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Szenarien der Ernährungswende E-Book

Harald Lemke

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Beschreibung

Ernährungsverhältnisse beeinflussen das menschliche Leben und die Zukunft der Erde mehr als vieles andere. Und das Bewusstsein der Notwendigkeit einer radikalen Ernährungswende im Zeichen der ökologischen Krise nimmt seit einigen Jahren deutlich zu. Als Wegbereiter und Ideengeber dieses neuen Diskurses durchstreift Harald Lemke in seinen neuen Studien die komplexe Welt unserer Esskultur: Bildung, Immunsystem, Fleischkonsum, Klimawandel, Weltwirtschaft, Food Wars, Geschmacksfragen, Kochkünste, Widerstandsbewegungen, Alltagspraxis, Gesellschaftsutopie. Er zeigt: Die Kultur des Essens verbindet alles mit allem - und diese Zusammenhänge zu verstehen ist philosophisch ebenso reizvoll wie gesellschaftlich notwendig.

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Seitenzahl: 564

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Harald Lemke (apl. Prof. Dr.), geb. 1965, freischaffender Philosoph, ist Direktor des Internationalen Forums Gastrosophie und Autor zahlreicher Bücher zu Politik, Ethik, Ästhetik und Anthropologie. Er lehrt an der Universität Salzburg und der Slow Food Universität in Pollenzo und hatte Gastprofessuren an der Kyoto Universität sowie der East China Normal University Shanghai inne, er ist Fellow der Studienstiftung des Deutschen Volkes, der deutschen Bundesumweltstiftung und der Alexander von Humboldt-Stiftung. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ethik, Politik, Ästhetik, Alltagskultur sowie eine kritische Theorie des guten Lebens.

HARALD LEMKE

Szenarien der Ernährungswende

Gastrosophische Essays zur Transformation unserer Esskultur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Coverabbildung: Jörg Sellerbeck, Raumkulinarik München Korrektorat: Mandy Fleer, Bielefeld Print-ISBN 978-3-8376-4483-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4483-2 EPUB-ISBN 978-3-7328-4483-8https://doi.org/10.14361/9783839444832

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

I.THEORIE DER TISCHGESELLSCHAFT

1.Es könnte ein Überleben geben

Vom Werden konvivialer Menschen

2.Foodopia

Kurznachricht und Zwischenruf

3.In guter Gesellschaft

Hannah Arendt lädt ein

II.KAMPF UM DAS TÄGLICHE BROT

4.Gastrecht und Willkommenskultur oder »Lass uns mal zusammen was essen«

5.Food-Design und Kriegsgestaltung oder: Gulaschkanonen zu Hummushaubitzen!

III.ABENTEUER DER KÜCHE

6.Essenmachen und Kochen, um ins Denken zu kommen

7.Der süße Weltgeist

Reflexionen aus einem versüßten Leben

8.Denkbare Tischrede zum Salz der Erde

IV.ANTHROPOETHIK AM TELLERRAND DER WELT

9.Plädoyer für eine allgemeine Ernährungsbildungsoffensive

10.Der Ungeist der Verdauung

Gastrologische Rekonstruktionen von Anderem-Selbst-Verkörpern

11.Das ›karnibalische‹ Recht auf Fleisch

Nachweis der Inhaltsstoffe und Zusätze

Verzeichnis der Zutaten

Der wachsenden Gastrosophie-Gemeinde als Wegproviant zugedacht.

I.Theorie der Tischgesellschaft

1.Es könnte ein Überleben geben

Vom Werden konvivialer Menschen

»Ich sorge mich, dass ich mich dazu verleiten lasse, prosaische Faktenpräzision anzubieten, wo wir vielleicht einen wilden Schrei bräuchten oder die alles verändernde Kraft und wahre Präzision der Poesie.«

ARUNDHATI ROY, AUSDER WERKSTATTDER DEMOKRATIE

Mahlzeit!

Oder Brotzeit? Ob wir es wollen oder nicht, und sogar egal, ob es uns schmeckt oder nicht, das Essen beschäftigt uns Menschen ständig und auf vielerlei Weise. Fürs ›täglich Brot‹ – oder häufiger doch eher für den täglichen Genuss von Currywurst, Döner, Nudeln, Pizza oder anderen Leckereien der Supermärkte und Gastrobetriebe – müssen die Meisten von uns den Großteil des Tages arbeiten. Die während der Arbeit verbrauchten Lebensenergien oder ›Kalorien‹ müssen in den Pausen ›nachgetankt‹ werden. Nicht lange nach dem ›schnellen Mittagstisch‹ wird es schon wieder Zeit für eine Zwischenmahlzeit – einen Snack, eine Süßigkeit oder für ›Kaffee und Kuchen‹. Zum Feierabend erledigen wir kurz den Einkauf, weil zu Hause mal wieder das Nötigste fehlt. Etwas später gibt’s dann ›zum Abendbrot‹ noch einen kleinen Leckerbissen oder vielleicht doch ›etwas mehr‹ und sogar zu viel des Guten (wie die Gesundheitsstatistiken regelmäßig belegen). Der Tag geht schließlich – meistens – vor irgendeinem Bildschirm bei alkoholischen Getränken und ein bisschen Salzgebäck zu Ende. Oder es kommt – im Falle eines gemeinsamen Essens – zu einem ›geselligen Miteinander‹. Am Küchen- oder Wohnzimmeresstisch werden Erlebnisse ausgetauscht, sich Geschichten erzählt und die sozialen Bindungen und Vernetzungen gepflegt. Der kommende Morgen beginnt dann gleich wieder mit ›Essen‹: Frühstück eben. Oder es geht mit einem Becher Kaffee und einem Brötchen oder irgendetwas to go gleich zum Arbeitsplatz für den ›täglichen Broterwerb‹. Und so weiter und so fort, Tag für Tag: So – oder so ähnlich durch individuelle und kulturelle Variablen etwas modifiziert – prägt das Essen unser Dasein, geht der Mensch essend – die meiste Zeit sich durchfressend und durchwurstelnd – durchs Leben.

NOTBREMSEVORDER WEGGABELUNGUNSERERMÖGLICHEN ZUKÜNFTE

Obwohl es uns eigentlich ständig beschäftigt und es nur – von anderen Tätigkeiten, die obendrein nicht selten auf die eine oder andere Art damit zu tun haben – kurzfristig unterbrochen wird, denken wir nicht groß über die Allgegenwärtigkeit des Essens nach. Würden wir dies tun, sprich: das Essen so groß denken, wie es in Wirklichkeit ist, wäre schnell klar: Der Mensch ist nicht, was er isst – wie der Philosoph Ludwig Feuerbach meinte. Oder verwandeln Sie sich bei jeder Mahlzeit in das, wasSie essen?

Die Erkenntnis, dass der Mensch ist, was er isst, richtig zu verstehen heißt, eine einfache Tatsache zu durchschauen: Was die menschliche Existenz wesentlich mehr als irgendetwas Anderes in unserem Leben ausmacht, ist ›das Essen‹. Jeder Mensch muss sich fast ununterbrochen damit beschäftigen. Ganz gleich, ob er – oder sie1 – dies will oder am liebsten nicht wollte. Weil sich eine brauchbare Begrifflichkeit noch nicht eingebürgert hat, wiederhole ich hier meinen Vorschlag, diese von der philosophischen Anthropologie bislang kaum erforschte essenzielle Dimension des Menschseins – die Existenzialität des menschlichen Essens – als ihre ›Essistenz‹ zu bezeichnen.2

Die Entdeckung der menschlichen Essistenz ist ein weltbewegendes Ereignis in vielerlei Hinsichten und Richtungen. Und diese allgemein noch wenig bekannte Entdeckung kommt zum richtigen Moment der Zeitenwende unseres Weltalters, das uns mit einer allesentscheidenden Weg-Gabelung konfrontiert. »Wir nähern uns«, so die Prognose eines der bedeutendsten Soziologen der Gegenwart, »einer Gabelung auf dem Weg in unsere möglichen Zukünfte (oder haben sie vielleicht bereits erreicht), wobei der eine Weg zu kollektivem Wohlergehen, der andere zur kollektiven Auslöschung führt – und sind dennoch immer noch nicht imstande, unser Bewusstsein, unsere Zielsetzungen und unser Tun auf das Niveau der bereits bestehenden (und mit der allergrößten Wahrscheinlichkeit nicht mehr rückgängig zu machenden) Globalität unserer die gesamte Menschheit umspannenden wechselseitigen Abhängigkeiten zu heben: ein Umstand, der dafür sorgt, dass die Wahl zwischen Überleben oder Aussterben von unserer Fähigkeit abhängt, auf engstem Raum zusammenzuleben, in Frieden, Solidarität und Kooperation, inmitten von Fremden, die ähnliche Meinungen und Vorlieben haben mögen wie wir – oder auch nicht.« Darüber hinaus vertritt Zygmunt Bauman die Auffassung: »Es gibt keine leeren Gebiete mehr auf dem Planeten, die man kolonisieren könnte. Und es gibt auch keine Länder mehr, die ehrgeizige Kolonisten als solche verstehen und behandeln könnten, weil sie ausreichend Macht hätten, sie mit Gewalt für Neuankömmlinge zu säubern.«3

Das gleiche Szenario beschreibt die indische Weltbestseller-Autorin Arundhati Roy in ihren gesellschaftskritischen Studien zur Lage der Menschheit. Auch Roy sieht uns vor eine epochale Entscheidung gestellt. »Wir stehen an einer Weggabelung. Ein Schild deutet in die Richtung ›Gerechtigkeit‹, auf dem anderen steht ›Bürgerkrieg‹. Es gibt kein drittes Schild, und es gibt kein Zurück. Wir müssen uns entscheiden.«4 Angesichts dieser Situation lässt sich der Grund für ihre Sorge – und das Motto dieses Buches – nachvollziehen, als Intellektuelle und mutiger Wegweiser die denkbar beste Form der Kommunikation anzubieten, um den eigenen Zeitgenossen brauchbare Kraftnahrung aus prosaischen Fakten, wilden Schreien und poetischer Präzision mit auf die Reise zu geben.

