Jenseits aller Zeit - Sebastian Barry - E-Book
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Jenseits aller Zeit E-Book

Sebastian Barry

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Beschreibung

Nach vierzig Jahren als Kriminalbeamter wird Tom Kettle in seinem neuen Zuhause angespült, einer kleinen Einliegerwohnung im Anbau einer viktorianischen Burg, mit Blick auf den Coliemore Harbour und die Irische See. Am liebsten sitzt er in seinem Korbsessel, raucht Zigarillos und schaut durchs Panoramafenster aufs Meer. Sich nicht zu rühren, glücklich und nutzlos zu sein, ist für ihn Sinn und Zweck des Ruhestands. Schon seit Monaten hat er kaum eine Menschenseele gesehen, als an einem stürmischen Frühlingsnachmittag zwei ehemalige Kollegen an seine Tür klopfen und ihn zu einem alten Mordfall befragen wollen. Ein traumatischer Fall, der alte Wunden aufreißt, denn »nichts war so, wie behauptet wurde. Die Wahrheit eingeschlossen. Die Gardaí. Das Land«. Tom Kettle ist ein unzuverlässiger Zeuge und ein unzuverlässiger Erzähler. Seine Welt ist ein Ort voller Trauer und leisem Humor. Hier verweilen die Geister seiner Frau und seiner Kinder, verschwimmen Pflicht und Gerechtigkeit, geht die Erinnerung ganz eigene, verschlungene Wege.

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Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Épigraphe

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Impressum

Orientierungsmarken

Cover

Titel

Widmung

Epigraph

Erstes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Impressum

Inhaltsverzeichnis

SEBASTIAN

BARRY

JENSEITS ALLER ZEIT

Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser

Roman / Steidl

Für meinen Sohn Merlin

Meinst du, das Einhorn werde dir dienen?

Hiob 39:9

Erstes Kapitel

Irgendwann in den Sechzigern hatte der alte Mr Tomelty seiner viktorianischen Burg einen nicht ganz passenden Anbau hinzugefügt. Es handelte sich um eine Einliegerwohnung von bescheidener Größe, aber doch mit einigen hübschen Details, wie sie einem etwaigen Verwandten gebührten. Die Schreinerarbeiten jedenfalls waren tadellos. Eine Wand war mit Dekorplatten verkleidet worden, deren Furnier das Licht auffing und es in weiche dunkle Brauntöne verwandelte.

In dieser Wohnung mit ihrem kleinen, hallenden Schlafzimmer und ihrer winzigen Diele war Tom Kettle nach eigenen Worten »angespült« worden, mitsamt einigen hundert, noch in Kisten verpackten Büchern und den beiden alten Waffenkoffern aus seiner Zeit in der Armee. Die Bücher erinnerten ihn an seine alten Interessen, auch wenn er selbst kaum noch einen Gedanken daran verschwendete. Die Geschichte Palästinas und Malayas, alte irische Legenden, ausrangierte Götter, ein Dutzend beliebiger Sachgebiete, in die er irgendwann einmal seine wissbegierige Nase gesteckt hatte. Zu Beginn hatte ihn das Rauschen des Meeres unterhalb des Panoramafensters gelockt, inzwischen aber gefiel ihm alles an diesem Haus – die neugotische Architektur einschließlich der unnützen Zinnen auf dem Dach, das Heckengeviert im Garten, das als Windschutz und als sonniges Fleckchen diente, die Landestege aus gebrochenen Granitsteinen, die Insel, die sich in naher Ferne versteckt hielt, selbst die zerfallenden Abwasserrohre, die vom Ufer ins Wasser ragten. Die beschaulichen Gezeitentümpel erinnerten ihn an jenes leicht zu faszinierende Kind, das er einst, vor sechzig Jahren, gewesen war, und die fernen Rufe der heute in ihren unsichtbaren Gärten spielenden Kinder bildeten dazu eine Art diffus quälenden Kontrapunkt. Diffuse Qual, das war seine Stärke, dachte er. Der herabstürzende Regen, das herabstürzende Sonnenlicht, die armen heldenhaften Fischer, die sich abgemüht hatten, ihre Ruderboote gegen die reißende Strömung in den kleinen Hafen aus Quadermauern zu steuern, so ordentlich und schön wie nur irgendetwas in New Ross, wo er als sehr junger Polizist gedient hatte – all das erschien ihm reizvoll. Selbst jetzt im Winter, wo doch der Winter nur an seiner eigenen unfreundlichen Strenge interessiert war.

Er liebte es, die Füße in Richtung des anrührend raunenden Meers ausgestreckt, in seinem sonnengebleichten Korbsessel genau in der Mitte des Wohnzimmers zu sitzen und seine Zigarillos zu rauchen. Die Kormorane auf den hingestreuten schwarzen Felsen links der Insel zu beobachten. Sein Nachbar im Cottage nebenan hatte auf seinem Balkon eine Gewehrauflage montiert; abends schoss er manchmal auf die Kormorane und die Möwen, die unschuldig dort auf den Felsen standen und sich fern allen menschlichen Interesses wähnten. Ein paar von ihnen kippten um wie Schießbudenenten. So friedlich, so still, wie es nur ging. Er selbst war nie auf der Insel gewesen, aber viele Sommer hatte er den Gruppen von Menschen zugesehen, die in Ruderbooten übersetzten. Die Bootsführer legten sich in die Riemen, die Strömung zerrte an den Kielen. Er war nie dort gewesen, er wollte nicht, er war zufrieden damit, einfach nur hinauszuschauen. Nichts anderes zu tun. Das war für ihn Sinn und Zweck des Ruhestands, des Daseins überhaupt – unbewegt dazusitzen, glücklich und nutzlos zu sein.

An diesem sorgenfreien Februarnachmittag wurde er durch ein Klopfen an der Tür in seinem Nest gestört. In der ganzen Zeit, in all den neun Monaten, die er hier gewohnt hatte, hatte ihn nicht eine Menschenseele behelligt, abgesehen vom Briefträger und, bei einer besonderen Gelegenheit, von Mr Tomelty selbst, der ihn in seiner Gärtnerkluft um eine Tasse Zucker bat, etwas, womit Tom ihm nicht aushelfen konnte. Er selbst nahm keinen Zucker, weil er unter beginnendem Diabetes litt. Ansonsten hatte er sein Reich und seine Gedanken ganz für sich gehabt. Warum sagte er das, wenn ihn doch seine Tochter ein Dutzend Mal besucht hatte? Aber von Winnie fühlte er sich nie gestört; außerdem war es seine Pflicht, sie einzuladen. Sein Sohn war bisher noch nie zu Besuch dagewesen; nicht weil er nicht wollte, sondern weil er in New Mexico lebte und arbeitete, an der Grenze zu Arizona. Er war Vertretungsarzt in einem der Pueblos.

