythmischen Sportgymnastik und mit Albert zum Tanztee ging. Ihr Alter dagegen sah man ihr nicht an.
Marijke, die sich gediegen kleidete und ihre Haare zu kleinen grauen Locken gedreht trug, kam sich neben ihr plötzlich altbacken vor. Aber in Almas poppiger Kleidung hätte sie sich unwohl gefühlt, und ihre Gelenke waren auch nicht mehr so beweglich, auch wenn sie ansonsten noch gut beieinander war.
Sie ließ sich von Almas Begeisterung anstecken und drehte sich mit der Freundin im Kreis.
Grethe dagegen saß mit verschränkten Armen auf ihrem Platz. Wenn die Musik sie bewegte, spielte sich das in ihrem Inneren ab. Die Klempnerwitwe mit den eisgrauen Haaren war der nüchterne Typ. Die verwaschenen Jeans, der blaue Troyer und die Turnschuhe mit den gepolsterten Sohlen passten zu ihr.
Die Musik lenkte Marijke ab. Sie tanzte mit Alma und genoss den frischen Wind, die warme Sonne und den Blick über die Nordsee, die ihre Wellen heute fast sanft auf den Strand spülte. Als der Bandleader das letzte Lied ankündigte, war sie überrascht. Sie hatte überhaupt nicht bemerkt, wie die Zeit verflogen war.
Die Band wurde mit freundlichem Applaus bedacht, ehe sich die Menge zerstreute. Grethe erhob sich.
»Das war schön«, sagte sie. »Und jetzt freue ich mich auf Kaffee und Kuchen.«
Marijke schaute wieder über den Platz. Die Bänke auf der Treppe hatten sich geleert. Auf der Promenade flanierten Spaziergänger, vor den Lokalen saßen und standen Gäste, Gläser mit hippen Getränken in den Händen. Von Witta Claaßen dagegen fehlte nach wie vor jede Spur.
Marijke zog erneut ihr Smartphone hervor. Kein entgangener Anruf, keine Nachricht. Sie wählte Wittas Nummern, erst das Festnetz, dann das Handy, landete jedoch beide Male auf der Mailbox.
»Ich mache mir Sorgen«, sagte sie. »Dass ich Witta so gar nicht erreichen kann …«
»Sie ist mit Mr. Perfect unterwegs, das sage ich doch«, entgegnete Grethe. »Da hat sie uns einfach vergessen.«
Alma kramte in ihrer pinkfarbenen Handtasche nach dem Smartphone, das in einer gleichfalls pinkfarbenen Häkelhülle steckte. »Bei mir hat sie sich auch nicht gemeldet.«
»Wir sollten zu ihr fahren und nach dem Rechten sehen«, sagte Marijke.
Grethe zog den Reißverschluss ihres Troyers zu. »Was ist mit der Schwarzwälder Kirschtorte?«
»Die können wir mitnehmen«, schlug Alma vor. »Dann trinken wir einfach bei Witta Kaffee.«
»Und wenn sie nicht zu Hause ist?«
»Fahren wir weiter zu mir«, bestimmte Marijke. »Ich hab auch noch Prosecco im Kühlschrank.«
Das war ein Argument, dem sich weder Grethe noch Alma verschließen wollten.
»Also gut.«
Sie liefen über die Promenade zum Strandübergang am Brandenburger Platz, vorbei an der Surfschule und dem Sunset Beach. Auf dem Parkplatz direkt dahinter hatten sie zu Marijkes Freude eine freie Lücke ergattert.
Sie fuhren zuerst in die Kjeirstraße, wo Alma die Tortenglocke aus der Wohnung holte. In der anderen Hand trug sie ein Päckchen Kaffee. Aus Erfahrung wussten sie, dass Witta meist nichts im Haus hatte.
Grethe nahm Alma den Kuchen ab und platzierte ihn neben sich auf der Rückbank. Alma rutschte auf den Beifahrersitz, der normalerweise von Witta okkupiert wurde. Die Landarztwitwe fand, dass sie nur dort standesgemäß saß.