Nehmen wir einmal an, Bauman und Roy hätten recht damit, dass die weitere Entwicklung der Menschheit durch keinen erneuten Kolonialismus bestimmt wäre (was allerdings den unwahrscheinlichen Fall voraussetzt, dass die transhumanistischeMobilmachung zur Eroberung anderer Planeten und außerirdischer Welten noch zu stoppen wäre): Leben die Menschen nicht schon lange in unüberwindbar getrennten Welten? In mindestens zwei Paralleluniversen und Geschlechtern, einerseits der Kolonialisten dieser Welt – einer ebenso zivilisierten wie gewalttätigen, durch und durch technisch optimierten, geldreichen und übermächtigen Minderheit – und andererseits dem Rest der Welt – der armen, unterdrückten, ausgebeuteten, entrechteten und entwürdigten, überflüssigen Erdbewohner.

Außerdem ist fraglich, ob sich nicht das idealistische Menschenbild des von Bauman und Roy hier vertretenen neuen Humanismus – der weiter an das Gute in der Welt glaubt und das Wohl Aller im Blick hat – über einen fundamentalen, wenn nicht sogar fatalen Sachverhalt hinwegtäuscht: Stehen wir auf dem Weg in unsere möglichen Zukünfte nicht immer schon vor der besagten Weggabelung und können nie wirklich darüber entscheiden, ob es in die eine oder andere Richtung geht – oder ob es überhaupt in die Richtung geht, die wir wollten und uns wünschen? – Weil alles längst entschieden ist.

Aber haben Bauman und Roy nicht darin Recht, dass die gesamte Menschheit vor einer epochalen Weggabelung steht, die entscheidet, wohin und wie es mit uns weitergeht? Wie die Dinge laufen – durch weiteren technischen ›Fortschritt‹ forciert –, scheint der bereits weit ausgetretene und überall zugänglichste Weg wie eine voll automatisierte Rolltreppe weiterzuführen – bis zum absehbaren Ende: Im Weiter-so-Modus bewegt sich die Menschheit in einer smart flankierten Sackgasse zur kollektiven Auslöschung oder auf ein Dead End zu (wie ein solcher Weg auf Neudeutsch passend heißt). Vielleicht geschieht das nur versehentlich aufgrund der fehlerhaften Ausschilderung, auf der – mit großen und allseits deutlich erkennbaren Lettern – HAPPY END! Steht, weil der entscheidende Zusatz und Gefahrenhinweis THERE IS NO im Laufe der Zeit unkenntlich geworden ist…

Trotzdem sehe ich gegenwärtig die einzige Rechtfertigung, als Philosoph – durchaus zögerlich – unterwegs zu sein, darin, den anderen Weg in unsere möglichen Zukünfte zu wählen: Den friedlichen, solidarischen, demokratischen und kooperativen Spaziergang zu einer gerechten, am Gemeinwohl orientierten und für Alle möglichst guten Gesellschaft. Zygmunt Bauman und Arundhati Roy ist zuzustimmen, dass wir es immer noch nicht geschafft haben – aber das menschliche Vermögen doch dafür nutzen könnten –, unser Bewusstsein, unsere Zielsetzungen und unser Tun dem Niveau der epochalen Herausforderung der Menschheit anzupassen. Hatte nicht schon der weltkluge Geschichtstheoretiker Walter Benjamin in den dunklen Zeiten der totalen Mobilmachung einen vorausschauenden Hinweis geliefert, als er notierte: »Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.«5

DIEPLÖTZLICHEUNDABENTEUERLICHE ENTDECKUNGDERMENSCHLICHEN ESSISTENZ

Deshalb ist die Entdeckung der menschlichen Essistenz als noch weitgehend unbekannter Weg in eine neue Welt – eine abenteuerliche terra incognita – ein wirkliches Ereignis. Die angesprochene Weg-Gabelung, die also eine Welt-Entscheidung ist und ein Neu-Beginn sein könnte, führt sie uns ins gesellschaftliche Zentrum der Utopie eines für Alle guten Lebens: Sie führt uns in die Welt guten Essens.

Damit bringt sie uns der weit entferntesten und zugleich naheliegendsten Welt aller möglichen Welten und Wenden näher – der Gastrosophie der Ernährungswende.

Denn alle, die die eigene Ernährungsweise so – essistenziell, gastrosophisch – zu reflektieren beginnen und mithilfe dieser neuen Selbst-Erkenntnis sich selbst als erdverbundene Intelligenz irdischen Ursprungs begreifen lernen, sind abenteuerlustige Welt-Reisende in die jeder Zeit mögliche Ankunft einer konvivialen Menschlichkeit. Sie bewegen sich aktiv im Welt-All des Essens, das innerhalb des irdischen Stoffwechselprozesses Alles mit Allem, was isst und gegessen wird, verbindet. Nebenbei bemerkt: Dieses ›natürliche‹ – wirklich physische – oder, genauer, dieses essistenzielle Verbunden-Sein allen Lebens auf Erden ist unvorstellbar größer, weit umfassender und allmächtiger als das World Wide Web des digitalen Internets. Gastronauten und neue Gastrosophen verbinden sich durch das globale Internet des Essens – wie man in kritischer Absicht gegenüber dem üblichen technologischen Internetzentrismus sagen könnte – mit deminnerweltlichen Betriebssystem und der Matrix eines neu aufgetanen Universums oder Pluriversums des Guten, das nur Menschen zu tun vermögen.

Wir Menschen können selbstverständlich mehr tun, als nur (bestenfalls sogar das Gute) essen. Wir könnten ebenso auch philosophisch ›über den Tellerrand schauen‹. Wir können auch über die Omnipräsenz der Essistenz ins Nachdenken kommen statt ›das Essen‹ weiter so abzutun, wie dies im Rahmen des traditionellen und eines technokratischen Menschenbildes üblich ist. Um die schöne Formel des Ethnologen Claude Lévi-Strauss, wonach »ein Nahrungsmittel gut zu essen ist, wenn es gut zu denken« sei, zu variieren: Die allgemeinste und häufigste Aktivität des täglichen Lebens ist keineswegs bloß dafür gut, uns satt zu machen und unseren ewigen Hunger kurzfristig zu vertreiben, so dass ein ›biologisches Grundbedürfnis‹ unserer Existenz befriedigt ist. Unser tägliches Essen ist alle Mahl auch dafür gut, dass wir uns mit dieser Lebenspraxis ebenso bewusst – denkerisch, theoretisch, wissenschaftlich, gastro-philosophisch, praktisch, sinnlich, verspielt, kreativ – beschäftigen.

Das Entdecken unserer Essistenz ist erst recht gut dafür, dass wir alles, was mit dem planetaren Internet vernetzt ist, zum Thema der politischen Öffentlichkeit machen. Denn es ist für uns alle gut und dem Allgemeinwohl förderlich, die vermeintlich nebensächlichen und allzu alltäglichen Angelegenheiten des Essens mental mit zahlreichen Problemen und Krisen unserer Gesellschaft in Verbindung zu bringen oder zwecks transformativer Veränderungen kurzzuschließen – im Sinne eines gesellschaftstheoretischen Hacking des Mainstream-Mindsets.

Um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Man kann das Essen vorzüglich – und beispielhaft – nutzen, um über unsere Menschlichkeit nachzudenken und darüber, wie gut Menschen auf utopischen oder dystopischen Wegen wandelnd ihre Welt gestalten. Denn wer sich mit den Möglichkeiten einer guten Gesellschaft beschäftigt, sollte nicht vergessen, dass wir Menschen unsere Mahlzeiten nutzen können, um in Gesellschaft mit Anderen zu sein – und um dieses Zusammen-Sein sogar zu genießen. Das tägliche Essen in der sozialen Form einer gemeinsamen Mahlzeit wäre alle Mahl gut dafür, füreinander da zu sein und miteinander eine geteilte Lebenspraxis – die Tischgesellschaft – als etwas Gutes zu gestalten.

Mit anderen Worten, angesichts der spürbaren Erosion der modernen Arbeitsgesellschaft und der entstehenden Herrschaft einer total digitalen Gesellschaft könnten wir alternativ – sofern wir wollen und entsprechend tätig sind – die planetare Tischgesellschaft ins normative (narrative, anthropoethische) Zentrum der künftigen, ebenso nachhaltigen wie humanen Entwicklung der Menschheit stellen.

GASTROSPHÄREODER WELTRAUM?

Doch wie in vielen anderen Bereichen eines notwendigen Gesellschaftswandels wachsen die transformativen Kräfte und Aktivitäten auch in der äußerst komplexen Gastrosphäre nur langsam. Die Gründe dafür sind nicht unbekannt. Einer der Hauptgründe ist schlicht, dass sich die Politik und die Mehrheit von uns für andere Dinge interessieren: Die ›letzten Menschen‹ beschäftigen sich lieber mit digitalen Dingen, kaufen begierig jede Neuheit und lassen sich für futuristische Dynamiken begeistern, die nichts mit einer nachhaltigen Esskultur zu tun haben. Statt Anthropoethik und Gastropolitik, um unsere Spezies vor der Katastrophe oder dem Dead End zu bewahren, doch lieber die technologisch ermöglichte Flucht von diesem sterbenden Stern: Entweder in die digital-imaginäre, virtuelle Realität des Cyberspace oder – was wahrscheinlicher ist, weil analog zum realen Untergang der uns bekannten Welt – in den außerirdischen Weltraum in Gestalt einer (politisch-ökonomisch forcierten) Mars-Eroberung und neuer Kolonialisierungen durch eine »multiplanetare Spezies«, die der erfolgreiche SpaceX-Unternehmer Elon Musk neulich dem begeisterten Publikum der internationalen Astronautikvereinigung versprach. »You want to be inspired by things, you want to wake up in the morning and think the future will be great. That is what space exploration is all about. Believing in the future and that the future will be better than the past. I can’t think about anything more exciting than being out there and near the stars.«6

Eine solche fantastische Geschichte erzählt ein Mann, der alles, was er anpackt, zu Gold macht. Seine Technotopie – his story – beschreibt eine quasireligiöse Heilsgeschichte als einen aufregenden Weg aus der kollektiven Auslöschungsgefahr durch den extraterritorialen Exodus. In dieser Wendung der Weltgeschichte geht es nicht in Richtung einer Rückkehr zur Erde und einer Reterritorialisierung der Menschheit als der speziellen Spezies potenziell selbstgenügsamer und miteinander vergnügter Erdbewohner. In der allgemeinen Ausweglosigkeit der Weltlage weist der gefeierte Großinvestor und Silicon-Valley-Star – als zeitgemäße Lichtgestalt – den neuen Heilsweg ins transhumane Jenseits. Weil der blaue Planet einer dramatisch wachsenden Weltbevölkerung keinen weiteren Platz mehr bietet und die Menschen diesen Himmelskörper darüber hinaus in den Hitzekollaps treiben und ihn bis auf seine Knochen zerfleischt haben, wird es nur noch die eine Exit-Option geben: Die Flucht in den unbesiedelten Weltraum, die Auswanderung zum Mars.

