Ein langer, langer Weg (Steidl Pocket) - Sebastian Barry - E-Book

Ein langer, langer Weg (Steidl Pocket) E-Book

Sebastian Barry

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Beschreibung

Willie Dunne ist gerade neunzehn, als er in den Krieg zieht. Von Politik versteht er nicht viel, auch von der Welt und ihrem Krieg nicht. Um wie sein Vater in Dublin Polizist zu werden, ist er nicht groß genug, aber gegen die 'Hunnen' kann die britische Armee jeden Mann gebrauchen, auch den kleingewachsenen Willie. Mit Tausenden anderer irischer Freiwilliger wird Schütze Dunne 1915 nach Flandern verschifft. Drei lange Jahre hungert, kämpft, friert und fürchtet sich Willie. Er flieht vor Giftgas, wartet auf Post von seiner geliebten Gretta, begräbt seine Freunde und seine Feinde. Für ihren Einsatz hatte Großbritannien den Iren die Selbstverwaltung versprochen. Doch während Irlands Söhne auf den Schlachtfeldern für die Krone sterben, schießen in Dublin britische Soldaten die Rebellen des Osteraufstands nieder. Mit Willie Dunne, dem Soldaten mit der schönen Stimme und dem unschuldigen Herzen, hat Sebastian Barry eine unvergessliche Figur geschaffen. In einer bilderreichen Sprache, die dem Grauen ihre poetische Kraft entgegenstellt, erzählt er die berührende Geschichte eines jungen Mannes, der sich im Niemandsland des Krieges verloren geht.

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Sebastian Barry, 1955 in Dublin geboren, gehört zu den »besten britischen und irischen Autoren der Gegenwart« (Times Literary Supplement). Er schreibt Theaterstücke, Lyrik und Prosa. Bei Steidl erschienen bisher seine Romane Ein verborgenes Leben, ausgezeichnet mit dem Costa Book of the Year Award und auf der Shortlist für den Booker Preis, Mein fernes, fremdes Land, ausgezeichnet mit dem Walter Scott Prize for Historical Fiction, Ein langer, langer Weg, auf der Shortlist für den Booker Preis, und Gentleman auf Zeit. Sein Roman Tage ohne Ende, 2018 auf Deutsch erschienen, war ein internationaler Bestseller und wurde u.a. mit dem Costa Book of the Year Award ausgezeichnet. Sein neuer Roman Tausend Monde erscheint im September 2020 bei Steidl. Sebastian Barry lebt in Wicklow, Irland.

Hans-Christian Oeser, 1950 in Wiesbaden geboren, lebt in Dublin und Berlin und arbeitet als Literaturübersetzer, Herausgeber und Autor. Er hat u.a. John McGahern, Mark Twain, Ian McEwan, F. Scott Fitzgerald, Anne Enright, Maeve Brennan und Sebastian Barry übersetzt. Für sein Lebenswerk wurde er 2010 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet und 2020 mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kulturstiftung NRW für seine Übersetzung von Sebastian Barrys Roman Tage ohne Ende.

SEBASTIAN BARRY

EIN LANGER, LANGER WEG

Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser

Roman

Steidl Pocket

Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Erster Teil

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Zweiter Teil

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Dritter Teil

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwangigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Verwendete Literatur

Anmerkungen des Übersetzers

Impressum

Für Roy Foster in Freundschaft

…………… ERSTER TEIL ……………

ERSTES KAPITEL …………………………

Er wurde geboren, als das Jahr starb.

Es waren die letzten Tage des Jahres 1896. Genannt wurde er William, nach dem längst verstorbenen Oranier-König, denn sein Vater interessierte sich für derlei abgelegene Dinge. Außerdem lebte noch ein alter Großonkel, William Cullen in Wicklow – hinter den Bergen, wie man sagte, dort, wo auch sein Vater aufgewachsen war.

Den Dubliner Droschkenkutschern, die sich in ihren schmutzigen Gabardinemänteln vor dem Round Room in der Great Britain Street zusammenscharten, peitschten die winterlichen Graupelschauer ins Gesicht. Das steinerne Antlitz des alten Gebäudes mit seinem seltsamen Schmuck aus Ochsenschädeln und Faltenwürfen blieb teilnahmslos.

Hinter den dicken grauen Mauern des Rotunda Hospital schrien die Neugeborenen. In den weißen Schößen der Krankenschwestern sammelte sich das Blut wie auf Schlachterkitteln.

Er war ein kleines Baby und würde stets ein kleiner Junge sein, dünn wie der Oberarm eines Bettlers, nichts als ein paar dürre Knochen, unfertig und ohne Fleisch.

Als er aus seiner Mutter herausgeglitten war, wimmerte er wie eine verwundete Katze, wieder und immer wieder.

Es war die Nacht eines Sturms, der kein berühmter Sturm sein würde. Dennoch riss er in dem alten Lustgarten hinter dem Krankenhaus die letzten Blätter von den königlichen Eichen und fegte seine nasse Ernte die Rinnsteine entlang, in die klaffenden Gullys und in die unbekannten Gewölbe der großen Kanalisation. Auch das Geburtsblut wurde dort hinabgeschwemmt, und die vielen Ausscheidungen der Menschen, doch bei Ringsend nahm die salzige See eins wie das andere auf.

Seine Mutter legte ihn mit jenem erschöpften Willen an die Brust, der aus den meisten Müttern Heldinnen macht. Die Väter hielten sich in sicherer Entfernung und tranken im Ship Hotel ein Bier. Das Jahrhundert war alt und schwach, die Männer aber sprachen von Pferden und Steuern. Ein Neugeborenes weiß nichts, und Willie wusste nichts, trotzdem war er wie ein Liedfetzen, ein Lichtpunkt im graupeligen Dunkel, ein Anfang.

. . .