Marijke steuerte den Wagen aus Westerland hinaus und durchquerte Wenningstedt, bog am Kreisel bei Feinkost Meyer jedoch nicht wie sonst in Richtung Braderup ab, sondern fuhr weiter nach Kampen. Vor Wittas schmuckem Reetdachhaus parkte sie, und die Freundinnen stiegen aus. Grethe reichte Alma die Tortenglocke und marschierte mit großen Schritten zur Haustür. Sie drückte energisch auf den Klingelknopf. Im Haus erklang ein Gong.
Die Häkelfreundinnen warteten eine Weile. Dann drückte Grethe erneut auf die Klingel. Das Ergebnis war dasselbe. Die Tür blieb geschlossen.
»Sie ist mit diesem Viktor unterwegs, das sage ich ja die ganze Zeit«, erklärte Grethe.
»Lasst uns einmal ums Haus herumgehen«, bat Marijke. Grethe verdrehte die Augen, folgte ihr aber gemeinsam mit Alma.
Die Fenster waren mit Gardinen verhängt, nur das Küchenfenster besaß keine. Marijke spähte hinein und bekam einen Schreck. »Ach du meine Güte«, hauchte sie.
»Was denn?«, fragte Alma und presste ihre Nase an die Scheibe.
Witta saß am Küchentisch, die weißen Haare zerzaust, den Blick irgendwo ins Nichts gerichtet. Ihre Freundinnen am Fenster schien sie nicht zu bemerken. Sie trug ein weißes Nachthemd, das einen gräulichen Schleier vom häufigen Waschen hatte. Ihre Gedanken schienen an einem fernen Ort zu sein.
Grethe klopfte mit den Knöcheln gegen die Scheibe. Witta fuhr zusammen und blickte zum Fenster. Als sie die Freundinnen entdeckte, presste sie eine Hand aufs Herz und schnappte nach Luft. Sie erhob sich schwerfällig, kam mit schleppenden Schritten auf sie zu und öffnete das Fenster.
»Ihr habt mich zu Tode erschreckt«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Was macht ihr hier?«
Jetzt, aus der Nähe, sah Marijke, dass ihre Augen gerötet waren, als hätte sie geweint.
»Wir haben auf dich gewartet, bei der Musikmuschel«, polterte Grethe. »Das Kurkonzert. Du erinnerst dich? Wir waren verabredet.«
Witta schaute zur Küchenuhr. »So spät schon?«, stieß sie hervor.
»Warum bist du nicht angezogen?«, fragte Grethe. »Und was ist mit deinen Haaren?«
Wittas Hand wanderte zum Kopf. Eine Bewegung, die sie ständig vollführte, normalerweise allerdings, um den Sitz ihrer Marlene-Dietrich-Dauerwelle zu prüfen. So zerzaust wie heute hatte Marijke sie noch nie gesehen. Sie begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen.
»Ist das dein neuer Look?«, erkundigte sich Grethe. »Eine Out-of-bed-Frisur?«
Witta starrte sie an. »Nein.«
»Was ist denn los?«, fragte Alma. Sie war an die Kabbeleien zwischen Witta und Grethe gewöhnt, ertrug sie aber nur schlecht. In ihrer kleinen Runde war sie für den Zuckerguss zuständig, nicht nur auf dem Kuchen, sondern auch über den Konflikten.
Witta holte tief Luft. »Ich …«
»Ja?«
Witta schüttelte den Kopf. »Frag besser nicht.«
»Vielleicht lässt du uns erst mal herein?«, schlug Marijke vor.
»Ich weiß nicht.« Witta blickte an sich herunter. »Ich bin noch nicht angezogen.«
»Das sehen wir«, kommentierte Grethe.
»Du kannst dich umziehen, während wir den Tisch decken«, sagte Marijke. »Alma macht uns einen Kaffee. Wir haben auch Schwarzwälder Kirschtorte. Und wenn wir uns gestärkt haben, erzählst du uns, was los ist.«
»Ein Schnaps wäre mir lieber«, erwiderte Witta.
»Den haben wir nicht dabei. Wenn du nichts im Haus hast …«
Witta überging die Frage. »Ich mache euch auf.«
Sie eilten zurück zur Vorderseite des Hauses. Almas Miene war besorgt. Grethe grummelte irgendetwas, das Marijke nicht verstand.