Steuert die akute Flüchtlingskrise letztlich auf diese apokalyptische Fluchtbewegung zu? Oder spiegelt sich in dem absoluten Heilsversprechen dieses Exodus in das gelobte Land nur die hitzige Fata Morgana einer beginnenden neuen Völkerwanderung, die schon eine ganze Weile lang als »Flüchtlingsrevolution« die ganze Welt verändert?7

Apropos Menschen als Flüchtlinge und weil dieses Thema so viele beunruhigt: Haben nicht alle Menschen das zeitlose Recht, als Flüchtlinge anerkannt zu werden? Es sei daran erinnert, dass die Herkunft der heute selbstverständlichen Fast-Food-Mentalität – als Weltflucht, die eine andere bessere Welt des Essens und die tägliche Kultur einer konvivialen Lebensart für uninteressant und wenig erstrebenswert hält – auf wirkungsmächtige Traditionen und auf tief verwurzelte Denkgewohnheiten der abendländischen Kulturgeschichte zurückgeht. Sie versetzt uns zurück in die Geburtsstunde der westlichen Philosophie, als der Platonismus einen fatalen Grundgedanken unserer Kultur zur Welt brachte. Das Menschenbild, welches die klassische Metaphysik damals entwarf und in den darauf folgenden Jahrhunderten vom christlichen Heilsversprechen eines ewigen Lebens im Himmel aufgegriffen und durchgesetzt wurde, errichtete eine weltanschauliche Distanz zu den bloß irdischen »leiblichen Bedürfnissen« – speziell den angeblich vernunftlosen, animalischen »Lüsten des Essens und Trinkens«.8

Die Vernünftigen würden ihre richtige Lebensweise, Tugend (virtus) und geistige Potenz (sapientia) dadurch unter Beweis stellen, dass sie die kulinarischen Dinge für niedrig und des wahren Menschseins unwürdig erachten. Als intelligente Wesen sollen sie sich stattdessen mit angeblich höheren, geistigen Dingen beschäftigen. Die geschichtliche Bestimmung der Menschheit sei, so will es diese Anti-Gastro-Philosophie, die Weltflucht in eine göttliche Transzendenz: Die kosmische Wesenserfüllung des Homo sapiens verlange die ultimative Befreiung von den Zwängen einer erdgebundenen Essistenz hin zu der tugendhaften oder buchstäblich virtuellen Sphäre einer künstlichen Intelligenz, die – endlich – ganz ohne Essen und Trinken auskäme.

Dieser Fast-Food-Platonismus ist keine Sache der Vergangenheit. Das althergebrachte Bild des Menschen als eines denkenden Dings oder res cogitans – mit dieser Formel, die auch in der Version cogito ergo sum im Umlauf ist, brachte der Bewusstseinsphilosoph René Descartes das rationalistische Menschenbild der neuzeitlichen Gesellschaft auf den Begriff – beherrscht bis heute die (massiv geförderte) Neurophilosophie und Hirnforschung nicht weniger als das kollektive Bewusstsein und treibt nun – durch digitale Technologien und Computerrechner forciert und algorithmisch automatisiert – die futuristischen Bestrebungen einer platonisch-posthumanen Selbsttranszendierung der Erdbewohner in den virtuellen Cyberspace oder in das christlich vorgezeichnete, himmlische Weltraum-Jenseits an. Sollte es wahr sein, dass Menschen – sich den Philosophen und anderen Geistanbetern angleichend – wirklich nur denkende und zuletzt bloß noch hoffnungslos langsam rechnende Dinger sind, die unsere Nachfahren wegwerfen wie wir veraltetes Spielzeug?

WIESO WESHALB WARUM – WERNICHTFRAGT, BLEIBTDUMM: LEKTIONFÜRDIE KINDERDER ERDE

Oder wir starten neu. Wie jedes Kind weiß, »wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt, bleibt dumm!«, fragen wir also als Kinder der Erde wider der allgemeinen Verdummung: Wieso sollte uns hinsichtlich dessen, was und auf welche Art und Weise wir Menschen ›Welt essen‹, nicht interessieren, weshalb Elon Musk weltbekannt ist, während der Name seines Bruder Kimbal kaum jemandem etwas sagt? Warum feiern die Massenmedien der Weltöffentlichkeit den Investoren-Helden und Visionär, während – wie sich gleich zeigen wird – der gastrosophische Weltverbesserer eine unbekannte Größe des Zeitgeschehens ist?9

Die Antwort ist sonnenklar und erreicht uns mit Lichtgeschwindigkeit: Alle Welt kennt Elon Musk, eben weil er der Silicon-Valley-Star ist, der mit PayPal den Kapitalfluss im Internet revolutioniert hat. Alle Welt kennt den Wunderingenieur, der nur wenige Jahre nach der Ankündigung erfolgreich die Luxus-Elektro-Limousine Tesla herstellt; den Social Designer der utopischen Städte der Zukunft, der neuerdings den Straßenverkehr durch ein unterirdisch verlaufendes vollautomatisches Transportsystem revolutionieren will (wogegen Smart City Entwürfe mit digitaler Automobilität wie eine uninspirierte Stadtplaner-Fantasie wirken). Alle Welt, vor allem die Finanzwelt, kennt den erfolgreichen Kapitalmagnaten und charmanten Risikomacho, der mit seinem spektakulären Weltraum-Unternehmen SpaceX und phallisch anmutenden Trägerraketen schon in absehbarer Zukunft die ersten Exemplare einer multiplanetaren Spezies – oder steinreicher Unsterblichkeitsfanatiker und cyborgtechnisch optimierter Homo Deus Fantasten – auf die Mars-Mission schicken wird.

Angesichts der astronomischen Kosten von Weltraumreisen steht jetzt schon fest, dass es sich nicht alle von uns leisten werden können, ins himmlische Paradies überzusiedeln. Die allermeisten Menschen werden zurückbleiben und hier auf der sterbenden Erde weiter leben müssen. Trotzdem erhoffen sich Viele große Veränderungen nicht mehr von Regierungen und der Politik der Herrschenden: Wenn jemand ›Großes‹ bewirken könne, dann seien es die Multimilliarden schweren Clubmitglieder der kalifornischen Kult-Konzerne, die Halb-Götter aus dem Tal des Silikons. Doch über dem Olymp der GAFAs (Google, Apple, Facebook, Amazon) agiert einer ganz besonders – der mit der fantastischsten Geschichte, der weltbesten Story, die die Massen noch mehr faszinieren wird als sämtliche Techno-Utopien eines digitalen Transhumanismus zusammen: Der Weltraum-Eroberer – Elon Musk ist ihr Zeus, der Leonardo da Vinci des 21. Jahrhunderts. Seine Firmengründungen lesen sich wie das Who’s Who der zukunftsträchtigsten Start-up Unternehmen und Superraketen-Abschussstationen mit atemberaubendem (Aktien-)Kurs auf neue Welten.10

In den späten 1990er Jahren zusammen als junge Start-up Pioniere der New Economy mit PayPal zu reichlich Geld gekommen, schlägt sein jüngerer Bruder plötzlich einen anderen Weg ein: In der Abkehr von seiner Techno-Vergangenheit entscheidet sich Kimbal Musk für eine Ausbildung als – Koch. Um fortan mit dieser intelligentesten Selbsttechnik, die von den Menschen jemals erfunden wurde, unseren Heimatstern zum Wohle Aller zu einem besseren Ort machen zu wollen. Als Kind seiner klugen und schönen Mutter Maye, die tatsächlich noch im hohen Alter als Top-Modell großen Erfolg hat und außerdem – und wichtiger – eine studierte Ernährungswissenschaftlerin ist, scheint Kimbal anders als sein Bruder Elon ein ausgeprägtes Ernährungsbewusstsein gleichsam schon über die Muttermilch auf seinen Weg mitbekommen zu haben. Auf alle Fälle eröffnet der jüngere Musk gemeinsam mit zwei Freunden im Jahre 2004 ein Restaurant in Boulder, Colorado – The Kitchen. Selbstverständlich dauert es auch bei ihm nicht lange, bis sich das erfolgreiche Konzept in mehreren Städten von Denver bis Chicago fortpflanzt. Inzwischen gilt Musk (irrtümlich) als Gründungsfigur des »Modern Food Movement« und er wird zu einer der treibenden Kräfte der US-amerikanischen Ernährungswende gezählt.11 Könnte in Zukunft The Kitchen zum McDonald’s der globalen Ernährungswende werden und die allgegenwärtigen Fast-Food-Ketten durch zukunftsweisende Good-Food-Filialen ersetzen?

In dem Namen des trendigen Musk-Unternehmens versteckt sich das revolutionäre Programm der ganzen Sache: Das Lokal heißt ›die Küche‹, weil die Menschen dort zusammenkommen sollen. »Wie in einer Familie, wo man sich zum Essen um einen Tisch in der Küche versammelt«, erklärt der Koch, der nicht selbst am Herd seines Restaurants steht. Sind an diesem Entstehungsherd einer neuen sozialen Bewegung die grundlegenden Prinzipien einer humanen Essistenz zu entdecken? Wird dort die Küche zur mächtigen Antriebskraft eines konvivialen Miteinanders gemacht: gemeinschaftsbildend, Ort eines Genießen- und Gutleben-Lernens, Ausstellungsraum menschlicher Kreativität, Koch- und Handwerkskunst, Lebensmittelpunkt einer ökologisch und sozial nachhaltigen Ökonomie, Ankunft und Landeplatz im Hier und Jetzt – statt Weltflucht in eine ferne und unmenschliche Zukunft?

Es lohnt sich, in die Zentraldimension ›der Küche‹ hineinzuzoomen, um unter höherer – gastrosophischer – Auflösung in den einzelnen Bestandteilen ihrer Konvivialität die unspektakuläre Humanität der kommenden Revolution – einer guten Tischgesellschaft – zu entdecken.