Mr Tomelty hatte seinen Besitz unterteilt: Toms Wohnung, die Salonwohnung und, ja wirklich, die Turmwohnung, derzeit von einer jungen Mutter und ihrem Kind bewohnt, die auf einmal kurz vor Weihnachten aufgetaucht waren, mitten im dunklen Winter, bei seltenem Schneefall. Mr Tomelty war zweifellos ein geschäftstüchtiger Vermieter. Jedenfalls war er wohlhabend; ihm gehörte nicht nur dieses Anwesen, Queenstown Castle, sondern auch ein imposantes Hotel an der Strandpromenade von Dún Laoghaire, das Tomelty Arms, ein richtig aristokratischer Name. Gewöhnlich, so zumindest Toms Beobachtung, trat er als altersgebeugter Gärtner in Erscheinung, der mit quietschender Schubkarre den Pfad unter dem Panoramafenster entlangschlurfte wie eine Märchengestalt. Den ganzen Sommer und Herbst über hatte der alte Mr Tomelty nach Unkraut gesucht und es auf seinen stetig wachsenden Komposthaufen befördert. Nur der Winter hatte seine Arbeit unterbrochen.

Wieder das unerbittliche Klopfen. Jetzt auch noch die Türklingel. Und noch einmal. Umgehend, als gehorche er einem instinktiven Pflichtgefühl – vielleicht aber auch nur aus reiner Mitmenschlichkeit –, hob Tom seinen massigen, aber festen Leib aus dem Sessel. Zugleich bereitete es ihm rätselhaften Verdruss. Ja, er hatte diese interessante Untätigkeit und Zurückgezogenheit lieben gelernt – vielleicht ein wenig zu sehr, dachte er, da doch noch immer die Pflicht in ihm lauerte. Das dubiose Gebot vierzigjähriger Polizeiarbeit, trotz allem.

Durch die Glastür konnte er die Umrisse zweier Männer erkennen, in dunklen Anzügen vielleicht – doch das war schwer zu sagen, denn der riesige Rhododendron hinter ihnen versah sie mit einer tintenschwarzen Aureole; ohnehin gab das Tageslicht die Dinge aus der Hand. Es waren jene wenigen Wochen im Jahr, da der Rhododendron trotz Kälte, Wind und Regen hingebungsvoll blühte. Selbst durch die Milchglasscheibe konnte Tom sehen, dass die Gestalten von einem Fuß auf den anderen traten. Menschen, die sich nicht sicher sein konnten, ob sie willkommen waren. Womöglich Mormonen.

Die Eingangstür hing nicht richtig in den Scharnieren, und die untere Türkante schleifte über den Boden. Bedauerlicherweise waren auf den Fliesen fächerförmige Kratzspuren zu sehen. Er öffnete, die Tür gab ein leises Kreischen von sich, und zu seiner Überraschung standen zwei junge Kriminalbeamte aus seiner alten Abteilung vor ihm. Er war verwirrt und ein wenig beunruhigt, erkannte sie jedoch sofort. Zwar nicht dem Namen nach, aber doch fast. Wie auch nicht? Sie waren in jenes unverwechselbare Zivil gekleidet, welches unzweideutig kundtat, dass sie keine Zivilisten waren. Sie hatten die schlecht rasierten Gesichter von Männern, die früh aufstehen müssen, und ihr Auftreten erinnerte ihn, ob es ihm gefiel oder nicht, an seine eigene Anfangszeit als Polizist, an deren eigentümliche Unschuld.

»Wie geht es Ihnen, Mr Kettle?«, sagte der freundliche junge Mann zur Rechten, ein Schrank von einem Kerl mit einem senkrechten Pinselstrich als Schnurrbart, der, ehrlich gesagt, ein bisschen wie ein Hitler-Bärtchen aussah. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass wir vorbeigekommen sind – Sie stören?«

»Habe ich nicht, habe ich nicht, Sie stören nicht, Sie stören nicht«, sagte Tom und tat sein Bestes, um die Lüge zu kaschieren. »Sie sind willkommen. Alles in Ordnung?« Wie oft hatte er selbst Menschen in ihrem Zuhause aufsuchen müssen, um ihnen unerfreuliche Nachrichten zu überbringen – Menschen in ihren privaten Gedanken, in ihrer träumerischen Privatsphäre, der er unweigerlich nur Unangenehmes hinzufügen konnte. Die hoffnungsvollen, besorgten Gesichter, das fassungslose Zuhören, manchmal das schreckliche Weinen. »Wollen Sie nicht hereinkommen?«

Sie wollten. In der Tür nannten sie ihre Namen – der breite Mann hieß Wilson, der andere O’Casey –, Namen, an die er sich tatsächlich halb zu erinnern schien, und sie tauschten Höflichkeiten über das furchtbare Wetter aus und darüber, wie komfortabel sein Quartier sei – »sehr gemütlich«, sagte Wilson –, und dann machte er sich daran, in seiner »Kombüse« Teewasser für sie aufzusetzen. Tatsächlich hätte sich die Küchenzeile ebenso gut in einem Schiff befinden können. Er bat Wilson, die Deckenleuchte einzuschalten, und nachdem dieser sich kurz umgeblickt hatte, fand er den Schalter und folgte der Anweisung. Die trübe Glühbirne hatte nur vierzig Watt; er musste endlich etwas unternehmen. Schon wollte er sich dafür entschuldigen, dass die Bücher noch in Kisten verpackt waren, aber er sagte nichts. Auf seine Aufforderung hin nahmen die beiden jungen Kerle Platz und feuerten mit der fröhlichen Leichtigkeit von Männern, die einem gefährlichen Beruf nachgehen, die für ihre Profession typischen jovialen Bemerkungen durch den Perlenvorhang. Polizeiarbeit war gewürzt mit dem Salz der Gefahr, wie das Meer selbst. Sie verhielten sich ihm gegenüber recht ungezwungen, aber auch respektvoll, so wie es seinem früheren Rang gebührte, vielleicht auch dem Verlust desselben.

Noch während sie redeten, fühlte sich Tom den das Burgenimitat beherrschenden Göttern gegenüber verpflichtet, gelegentlich einen Blick auf die kupferdunkle See zu werfen, die nach und nach von immer tieferer Finsternis übertüncht wurde. Es war vier Uhr nachmittags, und die Nacht kroch heran, um alles an sich zu reißen, bis nur noch die schwachen Lichter der Laternen von Coliemore Harbour ein paar Meter weit aufs Wasser hinausschimmerten und die dunkelnden Wellen besprenkelten. Bald würde der Leuchtturm auf den Muglins-Felsen jenseits der Insel zum Leben erwachen, und noch weiter draußen, er wusste nicht, wie weit, fast schon am Horizont, würde der Leuchtturm auf der Sandbank Kish sein gewaltiges Lichtsignal aussenden und mühevoll die hohen Wogen damit bestreichen. Er dachte an die Fische, die dort lauerten wie Straßenjungen. Ob es um diese Jahreszeit wohl Tümmler gab? Meeraale, die sich durchs Dunkel schlängelten. Kohlfische mit ihren bleiernen Körpern und ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem Gefangenwerden, wie gescheiterte Verbrecher.

Bald standen die Kanne und die drei Tassen auf einem alten indischen Beistelltisch, den Tom vor langer Zeit bei einem Golfturnier gewonnen hatte. Die wirklich guten Spieler, Jimmy Benson und, wie hieß der Bursche noch, McCutcheon, waren an einer Grippe erkrankt, die damals grassierte, und so hatte sein bescheidenes Talent den Sieg davongetragen. Er musste immer lächeln, wenn er daran dachte, jetzt aber lächelte er nicht. Im Licht glänzte das Nickeltablett wie Silber.

Es beunruhigte ihn ein wenig, dass er ihnen keinen Zucker anbieten konnte.

