Tage ohne Ende - Sebastian Barry - E-Book

Tage ohne Ende E-Book

Sebastian Barry

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Beschreibung

Thomas McNulty und sein Freund John Cole sind gerade 17 Jahre alt, als ihre Karriere als Tanzmädchen in einem Saloon für Bergarbeiter ein natürliches Ende findet. Für den 'miesesten Lohn aller miesesten Löhne' verdingen sie sich bei der Armee und sind fortan unzertrennlich in Kriegsgeschäften unterwegs. Angst kennen beide nicht, dafür haben sie schon zu viel erlebt. Sie wissen: 'wenn’s um Gemetzel und Hungersnot geht, darum, ob wir leben oder sterben sollen, schert das die Welt nicht im Geringsten. Bei so vielen Menschen hat die Welt es nicht nötig.' Thomas ist vor dem 'Großen Hunger' aus Irland geflohen, hat die Überfahrt und die Fieberhütten in Kanada überlebt, sich bis nach Missouri durchgeschlagen. Wie ein irischer Simplicissimus stolpert er durch das Grauen der Feldzüge gegen die Indianer und des amerikanischen Bürgerkriegs – davon und von seiner großen Liebe erzählt er mit unerhörter Selbstverständlichkeit und berührender Offenheit. In all dem Horror findet Thomas mit John und seiner Adoptivtochter Winona sein Glück. Er bleibt ein Optimist, ganz gleich unter welchen Umständen.

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SEBASTIAN BARRY

TAGE OHNE ENDE

Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser

ROMAN STEIDL

Für meinen Sohn Toby

I saw a wayworn trav’ler

In tattered garments clad

John B. Matthias

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Widmung

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Über den Autor

Impressum

Erstes Kapitel

Also, wie sie in Missouri ne Leiche aufbahren, das schießt wirklich den Vogel ab. Als würden sie unsere armen verlorenen Muschkoten für ne Hochzeit herrichten und nicht für den Tod. Die Uniform tipptopp mit Lampenöl gebürstet, wie nie zuvor in ihrem Leben. Das Gesicht babyglatt rasiert, als würde den Einbalsamierer noch die letzte Stoppel stören. Niemand, der ihn kannte, hätte Trooper Watchorn wiedererkannt, denn seine berühmten Dundrearies, die waren futsch. Überhaupt macht der Tod gern einen Fremden aus deinem Gesicht. Klar, die Kisten waren nur aus billigem Holz, aber darauf kam’s nicht an. Du hebst den Sarg hoch, und die Leiche macht ne Delle in den Boden. Die Bretter in der Sägemühle so dünn geschnitten, dass sie eher Oblaten sind als Bohlen. Aber um so was scheren sich tote Burschen nicht. Worauf es ankam: Wir waren froh, sie so zurechtgemacht zu sehen, wenn man bedenkt.

Ich rede jetzt vom Ende meiner ersten Verpflichtung im Kriegsgeschäft. Muss 1851 gewesen sein. Kaum war die Jugendfrische von mir gewichen, meldete ich mich im Alter von siebzehn Jahren freiwillig, das war in Missouri. Wenn du alle Gliedmaßen beisammen hattest, haben sie dich genommen. Wenn du einäugig warst, haben sie dich wahrscheinlich trotzdem genommen. Der einzige Lohn in Amerika, der mieser war als der mieseste Lohn, das war der Sold der Armee. Und abgespeist haben sie dich mit nem Fraß, dass deine Scheiße zum Himmel stank. Aber du warst froh, überhaupt Arbeit zu kriegen, denn wenn du in Amerika nicht arbeitest für deine paar Dollar, dann musst du hungern, diese Lektion hatte ich gelernt. Und das Hungern hatte ich satt.

Glauben Sie mir, wenn ich sage, es gibt einen bestimmten Typ Mann, der liebt es, Soldat zu sein, egal, wie elend der Lohn. Erstens, du hast ein Pferd gekriegt. Das konnte ein spatkranker Gaul sein, geplagt von Koliken oder mit Kropf am Hals, groß wie ein Globus, aber es war ein Pferd. Zweitens, du hast ne Uniform gekriegt. Die mochte an den Nähten gewisse Mängel aufweisen, aber es war ne Uniform. Blau wie die Haut von ner Schmeißfliege.

Bei Gott, es war ein gutes Leben in der Armee. Ich war grade mal siebzehn oder so, kann’s nicht mit Bestimmtheit sagen. Will nicht behaupten, dass die Jahre vor meiner Armeezeit leicht waren. Aber all die Tanzerei hatte mir zu Muskeln verholfen, zu sehnigen. Das spricht nicht gegen meine Kunden, das spricht eher für sie. Wenn Sie pro Tanz einen Dollar zahlen, wollen Sie weiß Gott ne flotte Sohle aufs Parkett legen.

Ja, die Armee hat mich aufgenommen, das sag ich nicht ohne Stolz. Gottlob war John Cole mein erster Freund in Amerika, und auch in der Armee blieben wir befreundet. Übrigens war er auch mein letzter Freund. Fast unser ganzes erstaunliches Yankee-Leben hindurch, mit dem’s in jeder Hinsicht gut lief, war er bei mir. Wie ich kaum raus aus den Kinderschuhen, sah aber selbst mit sechzehn aus wie ein Mann. Wie ich ihn das erste Mal getroffen hab, da war er vierzehn oder so und sah noch ganz anders aus. Später aber sagte der Saloon-Besitzer: Kumpel, eure Zeit ist um, ihr seid keine Kitze mehr, sagte er. Dunkles Gesicht, schwarze Augen, Indianeraugen nannte man das damals. Glitzernd. Die älteren Kameraden im Zug meinten, Indianer wärn üble Burschen, üble Burschen mit Unschuldsmiene, bereit, dich abzumurksen, sobald sie dich nur sehen. Meinten, Indianer gehörten vom Angesicht der Erde getilgt, wahrscheinlich wär das die beste Politik. Soldaten reden gern hochtrabend. Wahrscheinlich machen sie sich so Mut, sagte John Cole, der ein verständnisvoller Mann war.