Doch bevor wir eine solche Abenteuerreise in wenig erforschte Welträume unternehmen, schauen wir uns die ökonomische Dimension dieser neuen Bordküche unseres Raumschiffes genauer an. Als ein sozialer Unternehmer, dem es nicht primär um Profit, sondern um den Benefit (das Gemeinwohl) geht, will Kimbal Musk die gesellschaftliche Umstellung auf eine nachhaltige Landwirtschaft voranbringen in Form einer Community Supported Agriculture, die Bauern direkt mit Köchen und Küchen verbindet und miteinander vertraut macht. Entsprechend arbeiten The Kitchen Gastronomen eng mit lokalen Bio-Produzenten zusammen und richten ihre Speisekarte nach dem regionalen und saisonalen Angebot aus.12

Würden in Zukunft überall solche solidarischen Kooperationen die agrarische Nahrungsproduktion und die verarbeitende Lebensmittelwirtschaft bestimmen, erlebten die Menschen in der Tat eine neue Welt jenseits des globalen Freihandel-Supermarktes. Die Fast-Food-Philosophie der Nahrungsindustrie und die konsumkapitalistische Ökonomie, der es um den maximalen Gewinn auf Kosten der Umwelt und des Allgemeinwohls geht anstatt um faire Preise und die beste Qualität der Produkte, werden zu Relikten der Vergangenheit durch eine jederzeit in der Gegenwart praktikablen Alternative. »Real Food« – echtes, reelles Essen – so nennt Musk sein rettendes Rezept für eine geschmackvollere und gerechtere Welt.

Er sieht, dass der angebliche Wohlstandsfortschritt durch industrielles Essen – das meistens kalorienreich, aber nährstoffarm ist, und durch immer neue Küchentechnologien (wie tiefgekühlte Fertigkost, der Mikrowellenherd zum bequemen Aufwärmen und demnächst der digital programmierte 3D Food Printer per Smartphone) – am Ende uns Menschen vom Essen-Selbermachen und vom kulinarischen Handwerk entfremden. Obwohl die Zahl von fehlernährten und fettleibigen Erwachsenen und Heranwachsenden, von minderwertigem und dickmachendem Junk Food abhängig gemacht, Tag für Tag steigt, zeigt sich der The Kitchen Gründer trotzdem optimistisch: »Es wird viele spannende Entdeckungen in der Küche geben, wenn die Menschen nur wieder dorthin zurückkehren.«

Die Rückkehrphilosophie von Kimbal Musk wünscht sich weder die moderne Küchenzeile zurück noch ein total digitalisiertes Hightech-Kochlabor herbei, in dem Maschinen und Roboter den Menschen überflüssig machen. Eine bessere Zukunft des Essens muss nicht gleichbedeutend sein mit der unbedingten Verwendung neuester Überwachungstechnologien wie Self Tracking Apps, die überflüssige Kalorien zählen und so smart sind, den Homo sapiens vor ungesunden Speisen zu warnen.

Kimbal Musk weist einen anderen Weg in jedermanns Küche, als einen utopischen Ort, wo das urmenschliche Vermögen, Gutes schaffen zu können, eine weltbewegende Kraft entfaltet. Die kosmopolitische Beweisführung seines Gastrokonzeptes ist genial einfach: Die menschliche Intelligenz kann mit ihrem unvollkommenen Gehirn die im Weltraum bislang beste Küche erfinden, eine den Menschen würdige Küche, die keine technologische Perfektion anhimmelt, sondern in der Menschen, wie Sie und ich, aus analog erzeugten Naturprodukten wahre Kunstwerke und Götterspeisen kreieren. Es entsteht eine erdverbundene Gastronautik, die anspruchsvolle Bedürfnisse einer kulinarischen Intelligenz befriedigt und in der – aufgrund eines kenntnisreichen Umgangs mit Wohlschmeckendem – eine spezifisch humane Kultur kultiviert wird und Replikate des Homo sapiens sich selbst als genussfähige und Gutes genießende Wesen erleben. Jeden Tag neu, jeden Tag anders, immer in realer Verbindung mit Anderen – Menschen ebenso wie allem Anderen, das wir uns einverleiben und verkörpern.

NURNOCHWIRSELBSTKÖNNENDIE MENSCHENRETTEN

Zu dem Rettungsplan von Kimbal Musk zählt unter anderem eine umfassende Ernährungsbildung für die kommenden Generationen. Entsprechend hat der Unternehmer gemeinsam mit einem Partner vor einigen Jahren die Kitchen Community gegründet, eine Non-Profit-Organisation, die sich aus Abgaben der Restaurantkette finanziert. Ihr Zweck ist die Investition in Lerngärten für Kinder an Schulen. »Viele Kinder haben zwar mal eine Tomate gesehen – vielleicht in einem Comic –, aber bei einer Kartoffel wird es oft schon schwierig« – das sind Sätze, die jemand wie Kimbal Musk sagt (und Leuten wie seinem Bruder Elon nicht in den Sinn kommen). »Wenn die Kids dann selbst Beete bepflanzen und unter ein bisschen Grün über der Erde bei der Ernte plötzlich eine Karotte zum Vorschein kommt, ist das fast wie Zauberei.«13

Wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt, bleibt dumm: Weil alles, was wir anbauen, ernten, verarbeiten, zubereiten, ausprobieren, beurteilen, verdauen usw., endlos viele Allerweltsfragen aufwirft, können wir diese tägliche Angelegenheit nutzen, um uns klug zu machen, wissbegierig zu bleiben und ein Leben lang zu lernen. Wie das Schulgarten-Programm von Slow Food und die zahllosen Initiativen von Schulen überall auf dem Globus, ermöglicht die Kitchen Community den Heranwachsenden – der künftigen Menschheit – den fast ununterbrochenen Einstieg in das lernintensive und erkenntnisreiche Universum eines allumfassenden Wissens – wie mensch Essen produziert und die Früchte der eigenen Arbeit genießt.

In die gleiche Richtung gehen die Urban Gardening Projekte Square Roots oder Platzwurzeln – einem eher techno-affinen Experiment, mit dem Musk und seine Mitstreiter speziell die urbane Szene der jungen Großstädter für die gastronautische Weltverbesserung begeistern will.14 »Es wird eine Welle kommen«, verkündet der Neohumanist, der sich – ganz anders als sein eleganter Medienstar-Bruder – gerne mit großem Cowboy-Hut als Teilzeit-Großstadtbauer in Szene setzt.15 Es wird eine Welle des gastropolitanen Wandels kommen, weil die heutige Generation »postmateriell« sei. (Was zumindest für denjenigen Teil der nachwachsenden Generationen zutrifft, der sich nicht der posthumanen Entwicklung freiwillig opfert.) Sie lege, so Kimbal Musk, keinen Wert mehr auf Geld und Besitz, sondern suche nach »realen Erfahrungen«. Und in der Tat: Solche realen Erfahrungen kann die kommende Generation im Internet des Essens reichlich gewinnen, als einem globalen Netzwerk, das Menschen nicht bloß digital, sondern ganz real miteinander verbindet.16

Der Hype um die digitale Revolution und die virtuelle Realität braucht niemanden von einem bewusst bodenständigen Verständnis des Realen abzubringen. Das vergleichsweise wenig spektakuläre Motto von Kimbal Musks Bordküchen-Mission lautet schlicht: »We’re building a future where everyone has access to real food.«17

Weder Superhirne noch Hirten des Seins, sondern Gärtner der Erde, Erddemokraten und Erdgeister, die als erdverbundene Lebewesen die Natur nicht kontrollieren wie ordnungssüchtige Schrebergärtner: Echte Gastronauten und Gastrosophen – also Gäste, Gastgeber, Wirtschaftsakteure, Köche, Genossen einer futuristischen Revolution als Restauration – kultivieren das, was ist oder sein könnte, sobald Menschen es wachsen lassen und gestalten. Oder zeitgemäßer ausgedrückt: Sie leben konvivial und wirtschaften nachhaltig.

Und genau hier taucht die Weggabelung auf: Wer mit einer solchen Mission unterwegs ist – wer die Welt durch besseres Essen retten oder wenigstens besser machen will –, darf momentan nicht damit rechnen, so bekannt zu sein wie der Silicon-Valley-Weltstar Elon Musk. Immerhin aber: Die Idee, die Welt auf diese innovative Art zu optimieren, teilt dessen nicht weniger erfolgreich agierender Bruder – der in den eigenen Kreisen als »Global Social Entrepreneur« gefeiert wird18 – mit einer rasant wachsenden Schar von gleichgesinnten Gastrosophinnen und Gastrosophen. Zu ihnen zählen namhafte Vordenker und Vorzeige-Pioniere, auf die hinzuweisen und deren Essistenz philosophisch zu reflektieren ich schon seit Jahren mein Bestes tue.

An Bord ist inzwischen sogar die Crème de la Crème der internationalen Gastronomie und viele an alternativer Stadtentwicklung interessierte Bürgermeister. Parallel zum Milan Urban Food Policy Pact des Weltbundes der Städte – und natürlich, auf internationaler Ebene, parallel zu den Sustainable Develepment Goals der Vereinten Nationen – liegt nun mit der Lima Declaration: »Open Letter to the Chefs of Tomorrow« auch eine brauchbare Betriebsanleitung für eine kulinarisch superintelligente und technisch hochprofessionelle Sterne-Küche vor, die himmlisches, dem Menschen würdiges, echtes Essen auf dem Raumschiff Erde bietet: Gut zahlenden Gästen wird vielerorts mittlerweile eine politisch korrekte Restaurantküche serviert und so meinungsstarken (häufig akademisch gebildeten) Mitmenschen und Zeitgenossen eine Welt schmackhaft gemacht, in der kulinarische Ästhetik und globale Ethik sich nicht länger widersprechen.

So könnte sich am Ende – und einmal abgesehen von der unterschiedlichen Bekanntheit der beiden Brüder – einer stetig größer werdenden Menge an ›letzten Menschen‹ die anthropoethische Grundfrage stellen, welche der beiden Unternehmungen und Missionen für die Zukunft der Menschheit notwendiger ist? Welcher der beiden Wege bringt wirklichen Fortschritt? Man wird die Gründe auf alle Fälle verstehen wollen, wenn es stimmt – was ich denke –, dass das physische Überleben der Menschen von nichts anderem mehr abhängt als davon, was und auf welche Art und Weise sie essen.