Er drehte den Korbsessel so, dass er ihnen gegenübersaß, und beschwor sein altes freundliches Ich herauf, von dem er nicht sicher war, ob er es noch besaß, dann ließ er sich auf dem knarrenden Peddigrohr nieder und lächelte sie an. Er spürte, wie sich sein Lächeln zunächst leicht sträubte, bevor es die volle Breite früherer Tage erreichte. Volles Willkommen, voller Enthusiasmus, volle Energie kamen ihm irgendwie riskant vor.

»Wir haben einen Wink vom Chef erhalten, dass Sie uns in einer Sache vielleicht helfen können«, sagte der zweite Mann, O’Casey, das lange, dünne Gegenstück zu seinem Kollegen, einer jener besonders mageren Menschen, an denen alle Kleidungsstücke zu groß aussehen, zum Leidwesen seiner Frau wahrscheinlich, falls er denn eine hatte. Tom ließ den Tee in der Kanne ein paar Augenblicke ziehen und wiegte den Kopf hin und her. Als sein Freund, Inspector Butt aus Bombay, ihnen in den siebziger Jahren einen Besuch abstattete, um die Besonderheiten der irischen Polizeiarbeit zu studieren – keine Schusswaffen, darüber kam Ramesh nicht hinweg –, war ihm diese bezaubernde Kopfbewegung aufgefallen, und unerklärlicherweise hatte er sie übernommen. Sie gehörte gewissermaßen zum Beistelltisch.

»Klar doch«, sagte er, »bin immer da, um zu helfen, das hab ich Fleming ja gesagt.« Leider hatte er das tatsächlich zu Detective Superintendent Fleming gesagt, als er an seinem letzten Tag in der Harcourt Street nach der Verabschiedung am Vorabend zur Tür hinausging – mit stechenden Kopfschmerzen, nicht vom Trinken, denn er war Abstinenzler, sondern weil er erst in den frühen Morgenstunden im Bett gewesen war. Als Tom und seine Frau June ein junges Paar mit Kindern waren, hatten sie sich darüber empört, dass Junes »Mutter«, die schreckliche Mrs Carr, darauf bestand, ebendiese Kinder, Joe und Winnie, um sechs Uhr ins Bett zu stecken. Mrs Carr war ein regelrechter Zankteufel, aber in diesem Punkt hatte sie recht gehabt. Schlaf war der Vater der Gesundheit.

»Es hat sich da was ergeben, und er hat gedacht – der Chef hat gedacht –, es könnte nicht schaden, Ihre Gedanken darüber zu hören«, sagte der Kriminalbeamte, »und, Sie wissen schon.«

»Ach ja?«, sagte Tom, nicht uninteressiert, aber dennoch mit einem sonderbaren Anflug von Widerwillen, ja von Furcht – tief in seinem Innersten. »Wisst ihr, Jungs, in Wahrheit hab ich gar keine Gedanken – jedenfalls versuch ich, keine zu haben.«

Sie lachten beide.

»Schon klar«, sagte O’Casey. »Der Chef hat gleich gemeint, Sie würden so was in der Art sagen.«

»Wie geht’s dem Chef?«, fragte Tom im Bemühen um ein neutrales Thema.

»Herrje, der strotzt nur so vor Gesundheit. Ist nicht totzukriegen.«

»Nein.«

Das war womöglich eine Anspielung auf die doppelte Lungenentzündung, die der Chef sich zugezogen hatte, nachdem er von zwei Gangstern gefesselt worden war und eine ganze Nacht auf einer Weide in Wicklow zubringen musste. Man hatte den armen Mann mehr tot als lebendig aufgefunden. Was in etwa den Zustand ebenjener Gangster beschrieb, als die Kollegen auf der Wache mit ihnen fertig waren, Gott vergebe ihnen.

Jetzt schenkte er den Tee ein und reichte ihnen vorsichtig die Tassen, damit er mit seinen großen Pranken nichts verschüttete. Er meinte zu sehen, dass Wilson sich suchend nach dem Würfelzucker umsah, aber den gab es ja nicht, den gab es nicht.

»Sie haben einen weiten Weg hinter sich, eine lange Fahrt, ja, ich verstehe. Aber«, sagte er. Er wollte etwas hinzufügen, fand aber keine Worte in seinem Mund. Es sei an der Zeit, dass man ihn in Frieden lasse, wollte er sagen. Ruheständler könne man getrost gehen lassen – sollten sich doch die Neuen in die Arbeit werfen. Sein ganzes Berufsleben hindurch hatte er mit Schurken zu tun gehabt. Nach ein paar Jahrzehnten ist der Glaube an die menschliche Natur zerstört. Ein vorzeitiges Begräbnis, das dem eigenen vorangeht. Aber er wollte wieder gläubig sein, wollte an etwas glauben. Er wollte in der Fülle der Minuten leben, der Minuten, die ihm noch blieben. Er wollte eine gesegnete, eine stille Zeit. Er wollte –

Draußen stürzte eine Möwe die volle Fensterhöhe herab, ein weißes, völlig unerwartetes Etwas in seinem Augenwinkel, das so plötzlich in freiem Fall an ihm vorrübersauste, dass er zusammenzuckte. Natürlich, zu dieser Jahreszeit erhob sich nach Sonnenuntergang gewöhnlich der Seewind, peitschte die Hauswände und überrumpelte selbst die Möwen. Diese war so seltsam weiß, nur vom Licht im Zimmer angeleuchtet, ihr Sturz so unkontrolliert, als handele es sich um Selbstmord oder eine Hinrichtung, und einen Moment lang war er aus der Fassung gebracht. Doch weder Wilson noch O’Casey schienen sie gesehen zu haben, obwohl sie mehr oder weniger direkt am Fenster saßen. Sie sahen nur, dass Tom erschrak. Tom spürte, wie Wilson sich instinktiv neu justierte und beschloss, die Taktik zu ändern. Die Sache nicht frontal anzugehen wie ein wild gewordener kleiner Stier. Das war seine Ausbildung im alten Phoenix Park Depot, die sich bemerkbar machte. Verängstige den Zeugen nicht. Aber Tom war ja kein Zeuge, oder?

Wilson lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und nippte dreimal an seiner Tasse. Tom hatte den Eindruck, dass ihm der Tee nicht schmeckte. Nicht lange genug gezogen für einen Polizisten. Nicht kalt oder tot genug. Und nicht süß genug.

»Wissen Sie«, sagte Wilson, »Sie haben’s sehr gemütlich hier draußen.«

»Ja«, sagte Tom, noch immer eine Spur Erschrockenheit in der Stimme. »Das sagten Sie bereits.«

Wilson schien auf Vertrautheit zu setzen. Wollte es damit versuchen. Wahrscheinlich glaubt er, ich bin senil geworden, dachte Tom. Hätte nicht mehr zu tun, als von Käsescheibletten die Plastikfolie abzuziehen. O’Casey trank seinen Tee in einem raschen Zug aus, wie ein Cowboy seinen Whiskey.