Witta öffnete die Haustür, und ihre Freundinnen drängten hinein. Im Inneren roch es muffig, auch Witta selbst verströmte einen unangenehmen Geruch. Alkohol, vermutete Marijke. Offenbar hatte ihre Freundin doch Schnaps im Haus gehabt.
Was mochte geschehen sein, dass Witta sich so hatte gehen lassen? Normalerweise war ihr doch die perfekte Fassade wichtiger als alles andere. Hatte sie womöglich eine schlimme Diagnose bekommen? Die Angst davor begleitete sie alle, das war in ihrem Alter wohl normal. Bisher waren sie verschont worden, doch das bedeutete nicht, dass es immer so bleiben würde.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte Witta und ging die Treppe hinauf. »Ihr wisst ja, wo alles steht.«
Sie mussten eine ganze Weile warten, doch als Witta zurückkam, entsprach sie schon eher dem vertrauten Bild: Die Haare waren gekämmt und mit dem Lockenstab bearbeitet. Nicht die perfekte Dauerwelle, die Witta gewöhnlich zur Schau trug, aber zumindest etwas, das wie eine Frisur aussah und nicht wie ein Staubwedel. Sie hatte sich für ein gelbes Kleid und passende hochhackige Pumps entschieden. Vernünftiges Schuhwerk, wie es Marijke, Alma und Grethe trugen, lehnte sie nach wie vor ab.
Sie setzte sich an den Tisch, ließ sich von Alma Kaffee einschenken und von Marijke ein Stück Torte auf den Teller legen. Marijke musterte die Freundin.
»Also«, sagte sie. »Was ist los?«
Witta zog ein spitzenbesetztes Taschentuch hervor und tupfte sich die Augen. »Viktor.«
»Aha?« Grethe beugte sich neugierig vor.
»Er ist weg.«
»Wie – weg?«
»Ich kann ihn nicht mehr erreichen. Zu unserer letzten Verabredung ist er nicht erschienen. Er reagiert auch nicht auf Anrufe und E-Mails.«
»Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen.«
»Ich habe im Krankenhaus angerufen. Dort ist er nicht.«
»Warst du bei ihm zu Hause?«
Witta murmelte etwas Undeutliches.
»Wie bitte?« Grethe hielt sich die Hand hinters Ohr.
»Ich weiß nicht, wo er wohnt«, sagte Witta laut.
»So?« Grethe zog die Augenbrauen hoch. Dann zuckte sie mit den Schultern und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Er will dich also nicht mehr treffen und hat nicht die nötige Courage, es dir ins Gesicht zu sagen. So etwas kommt vor.«
»Sicher. Aber …«, Witta schluckte, »mein Geld.«
»Welches Geld?«
»Ich habe ihm etwas geliehen. Er wollte eine Anzahlung leisten, für ein Ferienhaus in Portugal, an der Algarve. Dort wollten wir in Zukunft die Winter verbringen. In der Sonne. Die Kälte und der ständige Wind hier auf Sylt sind überhaupt nicht gut für die Knochen und für die Seele auch nicht. Wärme und Licht, das braucht der Mensch.«
»Moment.« Grethe hob die Hand. »Wozu wollte er Geld von dir?«
»Es gab ein Problem. Er hatte seine Karte verloren und das Konto sperren lassen, deshalb konnte er nichts abheben und auch nichts überweisen. Ich sollte ihm das Geld nur für ein paar Tage zur Verfügung stellen. Da gab es noch andere Kaufinteressenten, und wenn er die Anzahlung nicht geleistet hätte, wäre die Option verloren gegangen. Das ist wirklich ein ganz wunderbares Haus. Er hat mir Fotos gezeigt. Direkt an der Küste, mit einem herrlichen Blick über den Atlantik. Fünf Zimmer, eine große Terrasse und sogar ein Swimmingpool.«
»Also hast du ihm das Geld gegeben?«
»Ja. In bar. Er hat es bei einem Bankautomaten eingezahlt und an den Verkäufer in Portugal überwiesen.«
»Warst du dabei?«
»Nein. Es hat so fürchterlich geregnet, und Viktor meinte, ich müsse nicht eigens aus dem Haus deshalb. Es würde ja reichen, wenn einer von uns nass wird.«
Marijke seufzte schwer. »Du hast ihm also Geld gegeben. Und seitdem hast du nichts mehr von ihm gehört?«
»Ja.«
Marijke, Alma und Grethe sahen sich an.