Natürlich gingen wir, John Cole und ich, gemeinsam zur Anwerbestelle. Wir boten uns sozusagen im Doppelpack an. Wie Zwillinge. Und ihm hing genauso der Arsch aus der Hose wie mir. Klar, wie wir beim Saloon aufgehört haben, sind wir nicht in Frauenkleidern weggegangen. Haben bestimmt wie Betteljungen ausgesehen. Er war in Neuengland zur Welt gekommen, wo die Ackererde seines Vaters nichts mehr hergab. John Cole war erst zwölf, als er auf Wanderschaft ging. Wie ich ihn gesehen hab, dacht ich gleich, das ist ein Kumpel. Genau so war’s auch. War einer von der hübschen Sorte, fand ich. Auch wenn sein Gesicht vor Hunger ganz verhärmt war. Traf ihn unter ner Hecke im gottverdammten Missouri. Unter der Hecke hockten wir nur, weil der Himmel sich zu einem Wolkenbruch geöffnet hatte. Weit draußen auf den Schlickniederungen hinter dem guten alten St. Louis. Da rechnest du eher mit ner Ente, die Schutz sucht, als mit nem Menschen. Die Schleusen des Himmels. Ich geh in Deckung, und plötzlich ist er da. Hätt ihn sonst vielleicht nie kennengelernt. Ein Freund fürs ganze Leben. Seltsame und schicksalhafte Begegnung, könnte man sagen. Glück gehabt. Aber zuerst zückt er n kleines scharfes Messer, das er bei sich trägt, aus ner abgebrochenen eisernen Spitze gemacht. Das wollt er mir in den Leib rammen, falls es so aussieht, als würd ich ihm fies kommen. Ziemlich weit zurück für einen Dreizehnjährigen, dachte ich. Wie auch immer, als wir unter besagter Hecke ins Gespräch kamen, meinte er, seine Urgroßmutter wär ne Indianerin gewesen, deren Leute vor langer Zeit von der Ostküste vertrieben wurden. Warn jetzt drüben im Indianerland. Er war ihnen nie begegnet. Weiß nicht, warum er mir das so früh schon erzählt hat, außer dass ich sehr freundlich war, und vielleicht hat er gedacht, er würde diese plötzlich aufwallende Freundschaft gefährden, wenn ich die schlimmen Dinge nicht sofort erfahre. Na ja. Hab ihm gesagt, wie man so was am besten betrachtet. Ich, das Kind armer Leute aus Sligo, die genauso übel dran waren. Nein, wir McNultys hatten nicht viel Grund zu protzen.

Aus Respekt vor der verletzlichen Seele John Coles sollte ich jetzt vielleicht einen ordentlichen Sprung machen und die Schilderung unserer früheren Jahre lieber auslassen. Aber vielleicht würde er ja einräumen, dass diese Jahre auf ihre Weise wichtig waren, und auch ich kann nicht grad sagen, dass sie eine Zeit beschämenden Leidens waren. Waren sie beschämend? Der Meinung bin ich nicht. Ich will sie unsere Tanz-Zeit nennen. Warum zum Teufel auch nicht? Schließlich waren wir noch Kinder, die überleben mussten, auf gefährlichem Terrain. Und wir haben überlebt, und ich, wie Sie sehen, lange genug, um davon zu berichten. Nachdem wir uns unter der namenlosen Hecke bekannt gemacht hatten, schien es ganz natürlich, sich zu dieser Unternehmung fortgesetzten Überlebens zusammenzutun. Seite an Seite also lenkten der minderjährige John Cole und ich unsere Schritte auf die regnerische Straße und machten uns auf den Weg in die nächste Stadt an der Frontier, wo Hunderte von ruppigen Bergleuten arbeiteten und in ner schlammigen Durchgangsstraße ein halbes Dutzend lärmender Saloons eröffnet worden war, um sie bei Laune zu halten.

Nicht, dass wir viel darüber wussten. Zu der Zeit war John Cole, wie ich mich zu schildern bemüht hab, ein schmächtiger Junge mit flussschwarzen Augen und hagerem Gesicht, schmal wie das eines Jagdhunds. Ich war mein jüngeres Ich. Das heißt, ich war nach meinen irischen, kanadischen und amerikanischen Abenteuern vielleicht fünfzehn, sah aber genauso jung aus wie er. Aber eigentlich hatte ich keine Ahnung, wie ich aussah. Kinder fühlen sich ja manchmal groß und heldenhaft, dabei sind sie nur ein Strich in der Landschaft.

Bin’s leid, allein rumzuirren. Zu zweit ist besser, sagte er.

So hatten wir also die Absicht, Arbeit zu finden, so was wie Schweine füttern oder einen von den Jobs, die anständigen Leuten zuwider sind. Über Erwachsene wussten wir nicht viel. Hatten sowieso von nichts ne Ahnung. Waren gewillt, alles zu tun, und frohlockten sogar darüber. Warn bereit, in die Kloaken zu kriechen und die Scheiße wegzuschaufeln. Vielleicht hätten wir mit Freude düstere Morde begangen, wenn das nicht Festnahme und Bestrafung bedeutet hätte, wir wussten’s nicht. Wir waren zwei Hobelspäne der Menschheit in einer rauen Welt. Wir meinten, unser Anteil an Nahrung wär immer schon da, wenn wir nur danach suchten. Brot des Himmels, nannte es John Cole, weil er nach dem Ruin seines Vaters oft Orte aufgesucht hatte, wo er in gleichem Maße mit Hymnen wie mit kargen Mahlzeiten abgefüttert wurde.

Gab nicht viele solche Orte in Daggsville. Gab gar keine. Daggsville war das reinste Durcheinander: verdreckte Pferde, schlagende Türen, seltsames Gebrüll. An dieser Stelle meines biographischen Unternehmens muss ich gestehen, dass ich einen alten Weizensack trug, der in der Taille zusammengebunden war. Hatte zwar Ähnlichkeit mit Kleidung, aber nicht sehr. John Cole war besser dran, in einem komischen schwarzen Anzug, der, den Löchern nach zu urteilen, dreihundert Jahre alt gewesen sein musste. Um den Schritt herum war’s jedenfalls, soweit ich sehen konnte, ziemlich windig. Man konnte fast reingreifen und sein Geschlechtsteil messen, und so tat man sein Bestes, die Augen abzuwenden. Ich dachte mir eine gute Methode aus, wie man damit zurande kommt, und heftete den Blick auf sein Gesicht, was an sich keine Anstrengung war, es war ein ansprechendes Gesicht. Eh wir uns versehen, taucht ein nigelnagelneues Gebäude vor uns auf, ganz aus frischem Holz und mit einem letzten Funkeln auf den erst kürzlich eingeschlagenen Nagelköpfen. Saloon, steht auf dem Schild, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und darunter, auf einem kleineren Schild, das von ner Schnur hängt: Saubere Jungs gesucht.