Die Knaben Europas, die zu jener Zeit geboren wurden, Russen, Franzosen, Belgier, Serben, Iren, Engländer, Schotten, Waliser, Italiener, Preußen, Bayern, Österreicher, Türken – und Kanadier, Australier, Amerikaner, Zulu, Gurkha, Kosaken und all die anderen –, ihrer aller Schicksal stand in einem grausamen Kapitel im Buch des Lebens geschrieben. Jene Millionen Mütter und ihre Millionen Gallonen Muttermilch, Millionen Momente des Girrens und des Brabbelns, der Prügel und der Küsse, Millionen Pullover und Schuhe, von der Weltgeschichte zu riesigen Haufen aufgetürmt, begleitet von lauter, abgerissener Musik, Menschengeschichten, die für nichts und wieder nichts erzählt wurden, für Asche, für das Amüsement des Todes, jene Millionen Knaben mit ihren verschiedenen Temperamenten auf den mächtigen Schutthaufen der Seelen geschleudert – alle sollten sie zermahlen werden von den Mühlsteinen eines kommenden Krieges.

. . .

Als Willie sechs oder sieben war, kam der König von Irland aus England zu Besuch nach Irland. Der König war groß wie ein Bett. Vor der Kaserne drüben im Phoenix Park gab es eine gewaltige Truppenparade. Willie war mit seiner Mama gekommen, denn der König, groß wie ein Bett, wohlgemerkt ein Messingbett, ein Bett für zwei, wollte die versammelten Mannschaften der Dublin Metropolitan Police besichtigen. Warum auch nicht? Sie waren prächtig und schwarz wie eine Armee, wie sie so marschierten und exerzierten. Willies Vater, obgleich damals nur Inspektor, wurde auf ein großes weißes Pferd gesetzt, damit der König ihn besser sehen konnte. Auf diesem Pferd wirkte sein Vater herrlicher als jeder König, der in seinen blank geputzten Schuhen schließlich stehen musste. Er wirkte wie der Herrgott selbst, zumindest wie der vornehmste Mensch in Gottes Reich.

Noch Jahre später, bis er derart kindische Vorstellungen abgeschüttelt hatte, glaubte Willie, sein Vater reite stets auf dem weißen Pferd zur Arbeit, aber das war natürlich nicht der Fall.

. . .

Was für eine Singstimme er hatte! Seine Mutter, eine ziemlich derbe Frau, eine von den Cullens und Tochter des Holzfällers auf Gut Humewood in Wicklow, hatte ihre helle Freude daran. Sie setzte ihn auf einen Stuhl und ließ ihn singen, wie eine Frau singen mochte, und er warf den kleinen Kopf zurück und sang ein Lied, aus der Gegend von Wicklow vielleicht, und vor ihrem geistigen Auge sah sie hundert Dinge aus ihrer Kindheit, Flüsse, Wälder, und in diesen Minuten fühlte sie sich wieder wie ein Mädchen, lebendig, atmend, vollkommen. Und wunderte sich insgeheim über die Macht bloßer Worte, jener Dingerchen, die man im Mund umherrollte, über die Macht der Worte, wenn sie auf der Perlenschnur eines Liedes aufgereiht waren, darüber, wie sie hundert verschwundene Szenen, vergangene Gesichter, verlorene Augenblicke menschlicher Liebe heraufzubeschwören schienen.

In Wahrheit war sein Vater ein dunkler Polizist in dunkler Uniform. Jeden Abend seines Lebens wurde Willie Dunne in einer Emaillewanne gewaschen, die im Wohnzimmer vor dem großen Kaminfeuer stand. Und jeden Abend pünktlich um sechs kam sein Vater herein, griff sich den nassen kleinen Jungen und hob ihn an seine Brust, dort, wo die Silberknöpfe saßen, und Willie, noch feucht vom Bad, schmiegte sich an ihn an wie ein Krümel, wie eine Taube ohne Gefieder, seine Mutter reckte sich mit dem Handtuch in die Höhe, um ihn abzutrocknen, und immer runzelte sein Vater – eins achtundneunzig groß – die Stirn und sagte, was für einen ausgezeichneten Polizisten er eines Tages abgeben werde, was für einen ausgezeichneten Polizisten.

Und Jahr für Jahr nahm sein Vater Maß, stellte ihn neben dem alten marmornen Kamin an die Tapete, balancierte einen Band Noten, Die Zigeunerin und andere volkstümliche Opern, auf seinem Kopf und markierte sein Wachstum mit dem Stummel eines offiziellen Polizeibleistifts.

Und dann war Willie endlich zwölf und ein richtiger Junge. Und im Haus in Dalkey wurde seine jüngste Schwester Dollie geboren, und seine Mutter kam dabei um. Und dann gab es nur noch seinen Vater und die drei Mädchen und ihn, und 1912, es war im Winter jenes Jahres, ging es schließlich ab ins Dublin Castle, und die Erinnerung an seine Mutter war wie ein düsteres Lied, das ihn, wenn er allein im Bett lag, zum Weinen brachte, obwohl er stark war und immerhin schon sechzehn. Und wenn seine Schwestern kochten, verwandelten sich die Dämpfe auf den frostigen Scheiben der alten Fenster in Tränen.

Und dann war da noch etwas, das ihn heimlich zum Weinen brachte, sein »schändlicher« Wuchs, wie sein Vater es inzwischen nannte.

Inzwischen wuchs er nämlich nur noch im Schneckentempo, und sein Vater hörte auf, ihn an die Tapete zu stellen, so bekümmert waren sie beide, denn es war sonnenklar, dass Willie Dunne niemals die Eins-achtzig-Marke erreichen würde, die vorgeschriebene Größe für Polizeirekruten.

Willie verfluchte seine Knochen, seine Muskeln, sein Herz und seine Seele, weil sie unnütz und enttäuschend waren, und kurz darauf wurde er Lehrling bei Dempsey, dem Bauunternehmer, was sich letzten Endes als unerwartet angenehm herausstellte und Willie heimlich Freude machte. Denn es war eine Freude, an einem Gebäude zu arbeiten und nach den Regeln der Schwerkraft Stein auf Stein zu setzen.

. . .