»Der schöne Viktor ist ein Betrüger«, folgerte Grethe, verzichtete aber auf den Hinweis, dass sie das von Anfang an befürchtet hatte, was Marijke ihr hoch anrechnete.
Witta schniefte in ihr Taschentuch. »So sieht es aus.«
»Du musst zur Polizei gehen«, sagte Alma aufgeregt.
Witta kräuselte die Nase. »Glaubst du, das hätte ich nicht getan?«
»Und? Was haben sie gesagt?«
»Sie können mir nicht helfen. Die Partnerschaftsbörse, über die ich Viktor kennengelernt habe, ist seriös. Aber die Betreiber können nicht verhindern, dass sich dort auch Betrüger anmelden. Mit Fekakonts.«
»Mit was?«, fragte Alma.
»Fake Accounts«, übersetzte Grethe. »Falsche Identitäten.«
Witta funkelte sie an. »Und ausgerechnet du kennst dich damit aus? Du hast doch nicht einmal einen Computer.« Dass sie selbst bis vor ein paar Wochen ebenfalls kein solches Gerät besessen hatte, ließ sie beiseite.
»Ich habe ein Tablet«, entgegnete Grethe. »Damit kann ich online Zeitung lesen, übers WLAN. Wie mit dem Computer, nur bequemer auf dem Sofa.«
»Ach.« Witta hob die Augenbrauen.
»Wie viel hast du ihm denn gegeben?«, erkundigte sich Alma.
Witta wand sich. »Na ja. Alles, was ich im Haus hatte.« Sie hob das Kinn. »Es ging immerhin um die Anzahlung für eine Finca an der Algarve. Für uns beide.«
»Und wie viel war das, alles, was du im Haus hattest?«, bohrte Grethe nach.
Witta hüstelte. »Fünfzig.«
»Fünfzig Euro?«, wunderte sich Alma.
Witta stöhnte entnervt. »Fünfzigtausend.«
»Du hast fünfzigtausend Euro im Haus?« Alma machte große Augen.
»Sie hatte«, korrigierte Grethe wenig einfühlsam.
Witta zuckte kurz zusammen, reckte aber gleich darauf das Kinn. »Ich hebe regelmäßig Geld ab, und was ich nicht brauche, lege ich in den Tresor. Auf die Bank allein verlasse ich mich nicht. Ich will schließlich nicht mittellos dastehen, falls sie Pleite machen.«
»Auf der Bank bekommst du aber Zinsen für dein Geld. Oder du kannst es gewinnbringend anlegen«, sagte Alma.
»Ich bin sicher, das tut sie ebenfalls«, warf Grethe ein.
Die Kabbelei mit Grethe half Witta offenbar, ihre Fassung zurückzugewinnen. Der gebrechliche Eindruck verschwand, und sie fand wieder zu ihrer üblichen hochnäsigen Attitüde. »Mein Mann war fünfunddreißig Jahre lang Landarzt in Kampen«, teilte sie Grethe mit. »Er hat kräftig in die Rentenkasse eingezahlt. Und ich bekomme die große Witwenrente. Genau wie ihr.«
»Nur dass sie bei einem Bäcker oder Klempner nicht ganz so groß ausfällt«, versetzte Grethe.
Darüber wollte Witta nicht diskutieren. »Du musst doch auch jede Menge Geld haben«, wandte sie sich an Marijke.
»Ich habe eine gute Rente«, erwiderte Marijke. »Aber ich gebe mein Geld aus.« Im Gegensatz zu dir, sagte sie nicht, doch die Antwort klang trotzdem schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Sie kannte ihre Freundin fast ein Leben lang und hatte sich daran gewöhnt, aber dennoch stieß es ihr manchmal sauer auf, dass sie alles bezahlte, das Essen, den Prosecco und nicht zuletzt die Autos, mit denen sie die anderen drei herumkutschierte, während Witta ihre Groschen eisern zusammenhielt.