Schau her, sagt John Cole, der nicht dieselbe hohe Bildung besaß wie ich, aber immerhin ein bisschen was davon. Na, sagt er, beim liebenden Herz meiner Mutter, die Hälfte der Bedingungen erfüllen wir doch.

Wir also rein, und was sehen wir? Einen höchst erfreulichen Anteil an schönem dunklem Holz: dunkle Wandverkleidung vom Boden bis zur Decke, ne lange Theke, glatt und schwarz wie eine Öllache. Wir kamen uns vor wie Käfer in nem Mädchenbett. Fremd. Bilder von amerikanischer Pracht und Herrlichkeit, die man lieber betrachtet, als ein Teil davon zu sein. Hinter der Theke ein Mann mit nem Gamsleder, der in aller Gemütsruhe eine Oberfläche poliert, die gar nicht poliert zu werden braucht. Ganz offensichtlich ein neuer Laden. An der Treppe, die zu den oberen Räumen führte, legte der Schreiner letzte Hand an und fügte den fehlenden Abschnitt des Geländers ein. Der Barkeeper hatte die Augen geschlossen, sonst hätte er uns früher gesehen. Uns vielleicht sogar hochkant rausgeschmissen. Dann machte er die Augen auf, und statt zurückzuweichen und uns zu verwünschen, wie wir es erwartet hatten, lächelte dieses urteilsfähigere Individuum und schien zufrieden, uns zu sehen.

Sie suchen saubere Jungs?, fragt John Cole in leicht kämpferischem Tonfall, noch immer Gefahr witternd.

Ihr seid sehr willkommen, sagt der Mann.

Sind wir das?, fragt John Cole.

Das seid ihr. Ihr seid genau die Richtigen, besonders der Kleinere da, sagt er. Damit meinte er mich. Dann, als hätte er Angst, John Cole könnte sich gekränkt fühlen und hinausstampfen: Aber mit dir ist auch was anzufangen, sagt er. Ich zahle euch fünfzig Cent pro Nacht, jedem von euch fünfzig Cent pro Nacht, und so viel ihr trinken könnt, wenn ihr’s nicht übertreibt, und pennen könnt ihr im Stall hinter uns, ja doch, gemütlich, behaglich und katzenwarm. Das heißt, wenn ihr zufriedenstellend arbeitet.

Und was für ne Arbeit ist das?, fragt John misstrauisch.

Leichteste Arbeit von der Welt, sagt er.

Und das wäre?

Na, tanzen. Tanzen, das ist alles. Einfach nur tanzen.

Wir sind aber nun mal keine Tänzer, soviel ich weiß, sagt John, inzwischen verwirrt und mächtig enttäuscht.

Ihr müsst keine Tänzer in der anerkannten Lexikondefinition des Wortes sein, sagt der Mann. Jedenfalls braucht ihr nicht die Beine hochzuwerfen.

Na schön, sagt John, dem der Sinn dieser Worte nicht aufgeht, aber wir haben keine Kleider, in denen wir tanzen können, so viel steht fest, sagt er und zeigt auf seine ungewöhnliche Aufmachung.

Ach, wird alles gestellt, wird alles gestellt, sagt der Mann.

Der Schreiner hatte seine Arbeit unterbrochen und saß jetzt mit einem breiten Lächeln auf den Stufen.

Kommt mit, Gentlemen, sagt der Barkeeper, vermutlich auch der Eigentümer, so wie er prahlte, und ich zeige euch eure Arbeitskleidung.

Dann schritt er in seinen lauten Stiefeln über seinen funkelnagelneuen Fußboden und öffnete die Tür zu seinem Büro. Da war ein Schild an der Tür, wo draufstand: Büro, darum wussten wir’s. Nun denn, Jungs, nach euch, sagte er und hielt uns die Tür auf. Ich habe meine Manieren. Und ich hoffe, ihr habt eure Manieren, denn selbst ruppige Bergleute lieben gute Manieren, das könnt ihr mir glauben.

So marschieren wir denn mit großen Augen rein. Da steht ein Ständer mit Kleidungsstücken wie eine Schar aufgeknüpfter Frauen. Sind nämlich Frauensachen. Kleider. Sonst war da nichts, und wir haben uns wirklich gründlich umgesehen.

Der Tanz fängt Punkt acht an, sagt er. Sucht euch was Passendes aus. Fünfzig Cent für jeden von euch. Und das Trinkgeld, das ihr kriegt, könnt ihr behalten.

Aber, Mister, sagt John Cole, als würd er mit einer bemitleidenswert verrückten Person reden. Wir sind nun mal keine Frauen. Sehen Sie das denn nicht? Ich bin ein Junge und Thomas hier auch.

Nein, Frauen seid ihr nicht, das kann ich sehen. Davon konnte ich mich in der Sekunde überzeugen, als ihr reinspaziert seid. Ihr seid feine junge Burschen. Auf dem Schild steht: Jungen gesucht. Frauen würde ich ja mit Kusshand verpflichten, aber hier in Daggsville gibt es keine Frauen, bis auf die Frau des Ladenbesitzers und die kleine Tochter des Stallknechts. Ansonsten sind hier nur Männer. Aber Männer ohne Frauen – die verzehren sich. Eine Art Trauer schleicht sich in ihre Herzen. Die will ich vertreiben und mir dabei ein paar Dollars verdienen, jawohl, auf die gute amerikanische Art. Sie brauchen nur die Illusion, nur die Illusion des sanfteren Geschlechts. Die seid ihr, wenn ihr diese Beschäftigung annehmt. Nur tanzen. Nicht küssen, nicht schmusen, nicht fummeln oder knutschen. Nein, nur das hübscheste, manierlichste Tanzen. Ihr werdet es kaum glauben, wie sanft ein ruppiger Bergmann tanzen kann. Der Anblick rührt euch zu Tränen. Auf eure Art seid ihr ziemlich hübsch, wenn ich das sagen darf, besonders der Kleinere. Aber mit dir ist auch was anzufangen, mit dir ist auch was anzufangen, sagt er, als er sieht, dass John Coles neu erworbener Berufsstolz wieder hochkommt. Dann zieht er eine Augenbraue hoch, als Frage.