DASKONVIVIALISTISCHE MANIFEST

In dieser zugegebenermaßen utopischen Absicht geht es mir, anknüpfend an die von der Weltgemeinschaft vereinbarten Ziele einer nachhaltigen Entwicklung, um das zukunftsethische Ziel – und die narrative Erfindung – einer humanen Gesellschaft als einer konvivialen Menschheit. Dafür wäre ein philosophisches Navigationssystem hilfreich, das die gesellschaftspolitische Koordinate der UN-Ziele in Zukunft mit der gesellschaftstheoretischen Koordinate des »konvivialistischen Manifests« verbindet.19

Weil der Konvivialismus ein noch junges wildes Gewächs aus Sozialphilosophie, Gesellschaftstheorie, Sozialwissenschaft und Commons-Diskurs ist, das sich um die zivilgesellschaftlichen und kosmopolitischen Bewegungen der Gegenwart zu ranken beginnt, wird bislang der Begriff der Konvivialität wie üblich ohne begrifflichen Bezug zur Gastrosophie gedacht. Insofern versteht sich mein Beitrag als programmatische Erweiterung der konvivialistischen Philosophie. Erste Ansätze in diese Richtung finden sich bereits, etwa wenn die zeitgenössische Autorin und Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer, die zahlreiche weltkluge Publikationen vorzuweisen hat, eher beiläufig erwähnt: »Convia ist der Tischgenosse; Convivium ist eine Gesellschaft geladener Gäste, ein Gastmahl, eine Tischgesellschaft; convivere bedeutet zusammenleben, miteinander speisen.«20

Als den namhaftesten Vordenker eines gastrosophisch fundierten Konvivialismus führe ich gerne den großen Aufklärer und Humanisten Immanuel Kant an, der wegen seiner täglich veranstalteten Mittagsgesellschaft aus eigener Erfahrung von der praktischen Möglichkeit und Vernunft dieser »wahren Humanität« wusste. »Gute Mahlzeiten in guter Gesellschaft«, so der Philosoph in seiner Anthropologie, seien der menschenwürdige »Genuss einer gesitteten Glückseligkeit«.21 Aus dem Kreis der zeitgenössischen Konvivialisten wird zu Recht an einen – von Kants Gastrosophie deutlich inspirierten – anderen Avantgardisten einer konvivialen Gesellschaftstheorie erinnert. In seiner Einführung zum konvivialistischen Manifest erläutert der Soziologe Frank Adloff unter dem thetischen Titel Es gibt schon ein richtiges Leben im falschen: Der französische Schriftsteller und Richter Brillat-Savarin beschreibe in seinem Buch Die Physiologie des Geschmacks oder: Meditationen zur transzendenten Gastronomie (1825) »die Freude des Beisammenseins, der guten und freundschaftlichen Kommunikation im Rahmen einer Tischgesellschaft«, die sich zum konvivialen Tafelvergnügen versammelt.22

Konsequenterweise kultiviert die internationale Slow-Food-Bewegung, die zweifelsohne unter den zahlreichen zivilgesellschaftlichen Bewegungen der Gegenwart die mit Abstand programmatischste Selbstorganisation der globalen Ernährungswende ist, Konvivien als Keimzellen und Bildungszentralen ihrer Eutopie einer guten Gesellschaft.23

Zwei soziale Bewegungen der modernen Geschichte lassen das historische Potenzial des gastropolitischen Konvivialismus ungefähr erahnen: Die Unabhängigkeitsbewegung der Kolonialisten und Siedler der ›Neuen Welt‹, die 1776 zur Gründung eines neuen demokratischen Gemeinwesens – der heute immer noch weltbeherrschenden Vereinigten Staaten von Amerika – führte; und die sich Mitte des 19. Jahrhunderts formierende internationale Arbeiterbewegung, die von der sozialistischen Utopie einer besseren Weltgesellschaft träumte, wie sie in dem Manifest der Kommunistischen Partei von dem jungen Philosophen Karl Marx und dem Unternehmer Friedrich Engels (ohne Erfolg, aber mit schlimmsten Folgen) in Aussicht gestellt worden war.

Entsteht – bislang noch unerkannt – in dem länger werdenden Schatten der Ideale einer kapitalistischen Demokratie und der Utopie einer kommunistischen Gesellschaft vielleicht eine konvivialistische Bewegung, die es mit der technokratischen Dystopie der posthumanistischen Bewegung ebenso aufnehmen kann, wie mit der nationalistischen Retropie – der Sehnsucht nach einem besseren Gestern – der abdriftenden Rechtsextremen?24

Hier ist mir eine Anmerkung wichtig: Dieses Buch bietet nicht genug Raum, um ausführlicher auf die Auferstehung nationalistischer Bewegungen und den unappetitlichen Heißhunger auf ewig gestrige Weißkraut & »Würstchen-Folkore« (Precht) einzugehen. Der Bestseller-Autor Richard David Precht bezeichnet die Sehnsucht nach einem Heil in der Vergangenheit, nach Heimat, traditionellen Werten, religiösen Bindungen, kultureller Identität und Autoritätsglauben als Retropie und macht dazu eine gesellschaftstheoretische Feststellung, der ich mich provisorisch anschließe: »Noch hängen in Deutschland mehr Menschen einer solchen Retropie an als gegen eine wahrscheinliche digitale Dystopie aufbegehren. Geflüchtete Menschen auf den Straßen sind sichtbarer, lauter und für viele verstörender als Algorithmen. Doch anders als die Dystopie lässt sich die Retropie nicht darstellen. In ihrer Angst, Überforderung, Unsicherheit, Aggression und in ihrem Hass schreien Menschen auf deutschen Marktplätzen und in Bierkellern: ›Deutschland‹! Doch was ist Deutschland, und zu welchem Deutschland wollen sie zurück?« Das Deutschland der Rechten ist für ihn schlechterdings »eine Bierfantasie, ein Land, das sich nicht vorstellen lässt und das es nicht gibt.«25

Die hilflose Zuflucht in konservative Leitbegriffe und der Karneval ihres geschmacklosen Gebrauchs verdecken, so Prechts zutreffende Analyse, dass hinter allem ein welthistorischer Epochenumbruch steckt, »eine gewaltige Revolution und ein ernsthaftes Problem: Das Konservative scheint nicht mehr in unsere Zeit zu passen, egal in welche Gewänder es sich kleidet! Was soll in der globalisierten Welt an Heimat bleiben? Auf der Schwäbischen Alb und in Dresden isst man den gleichen Burger wie in Chicago, hört die gleiche Musik und trägt die gleichen Klamotten.« (Ebd., 93)

Freilich hätte Precht seine Kritik mit dem völlig utopischen und zugleich ganz realen Begriff eines ›guten Deutschseins‹ verbinden können, der von ›unserem Goethe‹ stammt und an den der österreichische Essayist Robert Menasse neulich erinnert hat. Er zitiert Goethes Worte: »›Deutschland ist nichts, aber jeder einzelne Deutsche ist viel, und doch bilden sich letztere gerade das Umgekehrte ein. Verpflanzt und zerstreut wie die Juden in alle Welt müssen die Deutschen werden, um die Masse des Guten ganz und zum Heile der Nationen zu entwickeln, das in ihnen liegt.‹ Mobil, frei, weltoffen, ohne nationale Scheuklappen, und, so wie die ersten Europäer treu einem gemeinsamen Rechtszustand – das sind die neuen Europäer.«26 Und – möchte man hinzufügen – das sind, na gut, bierselige Deutsche, die sich sehr viel (einst) Fremdes und Gutes aus der ganzen Welt schmecken lassen.

Legen nicht – auch hierzulande – immer mehr mobile, weltoffene und verantwortungsbewusste Gastro-Kosmopoliten – global gesehen, sind es inzwischen Abermillionen und so viele wie noch nie zuvor in der Geschichte der sozialen Gegenkräfte – Wert auf eine nachhaltige Ökonomie, hochwertigere Lebensmittel aus biologischer und solidarischer Landwirtschaft oder von Food Coops, lokale Produkte, fairen Welthandel und korrekte Preise? Beteiligen sich nicht immer mehr Ernährungswende-Aktivisten an Selbsternte-Aktionen oder Urban Gardening Nachbarschaftsinitiativen und laden Andere – Freunde, aber auch fremde Gäste – zu sich nach Hause oder in neuartige Gemeindeküchen, Mitesszentralen und Konvivien ein, um miteinander zu kochen und die selbstgemachten Köstlichkeiten zu genießen? Warum sollte die Menschheit – auf dem friedlichen, gerechten, solidarischen, kooperativen, nachhaltigen und humanen Weg in die für alle beste mögliche Welt – in Zukunft nicht »das höchste Gute« kultivieren wollen, das der große Aufklärer Kant in »der guten Lebensart« erkannte, sich jeden Tag am Glück »einer guten Mahlzeit in guter Gesellschaft« zu erfreuen?

Noch zögerlich, aber doch spürbar, hat sich vielerorts eine neue Haltung und Wertschätzung – ein selbstverständliches Weltethos – gegenüber der eigenen Esskultur zu entwickeln begonnen. Der gesellschaftliche Wandel, der von einer Ernährungswende und der Eutopie einer konvivialen Gesellschaft ausgeht, wird längst von einer ›kritischen Masse‹ an verantwortungsbewussten Erdbewohnern und nicht unerfahrenen Glückssuchenden in allen Teilen der Welt vorangetrieben. Wer wollte ihnen nicht zurufen: »Jawohl, Konvivialisten und Kulinarier aller Länder, vereinigt Euch – und genießt miteinander!«

DIE ENTWICKLUNGNEUER FORMENDER MENSCHLICHKEIT

Auf alle Fälle sollten wir, wie dies Precht – mit seinem mutigen Unternehmen, »ein Bild einer guten Zukunft zu malen« – vorschlägt, die »Utopie einer humanen Gesellschaft« für das digitale Zeitalter mit der Hoffnung auf ein »neues selbstbewusstes Bürgertum« in Verbindung bringen, das sich zu einer – mit den ursprünglich emanzipatorischen Transformationskräften der Arbeiterbewegung vergleichbaren – Massenbewegung organisiert. Obgleich der ansonsten blitzgescheite Kollege Precht die globale Ernährungswende-Bewegung und deren Humanität nicht wahrzunehmen vermag, skizziert er die Perspektive einer sozialen Revolution sehr treffend. »So wie die erste industrielle Revolution die Arbeiterbewegung als Korrektiv brauchte, um Menschen trotz erklärter Menschenrechte nicht länger als nützliche Werkzeuge zu betrachten, so braucht es auch heute eine starke Bewegung gegen die Schattenseiten der vierten industriellen Revolution. Und wieder geht es darum, die Arbeitswelt humaner zu gestalten. Und wieder geht es darum, auch jenseits der Erwerbsarbeit die Authentizität und das Humane zu verteidigen und einer technoiden Verengung des Menschenbildes den Spielraum zu nehmen. Der Mensch als Teil des Räderwerkes der Maschine oder der Menschen als steuerbares Konglomerat von Daten – hinter beiden Menschenbildern steht die gleiche Missachtung dessen, was Menschen ausmacht.«27

Was selbst sein neohumanistischesMenschenbild verengt, ist der fatale Umstand, sich nicht bewusst zu sein, was Menschen wesentlich ausmacht: ihr Essen. (Ansonsten gibt es im utopischen Denken von Precht, wie sich schon andeutete, weit mehr Essen als bei den allermeisten Philosophen unserer antigastrosophischen Zeit.) Nur wer die eigene Denkweise schon soweit revolutioniert hat, die menschliche Essistenz und alles, was mit der Gastrosophie verbunden ist, wahrzunehmen, vermag auch die globalen Bewegungen und Aktivismen eines konvivialen Mensch-Seins zu erkennen – und kann mit diesen weltweit wirksamen Initiativen schon in der Gegenwart die echten Vorläufer einer starken Bewegung und die keimenden Vorboten eines neuen selbstbewussten Bürgertums in praxi entstehen sehen.

