Symbolum und Archetypus - Marion Tschmelak - E-Book

Symbolum und Archetypus E-Book

Marion Tschmelak

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Beschreibung

Märchen erscheinen uns oftmals suspekt, dunkel und wild. Sie können aber auch leuchtend, erhebend und befreiend sein. Was unterscheidet mithilfe des Unterbewusstseins kreierte Märchen von informativen, narrativen Texten? Es ist intensives Empfinden! Gehen Sie mit auf die Reise, in die Welt sensibler Kinderseelen. Erlauben Sie sich, in Resonanz zu diesen magischen Geschichten zu gehen und die verborgenen Wahrheiten in ihnen zu erkennen. Die Autorin lädt ein, in diesen Seelenmärchen für Erwachsene umher zu gehen, auf der Suche nach Heilung.

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Marion Tschmelak, geboren 1960, ist freiberuflich als Taijiquan und Qigong-Lehrerin tätig.

Die Autorin hat großes Interesse an allen Themen, die mit Bewusstseinserweiterung und systemischem Denken zu tun haben. Schwerpunkt in ihren Büchern ist die Verbindung und das Wechselspiel der polaren Kräfte des Femininen und Maskulinen. Aber auch auf soziale Missstände aufmerksam zu machen, ist ihr ein wichtiges Anliegen.

Außerdem erschienen sind:

„Shangri La – Schöne andere Welt“

„Die geistigen Schwertkrieger“

„Symbolum und Archetypus – Seelenmärchen“

„Hinter der Mauer“

„Yijing – Die Entdeckung des Ursprünglichen“

„Bedingungsloses Grundeinkommen – Bürgergeld.

Ein fiktives Interview aus dem Jahre 2093“

„Minimalismus – Basisbuch“

„Kleine Happen für einen nachdenklichen Geist“

Dieses Buch ist

den verletzten Kinderseelen

in Körpern von Erwachsenen

gewidmet, die mir

im Laufe meiner beruflichen Tätigkeit

begegnet sind.

Mögen sie Heilung erfahren.

Die Tränen greiser Kinderschar,

ich zieh sie auf ein weißes Haar,

werf‘ in die Luft die nasse Kette,

und wünsch mir, dass ich eine Mutter hätte.

Rammstein; Mutter

Inhaltsverzeichnis:

Vorwort

Die Fadenbinderin

Die geheimnisvolle Alte

Die Liebenden

Die Hohepriesterin

Poseidons Reich

Nanna, die Kühne

Der Lichtbringer

Religio, die Rückbindung

Des Königs Erbe

Das Salzmädchen Stella

Der Junge mit den inneren Bildern

Die Einweihung der Schamanin

Straßenkinder

Der müde Krieger

Das Puppenhaus

Alina

Die richtige Braut

Die Lichtkinder

Die Treppe

Karlas Reise

Der zweite Lebensfaden

Schlussbemerkung

Vorwort

In meiner achtundzwanzigjährigen Tätigkeit als Taiji-Lehrerin ist es mir zur lieben Gewohnheit geworden, am Ende des Kurses meine KursteilnehmerInnen hin und wieder mit einer kleinen Geschichte zu erfreuen. Geschichten sowie Märchen sind eben auch etwas für Erwachsene. Gerade in unserer intellektuell überfrachteten Gesellschaft bieten sie Erwachsenen eine Möglichkeit, ihrem Unterbewusstsein und ihrer Intuition näher zu kommen. Konzeptuelles und analytisches Denken sind von Bedeutung, daran gibt es keinen Zweifel, aber es regt vor allem unseren Intellekt an und bringt nicht unsere tieferen Empfindungen zum Schwingen. Was wir jedoch bei all unseren technologischen Fortschritten meines Erachtens heutzutage benötigen, sind emotional ausgewogene, mit ethischen Prinzipien ausgestattete Menschen.

Meine Seelenmärchen können tiefenpsychologisch gedeutet werden. Ich vertraue aber auch darauf, dass sie aufgrund ihrer archetypischen und symbolischen Inhalte ihre Heilkraft von selbst entfalten. Da ich meine Seelenmärchen für Erwachsene geschrieben habe, würde ich mir wünschen, wenn beides geschieht. Darum erlaube ich mir, den Leserinnen und Lesern zu empfehlen, meine Seelenmärchen zuerst frei von Deutung zu lesen, damit sie ihre Wirkung auf Emotionen entfalten können und sie danach noch einmal mit reflektierendem Blick zu lesen.

Mögen meine Seelenmärchen auch einigen seltsam, dunkel oder eigenwillig erscheinen, so enthalten sie doch die Sprache seelischer Verwundungen, die so viele Menschen mit sich tragen und von ihrer Umgebung, oft genug auch von ihnen selbst, unerkannt bleiben. Doch vor allem der Körper vergisst niemals. In ihm ist gespeichert, was der Verstand nicht mehr sehen oder wissen möchte, was wir selbst nicht mehr für relevant halten. Die in uns angelegte Homöostase trägt aber den Auftrag in sich, uns im Fluss zu halten. Darum sucht sie nach Lösungen, wenn sich etwas staut, wenn etwas zu eng wird. Wir müssen lernen, auf unseren Körper und auf unsere Intuition zu hören. Denn wir sind in hohem Maße plastisch. Der Daoismus hat mich gelehrt: Das einzig Beständige ist der Wandel.

Wie in meinen anderen Büchern ist es mir auch hier ein Anliegen, Maskulines und Feminines Prinzip miteinander auszusöhnen. In meinen Seelenmärchen spielt das Feminine Prinzip eine größere Rolle, denn es ist oftmals das verletzte Prinzip. Es geht mir nicht darum, die Maskuline Wirkkraft zu verdrängen oder sogar abzuwerten. Diese neigt allerdings leicht dazu, die Feminine Wirkkraft zu überwältigen, sich einzuverleiben oder sich ihrer zu bedienen. Unter anderem möchte ich auch darauf aufmerksam machen. Wir müssen beiden Prinzipien das richtige Maß und den notwendigen Raum in uns und in unserer Welt gewähren.

Leisten meine Seelenmärchen auch nur bei einer Leserin oder bei einem Leser einen Beitrag zur Heilung, dann hat sich meine schriftstellerische Tätigkeit gelohnt.