John Cole sieht mich an. Mir macht es nichts. Besser, als in nem Weizensack zu verhungern.

Na schön, sagt er.

Werde euch eine Badewanne in den Stall stellen. Werde euch Seife geben. Werde euch mit Unterwäsche ausstatten, muy importante. Hab ich aus St. Louis mitgebracht. Die füllt ihr gut aus, Jungs, ich schätze, die füllt ihr gut aus, und nach ein paar Gläsern wird kein Mann, den ich kenne, Einwände erheben. Eine neue Ära in der Geschichte von Daggsville. Als die einsamen Männer mit Mädels tanzen konnten. Und alles ganz manierlich, ganz manierlich.

Und so marschierten wir wieder raus, schulterzuckend, als wollten wir sagen, was für ne verrückte Welt, aber ab und zu auch ne glücksbringende. Fünfzig Cent für jeden von euch. Während unserer Armeezeit, wie oft, an wie vielen Plätzchen draußen in der Prärie, an wie vielen einsamen Hängen haben wir, John und ich, ein ums andere Mal wiederholt: Fünfzig Cent – für jeden von euch, und uns vor Lachen nicht eingekriegt.

In dieser besonderen Nacht in der verlorenen Geschichte der Welt half uns Mr Titus Noone, denn so hieß er, mit einer Art männlicher Diskretion in unsere Kleider. Das musste man ihm lassen, mit Knöpfen, Schleifen und so kannte er sich offensichtlich aus. Er hatte sogar den Weitblick, uns mit Parfüm zu besprenkeln. So sauber war ich in drei Jahren nicht gewesen, vielleicht noch nie. Um die Wahrheit zu sagen, in Irland war ich nicht eben bekannt für Reinlichkeit, arme Bauern haben keine Badewannen. Wenn man nichts zu beißen hat, geht als Erstes jedes winzige bisschen Hygiene flöten.

Der Saloon füllte sich rasch. In der Stadt waren flugs Plakate aufgehängt worden, und die Bergleute hatten dem Ruf Folge geleistet. Ich und John Cole saßen auf zwei Stühlen an der Wand. Sehr mädchenhaft, sittsam, brav und nett. Wir sahen die Bergleute nicht mal an, starrten nur geradeaus. Wir hatten noch nicht allzu viele brave Mädchen gesehen, aber uns war eine Eingebung gekommen. Ich hatte ne gelbe Perücke auf und John ne rote. Wie wir so dasaßen, müssen wir vom Hals aufwärts ausgesehen haben wie die Flagge von irgendnem Land. Mr Noone hatte unsere Mieder fürsorglich mit Baumwolle ausgestopft. Schön, aber unsere Füße waren nackt, er sagte, Schuhe hätte er in St. Louis ganz vergessen. Die könnten später dazukommen. Er sagte, wir sollten darauf achten, wo die Bergleute hintreten, und wir sagten, machen wir. Komisch, wie sich alles von Grund auf veränderte, sobald wir uns in diese Kleider zwängten. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so glücklich gefühlt. Alle Sorgen und Nöte waren verflogen. Ich war ein neuer Mann, ein neues Mädchen. War befreit, so wie im kommenden Krieg die Sklaven befreit wurden. War zu allem bereit. Fühlte mich anmutig und stark, ja geradezu vervollkommnet. Das ist die Wahrheit. Ich weiß nicht, wie John Cole es aufnahm, er hat nie was gesagt. Man musste John Cole lieben für das, was er beschloss, nicht zu sagen. Er sagte ne Menge nützliches Zeug. Aber gegen diese Art Arbeit hat er sich nie ausgesprochen, selbst wenn’s schlimm für uns ausging, nein. Wir waren die ersten Mädchen in Daggsville, und wir waren nicht die schlechtesten.

Jeder Bürger weiß, dass Bergleute alle möglichen Typen sind. Sie strömen ins Land, tausendmal hab ich’s gesehen, und tragen die ganze Schönheit ab, und dann gibt’s schwarzen Unrat in den Flüssen, und die Bäume scheinen zu verdorren wie geschändete Jungfrauen. Sie mögen rustikales Essen, rustikalen Whisky, rustikale Nächte, und um die Wahrheit zu sagen, wenn du ein Indianermädchen bist, mögen sie dich auf die falsche Art. Bergleute gehen in Zeltdörfer und tun ihr Schlimmstes. Nie gab’s solche Frauenschänder wie die Bergleute, zumindest einige von ihnen. Andere Bergleute sind in zivilisierteren Ländern Lehrer gewesen, Professoren, entlaufene Priester und bankrotte Ladenbesitzer, Männer, von ihren Frauen abgestoßen wie unnützes Inventar. Jede Güteklasse und Gradierung von Mensch, wie ein Kornmesser es nennen würde. Aber sie alle kamen in Noone’s Saloon, und da trat eine Veränderung ein, eine große Veränderung. Denn wir waren hübsche Mädchen, und wir waren Balsam für ihre Seelen. Und außerdem stand Mr Noone an der Theke, vor sich gut sichtbar eine griffbereite Schrotflinte. Sie würden’s nicht glauben, wie viel Ermessensspielraum das Gesetz in Amerika einem Saloonbesitzer beim Erschießen von Bergleuten einräumt, er ist ungeheuer groß.