Witta machte ein pikiertes Gesicht. »Niemand zwingt dich zu irgendetwas. Ich halte mein Geld lieber fürs Alter zusammen.«
Grethe entfuhr ein heiseres Lachen. »Für welches Alter? Wir sind alt. Wir müssen nicht für später sparen.«
»Wir sind Mitte achtzig. Mit etwas Glück leben wir noch zehn oder zwanzig Jahre. Meinst du, ich will später in ein staatliches Pflegeheim, weil ich mir die Unterbringung in einer angemessenen Seniorenresidenz nicht leisten kann?«
Grethe und Alma, die im Zweifelsfall genau dieses Schicksal erwartete, tauschten einen kurzen Blick.
»Jetzt ist das Geld jedenfalls weg«, fasste Grethe die Situation zusammen. »Oder gibt es eine Chance, dass du es wiederbekommst?«
Witta sah aus, als hätte sie Zahnschmerzen. »Nein. Die Beamten haben gesagt, sie geben den Fall ans Landeskriminalamt weiter, aber ich soll mir keine großen Hoffnungen machen.«
»Diese Internetkriminellen sind schwer zu fassen«, nickte Grethe kenntnisreich. »Die sitzen ja gar nicht hier, sondern irgendwo in Afrika.«
»Aber Viktor war hier«, wandte Alma ein. »Er hat sich das Geld nicht auf ein geheimes Konto überweisen lassen, sondern bar in Empfang genommen.«
»Umso schlimmer«, sagte Grethe. »Bargeld kann man erst recht nicht zurückverfolgen.«
»Das Geld vielleicht nicht, aber den Mann«, beharrte Alma. »Er muss doch irgendwelche Spuren hinterlassen haben.«
Marijke dachte nach. Die Erwähnung des Landeskriminalamts hatte etwas in ihrem Kopf angestoßen.
»Wir rufen Frau Blom an«, sagte sie. »Wenn uns jemand helfen kann, dann Kari.«
Die Mienen der anderen drei hellten sich auf.
»Natürlich!«, rief Witta. »Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?«
4. Der Anruf war wie ein Rettungsanker. Kari spürte, wie sich die dunkle Wolke über ihrem Kopf auflöste. Stattdessen fühlte sie eine prickelnde Erregung. So ähnlich, wie es vor dem Mutterschutz und der Elternzeit gewesen war, wenn Ole Lund sie in sein Büro gerufen hatte, um ihr eine neue Undercover-Ermittlung zu übertragen. Natürlich empfand sie Mitleid mit Witta, die zum Opfer eines skrupellosen Betrügers geworden war. Doch die Freude überwog.
Kari hatte eine ausgedehnte Joggingrunde am Marinehafen und die Kiellinie entlang unternommen. Anschließend hatte sie geduscht und Lotta gestillt und gewickelt. Danach hatte sie sich mit ihrer Tochter auf dem Arm auf den Balkon gesetzt. Sie hatte sich In-Ears in die Ohren gesteckt und es zuerst mit einem Hörbuch, dann mit Musik probiert. Weder das eine noch das andere hatte ihre innere Unruhe vertrieben. Eine ganze Weile hatte sie nur dort gesessen und Löcher in den wolkenlosen hellblauen Himmel gestarrt. Was, um alles in der Welt, sollte sie den ganzen Tag tun, wenn sie immer in Lottas Nähe sein musste? Aufzuräumen gab es nichts mehr, nachdem Jonas seine Sachen eingepackt hatte. Staubgesaugt und gewischt hatte sie schon am Vortag. Die Wäsche war gewaschen, und die Fenster zu putzen schien ihr kaum die richtige Beschäftigung für einen sonnigen Oktobersonntag.
Sie hatte gerade darüber nachgedacht, sich mit ihrem Chef und besten Freund Ole Lund zu einem Eis zu verabreden, als das Telefon geklingelt hatte.
Die Häkeldamen brauchten ihre Hilfe! Kari hatte zugesagt, sofort auf die Insel zu kommen.
Rasch packte sie ein paar Sachen für Lotta und sich selbst zusammen. Sie schnappte sich Windeln, Babypuder, Fläschchen, Schnuller und die Utensilien, die sie brauchte, um die Milch abzupumpen, wenn sie nicht regelmäßig dazu kam, Lotta zu stillen. Sonst würde sie den ganzen Tag mit schmerzenden Brüsten herumlaufen, und Lotta sollte auch dann Muttermilch trinken können, wenn sie nur die Flasche bekam.