Die Fadenbinderin

Erzähl mir eine Geschichte, Inanna.“

Emelie setzte sich zur Linken neben ihre Großmutter und berührte sie leicht am Arm. Sie musste durch eine Berührung die Aufmerksamkeit der Großmutter erst auf sich ziehen, denn Inanna saß selbstvergessen auf ihrem alten, schweren, mit großen Armlehnen versehenen Sessel. Hin- ausschauend, ohne hinauszuschauen; betrachtend, ohne etwas zu betrachten; liebevoll lächelnd, ohne jemanden an- zulächeln.

„Erzähl mir eine Geschichte, Inanna“, wiederholte die kleine Emelie ihre Bitte und ihre sanfte Berührung.

Endlich schaute Inanna auf ihre Enkelin.

„Die Fadenbinderin?“ fragte sie nur.

Emelie sprang sofort auf und lief eilig davon, denn sie kannte diese Geschichte und wusste, was zu tun war. Kurze Zeit später kam sie mit einer Schnur zurück, die an den Enden zusammengeknotet war. Kaum hatte sie sich wieder neben ihre Großmutter gesetzt, schlüpften ihre kleinen Hände auch schon mehrmals in den Schnurkreis und spannten ihn. Voller Vorfreude bot sie ihr einfaches Konstrukt Inanna an.

Zwei alte, faltige Hände griffen in den Schnurkreis. Inanna nahm ihn immer mehr in ihre Hände und formte dabei eine andere Struktur. Nun war Emelie wieder an der Reihe. So ging es hin und her. Während also abwechselnd zwei kindliche und zwei alte Hände in den Schnurkreis griffen, der so immer wieder seine Form änderte, formten sich auch die ersten Worte der Geschichte aus dem gütigen Mund der Großmutter.

Einst lebte ein Ehepaar in einem alten Haus nahe am Meer, das an seiner Rückseite von hohen Bäumen geschützt war.

Der Hausbesitzer und seine Frau bewohnten nur die vorderen Räume, denn sie waren hell und lichtdurchflutet. Von edlen und kostbaren Gegenständen umgeben, fühlten sie sich erhaben und von Bedeutung. Sie waren nicht nur Herr und Herrin in ihrem Haus, sondern auch Herr und Herrin in ihren Herzen. Beide waren gewohnt, dass man ihnen zu- diente. Ihre Gesellschaft wählten sie zu ihrem eigenen Vorteil, und sie duldeten Menschen nur, statt sie in ihrem Heim willkommen zu heißen. Sie konnten es sich leisten, denn die Menschen im nahegelegenen Dorf waren ärmlich. Wer einen handwerklichen Auftrag von ihnen bekam, wurde zwar schlecht bezahlt, doch das Wenige half über schlechte Zeiten hinweg.

Nun würde man meinen, dass die Natur für einen gerechten Ausgleich gesorgt hätte und beide hässlich wären. Doch sie waren ansehnlich in ihrer äußeren Erscheinung und gepflegt. Nichts markant Hässliches hob sich beim Anblick der beiden hervor. Sie waren schön in ihren Körpern, aber nicht in ihren Herzen. Ihr Gesichtsausdruck war hart und unnachgiebig. Kein Glanz und kein Leuchten kamen aus ihren Augen.

Einige Dorfbewohner, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatten, behaupteten, Herr und Herrin liebten sich wenigstens gegenseitig, und tatsächlich vereinigte die beiden ein unsichtbares Band, das sie unzertrennlich machte. Sie gehörten zusammen, und erst zusammen ergaben sie ein Ganzes. Doch konnte man das schon Liebe nennen?

Hier könnte die Geschichte mit den Worten enden: und wenn sie nicht gestorben sind …

Doch in dem Haus lebte noch eine Seele, eine junge und anmutige Frau. Sie bewohnte die hinteren Räume des Hauses, die schattig und kühl waren. In ihrem Herzen jedoch war Sophia voller Licht. Die Hausbesitzer überließen der jungen Frau die Schattenseite des Hauses, denn diese Seite beunruhigte sie und verstärkte noch die Kälte in ihren Herzen. Sie fühlten sich durch die Anwesenheit der jungen Frau vor den Schatten geschützt, die zu ihnen zu dringen drohten. Außerdem brachte Sophias besondere Fähigkeit, die von den Dorfbewohnern immer wieder in Anspruch genommen wurde, diese in ihr Haus. Daraus ließ sich weiterer Nutzen ziehen. Gründe genug also, die junge Frau zu dulden.

Sophia war anders als die Menschen, die hier in dieser Gegend wohnten, und sie wusste, dass sie anders war. Ihre Erscheinung hatte etwas Elfenhaftes, denn die Seele, die diesen Körper bewohnte, war so fein und flüchtig wie Äther. Kaum dass ihre Füße den Boden berührten. Ihr zierlicher Körper wirkte wie feines Porzellan, das auseinander zu brechen drohte, wenn man nicht vorsichtig damit umging. Sophia lebte in einer Zwischenwelt, und wären da nicht die Fäden in ihren Händen gewesen, aus denen sie leichthändig die schönsten Formen knüpfte, so hätte sie sich wohl für die ätherische Seite entschieden und wäre darin entschwunden. Die Fäden in ihren Händen, die sie ineinander verstrickte, wieder auflöste und von neuem miteinander verband, hielten sie an diese Welt gebunden. Diese Fadenkreationen spiegelten die unterschiedlichsten Bindungen der Menschen wider. Denn die Verstrickungen der Menschen miteinander und mit der Welt bildeten Muster, und es entstand Schicksal. Sophia vermochte diese Muster, dieses Schicksal zu sehen. Das war ihre besondere Fähigkeit. Sie sah Geschehnisse, so wie sie gewesen waren, so wie sie in diesem Moment waren oder so wie sie noch sein würden, und wenn jemand sie besuchte und sich einen Rat erhoffte, so erhielt er keine Anweisungen oder gar Belehrungen. Sophia sprach in rätselhaften Bildern, und doch ging niemand ohne Hoffnung, Zuversicht und Erkenntnis. Denn die feine Schwingung, in der sich die junge Frau einhüllte, und die Fäden, die sich zu formen begannen, vermochten auf unerklärliche Weise auch die Schwingung der Mitmenschen zu erhöhen und ihre Verstrickungen, unter denen sie gerade litten, zu lösen oder deren Form zu verändern.

Abend für Abend saß Sophia auf einem alten, abgenutzten Sessel und wob ihre Fäden. So auch heute. Die auf sie zukommenden Schritte hörte sie schon, noch bevor ihr Besuch vor der Tür stand. Sie legte ihre Fadenkreation aus den Händen und schaute aus dem Fenster. Der Wind wehte sanft durch die Bäume. Noch konnte er keines der Blätter mit sich fortnehmen, aber es würde nicht mehr lange dauern und sie würden ihm farbenprächtig folgen.