»Wissen Sie«, sagte Wilson, »als meine Mutter starb – wir waren noch klein, meine Schwester und ich –, wollte mein Da hierherziehen. Die Häuser im Dorf waren billig, aber es gab kein Krankenhaus in der Nähe. Das nächstgelegene war Loughlinstown, und mein Da, wissen Sie, war Nachtpfleger, und so –«

»Herrje«, sagte O’Casey mit der Aufrichtigkeit, die nur einem Freund zugestanden wird, »tut mir leid, das mit deiner Ma.«

»Nein, nein, schon in Ordnung«, sagte Wilson herzlich, großzügig. »Ich war elf. Meine Schwester, die war erst fünf. Für die war’s scheiße.«

Was immer Wilson mit diesen Vertraulichkeiten zu erreichen gehofft hatte, wurde durch die Schwermut vereitelt, die sich über seine Gesichtszüge legte, als verspüre er, auch wenn er mit elf Jahren so belastbar gewesen war, jetzt den enormen Kummer dieses Verlusts, vielleicht sogar zum ersten Mal. Keiner der drei sprach. Inzwischen war das Schwarz vor dem Fenster fast so schwarz wie Pech. Tom musste an Teer denken, der in Fässern schmolz, an Straßenarbeiter. Dieser herrlich scharfe Geruch. Er hätte die Vorhänge zugezogen, dachte er, hätte er Vorhänge gehabt. Das taten jedenfalls die Leute in Filmen. Er stand auf, ging zu seinem kleinen Tisch und knipste stattdessen die Tischlampe an. Ein kleines braunes Ding mit einem Knopf an der beschwerten Unterseite, mit dem man sie ein- und ausschalten konnte. Die Lampe hatte er schon durch ein halbes Dutzend Häuser mitgeschleppt. Als Joe noch ganz klein war und nur mit Mühe in den Schlaf fand, lag Tom, seinen Sohn auf der Brust, auf dem Gästebett, und Joe liebte es, ebendiesen Knopf zu drücken, immer wieder, an und aus, an und aus, weil ihm das Klicken so gefiel. Tom zog vorsorglich immer den Stecker heraus, weil er keine Lightshow wollte. Es war schön, das großgewachsene warme Kind – schon mit einem Jahr war er sehr groß – auf sich liegen zu haben und gemeinsam immer schläfriger zu werden. Manchmal musste June hereinkommen, ihn wecken und Joe wieder in sein Bettchen legen. Es schien so lange her, doch selbst jetzt bereitete ihm das leise Klicken Freude. Lächerlich. Ja, er liebte seine wenigen Besitztümer. Er musste lachen, kein richtiges Lachen, eher eine Art gedämpftes Glucksen, denn noch während er sich über sich selbst amüsierte, dachte er daran, was Wilson gesagt hatte. Wilsons tote Mutter schwebte noch durchs Zimmer, dazu die Schwierigkeiten von früher, mit denen seine Schwester zu kämpfen gehabt hatte. Er fragte sich, wie die Schwester wohl aussah. Wieder so ein dummer Gedanke. Er war sechsundsechzig. Er war nicht darauf aus, sich noch einmal zu binden. Hatte er nicht ein hübsches Mädchen geheiratet? Das konnte ihr niemand absprechen. Sie hatte einen dunkleren Teint, wie Judy Garland. Das alles lag hinter ihm. Aber Polizisten, die ständig zu viel arbeiteten und in der Regel nach sechs Uhr abends erschöpft und zu nichts mehr zu gebrauchen waren als zu ein paar Pints unter Männern, hielten die Augen offen nach den hübschen Schwestern ihrer Kollegen, auf gut Glück.

Als wäre er in Toms Gedanken eingeweiht, sagte Wilson: »Meine Mutter war eine große Schönheit.« Er sagte es mit gleichmäßiger, nicht länger von Schmerz gebeutelter Stimme. Er hatte sich schnell wieder gefangen.

»Dann seid ihr nicht umgezogen?«, fragte O’Casey.

»Nein, nein, wir sind in Monkstown geblieben. Wir sind in Monkstown geblieben.«

Wilson ging nicht näher darauf ein, ob dies eine kluge oder eine törichte Entscheidung gewesen war. Beinahe hätte Tom ihn gefragt, ob sein Vater noch lebte, hielt aber an sich. Wozu wollte er das wissen? Er wollte es nicht. Er nahm an, dass die Schwester inzwischen wohl verheiratet war. Er hoffte, dass es ihr gut ging. Himmel noch eins, wieso denn das? Er wusste doch gar nichts über sie. Ihre Mutter war schön gewesen und gestorben. Vielleicht war ja auch die Schwester eine Schönheit. Gut möglich. Er schien die Mutter vor seinem geistigen Auge zu sehen, in einem leichten Sommerkleid, gebräunt, aber unwirklich, wie ein Geist. Nun, jetzt war sie ein Geist. Er hustete den Schleim aus, der ihn plötzlich würgte, als wollte er ihn für seine elenden Gedanken bestrafen. Er lachte, und sie lachten ebenfalls. Dann wieder eine Flaute im Gespräch. Tom wusste nicht, was er tun sollte. Sollte er ihnen etwas zu essen anbieten? Welsh Rabbit, meine Herren? Nein, wohl kaum. Oder doch? Vielleicht lagen ja hinten im Kühlschrank noch ein paar Speckscheiben. Von Dienstag hatte er noch Hühnerhaschee, da war er sich zu neunundneunzig Prozent sicher.

Vielleicht würden sie ihm jetzt verraten, weshalb sie gekommen waren. Es mochte tausend Gründe geben. Eine lange Liste von Straftaten. Er ging wieder zu seinem Sessel und hob automatisch seine Tasse an die Lippen, doch der Tee war jetzt kalt. Ach ja. Er nickte Wilson zu, als grübele er über die Informationen nach, die ihnen mitgeteilt worden waren. Er grübelte nach. Die Mutter zu verlieren. Das bringt dich um, und dann musst du weiterleben. Wilson strahlte über das ganze Gesicht, als stünde er an der Schwelle zur Weisheit, zu einer weiteren Bemerkung, die alles aufklären und seine Zuhörer erlösen würde. Tom betrachtete ihn mit jenem ausdruckslosen Blick, den er sich zu eigen gemacht hatte, damit die beobachtete Person nicht merkte, wie genau sie beobachtet wurde. Bei seiner Arbeit als Kriminalpolizist hatte er stets die Ohren für zufällige Bemerkungen offen gehalten. Während eines langen Verhörs, wenn der Tatverdächtige ermüdete und sich fast schon geschlagen gab, wenn er spürte, wie die kleinen Fäuste der Schuld auf seinen Schädel oder sein Herz eintrommelten, je nachdem, konnten überraschende Bemerkungen fallen, beiläufige Bemerkungen oder aber scheinbar unlogische Aussagen, die alles in allem auf bizarre Weise nützlich sein mochten. Schmale Pforten, Falltüren sogar zum attraktiveren Ausweg eines Geständnisses. Attraktiv für den Verbrecher. Auch wenn ein Geständnis nur der Anfang seiner Probleme wäre. O ja. Man wollte ihn so dringend überführen, dass es schmerzte, wie eine Folge kleiner Herzanfälle.

Aber Wilson bewahrte sein Schweigen. Er brannte vor Schweigen, wie eine bescheidene Kerze.

»Monkstown ist bestimmt sehr schön«, sagte O’Casey.

»Die Mutter meiner Frau ist auch jung gestorben«, sagte Tom nachdenklich. »Genau wie, wie meine – glaube ich.« Es war ihm plötzlich peinlich, denn in Wahrheit hatte er keine Ahnung, er vermutete oder erhoffte es sich nur, in gewisser Weise. »Ja, ja, sehr schwer das alles.«

»Ach Gott, ja«, sagte Wilson. »Wie auch immer, Mr Kettle –«

»Tom«, sagte Tom.