Vielleicht waren wir wie Erinnerungen an ein Anderswo. Vielleicht waren wir die Mädchen ihrer Jugend, die Mädchen, die sie als Erste geliebt hatten. Mann, wir waren so sauber und hübsch, ich wünschte, ich hätt mir selbst begegnen können. Für einige waren wir vielleicht die ersten Mädchen, die sie liebten. Zwei Jahre lang tanzten wir jede Nacht mit ihnen, und es gab nicht einen Augenblick unerwünschter Handgreiflichkeiten. Das ist Tatsache. Vielleicht wär’s spannender, zu sagen, dass sich Schwänze gegen uns pressten, das sich Zungen in unsere Münder schoben oder dass schwielige Hände unsere imaginären Brüste begrapschten, aber nein. In diesem Saloon waren die Gentlemen der Frontier zu Hause. In den frühen Morgenstunden kippten sie um, zermürbt vom Whisky, sie grölten Lieder, schossen manchmal beim Kartenspiel aufeinander, prügelten sich mit eisernen Fäusten, aber wenn’s ans Tanzen ging, waren sie der liebenswerte d’Artagnan aus den alten Romanen. Fette Schweinewampen schienen flach zu werden und von eleganteren Tieren zu zeugen. Männer rasierten sich für uns, wuschen sich für uns und zogen, soweit vorhanden, ihren Sonntagsstaat an für uns. John war Joanna, ich Thomasina. Wir tanzten und tanzten. Wir wirbelten und wirbelten. Am Ende waren wir richtig gute Tänzerinnen. Wir konnten Walzer tanzen, langsamen und schnellen. Ich behaupte mal, nie hatte Daggsville bessere Jungs gekannt. Oder schönere. Oder sauberere. Wir drehten uns in unsern Kleidern, und als die Monate verstrichen, ließ die Frau von Mr Carmody, dem Ladenbesitzer, die natürlich Mrs Carmody hieß und die Schneiderin war, unsere Kleider aus. Vielleicht ist es ein Fehler, Wanderarbeiter zu mästen, aber wir wuchsen eher in die Höhe als in die Breite. Vielleicht veränderten wir uns ja, doch in den Augen unserer Kunden waren wir noch immer die Mädchen, die wir gewesen waren. Sie sprachen gut von uns, und Männer kamen von meilenweit her, um uns zu sehen und ihren Namen in die Liste auf unsern Pappkärtchen einzutragen. »Miss, würden Sie mir die Ehre eines Tanzes erweisen?« »Gerne, Sir, um Viertel vor zwölf habe ich noch zehn Minuten frei, wenn Sie die Lücke ausfüllen möchten.« »Ich wäre Ihnen sehr verbunden.« Noch nie hatten zwei unnütze, im Dreck aufgewachsene Jungen so viel Vergnügen gehabt. Man hielt um unsere Hand an, man bot uns Pferdegespanne, falls wir einwilligten, mit dem und dem Kerl ins Lager zu gehen, man machte uns Geschenke, die in Arabien eines Beduinen auf Brautschau würdig gewesen wären. Aber natürlich kannten wir die Geschichte in unserer Geschichte. Vielleicht kannten sie sie auch, jetzt, wo ich drüber nachdenke. Sie fühlten sich frei, sich ins Zuchthaus des Ehestands zu begeben, weil sie wussten, dass alles nur zum Schein war. All das gehörte zu der Freiheit, der Freude, dem Glück.

Denn das schmutzige, scheußliche Leben eines Bergarbeiters ist ein trostloses Leben, und um die Wahrheit zu sagen, nur einer von zehntausend findet sein Gold. In Daggsville gruben sie natürlich nur nach Blei, umso wahrer ist es. Dieses Leben besteht fast nur aus Dreck und Wasser. Doch in Mr Noone’s Saloon gab es zwei Diamanten, sagte Mr Noone.

Aber die Natur setzt sich durch, und nach und nach verlor sich unser Schmelz, und wir waren eher Jungen als Mädchen, und eher Männer als Frauen. Jedenfalls veränderte sich besonders John Cole in den zwei Jahren von Grund auf. Der Körpergröße nach trat er in Wettstreit mit Giraffen. Mr Noone konnte keine Kleider auftreiben, die ihm passten, und Mrs Carmody konnte nicht schnell genug nähen. Weiß Gott, es war das Ende einer Ära. Eine der unbeschwertesten Arbeiten, die ich je hatte. Dann kam der Tag, an dem Mr Noone mit uns reden musste. Und beim ersten Tageslicht wurden Hände geschüttelt und sogar Tränen vergossen, und fortan würden wir nur noch Erinnerungen an Diamanten in Daggsville sein. Mr Noone sagte, an jedem Gedenktag des hl. Thomas und des hl. Johannes würde er uns einen Brief schicken und uns alle Neuigkeiten erzählen. Und wir sollten das Gleiche tun. Und wir brachen auf mit unsern paar Dollars, die wir für unsere erhoffte Zeit in der Kavallerie gespart hatten. Und das Komische war, dass Daggsville an jenem Morgen menschenleer war und niemand da, um uns zum Abschied zuzujubeln. Wir wussten, wir waren nur Fragmente einer Legende und hatten in der Stadt nie wirklich existiert. Ein schöneres Gefühl gibt es nicht.

Zweites Kapitel

Langer Rede kurzer Sinn – wir meldeten uns gemeinsam zur Armee. Na ja, aufgrund dessen, was die Natur naturgemäß mit dem Körper anstellt, waren wir nicht mehr im Geschäft. Bald nach der Ausbildung wurden wir auf dem Oregon Trail in Richtung Kalifornien geschickt. Es hieß, wir würden wochenlang zu Pferd unterwegs sein und an irgendeinem Ort, den ich vergessen hab, links abbiegen, andernfalls würden wir uns in Oregon wiederfinden. So hieß es, und so war’s auch. Scharen heruntergekommener Indianer, als wir durch Missouri ritten, sie befuhren sogar die Flüsse, zogen jedenfalls ziemlich viel umher, vielleicht waren einige unterwegs, um ihre Staatsrente einzusammeln, sogar bis nach Kanada rauf. Traurige, schmutzig aussehende Leute. Und viele Neuengländer auf dem Weg in den Westen, vielleicht ein paar Skandinavier, vor allem aber Amerikaner, die einfach ihre Siebensachen packten, und schwupp, weg waren sie. Von den Mormonen, die nach Utah wollten, hielt man sich fern, diesen verrückten Kerlen war nicht zu trauen. Sie standen im Ruf von Teufeln. Wenn ihr sie bekämpft, müsst ihr sie töten, sagte unser Sergeant, aber ich weiß nicht, ob er’s je getan hat. Dann gab’s da die Wüste, die keine richtige Wüste war. Aber jede Menge Knochen vom Vieh der Pilger und hin und wieder ein Klavier am Wegesrand, das von nem Planwagen geworfen worden war, oder ein Schrank, wenn die Ochsen von der Arbeit müde wurden. Das Schlimmste hier war die Dürre. Ziemlich seltsam, in dieser nur halb wahren Wüste ein schwarzes Klavier zu sehen.