Es klopfte leise an der Tür. Sophia reagierte nicht. Sie hörte ein Räuspern. Sophia reagierte noch immer nicht. Die Menschen kamen zwar hin und wieder zu ihr und erhofften sich Hilfe von ihr, aber sie spürte, dass sie sie auch fürchteten. Ihre Welt war ihnen fremd und alles Geheimnisvolle ängstigte sie. Gleichzeitig gab es aber einige, die sich davon angezogen fühlten. Wieder klopfte es leise an der Tür. Der Besucher ließ sich durch ihr Schweigen nicht von seinem Vorhaben abbringen, öffnete vorsichtig die Tür und trat einen Schritt vor. Da ihm Sophia nicht widersprach, kam er noch einen Schritt näher.

„Ähm, ich hoffe, ich störe nicht.“

Sophia nahm ihre Fadenarbeit wieder auf und knüpfte ihre Fäden.

„Ähm, meine Gefährtin schickt mich. Sie meinte …“

Endlich blickte Sophia zu ihrem Besucher, schaute ihm in die Augen und begann zu sprechen.

„Ich sehe einen Mann in einem kleinen Boot auf dem Meer. Das Meer ist stürmisch, und der Mann ist mit seinem kleinen Boot ohne Segel und Ruder nicht gut ausgerüstet, auf den Wellen zu reiten. Also treibt es ihn zurück an Land. Doch da will er nicht bleiben, und so begibt er sich aufs Neue auf See und droht zu sinken. Er ist wie Ebbe und Flut. Ist er an Land, treibt es ihn im Innern aufs Meer zurück. Ist er im Wasser, treibt ihn die ungebändigte Kraft des Wassers, der er nichts entgegenzusetzen hat, wieder an Land.“

Sophia senkte ihren Blick, nahm ihre Fadenkreation in die Hand und begann die einzelnen Fäden wieder herauszuziehen. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie nicht gewillt war, sich weiter auf den Besucher einzulassen. Der Mann, von den Worten sichtlich berührt, murmelte einen Dankesgruß und verließ nachdenklich das Haus. Es war tatsächlich so, dass es ihm nicht gelang, Ordnung in sein Leben zu bringen, so sehr er sich auch bemühte. Immer, wenn er glaubte es geschafft zu haben, trat etwas in sein Leben, das es wieder in Unordnung brachte. Er verlor seine Arbeit oder verletzte sich, oder er bekam Schwierigkeiten in der Beziehung zu seiner jeweiligen Gefährtin, die es allesamt nicht lange mit ihm aushielten. Initiierte er seine Probleme vielleicht selbst, weil er immer wieder neue Herausforderungen suchte? Was trieb ihn an, sich immer wieder selbst Krisensituationen zu erschaffen? So konnte es einfach nicht mehr weitergehen. Er musste sich wohl oder übel für eine Seite entscheiden. Ob es ihm jedoch gelingen würde, stand auf einem anderen Blatt.

Warum sie wohl begonnen hat, ihre Handarbeit wieder aufzulösen? dachte er.

Ja, die Dorfbewohner hatten Recht. Sie war eine geheimnisvolle Frau mit ganz besonderen Kräften.

Auch am nächsten Abend trat wieder ein Mann vor Sophias Tür. Dieses Mal antwortete sie sofort auf das Klopfen, denn sie vernahm ein inneres Drängen, das von diesem Mann ausging. Sie schaute nicht zur Tür und unterbrach auch nicht ihre Knüpfarbeit.

Der Mann trat widerwillig ein. Er traute keinem anderen Menschen und schon gar nicht einer Frau. Aber er war wieder einmal an starker Bronchitis erkrankt, welche so gar nicht mehr ausheilen wollte, und die Geschichten, die man sich im Dorf über die junge Frau erzählte, hatten ihn schließlich hergelockt. Missmutig trat er von einem Bein aufs andere. Schon überlegte er, ob er sich nicht einfach wieder umdrehen und gehen sollte. Sie beachtete ihn ja noch nicht einmal.

Sophia nahm die hohe Sensibilität und Verletzlichkeit des Kranken wahr, die von einem harten Kern umhüllt war. Endlich blickte sie zu ihm auf und sah ihn an. Aber sie sah nicht nur ihn, sondern in seinem Schatten, der ihn umgab, all die Mitglieder seiner Herkunftsfamilie. Sie waren zu einem dichten Fadenknäuel verwoben, was sie schwer und träge machte. Wieder einmal begann sie, leise und wie in Trance, zu erzählen, was vor ihrem inneren Auge erschien:

„Ich sehe eine Familie auf einem Floß auf dem Meer treiben. Doch das Floß trägt die Familie nicht. Etwas beschwert die einzelnen Familienmitglieder, und es geht unter. Ihre schweren Körper sinken in die Tiefe, und sie fallen in einen todes-ähnlichen Schlaf. Einige wachen nach kurzer Zeit wieder auf, schwimmen nach oben und bekommen wieder Land unter ihren Füßen. Bei anderen dauert es sehr lange – zu lange. Sie befinden sich zwar wieder an Land, doch für manche von ihnen war der Schlaf zu lange.“

Als der kranke, sensible, verletzliche Mann die seltsame Geschichte vernahm, traten Tränen in seine Augen. Ein tiefer Atemzug strömte durch seine Lungen, und mit den Tränen, die ihn unvorbereitet überschwemmten, spürte er wieder Leben durch seinen Körper fließen. Er hatte sich von ihr gesehen und erkannt gefühlt. Es ging eine seltsame Heilkraft von dieser Frau aus, die ihm nicht geheuer war. Wenngleich er tiefe Dankbarkeit verspürte, so wollte er doch nichts lieber als von hier zu verschwinden. Er konnte ihrer Ausstrahlung, die aus anderen Sphären zu kommen schien, nur schwer standhalten, und so verließ er die junge Frau schnell wieder, um mit sich und seinen Tränen allein zu sein.

Hier könnte die Geschichte wieder mit den Worten enden: und wenn sie nicht gestorben ist …

Doch auch Sophia war dem Wandel des Lebens unterworfen.