Gretta war das Geheimnis, das er seinem Vater vorenthielt, so sehr liebte er sie. Er war ihr durch Zufall begegnet. Während der schrecklichen Aussperrung 1913 hatte sein Vater als ranghöchster Polizist in der B-Division der Dublin Metropolitan Police die Aufgabe gehabt, in den Straßen Dublins für Ordnung zu sorgen. Als der Arbeiterführer James Larkin eine Rede hielt, hatte sein Vater den Schlagstockeinsatz gegen die in der Sackville Street versammelte Menschenmenge befehligt.

Mit diesen Schlagstöcken war auf viele Köpfe eingeprügelt worden. Und tatsächlich waren einige DMP-Beamte, denen man die Knüppel entrissen hatte, mit ihren eigenen Waffen geschlagen worden. Insgesamt aber war die Regierung der Ansicht, dass die Polizei sich tapfer verhalten und den Sieg davongetragen habe.

Einer der verprügelten Bürger war ein Mann namens Lawlor, den Willies Vater vom Dublin Castle her kannte, wo er als Fuhrmann arbeitete. Lawlors Kopf war ziemlich übel zugerichtet worden, und Willies Vater hatte versucht, es wiedergutzumachen, indem er abends mit Äpfeln und dergleichen zu ihm kam, doch Lawlor war sehr aufgebracht und redete kaum mit ihm. Dabei trug der Polizist, um Lawlors Gefühle zu schonen, einen gewöhnlichen Anzug und gab sich also ganz unauffällig. Mr Lawlor war jedoch ein leidenschaftlicher Parteigänger Larkins. Der alte Polizeibeamte konnte sich eine solche Möglichkeit nicht einmal vorstellen und fuhr monatelang fort, um die Freundschaft des Mannes zu werben. Warum ausgerechnet der es sein musste, verstand Willie nicht, es sei denn, es war eine Frage gutnachbarlicher Beziehungen, für einen Mann aus Wicklow eine Sache von großer Bedeutung.

Inzwischen war Willie schon fast siebzehn, und wenn sein Vater von Gewissensbissen geplagt wurde, jedoch zu beschäftigt war, um Lawlor persönlich aufzusuchen, wurde Willie hingeschickt. Das erste Mal gab er ihm zwei Fasane mit, die auf Gut Humewood geschossen worden waren und die der alte Gutsverwalter, Willies Großvater, seinem Sohn ins Stadtschloss hatte liefern lassen. Mr Lawlors Räume befanden sich in einem Mietshaus unterhalb der Christ Church Cathedral, sodass Willie es nicht weit hatte. Dennoch trug er die beiden Vögel mit unerklärlichem Schamgefühl. Dabei lachten ihn am Ende nicht einmal die spottlustigen Dubliner Straßenjungen aus.

Als er zu dem Haus kam, war Mr Lawlor nicht da. Willie ging aber trotzdem zu seinem Zimmer, in der Absicht, die Vögel dazulassen. Sie hatten ein wunderschönes Federkleid, diese Fasanenmännchen, Federn, wie man sie für gewöhnlich am Hut der Gemahlin – oder der Geliebten – des Vizekönigs sah. Willie genoss die Skandalgeschichten, die Dempseys Angestellte erzählten, wenn sie morgens um sechs auf einer Baustelle gemeinsam ihr Frühstück verzehrten, herrliche Würstchen, heißen Tee und die brühwarmen Skandale des Tages. Wie jeder andere Junge wurde er von Verlangen gequält, er versuchte, der endlosen Erektion seiner sechzehn Jahre Benimm beizubringen, und das Gelächter und die leidenschaftlichen Enthüllungen der Männer entzückten ihn sehr.

Durch eine verschmutzte, stark zerkratzte Tür trat Willie in ein altes Zimmer mit hoher Decke. An den Rändern war die Decke mit Musikinstrumenten aus Gips verziert, Violinen und Celli und Trommeln und Flöten und Querpfeifen, denn vor langer Zeit einmal war es das Musikzimmer eines bedeutenden protestantischen Bischofs gewesen, der mit der Kathedrale zu tun gehabt hatte. Am Ende des Zimmers stand ein kunstvoller marmorner Kamin, von Feuchtigkeit und Ruß gelb wie ein Hühnerfuß. Damit die Bewohner ungestört und für sich sein konnten, war das Zimmer hier und da von langen aneinandergenähten Lumpen unterteilt. Tatsächlich wohnten vier Familien in dem Zimmer, und jede Abteilung war ein abgetrenntes Königreich.

Und in einem dieser Königreiche erblickte er zum ersten Mal seine Prinzessin, Gretta Lawlor, die wahrhaftig eine der Schönheiten der Stadt war, das ließ sich nicht leugnen. Dublin hatte viele Schönheiten vorzuweisen, so mager und mittellos sie einem auch vorkommen mochten. Sie aber zählte zu den allerschönsten, obwohl sie sich dessen natürlich nicht bewusst war.

Sie saß an einem Fenster und schrieb etwas auf einen Zettel, aber er fand nie heraus, was sie da schrieb. Beim Anblick ihres Gesichts wurde ihm flau im Magen, und beim Anblick ihrer Arme und Brüste versagten ihm seine Beine fast den Dienst. Sie hatte das eigentümliche Aussehen eines Mädchens auf einem alten Gemälde, denn das Licht fiel auf ihr Gesicht. Es war ein wohlgeformtes, reizendes Gesicht, und sie hatte langes blondes Haar, wie etwas, das im Fallen aufgefangen wurde. Bei der Arbeit, wenn sie denn Arbeit hatte, band sie es vielleicht zusammen und steckte es hoch. Hier jedoch, in dem alten Zimmer, wo sie allein und ungestört war, glänzte es im Schein des intimen Lichts. Ihre Augen waren grün wie die Schrift auf einem Straßenbahnfahrschein. Ihre Brüste in dem weichen blauen Leinenkleid waren klein, schmal und ungeheuer spitz. Beinahe wäre er ohnmächtig geworden, denn dergleichen hatte er noch nie gesehen. In der Dunkelheit hielt er die Fasane in die Höhe und bemerkte zum ersten Mal, dass sie einen sonderbaren Geruch verströmten, als hätten sie zu lange abgehangen und fingen nun an zu verwesen. Damals war Gretta erst dreizehn.