Als Kari alles beisammenhatte, eilte sie nach unten. Sie verstaute das Gepäck im Kofferraum ihres Wagens und befestigte die Babyschale auf der Rückbank. Dann lief sie wieder in den dritten Stock, schnallte sich Lotta im Tragegeschirr vor die Brust und klemmte sich den zusammengeklappten Kinderwagen unter den Arm. Wenn sie sich beeilte, war sie noch am frühen Abend auf Sylt.
Kari biss sich auf die Unterlippe. In ihrer Euphorie hatte sie gar nicht mehr an Jonas gedacht. Was würde er sagen, wenn sie sich wieder einmal in eine Ermittlung stürzte, statt sich voll und ganz um ihre Tochter zu kümmern? Gerade jetzt, wo er nicht mehr da war? Und natürlich würde es ihm auch nicht gefallen, dass sie auf Sylt wieder einmal Verstecken spielen mussten.
Aber er brauchte es ja gar nicht zu erfahren. Wenn sie Marijke richtig verstanden hatte, war Witta zwar bei der Polizei gewesen, aber nicht auf dem Revier in Westerland, sondern bei der Polizeistation in List. Dort hatte man nicht die Kriminalpolizei informiert, sondern gleich in Kiel angerufen, weil für Internetkriminalität das LKA zuständig war. In Wittas Fall war die Sache zwar anders gelagert, doch das spielte ja im Moment keine Rolle. Wichtig war, dass Hannah nichts von dem Vorfall wusste und auch Jonas keine entsprechende Aktennotiz auf den Schreibtisch bekommen würde.
Allerdings würde ihm auffallen, dass sie nicht von zu Hause aus anrief, wenn sie am Abend wie vereinbart telefonierten. Oder, schlimmer noch, dass er sie nicht erreichte, falls er derjenige war, der zuerst zum Hörer griff.
Nun, dieses Problem ließ sich lösen.
Kari eilte ins Wohnzimmer, wo sich hinter der Tür der Router befand, und zog den Netzstecker heraus. Nun würde ein Anrufer nicht das Freizeichen hören, sondern die Ansage, dass der gewünschte Teilnehmer nicht erreichbar sei. Kari konnte Jonas gegenüber behaupten, dass es beim Netzbetreiber in Kiel eine Störung gab. Wie lange sie diese Geschichte aufrechterhalten könnte, wenn der Einsatz bei der Häkelmafia länger dauerte, war fraglich. Aber fürs Erste war es eine Lösung. Und in den nächsten Tagen musste sie eben dafür sorgen, dass sie sich bei Jonas meldete, bevor er es bei ihr versuchte. Jonas war gutgläubig, er vertraute ihr. Er würde nicht misstrauisch werden, weil sie ihn vom Handy statt vom Festnetz aus anrief. Stattdessen würde er annehmen, dass sie mit Lotta einen Spaziergang an der Ostsee unternahm. Er wusste schließlich, wie gerne sie draußen war und sich bewegte.
Das schlechte Gewissen meldete sich, doch Kari drängte es beiseite. Entschlossen verriegelte sie die Wohnungstür. Sie lief die Stufen ins Erdgeschoss hinunter, verstaute den Kinderwagen im Kofferraum, schnallte Lotta in der Babyschale auf dem Rücksitz an und setzte sich hinters Steuer. Zehn Minuten später war sie auf der Autobahn in Richtung Rendsburg.
Die Sonne stand bereits tief, Kari musste die Sonnenblende herunterklappen. Sie schaltete das Radio ein und wählte einen Sender mit klassischer Musik, die Lotta besonders mochte. Wahrscheinlich war das der Einfluss ihres Taufpaten Ole Lund. Der Opernliebhaber spielte Lotta jedes Mal Musik aus seiner umfangreichen Sammlung vor, wenn er auf sie aufpasste.
Im Rückspiegel warf Kari einen Blick auf ihre Tochter. Lotta nuckelte zufrieden an ihrem Schnuller.