Die drei toten Mütter, vielleicht waren es auch nur zwei, schwebten einige Augenblicke zwischen ihnen hin und her.

»Tom. Schauen Sie, ich habe die Berichte bei mir«, sagte Wilson, schob die Rechte in seine Manteltasche und holte einen langen Umschlag hervor, der erstaunlich schmuddelig war, wenn man bedachte, dass es sich um ein offizielles Dokument handelte. Er starrte eine Weile auf das schmutzige braune Papier, als wollte er innehalten und nur mit sich selbst reden. Tom sah, wie seine Lippen sich bewegten, wie bei einem Kirchgänger, der die Responsorien nur mit dem Mund formt. Wilson rutschte auf seinem harten Stuhl hin und her, als würde er sich auf den Angriff vorbereiten, seine Kräfte sammeln – und fürs Erste scheitern. O’Casey, spindeldürr, bedächtig, das linke Bein mehr oder weniger aus seinem Körper herausgeschleudert, den Fuß in einem scheinbar schmerzhaften Winkel verdreht, wirkte befangen, als leide er jetzt stellvertretend für seinen Kollegen. In diesen kleinen Momenten erkannte Tom, dass O’Casey etwas jünger war als Wilson, wenn auch nicht viel.

»Ich schäme mich fast, Ihnen diese Berichte zu zeigen«, sagte Wilson. »Ich schäme mich. Ich denke, es ist ein schmutziges Geschäft.«

O ja, jetzt rutscht Tom das Herz in die Hose. In die Pantoffeln. Seiner Pantoffeln ist er sich jetzt sehr bewusst. Vielleicht hätte er sich Schuhe anziehen sollen, bevor er die Tür öffnete – es war ihm nicht in den Sinn gekommen. So wie er sich präsentierte, musste er wie aus der Welt gefallen wirken. Wie war der Zustand seiner Hose? Er schaute an sich herunter und sah das alte braune Ding, das er bevorzugte und das in Wahrheit einen Durchgang im Waschsalon hätte vertragen können. Das alte karierte Hemd, die Weste mit Anzeichen, ja deutlichen Spuren der Abendessen der letzten paar Wochen. Allerdings hatte er sich beim Friseur die Haare schneiden lassen, das war immerhin etwas, und morgens rasierte er sich gewissenhaft. Dabei hatte er die Gewohnheit, It’s a Long Way to Tipperary zu singen, und er schätzte Gewohnheiten über alles, solange es seine eigenen waren und halbwegs irisch.

Wilson nahm die Berichte aus dem ramponierten Umschlag und hielt sie Tom hin. Der starrte auf das zerknitterte Bündel und erkannte nur zu gut die Farbe des Papiers, die maschinengeschriebenen Passagen und die gedruckten Passagen sowie das lange Evangelium der in nüchterner schwarzer Tinte ausgeführten handschriftlichen Eintragungen. Papierkram, die Buße des Polizisten. Er hatte keine Lust, nicht das kleinste bisschen, die Dokumente an sich zu nehmen. Er spürte, wie unhöflich sein Zaudern wirkte. Es waren doch nur junge Kerle. Nun ja, Wilson mochte vierzig sein. Eigentlich ein ergrautes Gesicht, mit einer kleinen Narbe über dem linken Auge. Vielleicht eine Wunde aus der Kindheit. Wir alle haben Wunden aus unserer Kindheit, dachte Tom.

Wilson schüttelte die Papiere in seiner Faust, nur ganz leicht. Eine Ermunterung an Tom, die verdammten Dinger endlich an sich zu nehmen. »Die Sache ist die, inzwischen können wir etwas unternehmen – das Spiel ist aus für diese Jungs.«

Tom Kettles Verlangen, die beiden loszuwerden, ermattete ihn. Er empfand keine Abneigung gegen sie, ganz und gar nicht. Er hörte, wie der Nachtwind sich aufbäumte und gegen die seewärtige Mauer schlug. Er hoffte bei Gott, es würde nicht auch noch regnen. Die Jungs hatten keinen Regenschirm dabei. Vielleicht waren sie mit einem zivilen Fahrzeug aus der Stadt gekommen? Gebe Gott, das es so war. War ihr Rang zu niedrig für ein derartiges Zugeständnis? Wahrscheinlich hatten sie eher den Zug von der Westland Row zum Bahnhof von Dalkey genommen und waren dann den Kilometer zur Burg marschiert. Vielleicht von der Verlockung eines Pints im Dalkey Island Hotel verführt, an dem sie vorbeikamen? Es war spät, wegen derlei jetzt noch dienstlich unterwegs zu sein. Handelte es sich überhaupt um eine offizielle Angelegenheit? Waren sie auf eigene Faust losgezogen und ließen es darauf ankommen? Aber sie hatten gesagt, Fleming habe sie darum gebeten. Hatten sie denn kein Zuhause? Vielleicht wollte Fleming nicht, dass die Sache in den offiziellen Berichten auftauchte. Zwei leicht auszumachende Polizisten in dunklem Zivil. Die die schönen Häuser entlang des Weges bemerkten. Verstört von diesem rätselhaften Reichtum. Die Verbrechen witterten! Die zwischen den vornehmen Mauern die gepflegte schmale Straße entlangstapften. Plauderten oder schweigend ausschritten. Wussten sie, wie privilegiert sie waren, so jung zu sein? Nicht nötig. Das weiß sowieso niemand, solange er jung ist. Dieser Gedanke zog ein anderes Gefühl nach sich. Bei Gott, plötzlich war er den Tränen nahe. Hoffentlich war ihm nichts anzumerken. Das Gefühl schien so mühelos durch ihn hindurchzufallen, wie sich ein Otter in einen Bach fallen lässt. Eine Art Sympathie mit ihnen, mit diesen harten, jungen, selbstsicheren Männern, die ihre Prioritäten zweifellos richtig setzten. Recht und Unrecht. Die Schurken fangen. Ach ja, Schuldsprüche um jeden Preis. Dann nach Hause zu Frau und Kindern. Ein Leben, das nie endet. Alles in bester Ordnung. Und doch nichts, nichts. Trostlose Aussichten. Nein, nein, das war seine eigene Dummheit. Er hatte sie geliebt, so gut er konnte. Wer wollte schon die Frau eines Polizisten sein? Aber ach, der wunderliche Schmerz – die schöne Leichtigkeit dieser jungen Männer in ihren verräterischen Anzügen. Nein, aber er wollte sie loswerden, er wollte sein bisschen Ruhe wiederhaben. Neun Monate, wie eine Schwangerschaft. Noch nie so glücklich gewesen. O Gott, wie er sich jetzt danach sehnte – dass die beiden Burschen aufstanden und mit ein paar letzten Höflichkeiten, ja Schmeicheleien wieder auf Mr Tomeltys geharkten Kies hinaustraten und leise verschwanden.