Wie er so dastand, kam ein Mann herein und schob sich an ihm vorbei in die abgeteilte Zimmerecke. Er trug einen langen, schwarzen, fadenscheinigen Regenmantel. Der Mann legte sich auf eins der wackligen Betten und schwang müde die Füße hinauf. Dann erst schien er Willie zu bemerken.

»Was willst du, Söhnchen?«, fragte er.

»Die soll ich Mr Lawlor bringen«, antwortete Willie.

»Von wem sind sie?«, fragte der Mann.

»Von meinem Vater, James Dunne.«

»Vom Chief Superintendent im Stadtschloss?«

»Dann sind Sie also Mr Lawlor?«

»Willst du die Narbe an meiner Birne sehen?«, fragte der Mann und lachte nicht unbedingt liebenswürdig.

»Kann ich sie irgendwo ablegen?«, fragte Willie unsicher.

»Dann bist du also sein Sohn?« Vielleicht war dem Mann sein kleiner Wuchs aufgefallen.

»Der bin ich«, sagte Willie, und da wusste er, dass das Mädchen ihn ansah. Er richtete den Blick auf sie, und sie lächelte. Aber vielleicht war es ein spöttisches oder schlimmer noch: ein mitleidiges Lächeln. Bestimmt glaubt sie, ich sei zu klein, um Sohn eines Polizisten zu sein, dachte er. Damals hoffte er immer noch darauf, einen letzten Wachstumsschub zu erleben. Aber das konnte er ihr nicht sagen.

»Und was hältst du davon, Söhnchen, dass die Bullen über Passanten herfallen und ihnen die Seele aus dem Leib prügeln?«

»Ich weiß nicht, Mr Lawlor.«

»Das solltest du aber. Du solltest eine Meinung haben. Es kümmert mich nicht, was ein Mann denkt, solange er seinem eigenen Kopf folgt.«

»Das sagt mein Großvater auch immer«, erwiderte Willie und rechnete damit, wegen seiner Worte verspottet zu werden. Aber die Antwort fiel nicht spöttisch aus.

»Das ist der Fluch, der auf der Welt liegt: Leute, die keine anderen Gedanken haben als solche, die man ihnen eingeflößt hat. Es sind nicht ihre eigenen Gedanken. Sie sind wie Kuckuckseier im Kopf. Ihre eigenen Gedanken werden aus dem Nest geworfen, stattdessen werden ihnen Kuckucksgedanken hineingelegt. Meinst du nicht auch? Wie heißt du?«

»William.«

»Nun, William, meinst du nicht auch?«

Aber Willie Dunne wusste nicht, was er sagen sollte. Er spürte die Augen des Mädchens auf sich.

»Ja«, sagte der Mann, »falls Gretta hier, meine Tochter Gretta, morgen mit irgendeinem jungen Burschen, sagen wir: mit dir, nach Gretna Green durchbrennen sollte, würde ich sie, wenn sie zur Tür hinausginge, fragen: ›Gretta, folgst du deinem eigenen Kopf?‹, und falls die Antwort ja wäre, würde ich sie nicht aufhalten können. Vielleicht würde ich sie aufhalten wollen, aber ich würde es nicht können. Und vielleicht würde ich dich prügeln, nur um des Prügelns willen. Falls es aber nur ein Floh ist, den ihr jemand ins Ohr gesetzt hat, du zum Beispiel, na, dann würde ich ihre Beine am Fußboden festschrauben.«

Für Willie und, wie er glaubte, für jeden anderen in seiner augenblicklichen Lage war das eine eigenartige, eine unangenehme Rede. Und so sehr es ihm widerstrebte, sich von dem Mädchen zu entfernen, sehnte er sich doch danach, sich von Mr Lawlor zu entfernen.

Aber Mr Lawlor hatte aufgehört zu reden und die Augen geschlossen. Er hatte einen buschigen schwarzen Schnurrbart, und sein Gesicht war lang und schmal.

»Muttergottes«, sagte er.

»Schon gut«, sagte das Mädchen. Sie hatte eine leise, höchst anziehende Stimme, dachte Willie. »Leg die Vögel dahin. Ich werd sie für ihn kochen.«

»Ich will die Vögel nicht«, sagte Mr Lawlor. »Und ich will auch nicht seine Gläser mit Lammeintopf, seine Marmeladen und seine – Weißt du, William, dass dein Vater mir letzte Woche ein lebendes Hühnchen geschickt hat? Solange ich lebe, werde ich keinem Huhn den Hals umdrehen. Ich hab’s einer Dame verkauft, für einen Schilling, weil ich nicht mit ansehen konnte, wie das Geschöpf verhungert, Himmel noch eins.«

»Er versucht doch nur, es wiedergutzumachen. Sie sind sein Nachbar«, sagte Willie. »Es hat ihm nicht gefallen, dass ein Nachbar auf den Kopf geschlagen wird.«

»Aber er war’s doch selbst, der mich auf den Kopf geschlagen hat. Na ja, nicht er selbst, aber einer von seinen Burschen. Wilde, große, fiebrig aussehende Kerle mit großen schwarzen Stöcken, die Funken aus meinem Schädel geschlagen haben. Da siehst du’s – folgt er etwa seinem eigenen Kopf? Folgt er dem? Wenn er ihm folgen würde, könnte er einen Mann verprügeln, ohne lange zu fackeln. Und über die vier Männer, die an dem Tag umgekommen sind, würde er sich vermutlich auch keine großen Gedanken machen.«

Willie Dunne stand da, wie betäubt von diesen Wahrheiten.

»Ich bin ein elender alter Soundso, was?«, sagte Mr Lawlor. »Stimmt’s, Gretta? Kann’s mir schon denken. Leg deine Vögel hin, Söhnchen, und danke dir. Aber deinem Vater danke nicht. Sag ihm, ich hätte sie aus dem Fenster auf die Straße geworfen. Sag ihm das, William.«

Vier Männer, die an dem Tag umgekommen sind. Der Satz saß wie eine Ratte in Willies Kopf und baute sich dort ein Nest.