Kari wusste, dass sie außergewöhnliches Glück mit ihrer Tochter hatte. Lotta war anschmiegsam, schrie so gut wie nie und schlief in den Nächten durch. Die anderen Mütter in der Krabbelgruppe beneideten Kari darum. Sie selbst hatte keine Ahnung, ob sie auch mit einem Schreikind wie Matteo oder einer hyperaktiven Tochter wie Emilia fertig geworden wäre. Aber vielleicht hatte ihre Mutter ja recht. Man wuchs mit seinen Aufgaben. Ihre Mutter war Psychotherapeutin, sie musste es wissen.
Am Kreuz Rendsburg bog Kari auf die Autobahn Richtung Flensburg ab. Die Sonne kam jetzt von der Seite. Kari konnte die Sonnenblende hinaufklappen und das goldene Licht genießen, das über Wiesen und Feldern lag. Aus dem Autoradio erklangen die ersten Takte der Carmina Burana.
Auf der Autobahn war nicht viel Verkehr, und auch die Landstraße von Flensburg in Richtung Nordsee war frei. Kari erreichte Niebüll ohne Verzögerungen und bekam sofort einen Platz auf dem Sylt Shuttle.
Als der Sylt Shuttle über den Damm fuhr und sie zu beiden Seiten das Wattenmeer sah, spürte sie, wie sich ihr Herz öffnete. Auf Sylt fühlte sie sich freier und unbeschwerter als irgendwo sonst. Und die Häkeldamen waren längst so etwas wie Familie. Auf die Insel zu fahren war, wie nach Hause zu kommen.
Weil sie dieses Mal mit dem eigenen Wagen anreiste, gab es kein Empfangskomitee am Bahnhof. Kari, der das immer peinlich gewesen war, stellte zu ihrer Verwunderung fest, dass sie es dennoch vermisste. Jetzt rollte sie in einer anonymen Wagenkolonne vom Autozug, fädelte sich in den Verkehr ein und fuhr durch Westerland und Wenningstedt nach Kampen.
Auch vor dem Reetdachhaus der Landarztwitwe gab es keinen Willkommensgruß. Die Häkeldamen standen vor der Haustür und sahen Kari entgegen, als sie mit dem Kinderwagen auf sie zuging. Keine bunten Papierhüte und Fähnchen, die geschwenkt wurden. Nur vier Frauen, die älter und gebrechlicher aussahen, als Kari sie in Erinnerung hatte, und das, obwohl das letzte Zusammentreffen erst drei Monate zurücklag. Die Ausstrahlung hing vom inneren Befinden ab, das wurde ihr in diesem Moment schmerzlich bewusst.
»Frau Blom!« Marijke kam auf sie zu. »Wie gut, dass Sie da sind.«
Kari umarmte die vier alten Damen und folgte ihnen ins Haus.
Auf dem Tisch standen Schnapsgläser und eine fast leere Flasche Jubiläumsaquavit.
Kari bat um ein Wasser und setzte sich aufs Sofa, um Lotta zu stillen. Dass die alten Damen ihr zusahen, störte sie nicht. Was sie früher als unmöglich empfunden hätte, war seit Lottas Geburt ganz unkompliziert geworden. Als ihre Tochter satt war, schloss sie den Still-BH und ging mit Lotta ins Bad, um sie frisch zu wickeln. Schließlich gesellte sie sich wieder zu den Häkeldamen.
»Also. Dann erzählen Sie mal.«
Marijke, Alma und Grethe sahen Witta auffordernd an. Die Landarztwitwe rückte ihre Dauerwelle zurecht, die heute irgendwie aus der Form geraten wirkte. Dann berichtete sie: von ihrem Sohn, der ihr einen Computer gekauft hatte, von der Online-Partnerschaftsbörse und von Viktor, der so vertrauenerweckend gewirkt und sich am Ende doch als Betrüger herausgestellt hatte.
»Fünfzigtausend Euro!«, platzte es aus Alma heraus. »Stellen Sie sich das vor! So viel Geld.«
Kari war nicht besonders überrascht. Viele alte Leute horteten Geld. Witta bekam sicher eine gute Rente, und sie war sparsam. Geizig, wenn man es genau nahm. Im Laufe der Jahre war da sicher einiges zusammengekommen.
»Was hat die Polizei gesagt?«, erkundigte sie sich und stutzte. »Warum waren Sie eigentlich bei der Polizeistation in List und nicht auf dem Revier in Westerland, bei Hannah Behrends?«
Witta wand sich, und Kari kannte die Antwort, ehe Witta etwas sagte.