»Bin mir nicht mal sicher, ob das zu Ihrer Zeit überhaupt ’ne Straftat war«, sagte O’Casey mit einer Miene großer Sachkenntnis, ein Gelehrter der Gesetzbücher, ein Paragraphenreiter. Fragen Sie mich alles, was in den Gesetzbüchern steht, schien sein Gesichtsausdruck zu besagen. Nur zu. Toms eigenartige Tränen traten zurück, denn jetzt war er gebannt. Intelligenz war so attraktiv, an und für sich. Das Licht des Verstehens. Er hätte gerne laut herausgelacht, aber das würde er niemals tun, das konnte er nicht. Er schien sich an eine kleine Geschichte über Wilson zu erinnern, sie kam ihm wieder in den Sinn – dass er einen Tatverdächtigen fast totgeprügelt hatte. Schlimmer als mit den Typen, die den Chef überfallen hatten, viel schlimmer. War er damals nicht in die Grafschaften an der Grenze versetzt worden, um eine Spezialeinheit zu leiten? Er musste wieder zurückgekehrt sein. Wilson. Oder bildete er sich das nur ein? Zu lange allein? »Könnte mir denken, dass es keine war.«

»Das was keine war?«, fragte Tom zögernd.

»Wir wissen, dass Sie in den Sechzigern ziemlichen Ärger mit den Priestern hatten. Ich meine, damals –«

O’Casey wollte fortfahren, aber Tom unterbrach ihn sofort.

»Ach nein, Herrgott, nein, Jungs, nicht die verfluchten Priester, nein.« Und mit erstaunlicher Anmut und Behändigkeit erhob er sich. »Nein, nein«, sagte er.

Sein Auftritt musste etwas Komisches gehabt haben, denn O’Casey konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Aber es gelang ihm, das Lachen problemlos in Sprache umzuwandeln; ohnehin war Tom Kettle kein Mann, der sich leicht beleidigen ließ. Er wusste, in der Brust menschlicher Angelegenheiten steckte, zitternd wie ein Messer, fast immer eine Komödie.

»Wir wissen – nun ja, wir haben erfahren, wir haben alle Infos von Fleming bekommen, haben wir wirklich, und Junge, Junge, Mr Kettle – aber heute steht es natürlich anders um die Dinge, wissen Sie?«

»Ich glaube, nicht einmal Gott selbst –«, sagte Tom widerstrebend, mit »seltsam leiser Stimme«, wie O’Casey später meinte. »Das grenzenlose Leid. Da war niemand, der mir half.«

Das hatte er gar nicht sagen wollen. Was hatte er überhaupt sagen wollen? Niemand, der ihm half. Nein, er hatte nicht »mir« sagen wollen, sondern »ihnen«. Herrgott, geht nach Hause, Jungs. Ihr bringt mich zurück ich weiß nicht, wohin. Die Nichtswürdigkeit. Das obszöne Dunkel, die Gewalt. Priesterhände. Das Schweigen. Das ist nur Tom Kettle, stört euch nicht an dem, der empfindet zu stark. Morden, man könnte morden, man könnte zuschlagen, man könnte zustechen, erschießen, verstümmeln, zerfetzen, wegen dieses Schweigens. Besser, es zu tun, zu morden, zu töten. So empfand er jetzt. Ein Brennen. Erlebte von Neuem die allerschlimmste Demütigung. Alles noch gegenwärtig, nach all den Jahren.

Jetzt stand er da, und er zitterte. Hatte er einen Schlaganfall? Wilson und O’Casey blickten mit offenem Mund zu ihm auf. Um ein Haar hätte er wieder gelacht. Er wollte keinen Schlaganfall haben, zugleich aber würde er die Unannehmlichkeit durchaus begrüßen, wenn sie die Männer vertreiben könnte. Was hatte er gesagt? Oh, elende Nacht. Tatsächlich hörte er den starken Wind, der draußen tobte. Zweifellos hatte er die Schlafplätze der Kormorane durcheinandergewirbelt, dort draußen auf den kalten, schwarzen Felsen. Er liebte die Kormorane, dachte er. Dieser Mörder nebenan. Mit seinem Remington-Scharfschützengewehr, wenn er sich nicht irrte, anders als die alte Lee-Enfield, die man ihm, Tom, in Malaya ausgehändigt hatte, um aus großer Entfernung nichtsahnende Menschenseelen zu töten. Wie ein Tod, der von den Göttern selbst verhängt wurde. Und doch war der Nachbar ein netter Mann, Cellist. Zu jeder Stunde tobte er sich an Bach aus. Himmel noch eins. Zweifellos hatte sich der Wind auf der Insel ausgetobt, war tosend über die Wasser gezogen und schüttete nun Eimer, Zisternen, ganze Stauseen salzigen Regens gegen die Zinnen. Großer Gott. Ein wahrhafter Sturm. Gab es denn kein Erbarmen?

»Ich mache uns Welsh Rabbit«, sagte Tom freudlos.

Zweites Kapitel

Nun, es blieb ihm nichts anderes übrig. Gerade als er das Welsh Rabbit vorschlug, was mit einem überraschenden Maß an Anerkennung gewürdigt wurde – »Das wäre verdammt köstlich«, sagte Wilson, »wenn Sie meine Ausdrucksweise entschuldigen wollen« –, verstärkte der Sturm seine verheerende Wut in einem Versuch, die Küste von Dalkey in einen Ausläufer von Kap Hoorn zu verwandeln. Wilson erwähnte ihn nicht, doch dem Geräusch nach tobte der Sturm mitten im Zimmer. Wilson starrte mit den aufgerissenen feuchten Augen eines Kindes. Er starrte nicht auf etwas, er starrte einfach nur. Als mache der Sturm ihm Angst. Plötzlich empfand Tom väterliche Gefühle für ihn. Als Dienstälterer. Er fühlte sich verpflichtet – und natürlich war er verpflichtet, auch wenn er es womöglich bereuen würde –, die beiden für die Nacht aufzunehmen.

Als er das Brot mit dem Käse unter den Grill schob, war er froh, dass keiner der beiden Jungs kam, um ihm zu helfen. Der Grill war ein Mysterium für sich. Wie eine feuchte, böse Grotte. Er hatte immer vorgehabt, sich hinzuknien und ihm mit einem Lappen und einem Spritzer Seife zu Leibe zu rücken, aber vielleicht war es besser, all die Grausigkeiten in Ruhe zu lassen, nach all der Zeit. Jahre zuvor hätte er vielleicht etwas von dem Fett gedankenlos mit einem Messer abgekratzt und sein Brot damit bestrichen, aber jetzt nicht mehr, denn er wollte kein weiteres Magengeschwür riskieren. Schlafende Geschwüre soll man nicht wecken, sie nicht mit Fett ins Leben rufen. Dass er den Ofen nicht reinigte, war nur eine jener Ursünden, die sich bei seinen Gängen durch die Küche unterschwellig bemerkbar machten. Er hatte das Gefühl, es Mr Tomelty irgendwie schuldig zu sein, doch das war kein klarer Gedanke. Und Winnie würde ihm womöglich einen ihrer anklagenden Blicke zuwerfen. Auch wegen des »Zustands des stillen Örtchens«, wie sie sich ausdrückte. »Findest du nicht, du solltest eine Flasche Chlorreiniger im Haus haben?«, würde sie in ihrem liebevollen, aber hoffnungslosen Tonfall sagen. Doch er wusste sehr wohl, wie wenig die Kohlfische, die Meeraale und die Klieschen Chlorreiniger schätzten – wurde nicht jedes bisschen Flüssigkeit in seiner Wohnung durch die Rohre und unter dem Garten hindurch direkt in die mörderischen Gewässer auf der Rückseite geleitet? Schlimm genug, dass sie durch alles andere hindurchschwimmen mussten. Kackwürste und was nicht noch, weiß Gott. Wenn Winnie, selten genug, von dem kleinen Betonsteg ins Wasser hechtete, nannte sie es »den Darm bewegen«. Oh, sie war witzig, sie war clever. College. Juraabschluss. Sein ganzer Stolz. Das erste Jahr schaffte sie mit links, dann starb ihre Mutter, und irgendwie leerte sie sich, machte trotz der inneren Leere weiter, graduierte, gekleidet in ihren akademischen Talar, in ihren Kummer. Es war, als brauche sie nichts, weil sie nichts hatte. Nichts als ihn, Tom, und Joseph, denselben Joseph, der bald weit weg sein würde. Das Einzige, was sie jemals danach erwähnte, war ein Ehemann, in dem Sinne, dass sie keinen hatte. Vielleicht war das nur ein Detail.