Zur sonnigen Vorderseite des Hauses gehörte ein großer, gepflegter Garten. Selten sah man Herr und Herrin darin spazieren gehen. Taten sie es doch einmal, so überprüften sie kritisch den Zustand des Gartens, und ihr Urteil fiel selten milde aus. Dann riefen sie ihren Gärtner herbei und tadelten ihn für seine Nachlässigkeit. Der Gärtner, ein Mann in der Blüte seines Lebens, gelobte jedes Mal, sich zu bessern, was er jedoch nicht tat. Denn er wusste, Herr und Herrin hatten keinerlei Gespür für das, was der Garten benötigte, um zu gedeihen und seine Schönheit zu entfalten. Er jedoch war Gärtner aus Leidenschaft und betrachtete den Garten in seiner Ganzheit. Benjamin erkannte sofort, wenn eine Pflanze nicht in das Harmoniegefüge passte. Manchmal kamen Pflanzen nicht miteinander aus, und da reichte ein Standortwechsel, damit sich eine Pflanze harmonisch in die Komposition des Gartens einfügte wie eine Note in eine schöne Melodie.

Jedes weitere Jahr der Erfahrung mit einem Garten hatte seine Wahrnehmungsfähigkeit geschärft und ihn feinfühliger werden lassen. Er erkannte nicht nur die Natur der Pflanzen, sondern hatte auch Wissen über die Natur der Menschen gesammelt. Darum kümmerte er sich nicht weiter um das Gerede seiner Auftraggeber, das er sich zwar seelenruhig anhörte, aber schnell wieder vergaß. Es würde ihnen sowieso nicht auffallen, wenn er ihre Vorgaben nicht erfüllte, denn sie selbst vergaßen diese eben auch ganz schnell. Nachdem sie zu ihm gesprochen hatten, wandte er sich einfach wieder seinem Garten zu. Ein kurzer Blick reichte inzwischen aus, sich einen Gesamteindruck zu verschaffen. Dann konnte es sein, dass innere Bilder sich ihm aufdrängten und ihm zu erkennen gaben, wenn etwas aus der Harmonie gefallen war und was er zu tun hatte, um dieses Etwas wieder einzufügen. Benjamin war untersagt worden, sich um den verwilderten Gartenanteil an der Rückseite des Hauses zu kümmern. Bisher hatte er sich an dieses Verbot gehalten. Nicht, weil es ihm aufgegeben worden war, sondern weil er die Vorstellung von einem Garten, der sich selbst überlassen war, ganz reizvoll fand. Es erinnerte ihn daran, wer letztendlich der wahre Gärtner war. Er war auch nicht neugierig darauf, der geheimnisvollen Frau zu begegnen, da er dem Gerede über sie selten Gehör schenkte. In den letzten Wochen jedoch hatte er den Geschichten über sie kaum ausweichen können. So schlenderte er eines Tages doch einmal zur Rückseite des Hauses und schaute sich dort um – und da sah er sie gedankenverloren auf einer verwitterten, mit Moos bedeckten Bank sitzen. Plötzlich verspürte er ein ganz starkes Empfinden, sich zurückziehen zu müssen. Gerade so, als ob ihm jemand vorwurfsvoll mitgeteilt hätte, dass er ungebeten in dessen ganz persönlichen Schutzraum eingetreten war. Die Stimme in seinem Innern war so mächtig, dass er keinen Augenblick zögerte und sich wieder entfernte.

Doch seine erste Begegnung mit Sophia hatte sich in ihm eingebrannt. Sie ließ ihm keine Ruhe mehr.

Von nun an tastete er sich immer wieder an den verwilderten Garten heran. Nahe genug, um sich einen Gesamteindruck von der Lebenssituation der jungen Frau machen zu können, die sein Interesse geweckt hatte, und distanziert genug, um nicht von ihrem sehenden Auge erfasst zu werden. Wie das so bei ihm üblich war, erkannte er sehr schnell, dass auch sie aus der Harmonie gefallen war. Ihre seelische Unverbindlichkeit gab ihm zu erkennen, dass sie nicht wirklich ihren Platz in dieser Welt gefunden hatte, dass sie noch nicht einmal mit Geist und Seele hier angekommen war. Sie schien diese Welt zu umkreisen, wie ein Stern in seiner Umlaufbahn seine Sonne. Ausgewogen in Verbindung mit den kosmischen Kräften. Nicht leicht genug sich zu entfernen und nicht schwer genug näher zu kommen.

In ihm entstand der Wunsch, ihr zu helfen. Er beschloss, sie mit der langsameren Schwingung der Erde vertraut zu machen, und er wusste schon, wie er das anstellen würde. So begann sich auch Sophias Schicksal zu erfüllen. Sie selbst ahnte nichts davon. Sie ahnte nicht, dass jemand anderes ihre Fäden in eine andere Form zu bringen begann.

Abend für Abend, immer um die gleiche Zeit schlenderte Benjamin in gebührendem Abstand an der Rückseite des Hauses vorbei. Er hatte inzwischen herausgefunden, dass es ihre Zeit war, in den Garten einzutauchen oder sich, auf der Bank sitzend, an einer Knüpfarbeit zu betätigen. Benjamin veränderte nichts, sondern betrachtete nur die einzelnen Pflanzen. Er nahm hier und da ein Blatt oder eine Blüte in die Hand, prüfte deren Beschaffenheit und achtete sorgsam darauf, dass er dabei nicht zu übersehen und zu überhören war. Gleichzeitig aber würdigte er Sophia keines Blickes und schenkte ihr keine Beachtung. Er ließ sie einfach links liegen. Sie ließ ihn gewähren. Die von ihm eingenommene Distanz schien ihr wohl zu genügen.

Tag um Tag ging so ins Land. Ganz allmählich begann er Einfluss auf den Garten zu nehmen. Er sammelte einige Blätter ein, die sich nun lösten und sanft zu Boden fielen, oder er bog ein oder zwei dünne Äste zur Seite, um einer Pflanze mehr Freiraum zu verschaffen, bis er schließlich zum ersten Mal das Gefühl hatte, von Sophia beobachtet zu werden. Mit einem kurzen Seitenblick in ihre Richtung sah er sich darin bestätigt. Sogleich wandte sie ihren Blick von ihm ab und widmete sich wieder ihrer Arbeit, und er tat es ihr gleich.

Tag um Tag verging. Inzwischen war es zur lieben Gewohnheit geworden, dass Sophia ihren Kopf leicht zu ihm drehte, um ihm einen flüchtigen Blick zu schenken, und er ihr hin und wieder einen bedeutungslosen Seitenblick zuwarf.