He, John Cole, was zum Teufel hat das Klavier da im Staub zu suchen?

Sucht vielleicht nen Saloon, sagt er.

Mann, haben wir gelacht. Der Sergeant warf uns seinen finsteren Blick zu, aber der Major ignorierte uns, wahrscheinlich dachte er über diese Einöde nach. Wo sollte in ein paar Tagen, wenn die Wasserflaschen leer wären, das Wasser herkommen? Wir hofften, dass er eine Karte mit Markierungen hatte, das hofften wir sehr. Einige, die schon seit ein paar Jahren hier unterwegs waren, sagten, der Trail würde immer breiter, jedes Mal, wenn die Armee hindurchzog, ein meilenbreiter Schmutzstreifen auf der Prärie. Die Hälfte unserer Kompanie bestand aus bärbeißigen älteren Männern, wir wunderten uns, dass manche von denen überhaupt noch reiten konnten. Ist schmerzhaft für die Eier und fürs Kreuz, verflucht noch mal. Aber wie sonst sollten sie überleben? Du reitest, oder du stirbst. Es war schon immer eine gefährliche Route. Einer von den jungen Männern, wie wir welche waren, der bereits erwähnte Watchorn, hatte im Vorjahr Hunderte von Planwagen gesehen, und er sah, wie eine Büffelherde mitten durch sie hindurchdonnerte und Hunderte von Fuhrleuten zu Tode getrampelt wurden. Jetzt, wo wir hier durchzogen, würden die Büffel sich vermutlich fernhalten, er wusste auch nicht, warum. Vielleicht gefiel ihnen diese Gattung Mensch nicht. Gegen die Indianer schienen sie nicht viel zu haben. Vielleicht waren weiße Jungs lärmige, übelriechende Hurensöhne, meinte Watchorn. Und alle ihre wimmernden, nölenden, rotznäsigen Gören, die nach Kalifornien zogen oder hinauf nach Oregon. Aber trotzdem, sagte Trooper Watchorn, jawohl, irgendwann will ich auch mal einen Haufen Kinder haben. Er fand, vierzehn wärn gut, so wie seine Ma. Er war Katholik, in Amerika was Seltenes, mal abgesehen von den Iren, aber er war ja auch Ire, oder sein Vater war’s gewesen, vor Zeiten. Sagte er jedenfalls. Watchorn hatte ein hübsches Gesicht, ein schönes Gesicht, sah aus wie der Präsident auf ner Münze, aber er war verdammt klein, vielleicht eins fuffzig und noch ein paar mickrige Zentimeter, auf nem Pferd machte das keinen Unterschied, er schnallte einfach die Steigbügel kürzer, das funktionierte prima. War ein ausnehmend einnehmender Mann, kann man wohl sagen.

Wir warn also da draußen, da, wo das Gras höher stand, näher an den Bergen, und ritten so vor uns hin. Wir wollten an irgendeinen Ort, wo wir genauere Order bekommen sollten. Aber der Major wusste schon Bescheid, sagte John Cole, denn er hatte ihn nachts reden hören. Was die Nächte anging, schliefen wir auf dem Boden, so wie wir waren, in unsern stinkenden Uniformen, die Feldposten bewachten die Pferde, und die Pferde schnaubten bis in die frühen Morgenstunden, sie sprachen mit Gott, wie John Cole sagte. Er konnte ihre Sprache allerdings nicht verstehen. Wir hatten noch ne Woche Reiterei vor uns, wir dreihundert Seelen, und jetzt kamen unsere Scouts, zwei Shawnee-Burschen, deren Zeichensprache so verständlich war wie gesprochene Wörter, und berichteten uns, sieben Meilen nach Nordosten hin hätten sie Büffel gesehen, und so wollten wir am nächsten Tag eine Jagdgesellschaft auswählen, die nach Norden reiten und ein paar davon erlegen sollte. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich von den dreihundert Mann nicht der beste Schütze war. Weiß nicht warum, vor der Armee hatte ich nie ein Gewehr abgefeuert. Hast ein Adlerauge, sagte der Ausbilder. Bald konnte ich einen Hasen aus dreißig Metern Entfernung treffen, mitten in den Kopf, kein Problem. Besser nicht verhungern, bevor wir uns an die Arbeit machen. Tief im Herzen wussten wir, was unsre Arbeit war: die Indianer. Die Leute in Kalifornien wollten sie loswerden. Wollten sie vertreiben. Natürlich durften Muschkoten laut Gesetz kein Kopfgeld annehmen, aber irgendein hohes Tier hatte sich bereit erklärt, auszuhelfen. Himmelarsch, ein Zivilist bekam zwei Dollar pro Skalp. Komische Art, sich Geld fürs Kartenspiel zu verdienen. Freiwillige zogen los, schossen vielleicht sechzig Dollar ab und brachten die Leichen zurück.

Der Major meinte, er könnte die Indianer ganz gut leiden, er fände nichts Arges an den Diggern, wie man sie nannte. Die sind nicht so wie die Prärieindianer, sagte er. Digger haben nicht mal Pferde, sagte er, und in dieser Jahreszeit könnt ihr sie alle an einem Ort finden, wo sie beten. Der Major wirkte melancholisch, wie er das sagte, als ob er zu viel gesagt hätte oder zu viel wüsste. Ich sah ihn an. Der Sergeant, er hieß Wellington, schnaufte durch seine staubigen Nasenlöcher. Gottverdammte Rothäute, denen werden wir’s zeigen, sagte er fast zu sich selbst und grinste, als wär er unter Kumpeln, was er nicht war. Einen Mann mit ner Zunge scharf wie ein Messer schätzt keiner. Er hasste die Iren, sagte, die Engländer wären dumm, die Deutschen noch schlimmer. Wo zum Teufel er herkäm?, wollte John Cole wissen. Aus nem kleinen Dorf, antwortete er, von dem du noch nie gehört hast. Sagte er Detroit? Meistens verstanden wir gar nicht, was der Sergeant sagte, denn wenn er sprach, dann immer mit ner Art Lachen, außer wenn er Kommandos gab, die waren alle ziemlich eindeutig. Marsch! Vorrücken! Schritt! Absitzen! Da klingelten unsere irischen, englischen und deutschen Ohren.