Das Essen und erst recht für Alle gutes Essen als universelle Praxis ist alle Mahl gut, um die Utopie einer guten Gesellschaft für eine neue humane Anthropoethik zu entdecken. Inmitten der digitalen Revolution und Dystopie einer posthumanen Zukunft sowie nach der gescheiterten proletarischen Revolution und Utopie einer kommunistischen Gesellschaft in der Vergangenheit (und nicht zuletzt vor dem düsteren Hintergrund einer aussichtslosen Retropie) könnte diese Geschichte jeden von uns – früher oder später – dazu bewegen, der Frage aller Fragen intensiver nachzugehen: Was macht Menschlichkeit wirklich aus und worin besteht Humanität in der gesellschaftlichen Praxis? Worin wird der Unterschied zwischen Menschen und Maschinen, zwischen uns, als denkenden Lebewesen, und künstlicher ›Superintelligenz‹ bestehen. Die – wie manche Extropianer und Futuristen frohlocken – humane Intelligenz irdischen Ursprungs (also uns Menschen als nicht nur denkenden Dingern) in absehbarer Zeit als höchste Stufe der kognitiven Evolution (in Form von digitalen Systemen und humanoiden Robotern) ablösen soll?28

In der Sprache des konvivialistischen Manifests: »Es geht darum, einen neuen, radikalisierten und erweiterten Humanismus zu erfinden, und das bedeutet die Entwicklung neuer Formen der Menschlichkeit.«29 Die in der deutschen Übersetzung ausgelassene Schlusspassage fasst die Dinge zusammen: »A different kind of world is not just possible; it is a crucial and urgent necessity. But where do we start when it comes to envisaging the shape it should take and working out how to bring it about? The Convivialist Manifesto seeks to highlight the similarities between the many initiatives already engaged in building that world and to draw out the common political philosophy that underlies them.«

Die weltweiten Aktivitäten, die übliche Fast-Food-Lebensphilosophie zu hinterfragen und durch eine andere – gastrosophische – Philosophie zu überwinden, könnte ein weltbewegendes Ereignis sein. Die Gastrosophie entscheidet darüber, durch welche Werte und Programme wir uns von den immer klügeren Computern und den humanoiden Robotern von morgen unterscheiden werden. Die Digitalisierung und Roboterisierung einer Welt – als deren gottgleicher Herrscher und allein gebietende Zentrale sich unsere Spezies über Jahrtausende wähnte – muss nicht zwangsläufig eine Dehumanisierung unserer selbst bedeuten. Sie bringen eine erdgeschichtlich einmalige Chance hervor: Der Homo sapiens kann sich sowohl nachhaltig als auch so menschlich weiterentwickeln, dass er den unorganischen Algorithmen, die er seinen Maschinen implantiert, die eigenen Werte – wirklich humane – beibringt.

Nur welche Werte und humane Algorithmen wären das?

Einer steht schon fest: Wenn wir diese allesentscheidende Option unseres Schicksals nicht verpassen wollen, werden wir unser ›Mensch-Sein‹ verändern oder umprogrammieren müssen. Es wird sich vieles, was wir zu tun gewohnt sind, und einiges an der Art, wie wir uns im All unseres täglichen Lebens bewegen, ändern müssen, um unseren posthumanen Geschöpfen und Nachfahren menschlich begegnen zu können. Und wohl nichts an uns ist menschlicher als die natürliche Gabe der Selbstveränderung, des Umdenkens und Neue-Programme-Erfindens – das Münchhausen-Vermögen, als Gattung und Weltgestalter unser Selbst neu erfinden zu können: Das ist – Wohl oder Übel – die humanste Selbsterkenntnis einer künftigen Menschheit als Grundbedingung eines wirklich menschlichen Überlebens auf diesem Planeten.

ZUR GASTROSOPHIEDER ERNÄHRUNGSWENDE

Als Gastrosophie lassen sich sämtliche Erkenntnisse, Wissenschaften, Techniken, Bildungsprozesse und Praxen der Ernährungswende bezeichnen. Diese Wende hätte im Übrigen weit umfassendere Auswirkungen auf unsere Zukunft auf diesem Planeten als die seit einer Zeit in Gang gesetzte und viel diskutierte Energiewende, die allgemein als die größte Aufgabe der Menschheit wahrgenommen wird.30 Das kollektive Bewusstsein von der gesellschaftlichen Not-Wendigkeit einer Transformation – einer anthropoethischen Humanisierung – der vorherrschenden Lebensverhältnisse wächst überall auf der Welt. Was eine passende Gelegenheit zum 175. Geburtsjahr eines (wie er sich selbst verstand) zeitlosen Wegweisers zu gedenken bietet: Friedrich Hölderlins poetischer Wegweisung folgend, lässt sich gegenwärtig tatsächlich beobachten: »Wo aber Gefahr ist, wächst/das Rettende auch.« Tag für Tag nimmt das kulturelle Unbehagen gegenüber den vielschichtigen Problemen und Erscheinungsformen der Ernährungskrise und anderer globaler Krisen zu – doch, so Hölderlin, »nah ist und schwer zu fassen das Gute«.31

Angesichts des drohenden Weltuntergangs ist es umso entscheidender, zu verstehen, dass zahlreiche Ursachen der globalen Zivilisationskrise untrennbar mit den Ernährungsverhältnissen verbunden sind. Wenn die Menschen ihre fragilen Lebensgrundlagen auf diesem Planeten retten und nachhaltig sicherstellen wollen, wenn sie der selbstverursachten Klimakatastrophe entgegenwirken wollen, wenn sie einen artgerechten Umgang mit Tieren wollen, wenn sie weltweit in ländlichen Gebieten Lebens- und Bleibeperspektiven für Abermillionen fluchtbereite Menschen aufbauen wollen, wenn sie vernünftige Lebensmittel für eine wachsende Weltbevölkerung produzieren wollen, wenn sie ihrem erreichten Wohlstand einen erstrebenswerten Lebenssinn geben wollen, wenn sie ihre geistigen Fähigkeiten optimieren wollen, um eine menschenwürdige Geschmacks- und Genuss-Intelligenz auszubilden (Gastro- statt Neuro-Enhancement), wenn sie sich schließlich nicht länger möglichst beiläufig den Magen vollschlagen wollen, nur um den ganzen Tag arbeiten zu können – kurz: WENN sie so leben wollen, dass sie jeden Tag gute Mahlzeiten in guter Gesellschaft zum normativen Mittelpunkt und zur praktischen Bildungszentrale ihres vorübergehenden Hierseins machen, DANN stehen ihnen zu dieser – je nach eigenem Gusto einfach machbaren oder schwer fassbaren – guten Lebensart (die ein großer Aufklärer und Menschenfreund wie Immanuel Kant, wie wir inzwischen wissen, als Glückserfahrung und Manifestation wahrer Humanität lobte) die notwendigen Möglichkeiten und Vernunftsoptionen offen, die im Vergleich zur Weltraumtechnologie und Mars-Mission ebenso unaufwändig wie erfolgversprechend sind.

Im Unterschied zu anderen Gefahrenquellen einer dystopischen Zukunft sind die entropischen Krisensymptome ebenso wie die anthropische Krise der Welt des Essens tagtäglich von jedem erfahrbar.32 Wenn es wahr ist, dass das Rettende – das schwer fassbare Gute – auch wächst, wo Gefahr ist, dann entsteht inmitten der anthropischen Gefahr und der negativen Entropie einer inhumanen Zivilisation vielleicht die rettende Anthropoethik einer menschlichen Ernährungswende. Die mächtigste Kraft eines schwer fassbaren Weltrettungsprogramms steckt in der Erkenntnis, dass von einer zur Tischgesellschaft versammelten Menschheit – von einem konvivialen Miteinander – die allerstärkste Humanisierung ausgeht: So jedenfalls lässt sich Hölderlins Wachstumsformel gastrosophisch deuten.

Was impliziert, dass nicht alles Rettende wächst und, dass die Gefährdung unserer Welt auch durch ein immer weiteres Wirtschaftswachstum und ein noch unfassbareres Weiter-so entsteht. Außerdem wird das rettende Gute nicht automatisch durch noch mehr Produzieren und immer Neues Machen hergestellt: Welt retten kann auch Welt reparieren bedeuten. Heilmachen, was kaputt geht; Selbermachen statt kaufen; möglichst viel Gutes tun und darüber reden statt immer nur reden, aber für nichts gut zu sein. Das Rettende wächst – metaphorisch in dem Sinne, dass vielerorts soziale Bewegungen, kooperative Beziehungen und neue Freundschaften entstehen, dass überall demokratische, kreative, kulinarische Kräfte aktiv werden, dass rund um den Globus der allgemeine Widerstand gegen Pessimismus, Rassismus, Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und archaische Weltbilder wächst.

»Wo aber Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch« nicht zuletzt im wahrsten Sinne des Wortes: Protestgemüse, neue und alte Sorten, seltenes und resilientes Saatgut der Ernährungssouveränität, Lern- und Lustgärten der Menschlichkeit und Kooperation, durch wildes Denken wiederentdeckte wilde Natur und Wildkräuter einer radikal regionalen Naturküche – alles das wächst, aber unfassbar langsam.