Benjamin begann seinen Weg ein wenig näher an sie heran zu führen, achtete währenddessen aber darauf, sie keines Blickes zu würdigen. Alles schien seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, nur die junge Frau nicht. Nachdem auch diese neue Situation zur Gewohnheit geworden war, kam er nach und nach so nahe an sie heran, dass er sich auch um die Pflanzen ganz in ihrer Nähe kümmern konnte. Je näher er ihr kam, desto mehr wandte er bei seiner Gartentätigkeit den Blick von ihr ab und drehte ihr sogar oft den Rücken zu. Benjamin wollte in seinem Verhalten ambivalent sein, sich ihr nähern und gleichzeitig in seinem Wesen distanziert wirken. Er wollte eine Anziehungskraft auf sie ausüben, die sie veranlassen sollte, ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn zu konzentrieren. Sie sollte neugierig werden. Er hoffte, sie auf diese Weise nach und nach an sich zu binden und sie zu veranlassen, sich auf die tiefer schwingende Erdsphäre einzulassen.

Sophia hatte ihn nicht erwartet. Der verwilderte Garten war bisher ihr ganz eigenes Refugium gewesen, in dem sie vor den Menschen, die sie immer wieder aufsuchten, geschützt war. Kein Klopfen an der Tür und keine in ihr entstehenden Bilder. Niemand wagte es, unerlaubt in den Garten von Herr und Herrin zu treten, und das musste man, um in Sophias Garten zu kommen. Alle Besucher wurden von den beiden grundsätzlich zu ihren Räumen geleitet, damit ihnen nicht entging, wer sie besuchte. Sie war also unvorbereitet und hatte mit starker innerer Entrüstung reagiert. Zu ihrer Überraschung hatte er es wahrgenommen und sich auf der Stelle zurückgezogen.

Da sie ihn in den darauffolgenden Tagen nicht wiedergesehen hatte, vergaß sie sein ungefragtes Betreten ihres Refugiums. Doch dann bemerkte sie in einiger Entfernung seine Anwesenheit. Nur dass er dieses Mal gebührenden Abstand zu ihr hielt. Da sie so keine inneren Bilder empfing, ließ sie ihn gewähren. Sie verspürte ihm gegenüber dieselbe Unberührtheit, dieselbe Unnahbarkeit, wie im Kontakt mit allen anderen, denen sie begegnete.

Aber er kam fortan jeden Abend, bis schließlich der Tag kam, an dem sie an ihn dachte und nach ihm Ausschau hielt. Sie wurde neugierig, mit wem sie es da zu tun hatte. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sein Wesen nicht erfassen. Er suchte keine Verbindung zu ihr, ließ sie einfach unbeachtet. Immer wenn sie glaubte, erste Bilder von ihm zu empfangen, entzog er sich ihr wieder.

Also begnügte sie sich damit, ihn zu beobachten und gewöhnte sich langsam an seine gelegentlichen unverbindlichen Seitenblicke.

Sophia wusste nicht, dass es gerade ihre aufmerksamen Beobachtungen waren, die sie zu erden begannen. Wie ein Teilchen, das durch Beobachtung aus dem Wahrscheinlichkeitsraum herausfiel und sich manifestierte, begann sie in seiner Anwesenheit intensiver ihre Leiblichkeit zu empfinden. In zarten Anfängen wünschte sie sich, dass er sich ihr zuwandte. Er kam zwar langsam näher, aber er ignorierte sie noch immer. Inzwischen kam er ihr so nahe, dass sie auch seine körpereigene Schwingung aufnehmen konnte. Doch sie empfing keine Bilder. Dafür schärften sich aber ihre Sinne, und lange nachdem er gegangen war, konnte sie noch seinen Geruch wahrnehmen. Bis dahin hatte sie nur einen leichten Duft von Pflanzen erfahren.

Die Anwesenheit und die intensiven Blicke der Menschen, die sie bisher besucht und sich ihr zugewandt hatten, waren zumeist nicht lange erträglich für sie gewesen. Sie hatte das Gefühl gehabt, vor ihnen flüchten zu müssen, und das hatte sie in gewisser Weise auch getan, indem sie ihre Fäden verknüpft und wieder gelöst hatte. Länger bei einem Subjekt zu verweilen, hatte sie einfach nicht ausgehalten, ohne zu ermüden und sich unendlich schwer zu fühlen. Sie hatte sich am wohlsten gefühlt, wenn ihre Seele und ihr Geist bei niemandem lange verweilen musste.

Zart und leise fing Sophia nun an, Benjamin vorsichtig in ihr Leben und in ihr Herz zu lassen. Konnte sie seine Nähe in den ersten Wochen nur eine kurze Weile aushalten, ohne sich wieder in ihre eigene ätherische Welt zurückzuziehen, fühlte sie nun über einen längeren Zeitraum die für sie so neue Vertrautheit. Die Zuverlässigkeit ihrer täglichen Begegnungen übte sie darin und gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Ihr Wunsch, er möge endlich seine Achtsamkeit auf sie lenken, so wie er sie auch den Pflanzen zukommen ließ, wurde stärker. Doch dieser Mann interessierte sich einfach nicht für sie. Wenn er sie wenigstens länger ansehen würde.

Eines Tages geschah das Unmögliche. Sie sprach ihn an.

„Wie ist dein Name?“

Nun endlich wandte er sich ihr zu. Sein Blick traf sich mit dem ihren.

„Ich heiße Benjamin.“

War es Zufall, dass sich Sophia und Benjamin näherkamen, in einer Zeit, in der die Lebenszeit von Herr und Herrin abgelaufen war? Die Nachricht vom Tod der beiden verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die Schatten des Hauses, die sie gefürchtet hatten und die sie durch Sophias Anwesenheit gebannt sahen, hatten sie nicht eingeholt. Es waren ihre eigenen Schatten, die sie heimgesucht hatten. Sie hatten sich verschwendet und durch ihre Maßlosigkeit frühzeitig verbraucht. Als ihre Seelen ihre Körper verließen, waren ihre Herzen jedoch noch so schwer, dass es ihnen unmöglich war, sich in leichtere Sphären zu erheben. Nun waren sie selbst zu Schatten geworden, die am vorderen Teil des Hauses anhafteten.

Zuerst blieb alles wie bisher, denn es gab keine Erben, die einen Anspruch auf den Besitz erhoben. Doch nach einer anfänglichen Erleichterung und einem Gefühl der Befreiung merkten die Dorfbewohner, dass ihnen die handwerklichen Aufträge fehlten. Niemand wagte jedoch, den Besitz an sich zu reißen oder in das Haus, von dem sich erzählt wurde, dass Herr und Herrin darin herumspukten, einzuziehen. Also wurde kurzerhand und offiziell verkündet, dass all dieser Besitz Sophia vermacht wurde.