. . .

Obwohl Mr Lawlor protestiert hatte, erhielt er in der darauf folgenden Zeit weitere Köstlichkeiten, und Willie überbrachte sie im Namen seines Vaters. Wegen des Hiebs auf den Kopf hatte Mr Lawlor seine Anstellung als Fuhrmann verloren; sein Arbeitgeber war der Ansicht, ein Mann, der in der Sackville Street agitiert habe, müsse gefährlich sein. Während der Aussperrung hatten Tausende ihre Stelle eingebüßt, und als sie beendet war, gelang es den wenigsten, sie wiederzubekommen. Mr Lawlor war also nur einer von vielen. Und wie viele andere trat er in die Armee ein, um sich sein Brot zu verdienen. Seinen Sold schickte er Gretta. So war er tagelang fort, und obwohl sich in den anderen Teilen des Zimmers Frauen aufhielten, die ein Auge auf sie hatten, war es nun leichter für Willie, Gretta zu besuchen und mit ihr zu reden. Und sie redeten über alles, was es in ihren Köpfen an Beredenswertem gab.

Von einem Instinkt geleitet, verheimlichte er dies alles seinen Schwestern, und zweifellos war das ein guter Instinkt, denn in Wahrheit war Gretta Slumbewohnerin, und Willie wusste, was Maud und besonders Annie von solchen Dingen hielten. Sie würden es sofort seinem Vater erzählen. Und das wollte er nicht. Und damit alles ganz normal und schicklich wirkte, beschränkte er sich darauf, sie nur dann zu besuchen, wenn sein Vater ihn mit einem Päckchen oder mit einem kleinen Stück Rindfleisch losschickte. Aber er vermutete, dass es so normal und schicklich nun auch wieder nicht war. Er war in Gretta verliebt, so wie ein armer Schwan in die Liffey verliebt ist. Der Schwan kann von dem Fluss nicht lassen, ganz gleich, wie oft die Dubliner Rotzlöffel sein Nest mit Steinen bewerfen. Ihre Stimme klang wie Musik in seinen Ohren, ihr Gesicht war reines Licht und ihr Körper eine Stadt aus Gold.

Eines Tages fand er sie schlafend vor. Zwei Stunden lang saß er auf einem kaputten Stuhl und sah zu, wie sie atmete, wie die zerschlissene Bettdecke sich hob und senkte, wie ihr Gesicht träumte. Die Decke glitt herab, und er sah ihre weichen Brüste. Am Denkmal für Daniel O’Connell gab es Engel. Sie war nicht wie diese, aber er fand, dass sie wie ein Engel aussah, zumindest so, wie ein Engel aussehen sollte. Es war, als zeige man ihm das Herz der Welt, so viel Schönheit an einem so schäbigen Ort. Das Wetter draußen vor dem Fenster war scheußlich, dichter Hagel durchbohrte das Dunkel mit einer Million Nadeln. Er liebte sie so sehr, dass er weinte. So also stand es um Willie Dunne, und vielleicht waren das etwas, was ihm nur weggenommen werden konnte.

. . .

Als er siebzehn war und sie fast fünfzehn, hatten sie beide Väter nahezu ein Jahr lang an der Nase herumgeführt. Gretta war ein äußerst klar denkender Mensch, und als sie Willie zum ersten Mal sah, wusste sie, dass er für sie bestimmt war, so jung sie auch sein mochte. Von nun an bestand ihre Welt aus dem, was vor Willie war, und dem, was sich nach ihrer Begegnung mit Willie ereignete, so wie die Jahrhunderte in die Zeit vor und die Zeit nach Christus eingeteilt werden.

Vielleicht war es nur Zufall, dass er sie nie geringschätzig behandelte oder schwer kränkte, obwohl sie sich streiten konnten wie die Kesselflicker. Mit seinen Erektionen war sie sicher nicht so beschäftigt wie er.

»Ach, ihr Jungs seid doch alle gleich«, sagte sie.

Ihr Vater wollte versuchen, sie in einem der Häuser am Merrion Square in Dienst zu geben, und falls ihm das nicht gelänge, sie zu einer guten Familie aufs Land schicken. Vielleicht hätte er es schon längst getan, aber er hatte sie lieb, und seine Frau war viele Jahre zuvor an galoppierender Schwindsucht gestorben. Im Gänsedaunenbett hatte sie sich neben ihm in ein nasses, dürres Stöckchen verwandelt. Und er hatte keine andere Gefährtin in dieser Welt.

Was Willie betraf, so wollte er als Bauarbeiter bei Dempsey reich werden und sie heiraten. Er hatte das Gefühl, ihren Vater für sich gewinnen zu können, wenn die Zeit gekommen wäre.

Doch dann kam plötzlich eine ganz andere, eine sonderbare Zeit, die Zeit des Krieges, und gegen Grettas Wunsch wollte er in den Krieg ziehen.

Es fiel ihm schwer, ihr zu erklären, weshalb, denn er konnte er es ja selbst nicht in Worte fassen. Er sagte, er müsse gehen, weil er sie liebe; in Belgien gebe es Frauen wie sie, die von den Deutschen umgebracht würden, wie könne er das zulassen? Gretta verstand ihn nicht. Er sagte, auch seinem Vater zuliebe wolle er gehen. Das verstand sie zwar, hielt es aber für einen ziemlich armseligen Beweggrund. Er sagte, ihr eigener Vater stehe jetzt schon im Kampf, aber sie wies ihn darauf hin, dass ihr Vater Teil der Garnison im Curragh war, sie glaube nicht, dass man ihn nach Frankreich schicken werde.

Er aber sagte, dass er sein Scherflein beitragen müsse, und wenn er heimgekehrt sei, werde er seine Entscheidung im Nachhinein nicht bereuen, sondern überaus zufrieden sein, weil er seinem eigenen Kopf gefolgt sei.