Manchem viel zu langsam im ungeduldigen Warten auf Verbesserung – beispielsweise Martin Heidegger. Hölderlins Poem nutzte er, um eine fundamentale Kritik des neuzeitlichen Weltbildes und der Gefahr einer technokratischen Vernichtung »des Seins« zu formulieren. Alles Sein, so Heideggers Kritik, würde auf technologisches Hergestellt-Sein reduziert und das Mensch-Sein mit dem (stark gefährdeten) Wesen eines nur berechnenden Denkens gleichgesetzt. Tatsächlich war Heidegger – abseits der traditionellen Kapitalismuskritik der Marxisten – der erste Philosoph des 20. Jahrhunderts, der sich mit der bloßen Macht seines Denkens gegen die Gefahr »der Technik«, der dehumanisierenden Herrschaft einer total durchtechnologisierten Welt, zu Wehr setzte.

Doch Heideggers Denkwege haben sich im Schwarzwald verlaufen. Verirrt. Seine kürzlich entdeckten Schwarzen Hefte verraten, wie tief dieser explizit antihumanistische »Hüter« oder »Hirte des Seins« im Morast eines rassistischen Fremdenhasses und einer antidemokratischen – inklusive einer ungastrosophischen – Gesinnung steckte, die keine Perspektiven für eine humane Zukunft der Menschheit bietet.33 Es ist wenig verwunderlich, dass der einzige Ausweg, den Heidegger uns auf seinem Holzweg bietet, den anthropoethischen Sinn von Hölderlins Wachstumsphilosophie in eine quasireligiöse Befreiungstheologie verkehrt. Wie so viele andere Kleingeister dieser Welt, die wenig auf sich selbst als selbstverantwortliche Menschen geben und sich klein denken, sucht auch der große Seinsdenker am Ende Zuflucht im Glauben. Bis zuletzt ist er seiner apolitischen Denkweise treu geblieben (zu der Hannah Arendt das passende Gegenstück wurde); Heideggers Vermächtnis ist die unmenschliche Resignation, dass »nur noch ein Gott uns retten kann«.

WAS TECHNOLOGENWISSEN: ALLDIE SÜSSIGKEITENERHÖHENNURDEN BLUTZUCKERSPIEGEL

Das eigentlich humanistische Motiv der Heidegger’schen Technikkritik wurde erst kürzlich von dem jungen russischen Philosophen Evgeny Morozov herausgearbeitet. Dabei ist besonders interessant, dass seine kritische Auseinandersetzung mit der digitalen Technik der Gegenwart zahlreiche und oft subtile Verbindungen zur Zukunft, zur Ethik, zur Politik und sogar zur Poetik unseres Essens herstellen. Morozov hinterfragt das eschatologische Versprechen der neuen Daten-Religion der Technokraten und dataistischen Halb-Götter unserer Zeit, »die Welt unendlich zu verbessern« und wie »die Politik, die Bürger, das Publikationswesen, das Kochen« und anderes, so ziemlich alles unter der Sonne und sogar jenseits der Erde mit technischen Mitteln zu optimieren. Morozov fragt sich: »Wie wird diese Verbesserungsorgie enden? Wird sie tatsächlich etwas bewirken?«34 Wie sieht die Silicon-Valley-Vision für unsere Zukunft aus, die wir vor der planetaren Flucht in neue Welten erleben werden?

Die Realitäten und Wunschbilder sind weitgehend bekannt: »Ausgerüstet mit leistungsfähiger Self Tracking Technik, besiegt die Menschheit endlich Fettleibigkeit, Schlaflosigkeit und den Klimawandel, denn jeder isst weniger, schläft besser und verbraucht Ressourcen verantwortungsvoller. Auch die Unzuverlässigkeit des menschlichen Gedächtnisses ist behoben, denn dieselbe Self Tracking Technik speichert und archiviert alles, was wir tun. Autoschlüssel, Gesichter, beiläufige Informationen: Wir vergessen nicht mehr. Kein Grund, sich wie Marcel Proust nostalgisch an das Lieblingsgebäck der Kindheit zu erinnern, denn mit Sicherheit sind solche Momente irgendwo auf unserem Smartphone gespeichert – oder eher auf unserer smarten Brille, die alles aufzeichnet. Nicht fantasieren – einfach dorthin zurückspulen! Jederzeit können wir uns auf Siri verlassen, die getreue sprechende Assistentin von Apple. Sie wird uns mit der Wahrheit konfrontieren, der wir uns damals nicht stellen wollten: All die Madeleines erhöhen den Blutzuckerspiegel gefährlich und deshalb müssen wir darauf verzichten. Tut uns leid, Marcel! … Ein Triumph der Menschlichkeit, dem Silicon Valley sei Dank.«

Morozov bezeichnet die Ideologie des großen Weltverbesserungsexperiments des Silicon Valley als Solutionismus und Internetzentrismus und zeigt, wie dieser technokratische Optimierungsplan die allgemeine Transparenz, die Neugestaltung der Demokratie, die Effizienzsteigerung im Bereich Kultur, Kriminalitätsbekämpfung, die Vermessung unseres Lebens mittels Self Tracking und Life Logging oder die Gamifizierung (Verhaltensanreize durch Onlinespiele) des staatsbürgerlichen Raums revolutioniert. Dem Technikkritiker gelingt etwas Seltenes: Wir lernen bei ihm, »warum technische Perfektion, die nicht auf unsere ureigenen Belange als Menschen eingeht und das komplexe Wesen unserer Welt ignoriert, ihren Preis nicht wert ist« (ebd., 18).

Wir lernen aber auch: »All das soll nicht leugnen, dass Technik – von Sensoren zu Spielen – dazu genutzt werden kann, die conditio humana zu verbessern.« Das kann jedoch nur dann geschehen, wie Morozovs umfangreiche Ausführungen zeigen, »wenn sich unsere Geeks, Designer und Sozialtechnologen die Zeit nehmen, erst einmal zu analysieren, was uns überhaupt menschlich macht. Ein Versuch, die conditio humana zu verbessern, der von einem roboterhaften menschlichen Verhalten ausgeht, wird uns nicht besonders weit bringen« (ebd., 577).

Unter uns Menschen gefragt und einmal angenommen, die feindliche Übernahme der Welt durch den uns weit überlegeneren Robo sapiens käme nicht zustande: Wird nicht sogar der Supermensch sauberes Trinkwasser brauchen, Regenwälder, Fische und ein buntes Leben in den Ozeanen? Kommt er mit jedem Klima klar? Muss er wirklich ohne Essen (essistenziell untot) leben und sich nicht mehr von dem ernähren, was allein die Erde wachsen lässt? – Die technotopische Entwicklung, die das Silicon Valley vorantreibt, wird uns nicht zu Supermenschen perfektionieren, sondern zu Unwesen reduzieren, die ohne Hilfsmittel nichts mehr können und in allem zu Taugenichtsen geworden sind. Dafür tun die neuen Weltherrscher alles, damit unser handwerkliches Können verarmt, unsere Reparaturkünste verloren gehen, unsere sprachliche Artikulationsfähigkeit vertwittert, unser Gedächtnis durch Memory-Funktionen ersetzbar ist, unsere Fantasie in vorgefertigten Bildern ertrinkt, unsere Kreativität von technischen Solitionismen abgelöst und unsere Neugier durch Bequemlichkeit abgestellt wird: Das ist die voll automatisierte Menschmaschine, die roboterhafte Menschine, von der Posthumanisten träumen.

Dieses Szenario und schwarze Loch unserer Einbildungskraft lässt sich auch so umkreisen: »Wir sollten uns frühzeitig mit den utopischen Potenzialen des Transhumanismus auseinandersetzen und dem eine humane Utopie eines menschlichen Zusammenlebens im globalen Maßstab gegenüberstellen.«35 Oder in einer etwas anderen Flugbahn: »Bislang, so scheint es, gibt es kein humanes Gegenmodell zu den sterilen und zutiefst inhumanen Fortschrittswelten des Silicon Valley.«36 Statt also unsere wie auch immer verlängerte Lebenszeit im Weiter-wie-bisher-Modus mit Arbeit zu vergeuden, die in Zukunft ohnehin Maschinen für uns verrichten, sollten wir ab morgen Wichtigeres tun.

Zum Beispiel intensiv über das erdgeschichtlich bedeutende Ereignis nachdenken, dass derzeit mithilfe immenser öffentlicher Gelder und privater Kapitalien die wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen für diesen dystopischen Fortschritt geschaffen werden – für eine illusorische Selbstabschaffung des Homo sapiens als erdverbundene und esskulturelle Intelligenz. Eine Wiederholung dieser Angelegenheiten kann nicht schaden: Konfrontiert mit einer total digitalen Welt der Algorithmen und Dataismen wird uns gar nichts anderes übrig bleiben, als wieder einmal unbekannte Formen, Praktiken, Denkweisen und Glückserfahrungen der Menschlichkeit zu erfinden. Die Utopie – die Minima Utopia, zu der die Gastrosophie einlädt und die vom Homo gastrosophicus bewohnt wäre – lautet in einem weiteren aufrüttelnden Zuruf schlicht: Lasst uns zu konvivialen Menschen werden!