Wilson aß sein Welsh Rabbit mit dem Vertrauen eines Mannes, der noch nie einen Grill inspiziert hatte. O’Casey ging vorsichtiger an die Sache heran. Sein Instinkt war geschärfter, dachte Tom und beobachtete ihn mit einem Gefühl, das an Zuneigung grenzte. Ja, an Anteilnahme. Der jüngere Mann schnupperte behutsam und lächelte, um den Koch nicht zu kränken.

»Arra, ach Gott, ja«, sagte er, »nicht schlecht, Mr Kettle –« Er erbleichte ein wenig, machte sich aber mannhaft über das Essen her.

Winnie hatte sich nie zu einem wirklichen Kompliment über seine Kochkünste hinreißen lassen, denn um die Wahrheit zu sagen, handelte es sich nicht um Kochen. Bestenfalls um Nahrung, um Überleben. Er fragte sich kurz, ob sie den Klumpen kalten Haschees in dem weinenden Topf auch so gelobt hätten – der Winter kondensierte an den Aluminiumwänden des Topfes, von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen interessant. Lob weckte in ihm immer einen lästigen Ehrgeiz nach höheren Zielen. Sogar Lob, das mit einem Schuss Ironie versetzt war. Lachhaft. Welsh Rabbit war ein Kindergericht, auch wenn EasiSingles in seiner Jugend noch gar nicht erfunden worden waren, geschweige denn die kraftlosen Schaufelblätter Weißbrot, auf denen die gelben Käsequadrate gehorsam schmolzen. Ein sehr unkäsiges Gelb, das war die reine Wahrheit. Vor nicht allzu langer Zeit war er mutig in die Nationalgalerie vorgedrungen. Er war der Meinung, Männer im Ruhestand sollten versuchen, ihren durch das einengende Arbeitsleben und durch allgemeine Schrumpfung verkalkten Geist zu schärfen. Wie auch immer, er besaß die kostenlose Dauerfahrkarte für Rentner, und es erschien ihm ungehörig, sie nicht hin und wieder zu nutzen. Also fuhr er das eine oder andere Mal mit dem Bus der Linie 8 in die Stadt und gab auf der Suche nach Horizonterweiterung, ja nach Heilung, seine Einsamkeit auf. Er war durch das Labyrinth düsterer Gemälde gewandert, durch die menschenleeren Marmorsäle, eingeschüchtert, geschmälert, zum Schweigen gebracht – nach einem Rindfleischsandwich bei Bewley’s musste er sich, um zu rülpsen, diskret in eine Nische verdrücken –, und durch Zufall schließlich auf ein kleines Bild gestoßen. Auf alles, was gut ist, stößt man durch Zufall. Er mochte es wegen seiner Bescheidenheit inmitten all der großen Anstrengungen. So wie eine Menschenseele in der Welt sein sollte, bescheiden zwischen Elefanten, Galaxien. Eine Miniatur – Camille Pissarro, Sonnenaufgang über den Feldern, Eragny, 1891, besagte das Schild. Und er starrte das Bild an, empfand plötzlich heftige Dankbarkeit, sein Geist wurde von Gedanken an Frankreich und an eine französische Landschaft heimgesucht, in der er nie gewesen war, und er fragte sich, woran ihn das seltsam geschmolzene Gelb eines kleinen quadratischen Weizenfeldes erinnerte – erst am Merrion Square fiel es ihm ein. EasiSingles. Er war der Meinung gewesen, sein Horizont sei gebührend erweitert worden.

Oh, und dann weiter zu seinem eigentlichen Lieblingsort, dem Naturkundemuseum weiter oben am Square. Rippen und Knochen des Irischen Riesenhirschs, der längst nicht mehr durch Irland streifte, der Blauwal, der darüber hing, mit seinem eigenen großen Knochenkorsett, die Schmiedearbeiten der Treppe und der oberen Galerien wie das ungeheure Skelett eines noch größeren Wals, all das um ihn herum und über ihm, ein Wal im Wal also, was aus ihm einen zweifachen Jona machte – o gesegneter, geheiligter Ort.

O’Casey, der sich zu einem Magengeschwür bekannte, erhob sich, kaum dass er das Welsh Rabbit aufgegessen hatte, lehnte sich erschrocken an eine der Dekorplatten vor der Wand – man konnte sehen, wie sie ein wenig nachgab – und wandte das Gesicht ab, als habe er Schande über sich gebracht, wie ein abgestrafter Gelehrter. Mit der Rechten fuhr er sich über die Stirn, er schien zu schwitzen. »Was, was ist das?«, murmelte er in einer Orgie wachsenden Leids. Und die Rechte auf seiner Stirn flatterte elendig umher, in ständiger Bewegung, als wolle sie auffliegen, wie eine Taube mit nur einem Flügel. Danach verbrachte er eine halbe Stunde auf dem Klo – eine lange Zeit in der Toilette eines anderen Menschen. Da sich Mr Tomeltys Bauarbeiter, was die Dicke der Wände anbelangte, nicht eben ins Zeug gelegt hatten, waren seine Notlage und seine Gefechtsstellungen deutlich zu hören. Lautes Stöhnen und geradezu unflätige Proteste, und O’Casey rief seinen Gott an, ihm beizustehen. Während dieser halben Stunde, in der die Winde gegen die Burg schlugen und der Regen waagerecht gegen die Fensterscheiben prasselte, lächelte Wilson, räusperte sich und lachte hin und wieder vor sich hin, völlig entspannt und mit gut gefülltem Magen. Wieder war Tom bezaubert – er mochte es, wenn Freundschaft offen gezeigt wurde. Die beiden waren wie Soldaten in einem Schützengraben, dachte er, alles grob und geradeheraus, nacktes Menschsein. Ja, es begeisterte ihn. Sosehr er sie und ihre Worte fürchtete, in Gegenwart dieser jungen Männer fand er plötzlich wieder Grund zur Freude. Wilsons und O’Caseys Kumpelhaftigkeit, die sich jetzt am Hexenkessel oder eher am Krater der Not des einen bewies – in den Gedärmen des armen Mannes brodelte die Lava des Welsh Rabbit –, brachte Tom erneut an den Rand der Tränen. Konnte er von Liebe reden, konnte er davon reden, was einen mit Männern versöhnte? Nein, Reden war kein Charakteristikum dieses oder eines anderen Moments unter Männern, mochte es auch einige wenige Ausnahmen geben. Das musste er widerwillig akzeptieren. Stattdessen holte er eine alte Dose Magenpulver hervor, die er selbst in äußerster Not verwendet hatte, und reichte sie hinein, schob nur Hand und Dose durch die Tür, um nicht O’Caseys wichtige Privatsphäre zu verletzen. Die Dose wurde behutsam entgegengenommen, nicht ungestüm, so wie ein wohlerzogener Hund einen Bissen von den Fingern eines Menschen entgegennimmt.