Ein drängendes Verlangen, die sonnige Vorderseite des Hauses ihr Eigen zu nennen, verspürte die junge Frau jedoch nicht. Ihr ätherisches Wesen machte es ihr besonders schwer, sich diesen zwei Schatten zu stellen und sie zu überwinden. Zum Bedauern der Dorfbewohner veränderte sich also noch immer nichts. Es blieb ihnen nichts anderes übrig als Geduld zu haben.

Nicht nur die neuesten Ereignisse, auch die Erkenntnis, durch sein Verhalten Sophia gegenüber Verantwortung übernommen zu haben, der er sich nun nicht mehr entziehen konnte, ohne Schaden anzurichten, beunruhigten Benjamin. Er selbst hatte beabsichtigt sie zu binden, ohne sich über die Konsequenzen vollkommen klargewesen zu sein. Er empfand längst mehr für Sophia als ein Gefühl der Hilfsbereitschaft. Aber jetzt brachte es seine eigene Ordnung, sein eigenes Weltgefüge durcheinander, und dies ängstigte ihn. Er fürchtete, selbst aus der Harmonie zu fallen.

Sophia empfing zum ersten Mal innere Bilder von Benjamin. Sie erkannte, dass er ihr zu helfen gewusst hatte, solange sie unnahbar gewesen war. Nun aber, da sie sich ihm angenähert hatte, wurde seine eigene Scheu sichtbar, sich weiterhin auf sie einzulassen. Er hätte dazu sein Einzelgängertum aufgeben müssen.

Sophia war in ihrem Wesen klar. Sie kannte nur den Weg, offen mitzuteilen, was sie sah, und dies tat sie ebenso bei Benjamin.

„Ich sehe einen Uhrmacher, der eine reichverzierte Uhr wieder zum Laufen gebracht hat. Sie läuft jetzt mit der Zeit. Irrtümlicherweise meint der Uhrmacher jedoch zu sehen, dass sie in die falsche Richtung läuft. Er überlegt sich eine Vorgehensweise, dies umzukehren, ohne zu bemerken, dass die Uhr erst dann rückwärtslaufen würde. Wird er seinen Irrtum erkennen und verstehen, dass alles seine Richtigkeit hat?“

Nachdem Sophia gesprochen hatte, erkannte Benjamin von einem Moment zum anderen, dass es seine eigene Angst war, die ihn unsicher gemacht hatte. Er fühlte sich plötzlich sehr erleichtert und begriff, dass nicht nur seine männliche Energie sie zu bereichern und zu erden vermochte, sondern dass auch ihre elfenhafte, feine Energie ihn durchströmen und sein Wesen erhellen konnte, und so wagte er es, sie das erste Mal zu berühren. Mit dieser ersten zarten Berührung begannen sich Sophias Seelenflügel vollends herabzulassen. Sie hatte ihre Umlaufbahn verlassen und beschlossen, mit Leib und Seele auf dieser Welt anzukommen.

Schließlich wagte eines Tages einer der Dorfbewohner den Gang durch den Garten und bat Sophia eindringlich, doch endlich den Besitz ihr Eigen zu nennen und die Schatten zu vertreiben. Sie versprach, es zu versuchen. Schnell suchte er danach wieder das Weite. Man konnte ja nie wissen, ob sich die beiden Schatten nicht auch gelegentlich im Garten aufhielten.

Sophia fürchtete sich vor den Schatten und hatte die Räumlichkeiten, in denen die Schatten ihr Unwesen trieben, bisher vermieden. Bei dieser Aufgabe konnte ihr Benjamin nicht beistehen. Sie konnte dies nur allein bewältigen.

Vorsichtig näherte sie sich den vorderen Räumen und öffnete die Tür. Dunkel und drohend erhoben sich die Schatten vor ihr. Sie wurden größer und mächtiger, bis sie Sophia schließlich eingeschüchtert zum Rückzug zwangen. Am nächsten Tag versuchte sie es von Neuem, doch das Schauspiel wiederholte sich, und auch die darauffolgenden Tage wollte es ihr nicht gelingen, die Schwelle zum vorderen Teil des Hauses zu überschreiten.

Bekümmert suchte sie Trost in ihrem zum großen Teil noch verwilderten Garten. Benjamin warf ihr einen liebevollen Blick zu und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Er hatte begonnen, eine Kletterpflanze zurückzuschneiden, die alles zu überwuchern drohte und bald kein Wachstum an ihrer Seite mehr zulassen würde, wenn ihr nicht jemand Einhalt gebot. Ohne zu zögern setzte Benjamin all seine Kraft ein, um sie in ihre Schranken zu weisen, und auf einmal verstand Sophia. Eine ungekannte Empfindung erwachte in ihr zu neuem Leben. Es war die Empfindung der Leidenschaft.

Mutig trat sie vor die Schatten. Wieder bäumten sie sich vor ihr auf, dunkel und drohend. Sophia wich nicht zurück, fest entschlossen, die Schatten zu bezwingen. Verzerrte Geistgesichter kamen bedrohlich auf sie zu. Doch Sophia hielt ihnen trotzig stand. Die Schatten drohten ihr, sie zu vernichten und bewegten sich auf sie zu. Bevor sie in Sophia hineinflogen, konnte sie gerade noch rufen:

„Ich entziehe euch eure Macht.“

Sophia hatte vor Schreck tief Luft geholt. Es war ihr, als ob sie die Schatten dabei eingeatmet hätte. Sie hatte sie damit zwar verkleinert, aber nun hausten sie in ihr. Sie fürchtete sich davor, dass sie nun für immer ein Teil von ihr bleiben würden. Würde sie die Kraft besitzen, sie in ihrem Innern auf Dauer zu bannen oder würde sie vielleicht sogar einen Weg finden, sie eines Tages in leichtere Sphären zu entlassen?

Mit zittrigen Knien trat sie in die vorderen Räume ein. Beeindruckt von all den Reichtümern, wagte sie nicht, diese zu berühren. Sonnenlicht durchflutete die großflächigen Räume und untermalte deren Glanz. Sie ging weiter und trat in den vorderen Garten. Hier offenbarten sich ihr mit voller Wucht Benjamins viele Jahre hoher Gartenkunst. Der Garten war einfach wunderschön. Nur ein Wort kam ihr in den Sinn: Harmonie.

Erst jetzt begriff Sophia, wieviel Glück ihr in den letzten Wochen zuteilgeworden war. Nun lag es an ihr, an ihr und an Benjamin, ihrem Leben gemeinsam einen neuen Sinn zu verleihen und kommende Herausforderungen anzunehmen und zu meistern.