Und am nächsten Tag zogen ich und John Cole, Watchorn und ein netter Hurensohn namens Pearl mit den Scouts los, um die Herde zu suchen. Zuerst gerieten wir in sumpfiges Gelände, aber die Shawnee-Burschen kannten den Pfad, der hindurchführte, und so schlängelten wir uns recht guter Dinge durch den Sumpf. Der Koch hatte unsere Mägen mit ein paar gebratenen Spatzen gefüllt. Jetzt warn wir auf was Größeres aus. Am Vorabend hatten die Shawnee, ich meine mich zu erinnern, dass einer von ihnen zufälligerweise Birdsong hieß, ruhige Burschen mit holzfarbener Haut, die sich in ihrer eigenen Sprache verständigten, ihre Gebetsbeutel vorbereitet – eine Art Glücksbringer, Hodensäcke von Büffeln, die sie mit Sachen vollstopften. Sie hatten sie ihren Ponys um den Hals gebunden und ritten jetzt ohne Sattel. Lange bevor wir irgendwas mitbekamen, wurden sie langsamer, sie wussten, dass etwas in der Nähe war, und führten uns etwa eine Meile seitwärts, damit wir uns gegen den Wind anpirschen konnten. Vor uns lag ein breiter, niedriger, sichelförmiger Hügel, mit dunklem Gras bewachsen, es wehte kaum ein Lüftchen, die Landschaft still, bis auf ein Geräusch, das man für Meeresrauschen halten konnte. Aber wir wussten ja, in der Gegend gab’s kein Meer. Dann ritten wir den Hügel rauf, der ein Blickfeld von vielleicht vier Meilen freigab, und überwältigt hielt ich den Atem an, denn genau unter uns graste eine Herde von vielleicht zwei- oder dreitausend Büffeln. An dem Morgen hatten sie wohl ein Schweigegelübde abgelegt. Jetzt setzten die Shawnee ihre Ponys in nen höflichen Trab und wir ebenso, und wir näherten uns den Büffeln, so dicht wir konnten, ohne sie zu verschrecken. Vielleicht ist der Büffel nicht grad das klügste Huhn im Stall. Außerdem kamen wir gegen den Wind. Wir wussten, sobald sie uns wittern, gibt’s ein Feuerwerk. Tatsächlich, das Dutzend, das uns am nächsten war, musste uns gewittert haben. Plötzlich stolperten sie los, beinah wärn sie gestürzt. Wir mussten für sie gerochen haben wie der Tod. Das hofften wir doch. Birdsong gab seinem Pony einen Tritt in die Seite, und wir taten’s ihm nach. John Cole war ein hervorragender Reiter, er preschte zwischen den Indianern durch und hielt auf die größte Büffelkuh zu, die er sehen konnte. Auch ich setzte einer großen Kuh nach, wir müssen wohl das Fleisch der Kühe bevorzugt haben. Dann fiel das Land ab, ein Büffel in unserer Nähe hatte alle in Bewegung gesetzt, zehntausend Hufe trommelten auf der harten Erde, und die ganze Kavalkade ergoss sich den Abhang hinunter. Der schien sie zu verschlucken, wirklich jeden Einzelnen von ihnen, dann stieg der Erdboden vor uns wieder an, und da waren sie wieder, ne wahre Flut von Büffeln. Wie wenn in nem Kochtopf plötzlich der schwarze Sirup aufwallt. Schwarz wie gottverdammte Brombeeren. Meine Kuh war wild nach rechts ausgeschert und stellte sich drauf ein, durch ihre Gefährten hindurchzupflügen, vielleicht hatte ein Engel ihr die Botschaft geschickt, dass ich ihr auf den Fersen war. Eine Büffelkuh muss man wie eine Tötungsmaschine behandeln, wie eine Klapperschlange auf Beinen, sie will dich töten, bevor du sie tötest. Sie will dich weiterlocken, dich dann plötzlich seitlich anfallen, mit voller Wucht dein Pferd umstoßen und vor nächstem Samstag wiederkommen und dich zu Tode trampeln. Wenn ich Ihnen diesen Rat geben darf, bei einer Büffeljagd dürfen Sie nie zu Boden gehen. Meine Kuh wird sich nicht anders verhalten als üblich, aber ich muss näher ran und ihr, so gut ich kann, eine Kugel in den Kopf jagen. Keine leichte Aufgabe, das Gewehr schussbereit zu halten, wenn das eigene Pferd hinter jedem gottverdammten Kaninchenloch her ist. Es sollte lieber nicht aus dem Tritt kommen. Vielleicht bewegen wir uns jetzt mit dreißig, vierzig Meilen pro Stunde voran, vielleicht fliegen wir dahin wie der Wind, vielleicht macht die Herde einen Lärm wie ein großer Sturm, der von den Bergen kommt, aber mein Herz rast, und mir ist egal, was passiert, solang ich ihr ne Kugel in den Leib jagen kann. In meinem Kopf erblüht ein Bild von Muschkoten, die sie auf dem Feuer grillen und große Steaks rausschneiden. Aus dem Fleisch trieft Blut. Jetzt johle ich, und ich sehe den anderen Shawnee, der in meiner Erinnerung namenlos ist, er hetzt einen prächtigen Bullen, er lehnt sich nach Indianerart auf seinem Pony nach hinten, er schießt Pfeile in den Bullen, der nur noch eine tobende, schnaubende Masse aus Fleisch und Haaren ist. Der Anblick verflüchtigt sich in einer flüchtigen Sekunde. Meine Aufgabe steht noch bevor. Gerade glaube ich, sicher zielen zu können, da macht die Kuh tatsächlich einen brillanten seitlichen Ausfall gegen mich. Aber mein Pferd ist nicht zum ersten Mal gegen einen Büffel im Einsatz und springt nach rechts wie ein geschickter Tänzer, und wir visieren die Kuh an, und ich feure, und die liebliche orangefarbene Flamme treibt die Kugel aus dem Lauf, und der brennende Stahl bohrt sich in ihre Schulter. Das Mädel besteht nur noch aus Schulter. Zusammen stürmen wir durchs Gras, die Herde scheint jäh nach links abzubiegen, als wollte sie ihrem nahenden Schicksal entgehen, ich feure noch einmal, ich feure ein drittes Mal, dann seh ich, wie ihre rechte Hüfte nach unten sackt, nur fünfzehn Zentimeter, Ehre sei Gott in der Höhe, das ist ein gutes Zeichen, mein Herz schwillt, Stolz explodiert in meiner Brust, die Kuh knickt ein, sie bricht zusammen, eine Wolke aus Staub und Kraft, und sie braucht fünf Meter, um zum Stillstand zu kommen. Muss ihr das Herz durchschossen haben. Das ist mal ein toter Büffel. Dann muss ich weiterreiten, nach rechts wegreiten, die Herde könnte umschwenken und mich töten. Also galoppiere ich, galoppiere und brülle und schreie, bin völlig durchgedreht und weine fast vor Freude. War je etwas so erregend? Und jetzt bin ich ne Viertelmeile entfernt, und mein Pferd ist völlig erledigt, aber ich glaube, auch sein Siegesgefühl kann ich riechen, und ich mache kehrt und beziehe Stellung auf einem kleinen Hügel. Mein Pferd bricht sich fast die Rippen, so heftig schnauft es, und ich habe ein ganz herrliches, ein ganz irres Gefühl. Und dann zieht die Herde weiter – wie schnell sie am Horizont verschwunden ist –, aber ich und John Cole und Birdsong haben sechs Stück erlegt, und die werden zurückgelassen wie die Toten nach ner Schlacht, die hohen Gräser flachgedrückt wie das Fell eines räudigen Hundes, und Birdsong lacht, ich kann ihn sehen, und John Cole, ein Anhänger von Schweigen, lacht, ohne zu lachen, ohne auch nur zu lächeln, komischer alter Hund, der er ist, und wir wissen, in Kürze werden wir niederknien und uns dem Abhäuten widmen, und wir werden das beste Fleisch von den Knochen schneiden und es in riesigen feuchten Batzen auf unsere Pferde binden und die ungeheuren Schädel, ein so edler, ein so eindrucksvoller Anblick, verrotten lassen, damit Gott selbst sie bestaunen kann. Unsre Messer dringen ein. Birdsong schneidet die besten Stücke raus. Lachend macht er eine Geste, um zu sagen, das ist Frauenarbeit. Aber nur für kräftige Frauen, geb ich zurück, so gut ich kann. Für Birdsong ist das ein großer Witz. Er brüllt vor Lachen. Mann, ich glaube, der denkt, diese dummen Weißen. Vielleicht sind wir das ja auch. Die Messer bearbeiten das Fleisch, als würden sie Gemälde von einem neuen Land malen, reine Prärien in dunkler Landschaft, überall treten die roten Flüsse über die Ufer, bis wir in Gott weiß was waten und die trockene Erde sich plötzlich in quatschenden Schlamm verwandelt. Die Shawnee essen die Lungen roh. Ihre Münder sind Krater dunklen Bluts.