»Dein Pa hat selbst gesagt, wir müssen unserem eigenen Kopf folgen«, meinte er.

»Das hat er doch nur aus einem kleinen Buch, in dem er immer liest. Thomas von Aquin, Willie. Das ist alles«, sagte sie.

ZWEITES KAPITEL …………………………

Willie Dunne war nicht der Einzige. In der Zeitung las er, dass Männer, die nur Gälisch sprachen, ins schottische Tiefland kamen, um sich freiwillig zu melden. Männer von den Aran Islands, die sich nur auf Irisch verständigten, ruderten hinüber nach Galway. Internatsschüler aus Winchester und Marlborough, Jungs von der Catholic University School, vom Belvedere College und vom Blackrock College in Dublin. Prinzipienfeste Kritiker der irischen Selbstverwaltung aus den regnerischen Grafschaften Ulsters wie auch Katholiken aus dem Süden – in Sorge über die belgische Nonne und das belgische Kind. Überall in der britischen Welt notierten die Anwerber Namen in hundert Sprachen, in tausend Dialekten. Suaheli, Urdu, Irisch, Bantu, die Schnalzsprachen der Buschmänner, Kantonesisch, Australisch, Arabisch.

Er wusste, es war Lord Kitchener selbst, der dazu aufgerufen hatte, sich freiwillig zu melden. Und in Woodenbridge, unten in Wicklow, hatte John Redmond, der Wortführer der Iren, den Aufruf wiederholt. Die Irish Times hatte ausführlich darüber berichtet. Während er sprach, floss unter ihm ein wilder kleiner Bach, um ihn her toste die wunderschöne Landschaft mit ihren Waldtauben und ihrem fröhlich hüpfenden Wasser, denn er hielt seine Rede in einer Schlucht. Das Parlament in London habe versprochen, Irland nach dem Ende des Krieges die Selbstverwaltung zuzugestehen, daher, so John Redmond, sei Irland im Grunde genommen zum ersten Mal seit siebenhundert Jahren ein eigenständiges Land. So könne Irland im sicheren Bewusstsein des feierlich gegebenen Versprechens der Selbstverwaltung endlich – fast – als Nation in den Krieg ziehen. Die Briten würden ihr Versprechen halten, und Irland müsse großzügig sein Blut vergießen.

Natürlich traten die Männer Ulsters aus dem entgegengesetzten Grund und mit dem entgegengesetzten Ziel in die Armee ein. Seltsam vielleicht, aber so war es. Sie traten ein, um die Selbstverwaltung zu verhindern – sagte sein Vater in glühendem Einverständnis. Und auch im Süden empfanden damals viele so. Es war ein einziges dunkles Labyrinth der Absichten.

Willie las von diesen Dingen im Beisein seines Vaters, denn sie hatten die Gewohnheit, abends gemeinsam die Zeitung zu lesen und die verschiedenen Artikel zu kommentieren, beinahe wie ein Ehepaar.

In den vier Wänden seiner Dienstwohnung im Dublin Castle vertrat Willie Dunnes Vater die Ansicht, Redmonds Rede sei die Rede eines Schurken. Obwohl Katholik, war Willies Vater Freimaurer, noch dazu Mitglied der Loge von Süd-Wicklow. Ein Mann müsse für König, Vaterland und Empire kämpfen, sagte er, dachte aber nicht im Traum daran, dass sein Sohn Willie schon so bald losziehen würde.

Die Eins-achtzig-Marke erreichte Willie nie. Wie stolz war er jetzt, zum Anwerber gehen zu können, der sein Büro bequemerweise gleich hinter dem Schlosshof hatte, und sich verpflichten zu lassen, ohne dass seine Körpergröße von Belang war. Denn wenn er auch nicht Polizist werden konnte, Soldat werden konnte er allemal.

Doch als er an jenem Abend nach Hause kam und es seinem Vater erzählte, liefen in der Dunkelheit Tränen über das große, breite, bestürzte Gesicht des Polizisten.

Und dann zündeten seine drei Schwestern Maud, Annie und Dolly die Kerzen im Wohnzimmer an. Sie alle fühlten sich als Teil des gewaltigen Unternehmens, weil Willie dabei sein würde, und waren stolz und aufgeregt, auch wenn es höchstens ein paar Wochen dauern mochte, denn die Deutschen galten als mörderische Feiglinge. Damals war Dollie noch ein kleines Ding, das kreischend und singend im Wohnzimmer umherrannte, bis ihre älteste Schwester Maud die Geduld verlor und sie anbellte, endlich damit aufzuhören. Da fing Dolly hemmungslos zu weinen an, und wie er es tausend Mal zuvor getan hatte, nahm ihr Bruder Willie sie auf den Arm, tröstete sie und küsste sie auf die Nase, was sie besonders gernhatte. Sie hatte keine Mutter, aber damals hatte sie Willie, um sich ein bisschen bemuttern zu lassen.

. . . . . . . . . . . . . . . .