Nach einer Weile gab es eine letzte Explosion, dann einen dramatischen Aufschrei, dann Stille, dann wurde feierlich der Klosettzug betätigt. O’Casey, bleich, verändert, zitternd nach seiner glücklichen Erlösung vom Schmerz, kam langsam zurück ins Zimmer. Wilson strahlte und nickte. O’Casey tat den Vorfall mit anmutiger Bescheidenheit ab. Und Tom, der sich von ihrem schönen Einklang mit einem Mal ein wenig ausgegrenzt fühlte, vielleicht eine Folge seines Alters, ging in sein Schlafzimmer, um die Luftmatratze aus dem kleinen Schrank zu holen. Er war sich sicher, dass dieser Schrank zu einem schlichten Cottage gehört hatte, ein hier in der Gegend grob zusammengezimmertes Möbel, das nie ein Geschäft gesehen hatte. Die Innenseiten der Türen waren mit Zeitungen vom August 1942 bedeckt, Anzeigen für Fascinators und Fedoras und neutral formulierte, längst überholte Kriegsnachrichten. Lektüre nur noch für vorbeikommende Spinnen und Kleidermotten und für seinen eigenen unaufmerksamen Blick. Die Luftmatratze war Winnies Bett, wenn sie zu Besuch kam, und er war es gewohnt, sie mit ihren zurechtgeschnittenen Laken und einem Federkopfkissen in eindrucksvoll besticktem Bezug auszustatten, auch dieser das Werk einer unbekannten Hand auf dem Lande. Die besten Dinge in Irland waren das Werk unbekannter Hände. Und oft auch die schlimmsten Verbrechen.

Er war sich nicht sicher, was O’Casey und Wilson mit nur einer Luftmatratze anfangen konnten, aber zur Not gab es ja immer noch die kurze Couch, und weil er in der Tat eine gewisse Panik verspürte und das Gefühl hatte, als Gastgeber zu versagen, legte er die Luftmatratze, die Laken und das Kissen zu einem kleinen Haufen zusammen und nickte, weise wie Archimedes, mit dem Kopf, als wäre allen klar, dass jeder untergebracht sei, obwohl er selbst es gar nicht glaubte. Aber er hatte sein Bestes getan, sein Bestes, und er hatte ihnen zu essen gegeben, und jetzt war er müde geworden, sehr müde, und mit ein paar letzten Worten, schlicht und abgegriffen wie alte Kupfermünzen, ging er zu seinem eigenen Schlafplatz. In der Nacht stand er, infolge seiner schwachen Blase, ein paarmal auf, ansonsten aber schlief er wie Dracula in seiner mit Erde gefüllten Kiste.

Als er gegen sechs Uhr morgens durch das strauchelnde Dunkel wieder aus seinem Zimmer kam, bereit für den Tag, sah er, dass die Luft aus der Matratze gelassen und sie wie eine große Zunge zusammengerollt worden war – er musste an Geckos denken, aber Geckos hatten doch lange, dünne Zungen, oder nicht? Das Bettzeug war akkurat gefaltet, von den Männern keine Spur zu sehen. In dieser strengen Stille eines einsamen Lebens ging er pinkeln und schüttelte ein wenig den Kopf über das Treiben des vergangenen Abends. Er konnte seine Zahnbürste nicht finden, und so gab er Colgate auf den Zeigefinger und putzte sich damit die Zähne. Rasierpinsel eingeseift, Sicherheitsrasierer. Dabei sang er wieder das alte Lied, wie man es bei der Rasur tun musste. Zupfte sich Haare aus den Nasenlöchern. Machte sich zurecht für die Geister. Er nahm an, dass sie in den lichtlosen Morgen hinausgegangen waren, um den frühen Bus in die Stadt zu erwischen, damit ihre polizeiliche Tätigkeit keine Unterbrechung erfuhr, womöglich, um sich vor Gehaltsabzug zu schützen. Wer hatte die Luftmatratze benutzt und wer die erbärmliche Couch? Er würde es vielleicht nie erfahren. Hatten sie die Berichte mitgenommen? Hatten sie. Halleluja. Sie konnten sie ja auch nicht gut zurücklassen, nein. Plötzlich war er beschämt, sehr beschämt. Er hatte sie enttäuscht, das wusste er. Er hatte den alten Mann gemimt, und das meisterhaft. Jetzt fühlte er sich wie ein Mörder, der nur eines Formfehlers wegen auf freien Fuß gesetzt wird. Jetzt fühlte er sich so erbärmlich wie die Couch. Jetzt weinte er, ernste, herzzerreißende Tränen der Schuld, die Tränen eines Feiglings, dachte er, der bei einer Feigheit ertappt wird. Er hatte ihnen nicht die Gnade erwiesen, sie seine Meinung zum Inhalt des Umschlags wissen zu lassen. Der Mühe, die sie auf sich genommen hatten, um ihn zu Rate zu ziehen, war er nicht wert gewesen. Oh, aber der weise Tom Kettle. Ja, weise. Weg mit eurem drögen Geschreibsel, eurer üblichen Polizistenprosa.

Doch wie er verblüfft feststellte, vermisste er sie auch, vermisste sie wie seine eigenen Kinder, ein großer Verlustschmerz – was völlig unlogisch war. Sie hatten schöne Stunden miteinander verbracht, trotz allem, aber das war’s auch schon. Er jedoch empfand es wie einen Trauerfall. Er hatte das Gespräch genossen. Hatte er wirklich. Ein Mysterium. Ihre Herzlichkeit und ihre Freundlichkeit. Er fragte sich, ob er das öfter tun sollte. Kontakt mit Menschen. Er war sich nicht sicher. Irgendwie war es ein verstörender Gedanke, als verrate er geschenktes Vertrauen, ein Geheimnis, aber wessen?

Und den ganzen Tag über war ihm nichts recht. Er konnte sich nicht beruhigen. Er konnte nicht »an nichts denken«, was doch sein ganzes Bestreben war. Die Berichte schwirrten in seinem Kopf umher, bettelten um Aufmerksamkeit wie Jungvögel, die mit den Flügeln flattern. Füttere uns, füttere uns, bring uns Würmer. Er hätte zu diesen Berichten viel zu sagen gehabt, vermutete er, er brauchte nicht einmal darin zu blättern, um zu verstehen, worum es ging. Trostlose Berichte über widerwärtige Anschuldigungen. Zu denen sich sein Herz und seine Seele höchstwahrscheinlich aufgeschwungen hätten, unschuldig, leidenschaftlich, töricht, so als habe einer von Daniel O’Connells riesigen Engeln unter seinem Standbild in der O’Connell Street plötzlich seine metallenen Flügel bewegt. Mit ruinöser Ungeduld und Kraft. Eine düstere Gestalt, die sich seit hundert Jahren nicht von der Stelle gerührt hatte! Selbst der arme Nelson auf seiner meergrauen Säule, der am 8. März 1966 (dieses Datum hatte sich seinem Polizistengedächtnis eingeprägt, er hatte es vermerkt) ins Jenseits gesprengt wurde, hatte diese Engel nicht aus der Ruhe gebracht.