REUMÜTIGE RÜCKKEHRNACHDEM MARS-DESASTERANNO 2518

Ausgerüstet mit einem kritischen Technikverständnis, das weiß, wo überall Gefahr ist, spricht vieles dafür, Hölderlins Wink – dass dort auch das Rettende wächst – wörtlich zu nehmen. So wird im Rückblick (also in ferner Zukunft) der Exodus zum Mars eine wichtige Mission gehabt haben – das eigene Scheitern. Im Gegensatz zu ihren Anhängern hege ich keine Zweifel daran, dass die Kolonialisierung des Roten Planeten missglücken wird und die Welt der Marsianer mit Sicherheit nicht besser sein wird als die, die wir kennen, und die, die wir auf diesem Planeten in Zukunft zum Wohle Aller gestalten könnten. Die Utopie des Marsismus wird (wie schon viele andere Luftschlösser, Lebens- und Weltraumfantasien) eine Geschichte ohne Happy End. Nicht weil dortige Ureinwohner – im historischen Unterschied zu den Indianern des gewaltsam eroberten Amerikas – stärker sein werden als ihre skrupellosen Invasoren. (Bekanntlich existieren dort keinerlei Lebensformen.) Die Existenz von wehrhaften Marsianern ist und bleibt eine Erfindung des dicht bevölkerten Science-Fiction-Universums.37 Die Besiedelung dieses Nachbarplaneten wird scheitern, schlichtweg weil dieser – eventuell erreichbare – Himmelskörper für menschliches Leben ungeeignet ist; seine lebensfeindliche Wüstenlandschaft wird auch nach ›tausendjährigem Terraforming‹ unwirtlich bleiben und Marsmenschen nichts zu fressen bieten.38

Die realistische Vorhersage: Vielleicht schon nach der Hälfte der Zeit – im Jahre 2518, also einem solchen Zeitraum, der uns heute vom ersten ›Utopia‹ der Neuzeit trennt – beginnt die reumütige Rückkehr zur Erde, wo einige von ihren dort gebliebenen Vorfahren zeitlich parallel – und erfolgreicher – die Entwicklung einer humanen Zivilisation vorangebracht haben werden. Der alternative Weltraumforscher und Gegenwartssoziologe Gerhard Schulze lädt dazu passend seine Gäste zu einer fantastischen Gedankenreise ein: »Eine Gruppe von Männern, Frauen und Kindern entkommen mit knapper Not in einem Raumschiff einer Katastrophe, die alles Leben auf der Erde vernichtet. Das Raumschiff ist autark; alle lebensnotwendigen Ressourcen erneuern sich ohne Substanzverlust immer wieder in Kreisläufen, die den zerstörten Ökosystemen auf der Erde nachgebildet sind. Dafür braucht das Raumschiff Energie, die es aus dem Weltall bezieht. Das Raumschiff hat kein Ziel; es wird niemals irgendwo ankommen, vielmehr ist es bereits am Ziel, angekommen bei sich Selbst. Wartungs- und Reparaturarbeiten sind alles, was den Menschen zu tun bleibt, im Übrigen steht es ihnen frei, was sie mit ihrer Zeit anfangen wollen: schlafen, lesen, spielen, miteinander reden oder sich anschweigen, sich lieben oder hassen, sich belauern oder ignorieren, sich in die Notsituationen, die einem auch auf dem Raumschiff nicht erspart bleiben – Geburt, Krankheit, psychische Krisen, Tod – gegenseitig Beistand leisten oder einander die Hilfe verweigern. Alle Vorgänge müssen sie von selbst anfangen und gestalten. Auf mehr kann man nicht warten, mehr Schicksal gibt es nicht.« Zu dem fiktiven Gesellschaftsspiel, nennen wir es Der Neue Gesellschaftsvertrag 3018, und dessen Weltbild erklärt sein Erfinder: »Dieses Bild soll nicht die gegenwärtige Situation des ›Raumschiffs Erde‹ darstellen. Es soll vielmehr ein Gespür für die Art von Denkanforderung vermitteln, die wir nicht gewöhnt sind, die sich uns aber immer häufiger in den Weg stellt.«39

Nehmen wir also an oder, besser, gehen wir davon aus, es hätten einige besonders abenteuerlustige Zeitgenossen – die Denkanforderungen lieben und Spaß daran haben, alternative Wege zu gehen – um die Jahrtausendwende damit begonnen, sich im gastrosophischen Umdenken zu üben und den damals unter ihnen aufkeimenden Trend zu einer humanen Esskultur mitgestaltet, um einen Planeten zu retten und zu reparieren, auf dem künftig konviviale Menschen leben werden.40

Denn sie wissen und sind weltklug genug, dass ihr Realitätssinn ihnen sagt: Dort draußen wird es niemals vergleichbar günstige Lebensbedingungen geben wie Back Home bei Mutter Erde. Es wird dort – und nirgendwo in ferner Zukunft – die unglaublich einfache und sichere Option geben, den Erdboden mithilfe äußerst raffinierter Techniken und agrikultureller ›Anbau‹-Methoden für nachhaltige Versorgung mit Nahrungsmitteln zu nutzen. Während sich die todesmutigen Mars-Konquistadoren in der unmenschlichen Leere ihrer Weltall-Fantasien verlieren oder schlichtweg vor Ort verhungern werden, sorgt der Counter Strike der Gastro Fantasy World für die tägliche Rückkehr zur Erde – mithilfe ihrer, dem Gemeinwohl gerecht werdenden, lebenserhaltenden Bordküche und weiterer eubiotisch-eutopischer Weltrettungssysteme ihrer Gut-Menschen.

Richtig, diese Geschichte klingt völlig ›utopisch‹: Was sie auch ist! Wer jedoch kennt schon die wahre Bedeutung dieses Wortes?

Könnte es helfen, die globale Ernährungswende bekannter und populärer zu machen, indem man sie so erzählt, dass ihre Abenteuer und die aufregenden Entdeckungen ihrer noch unbekannten Pluriversen genauso faszinieren wie die Story von Elon Musk? Wie wäre es beispielsweise mit der Real Food Geschichte von Kimbal Musk? Oder warum nicht die – bereits existierende41 – Slow Food Story von Carlo Petrini, wahrlich ein Global Player der konvivialen Terra Madre Community? Oder – damit es eine Erzählung wäre, in der Frauen die Hauptrolle spielen – Alice Waters aus dem Wunderland und Vandana Shiva, die indische Göttin der Erd-Demokratie: Bieten sie etwa keine faszinierenden Geschichten?

Nach dem Ende der großen Erzählungen – nach der neuzeitlichen, klassisch-humanistischen Utopie einer besseren Zukunft in dieser Welt – in der tragisch gescheiterten Gestalt einer kommunistischen Gesellschaft; nach der einstigen Volksparteien-Demokratie von linker und rechter Politik, die in der eigenen Orientierungslosigkeit und einer prosaischen Gestrigkeit längst kein poetisch anspruchsvolles Narrativ mehr bietet; nach der Ära der konsumkapitalistischen Wohlstands-Heilsgeschichte, welcher der Planet Erde samt Menschheit zum Opfer gefallen ist – am Ende der großen Erzählungen stellt sich erneut die Allerweltsfrage: Kommen Menschen ohne eine Religion aus? Und sogar ohne den Glauben an sich selbst, an die Menschheit und ihre Menschlichkeit? Fehlt es uns nicht an einer großartigen und mitreißenden Geschichte (im doppelten Wortsinne), die allgemeine Begeisterung auslöst? Die Geschichte von einer guten, konvivialen Gesellschaft – in Anbetracht der Allmacht des menschlichen Welt-Essens und ausgehend von dem SOS Notruf aus der völlig desolaten Bordküche unseres Raumschiffs? Es wäre ein anthropoethisches Narrativ, welches vielleicht die längst von unzähligen Millionen beschworene ›Rettung unserer Mutter Erde‹ einschließlich ihrer ausreichend intelligenten und zu guter Letzt auch liebenswürdigen Bewohner erstrebenswerter und interessanter macht als die riskante Auswanderung zum Mars. – Es wird sich weisen.

Falls jedoch ›gutes Essen‹ eine gar nicht so unangenehme Alltagspraxis des guten Lebens und der Menschlichkeit in der besten aller möglichen Welten wäre, könnte die Ernährungswende alle Mahl auch dafür gut sein: Die tägliche Aufgabe, hier auf Erden – so gut es geht – das Wohl Aller zu verwirklichen, ebenso interessant wie erstrebenswert zu machen. Jedenfalls hilft uns der gastrosophische Gedanke allmählich verstehen, warum, das für Alle Gute zu gestalten, eine Menschheitsaufgabe ist, die uns Menschen nicht überfordert. Niemanden.

Um diesen Gedanken anders zu formulieren: Mit dem Stichwort, dass auf unserem Heimatplaneten ein ethisches Leben zu gestalten letztlich cooler und erfolgreicher ist, nämlich glücklicher verlaufen kann, als ein klägliches Scheitern im Weltall, geht es diesem Essay darum, den Zeitgeist anzustupsen. Sind, mit anderen Worten, philosophische Mittel (doch) geeignet, um zur Reflexion oder Spekulation über das gute Welt-Selbst-Gestalten zu motivieren?

Wie kommunizieren wir am besten das Gestalten von Gutem?

Jeder fühlt sich von gutem Design angezogen: Muss es folglich nicht die ethische und politische und erst recht die poetische Aufgabe der Philosophie sein – sofern sie sich als Theorie und Eutopie guter Lebensformen versteht –, für die eigenen Ideen, Produkte und Praxen mit dem möglichst besseren Design zu arbeiten? Und sie hätte diese Arbeit sogar gegen den massiven Einfluss der vorherrschenden Designphilosophie zu leisten: Als Gegenentwurf zur Kulturindustrie eines Kommunikationsdesigns, das – immer am Nerv des Zeitgeistes – digitale Techniken wie Computerspiele oder raffiniertes Nudging (engl. für Anstupsen) perfekt zu nutzen weiß und das selbstverständlich nur für kommerzielle Zwecke und nicht, um dem Gemeinwohl nützlich zu sein.42

DOITYOURSELF: GUTESSELBERMACHENUNDDIE POETIKDES GESTALTENS

Also wäre die Frage aller Fragen: Was ist gutes Design? Solche wirklich weltentscheidenden Angelegenheiten machen es notwendig, einmal gründlich – oder am besten bei vielen Mahlen – durchdacht und philosophisch reflektiert zu werden.

Vorab wenigstens dies: Das angedeutete Transformationsdesign zum Welt-Selbst-Gestalten sollte schon auf grundbegrifflicher Ebene die Erforschung des Konzeptes des Guten samt seiner vielgestaltigen, unübersichtlichen und wahrlich schwer fassbaren Anwendungsfälle (des Wohlergehens, Wohlstandes, des Gemeinwohls, des guten Geschmacks, der Wohltat, des Unwohlseins, des Übels und des Wehes, des Schlechten, Bösen und so weiter und so fort) in Angriff nehmen. Als Inbegriff lohnt es hier beispielsweise die weltanschaulich von Links und Rechts gebashte – und pünktlich im Flüchtlingskrisenjahr 2015 als Unwort des Jahres gekürte – Auszeichnung ›Gutmensch‹ aufzugreifen. Es wäre nämlich im Sinne eines ideologiekritischen Kommunikationsdesigns eine eigene Analyse wert, warum das Gute so häufig diffamiert wird und Menschen, die Gutes tun und zu leben versuchen, belächelt oder gleich beschimpft werden. Zumal bereits in einschlägigen Mainstream- und Massenmedien mit einer solchen gehässigen Herabwürdigung und Abwertung des Gutmenschentums (neudeutsch auch Do-Gooder Derogation genannt) gezielt auch gegen die globale Ernährungswende-Bewegung polemisiert wird – mit absatzförderlichen und als Fundamentalkritik gemeinten Schlagzeilen à la »Ernährung ist die neue Ersatzreligion!«.43