Royal Dublin Fusiliers . Ausbildungseinheit

Fermoy . County Cork . 14. Dezember

Lieber Papa,

bitte danke Maud für die lange Unterhose, die sie mir zu meinem Geburtstag geschickt hat. Genau das Richtige, um sich das trübe Wetter vom Leib zu halten. Gestern hat man uns einen Gewaltmarsch von zwölf Meilen gegönnt, und wir kennen die Landstraßen um Fermoy jetzt besser als jeder Postbote. Aber sag Dolly, dass das Leben in der Armee nicht so anstrengend ist wie die Schule! Ich hoffe, sie kommt gut voran in der zweiten Klasse. Bis Weihnachten hoffen wir den letzten Schliff zu erhalten. Und dann werden wir bestimmt nach Belgien geschickt, in den Krieg. Viele von den Männern hatten schon Angst, bis dahin wäre alles vorbei, aber unser Kompaniefeldwebel lacht immer, wenn er das hört. Er sagt, die Deutschen sind mit uns noch lange nicht fertig, und wir sollen zusehen, das wir alles über das Soldatenleben lernen, was wir können. Er lässt uns mit den Armen herumfuchteln wie die armen Irren in der Dubliner Irrenanstalt. Wir müssen in strohgefüllte Säcke stechen, aber mit nachgemachten Bajonetten, denn echte haben wir noch nicht. Mein Freund Clancy sagt, wir haben Glück, dass nicht auch die Verpflegung nachgemacht ist. Mein Freund Williams sagt, er ist sich nicht so sicher, ob sie das nicht ist. Ich denke oft an den Gesangswettbewerb vor ein paar Jahren in dem Saal hinter der Prussia Street, damals hast Du im Publikum gesessen. Und ich sollte das »Ave Maria« von Schubert singen, aber ich hatte die beiden Strophen separat gelernt und das komische Zwischenspiel auf dem Klavier bis dahin noch nie gehört. An der Hürde bin ich gescheitert. Ich weiß nicht, warum ich dauernd daran denken muss! Ich frage mich, wie es den anderen Jungs bei Dempsey wohl geht und was sie gerade bauen. Es ist jetzt sechs Uhr, und ich nehme an, Maud bereitet gerade das Abendessen vor. Annie wird ihr dabei helfen, aber Dolly wird wieder Dummheiten machen. Dolly, Dolly, du Frechdachs, ich bring dich um. Das ruft Maud! Ich höre jetzt auf, Papa. Ich wünschte, ich könnte die Würstchen probieren, die bestimmt gerade in der Pfanne brutzeln. Ich vermisse mein Zuhause sehr.

Dein Dich liebender Sohn

Willie

. . .

Es kam die Zeit, da die neuen Rekruten sich in etwas verwandelten, woran sie schon nicht mehr geglaubt hatten: in schmucke, vollendete Soldaten, auch wenn sie noch keine Schlacht erlebt hatten.

Inzwischen war Weihnachten vorbei, das neue Jahr hatte begonnen, und den Krieg gab es noch immer. Sie hatten sich an die neue Zahl 1915 auf ihren Formularen und Zetteln gewöhnt und das alte Jahr, wie es der unbekümmerten Denkweise junger Männer entsprach, zusammen mit all den anderen Jahren schon hinter sich gelassen. Alle hatten die Geschichten von den Burschen auf beiden Seiten gehört, die zu Weihnachten aus ihren Schützengräben stiegen und gemeinsam sangen, ein bisschen Fußball spielten, Blutwürste und Plumpudding tauschten und sangen, und jetzt wussten alle, dass Silent Night auf Deutsch »Stille Nacht« hieß. Es hörte sich also nicht gar so schlimm an, auch wenn in ihrem Regiment Hunderte verreckt und viele von den widerwärtigen Hunnen gefangen genommen worden waren.

Das Schwierigste in der Kaserne war, ein ruhiges Plätzchen zu finden, wo er masturbieren konnte, denn wenn er nicht masturbierte, dachte Willie, würde er ganz sicher explodieren – heftiger als jede Bombe. Das jedenfalls war die größte Schwierigkeit.

Stille Nacht, heilige Nacht … Eigentlich hörte es sich doch gar nicht so schlimm an.

Zu Willies großer Freude sollten sie am North Wall in Dublin in See stechen, und seine Familie konnte ihm zum Abschied vielleicht noch zuwinken. Mit dem Zug wurden sie von Cork nach Dublin verfrachtet, und vom Bahnhof dort ließ man sie zum Schiff marschieren. Und tatsächlich, die Straße zum North Wall war von Gesichtern gesäumt wie von tausend Pusteblumen. Aus den Seitengassen kamen kleine Rotznasen gelaufen und riefen ihnen Gott weiß was nach.

Er suchte die Menschenmenge nach seiner Gretta ab. Gretta, das Geheimnis, das er seinem Vater vorenthielt, so sehr liebte er sie.

Er konnte sie nirgendwo sehen. Aber die Mädchen in ihren Kleidern und hübschen Mänteln winkten ihm zu, und die Soldaten, große, magere und kleine, warfen sich in die Brust vor lauter Aufregung. Auf dem ganzen Weg, vom Bahnhof, die Liffey entlang und durch die Hafenanlagen, wurde ihnen zugejubelt. Es hatte den Anschein, als ließen alle diese Dubliner sie herzlich gern ziehen. Sie wirkten stolz.

Annie, Maud und Dolly hatten ihm gesagt, sie würden beim Denkmal für Daniel O’Connell stehen, auf dem ersten Sockel unter den Engeln, er dürfe nicht vergessen, zu ihnen hinüberzublicken, wenn er die Brücke überquere.

Sie marschierten, als wären sie darin große Experten, und tatsächlich hatte man sie in Fermoy schließlich doch noch gedrillt und geschliffen. Aus Langeweile war Können geworden. Sie blieben mit ihren Stiefeln im Gleichschritt und hielten sich straff, konnten es sich aber nicht verkneifen, auch ein kleines bisschen anzugeben. Immerhin waren sie Soldaten, die sich für die Dauer des Krieges freiwillig verpflichtet hatten.

Lange würde das natürlich nicht sein. Sie konnten von Glück reden, wenn der Krieg bei ihrem Eintreffen in Frankreich noch nicht zu Ende war.

Jeder hoffte, noch ein paar Kampfhandlungen zu erleben, bevor sie siegreich nach Hause geschickt würden.

Die Männer marschierten in dem Bewusstsein, dass sie ein bisschen Geld bekamen und die Mägen ihrer Brüder und Schwestern nicht leer bleiben würden. In ein spezielles Buch konnte man eintragen oder von einem Offizier eintragen lassen, wem der Sold zugeschickt werden sollte, wenn man ihn nicht für sich behalten wollte. Und junge Ehefrauen würden jetzt finanzielle Unterstützung bekommen, um gegen schlechte Zeiten gewappnet zu sein und sich über Wasser halten zu können.