Nur Trooper Pearl sah traurig aus, traurig wie ein trauriges Kleinkind, weil er nichts getötet hatte. Aber als am Abend das rohe Fleisch in den Flammen der Lagerfeuer brutzelte, kriegte er das erste Stück. Die Männer kauerten sich ums Feuer und redeten mit der Fröhlichkeit von Menschen, die jetzt reichlich futtern werden, um uns her das leere düstere Land, auf unsern Schultern ein sonderbares Tuch aus Frost und gefrorenem Wind und über uns der weite schwarze Sternenhimmel wie eine riesige Schale voller Gemmen und Diamanten. Die Shawnee in ihrem Lager sangen die ganze Nacht hindurch, bis sich Sergeant Wellington schließlich von seiner Decke aufraffte und große Lust hatte, sie zu erschießen.

Drittes Kapitel

In der Armee triffst du jeden Monat ein Dutzend Männer, die aus Irland kommen, aber du hörst sie nie viel drüber reden. Einen Iren erkennst du sofort, weil’s ihm sozusagen auf die Stirn geschrieben ist. Er spricht irgendwie anders, mit dem Haareschneiden hat er’s im Allgemeinen auch nicht so, und wenn er trinkt, dann macht das was mit ihm wie mit keinem andern Menschenwesen. Sagen Sie bloß nicht, ein Ire wär ein Paradebeispiel für die zivilisierte Menschheit. Er mag ein Engel in Teufelsgestalt sein oder ein Teufel in Engelsgestalt, aber so oder so reden Sie immer mit zwei Iren, wenn Sie mit einem reden. Er kann Ihnen nie genug unter die Arme greifen, und er kann Sie nie gründlich genug hintergehen. Ein irischer Soldat ist der tapferste Mann im Feld und der feigste. Ich weiß nicht, was es ist. Ich hab mörderische Iren gesehen, und ich hab sanfte Seelen gesehen, aber es sind ein und dieselben, in beiden lodert ein schreckliches Feuer, als wärn sie die Wände eines Glutofens. Das geschieht mit dir, wenn du Ire bist. Wenn Sie nen Iren um einen halben Dollar betuppen, wird er aus Rache Ihr Haus anzünden. Darauf wird er hinarbeiten, bis er vor lauter Verlangen, Ihnen ein Unheil zuzufügen, tot umfällt. Ich selbst war auch nie anders.

Ich will schnell erzählen, was mit mir passiert ist und was mich nach Amerika gebracht hat, aber zu viel zu erzählen, dazu hab ich keine große Lust. Ein altes Sprichwort lautet: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Und das ist verdammt wahr.