Sie begann zu weinen. Heilende Tränen rannen ihr über die Wangen. Es war ein Weinen aus großem Schmerz, aus sehr großer Tiefe und aus alter Zeit, und diese Tränen waren weitreichend.

Lächelnd zog die Großmutter ihre Hände aus dem an seinen Enden zusammen geknoteten Faden und schaute ihre Enkelin liebevoll an.

„Emelie, es ist schon spät geworden. Deine Mutter wird schon auf dich warten.“

Emelie schmiegte sich noch einmal an ihre Großmutter. Nachdenklich und von der Geschichte erfüllt, schlenderte sie langsam nach Hause, wo ihre Mutter schon das Essen zubereitet hatte, das seinen angenehmen Duft verströmte.

Die Geheimnisvolle Alte

Einst lebte in einem kleinen Dorf eine arme Bauernfamilie. Der Vater und die Mutter waren so arm, dass sie heute nicht wussten, wie sie morgen sich und ihre Kinder ernähren konnten. So arm sie waren, so reich waren sie an der Anzahl ihrer Kinder. Ihre Kinder waren ihre Hoffnung und trugen sie in die Zukunft, aber erst einmal mussten sie diese satt bekommen, und das Tag um Tag und Jahr um Jahr. Die Armut, der Vater und Mutter tagtäglich ausgesetzt waren, hatte sie mürbe gemacht, sodass ihre Kraft nicht mehr ausreichte, all ihre Kinder mit Liebe zu umfangen. Die ersten zwei Kinder hatten noch ihre ganze Aufmerksamkeit, die danach Folgenden mussten sich in ihrem Verhalten aber bemerkbar machen, um nicht von ihren Eltern übersehen zu werden. Ana, das letzte Kind – ein kluges, aber leises Mädchen von 9 Jahren – existierte für sie schon nicht mehr, und es musste selbst immer wieder gut aufpassen, nicht verloren zu gehen.

Nun begab es sich, dass weit außerhalb des Dorfes eine sehr alte Frau lebte. Niemand wusste genau, wie alt sie wirklich war. In den Erzählungen vergangener Generationen kam sie schon vor und auch in den Erzählungen der jüngsten Generation hatte sie ihren Platz gefunden. Niemand machte sich ernsthaft die Mühe, über diese Tatsache nachzudenken. So war es gewesen, so war es noch immer und so würde es weiterhin sein. Es gab niemanden im Dorf, der nicht schon einmal von ihr gehört hatte, und kein Durchreisender verließ das Dorf, ohne von ihr erfahren zu haben. Für die Dorfbewohner war sie eine magische Frau, für manche von ihnen sogar eine Hexe. Einige behaupteten, sie schon gesehen zu haben. Aber sie verstrickten sich in ihren Erzählungen immer wieder in Widersprüche, sodass keiner der Zuhörenden wusste, was der Wahrheit entsprach und was nicht. Was jedoch als sicher galt, war die Tatsache, dass die sehr alte Frau von einer unendlichen Sammlung unterschiedlichster Kleider umgeben war. Man erzählte sich, dass sie im Besitz von Kleidern aller erdenklichen Zeitalter war. Angeblich besaß sie Kleider aus den unterschiedlichsten Stoffen und Farben, und sie machte keinen Unterschied zwischen schäbigen, zerschlissenen und ansehnlichen, edlen Kleidern. Alle Kleider, die zu ihr fanden oder bei ihr neu entstanden, nahm sie in ihre Sammlung auf. So hörte man es zumindest.

Eines Tages machte sich die ganze Familie auf, um in den Wald zu gehen. Die Beeren hingen ausgereift an ihren Sträuchern. Eine Zeit im Jahr, die die Familie nicht ungenutzt lassen wollte, um die hungrigen Mäuler im Winter mit Marmelade und eingemachten Beeren füttern zu können. Während sie Beere für Beere in ihre Körbe legten, kamen sie immer tiefer in den Wald hinein. Mutter und Vater und auch die Ältesten der Geschwister waren bemüht, die Körbe zu füllen, doch den Kleineren von ihnen wurde schnell langweilig. Sie sprangen spielend herum und machten sich über die Körbe her. Da half auch das Ermahnen der Älteren nur wenig. So schnell konnten die Körbe gar nicht gefüllt werden, wie sie von den kleinen Mäulern wieder geleert wurden.

Am späten Nachmittag war es der Familie schließlich doch noch gelungen, all ihre mitgebrachten Körbe zu füllen. Die ersten der Kinder waren schon zurückgeblieben, um dann umzukehren. Nun machten sich weitere auf den Heimweg. Nachdem sich Vater und Mutter und zwei ihrer Kinder noch etwas ausgeruht hatten, traten auch sie den Heimweg an.

Nur Ana, das Jüngste, hatte die Umkehr der Familienmitglieder nicht bemerkt und war gedankenverloren weiter getrottet. Ganz in ihre Traumwelt versunken, war sie einfach immer weitergelaufen und so kam, was eines Tages kommen musste: sie ging verloren. Als sie endlich aus ihrer Traumwelt erwachte, bemerkte sie, dass sie vollkommen allein im tiefen Wald stand. Darüber war sie so erschrocken, dass es ihr gar nicht einfiel zu weinen. Keine einzige Träne rann über ihre Wangen. Sie stand einfach nur starr vor Schreck auf ihrem Platz. Ana wusste sich nicht zu helfen, und lange blieb sie so stehen, im festen Glauben, dass gleich eines ihrer Geschwister vor ihr auftauchen, sie an die Hand nehmen und sie schimpfend hinter sich herziehen würde. Doch nichts geschah. Sie wartete. Aber es geschah noch immer nichts. Sie konnte nicht ewig hier stehen und warten. Endlich entschied sie sich, einfach weiterzulaufen, in der Hoffnung, doch noch nach Hause zu finden. Sie lief und lief, bis ihre Erschöpfung sie anflehte, endlich innezuhalten. Aber ihre Angst bat sie inständig, weiterzulaufen. Ana wusste nicht, welcher der beiden Stimmen sie gehorchen sollte.

Leuchtete da nicht durch die drohende Dämmerung ein Licht vor ihr auf? Mit einem Funken Hoffnung ging Ana darauf zu, bis sie auf einer Lichtung inmitten des dunklen Waldes stand. Vor ihr türmte sich eine große, alte Scheune auf. Anas kleine Füße stolperten zur Eingangstür, die nur angelehnt war. Leise schob sie die Tür weiter auf, um ihren Kopf hindurchstrecken zu können.