»Es war ihr peinlich«, verkündete Grethe ohne Zartgefühl.
Witta funkelte sie böse an, doch Grethe kümmerte sich nicht darum.
»Die haben die Sache ans LKA weitergegeben«, erklärte sie. »Internetkriminalität. Dafür gibt es bei Ihnen doch eine eigene Abteilung?«
»Ja.« Karis Gedanken waren bereits weitergeeilt. Sie griff zum Smartphone und tippte auf einen Kontakt.
»Kari«, meldete sich ihr Chef schon nach dem zweiten Klingeln. »Wie geht es dir? Ist Jonas schon gefahren? Soll ich auf ein Glas Wein vorbeikommen, damit dir die Decke nicht auf den Kopf fällt?«
»Äh. Nein.« Kari hüstelte. »Ich habe schon Gesellschaft.«
»Aha?«
»Die Häkeldamen.«
»Die sind nach Kiel gekommen?«
»Nein. Ich bin auf Sylt.«
Ole Lund war ein kluger Mann. Er musste nicht lange rätseln. Wenn sie bei den Häkelfreundinnen war und nicht bei Jonas, waren sie nicht zusammen auf die Insel gefahren, und Jonas wusste nicht, dass sie dort war.
»Was ist es diesmal?«, erkundigte sich Lund.
»Witta Claaßen ist einem Betrüger auf den Leim gegangen. Einem Romance-Scammer. Die Polizei in List hat die Sache ans LKA weitergeleitet.«
»So?«
Kari hörte das Klappern einer Tastatur. »Sag nicht, du bist im Büro. An einem Sonntagabend«, sie sah auf die Uhr, »nach zehn.«
»Das hast du doch gehofft, oder nicht? Warum hättest du sonst angerufen?«
»Damit du dich morgen früh darum kümmerst.«
»Nicht nötig.« Das Klappern verstummte. Lund las offenbar die Informationen auf seinem Bildschirm. »Kennenlernen über eine Online-Partnerschaftsbörse, persönliche Treffen und zuletzt die Bitte um Geld. In bar.«
Kari wartete.
»Da können wir nichts tun«, sagte Lund nach einer Pause. »Die Kollegen haben das bereits geprüft. Die Partnerschaftsbörse ist kooperativ, was selten ist. Sie haben uns die Anmeldedaten von diesem Viktor Brauer zur Verfügung gestellt, aber das ist eine Sackgasse. Falsche Angaben und eine Mailadresse, die anonym irgendwo in Nigeria angelegt wurde.«
Das war genau das, was Kari befürchtet hatte. »Gibt es Fotos?«
»Nein. Der Account wurde gelöscht, vor drei Wochen schon. Der Betreiber speichert die Daten nicht. Nur die Anmeldeinformationen, aber die waren ja, wie gesagt, falsch.«
»Also gibt es nichts, das uns zu Viktor Brauer führen könnte?«
»Nein.«
Kari dachte nach. »Was ist mit dem Geld? Frau Claaßen sagt, Brauer wollte es an einem Bankautomaten bar einzahlen.«
»Wir haben die Banken und Sparkassen auf Sylt gebeten, uns größere Bareinzahlungen zu melden. Da war nichts. Aber der Betrüger wäre ja auch dumm, wenn er das ausgerechnet auf Sylt getan hätte.«
»Okay.« Kari spürte, wie die Enttäuschung sie überrollte. »Danke.«
»Jederzeit. Ruf mich an, wenn du etwas brauchst.«
»Ja.« Kari verabschiedete sich und drückte das Gespräch weg.
»Keine Chance?«, fragte Grethe, als sie das Smartphone verstaute.
»Nein.« Kari sah Witta an. »Haben Sie vielleicht ein Foto von Viktor?«
Witta schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn ein paarmal darum gebeten. Er hat mir versprochen, dass er eins für mich macht, aber gegeben hat er mir keins.«
»Was ist mit den Fotos bei der Partnerschaftsbörse?«
»Die hat er gelöscht. Gleich nach unserem ersten Treffen.«
»Ist dir das nicht komisch vorgekommen?«, erkundigte sich Marijke.