„Hallo? Ist da jemand?“ fragte sie schüchtern und spähte vorsichtig in den Raum.

Zuerst konnte sie nichts erkennen. Nur ein kleines Feuer brannte in einem weiter entfernten Kamin. Doch dann gewöhnte sie sich etwas an die Dunkelheit. Obwohl sie nur schattige Umrisse wahrnahm, sagte ihr eine innere Stimme, dass es nicht gefährlich war einzutreten. Auf diese Stimme hörte sie. Was hätte sie auch anderes tun können? Ihr Blick haftete an einem großen Sessel in der Nähe des Feuers und nichts in ihrem Inneren wehrte sich dagegen, als ihre Beine wie von selbst darauf zugingen. Ohne sich weiter umzusehen, kuschelte sich Ana völlig erschöpft in den Sessel und schlief sofort ein.

Als sie erwachte, fühlte sie sich wohlig geborgen, denn eine dicke Wolldecke umhüllte und wärmte sie. Sie richtete sich auf, rieb sich die Augen und schaute sich um. Es war früh am Morgen. Das Gezwitscher der Waldvögel hatte sie geweckt. Obwohl die Sonne schon aufgegangen war, drangen die Sonnenstrahlen kaum durch die zwei kleinen Fenster ins Haus, das nur aus einem einzigen sehr großen Raum bestand. Es blieb alles schemenhaft. Ana sah an der Wand vor ihr ein großes, mit zwei schweren Holztüren verschlossenes Tor, das nach oben hin abgerundet war. Daneben das einzige große Fenster. Es hätte den Raum erhellen können, doch es blieb von zwei schweren Fensterläden verdunkelt.

Was duftete denn da so gut? Ana entdeckte neben sich auf einem kleinen Tisch eine Holzschüssel, gefüllt mit warmem Haferbrei und Apfelmus und darübergestreutem Zimt. Verstohlen blickte sie einen Moment um sich.

Ob sie wohl einen Bissen davon kosten durfte?

Natürlich blieb es nicht bei dem einen. Erst als sie die Schüssel bis auf den letzten Rest geleert hatte, kam es ihr in den Sinn, dass sie hätte warten müssen, bis man es ihr erlaubt hätte. Schuldbewusst schärfte sie ihren Blick und schaute durch den Raum, ob nicht doch jemand in der Nähe war, und dann sah Ana sie zum ersten Mal.

Mitten im Raum stand ein großer majestätischer Sessel und eine alte Frau saß darauf und nähte. Sie fügte sich so selbstverständlich in den großen Raum ein, dass Ana sie vorher nicht bemerkt hatte. Ana lief ein Schauer über ihren kleinen Rücken. Auch sie hatte oft genug den Geschichten über die geheimnisvolle Alte gelauscht. Keinen Moment zweifelte ihre junge Seele daran, dass diese geheimnisvolle Alte jetzt vor ihr saß. Ana betrachtete sie scheu und neugierig zugleich. Die Frau vor ihr war alt, sehr alt. Ihr Gesicht war so voller Falten und Furchen, dass ihre fast geschlossenen Augen und ihr schmaler Mund kaum noch zu erkennen waren. Doch anders als in den Geschichten erzählt wurde, wirkte sie nicht beängstigend oder sogar bedrohlich. Ganz im Gegenteil. Ana spürte trotz ihrer wenigen Jahre, welch innere Festigkeit und tiefe Würde diese alte Frau ausstrahlte. Wie sie so, in einem dunkel karmesinroten Kleid, in ihrem Sessel saß und nähte. Ihre wenigen Körperbewegungen waren andächtig und jeder Stich, den sie vor sich hinmurmelnd ausführte, schien symbolisch geladen zu sein, so als legte sie eine Botschaft oder ein Gebet hinein.

Ana erinnerte sich verschwommen an ihre Großmutter, als diese noch lebte. Sie selbst war damals noch sehr klein gewesen, und so machtvoll und unantastbar hatte sie ihre Großmutter nicht in Erinnerung.

Ana beobachtete fasziniert die geheimnisvolle Alte. Sie begann sich langsam mit dem rhythmischen, tranceartigen Gemurmel, das sie vernahm, hin und her zu bewegen und hatte Mühe, ihre Augen offen zu halten. Doch das wollte sie. Sie hatte Fragen und wollte Antworten, und sie wollte nach Hause zu ihrer Familie. Heftig schüttelte sie ihren Kopf, um sich von der Wirkung zu befreien, und trat vorsichtig an die Alte heran. Sie sah, dass das Kleid der merkwürdigen Alten mit den unterschiedlichsten Symbolen bestickt war.

Ana war sich nicht sicher, ob die Alte sie überhaupt bemerkt hatte. Nun ja, daran war sie gewöhnt. Sie zupfte sie an ihrem langen Wollkleid, um sich bemerkbar zu machen. Die alte Frau beachtete das Mädchen jedoch nicht, und doch spürte Ana eine mütterlich nährende Wärme von dieser alten Frau ausgehen, die sie umhüllte und ihr ein Gefühl von Schutz gab, ein Gefühl, das sie so vorher noch nie verspürt hatte. Also lehnte sich Ana erst einmal an sie und schaute ihr beim Nähen zu. Zuhause war sie als Jüngste bei all dem Geplapper der vielen Geschwister selten zu Wort gekommen. Eigentlich war sie immer froh gewesen, wenn einmal keiner gesprochen hatte und es für einen Moment ruhig gewesen war, aber das war nur selten vorgekommen. Hier war sie aber allein, und darum fing sie überraschenderweise an, ausgiebig über sich und ihr Missgeschick zu erzählen. Sie wollte gar nicht mehr aufhören. Sie berichtete von ihren vielen Geschwistern, von ihren fleißigen Eltern und von ihrem Heim, und endlich stellte sie die Frage, die schon so lange gestellt werden wollte.

„Kannst du mich nach Hause bringen?“

Zum ersten Mal reagierte die Alte auf Ana. Sie hob ihren Kopf. Doch ihre Augen öffneten sich nicht weiter und Ana erkannte, dass die geheimnisvolle Alte fast blind war. Traurig senkte Ana ihr kleines Köpfchen. Dann spürte sie plötzlich eine warme, weiche Hand auf ihrem Schopf. Sanft streichelte die Alte ihr übers Haar. Danach zog sie ihre Hand zurück und wandte sich wieder ihrer Näharbeit zu.