Aber von seinen Schwestern war nichts zu sehen oder zu hören. Später schrieb ihm Maud, Dolly habe sich geweigert, mitzukommen. Mehr noch, sie habe sich geweigert, auffindbar zu sein, und sich im Labyrinth ihrer Unterkunft im Stadtschloss versteckt. Eine halbe Stunde hatte es gedauert, bis sie sie im großen Kohlenkeller fanden, wo sie weinte und weinte. Und dann war es zu spät, um noch aufzubrechen. Oh, sie hatten sie gefragt, was ihr denn fehle und warum sie die Frechheit besessen habe, einfach davonzulaufen. Sie könne nichts dafür, hatte sie geantwortet. Wenn sie zusehen müsste, wie ihr geliebter Willie in den Krieg zieht, würde sie sterben.

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Es war ein eigenartiges England, durch das sie da fuhren. Nicht das England der Geschichten und Legenden, sondern das echte, einfache Land. Willie hatte diese Orte noch nie selbst besichtigen können. Jetzt musste er sie so sehen, wie sie sich ihm durch das helle Fensterglas eines Truppenzuges zeigten.

Auch in den kleinen Dörfern und Städten strömten die Leute herbei, um seinem Zug, genau seinem Zug, zuzujubeln. Sie lüfteten die Hüte und lächelten. Sogar bei Tagesanbruch kamen die verschlafenen Einwohner herausgelaufen. Die jungen Soldaten waren alle recht müde, und so nahmen sie es als willkommene Aufmunterung. Mit einiger Verbitterung verkündete Schütze Williams, das alles seien nur Leute, die ihre eigenen Wege gingen und sich vermutlich genieren würden, beim Anblick von Soldaten nicht zu jubeln. Williams war ein hochgewachsener, sanft aussehender Mann mit abstehenden Haaren, gelb wie Goldlack.

»Die wissen bestimmt nicht, dass wir Iren sind«, sagte er.

»Und wenn sie es wüssten, würden sie dann nicht so laut jubeln?«, fragte Willie Dunne.

»Ich weiß nicht«, sagte Schütze Williams. »Wahrscheinlich denken sie, wir sind kleine Burschen aus den Kohlegruben von Wales. Klar, weil sie dich hier sitzen sehen, Willie. Die denken, wir sind alle Liliputaner.«

»Die denken, wir sind vom Zirkus. Ein ganzes Bataillon Freunde vom Zirkus, wetten?«, sagte Clancy. Trotz der Ausbildung war er genauso pummelig wie an dem Tag, als er in die Kaserne gekommen war, und so vertrauensvoll wie ein Rotkehlchen im Winter.

»Man kann die Größe eines Mannes nicht erkennen, wenn er sitzt«, sagte Willie friedfertig.

»Da sagt Maisie aber was ganz anderes!«, meinte Schütze Clancy. Clancy kam irgendwo aus Süd-Dublin.

»Ich glaube nicht, dass es da, wo du wohnst, jemanden gibt, der Maisie heißt«, sagte Williams. »Da heißen sie doch alle Winnie oder Annie!«

Willie Dunnes mittlere Schwester hieß Annie, insofern konnte er die freundschaftliche Beleidigung nicht ganz nachvollziehen. Aber vielleicht war es ja eine Anspielung aufs Landleben, dachte er.

»Ach was«, sagte Clancy. »Ist doch nur so’n Sprichwort. Ich hab nur Augen für Maisie – die backt den Rosinenkuchen. Hast du das nie gehört, Johnnie?«

»Was zum Teufel soll denn das bedeuten?«, fragte Williams.

»Kann ich dir nicht sagen. Ein Sprichwort soll gar nichts bedeuten. Es soll – verdammt noch mal, was soll es, Willie?«

»Himmel, frag mich doch nicht«, sagte Willie Dunne.

»Zu viele Köche verderben den Brei«, sagte Clancy unmotiviert.

»Eigener Herd ist Goldes wert«, sagte Williams.

Zum tausendsten Mal sah Willie seine drei Schwestern vor sich, wie sie in der Speisekammer herumwuselten. Annie schlüpfte unter Mauds Ellbogen hindurch, und Dolly schlüpfte unter aller Ellbogen hindurch. Und seinen Vater, der ihnen vom vorderen Zimmer her zurief, einander nicht so anzuschreien. Und das Feuer mit walisischer Kohle, das auf dem großen, schwarzen Eisenrost prasselte und von den Gruben erzählte. Und den Rauchfang, der im Wind heulte, und die Wolken, die im tiefen Winter am Himmel trieben.

Und es war keine Welt, von der er geglaubt hatte, dass er sie jemals verlassen würde. So etwas glaubte man damals nicht – man wusste, dass es nicht dazu kommen würde.

Obwohl er es bestritten hatte, meinte er zu wissen, was ein Sprichwort bewirken sollte. Da man es als lauschendes Kind nur aus dem Mund von Erwachsenen gehört hatte, sollte es einen in die Kindheit zurückversetzen, wie ein Zaubertrick oder das Bruchstück einer Geschichte oder etwas, woran noch etwas anderes klebte. Aber er verspürte nicht die Neigung, seine Freunde mit einem so gewundenen Gedanken zu behelligen.

Die Sitze im Zug waren aus Holz; in den Tagen seiner zivilen Nutzung war es ein Vierte-Klasse-Waggon gewesen. Hunderte von Zügen mussten schon durch die alten Grafschaften Englands gerattert sein, um all die Jungs an die Front zu schaffen, vom schottischen Hochland, aus dem schmutzigen Norden und aus dem beschaulichen Süden. Und einige waren keine Jungs mehr, Männer in den Dreißigern und Vierzigern, selbst ein paar Ältere in den Fünfzigern. Der Krieg war nicht nur eine Sache für junge Männer.

Als er aufs Klo ging, um zu pinkeln, hatte er das Gefühl, dies mit neuer Geschicklichkeit zu tun. Ihm fiel nur ein einziges Wort ein, um all das zu beschreiben: ein Mann, endlich ein Mann.

Und das zu jener sonderbaren Zeit um sechs Uhr abends, als die Sonne eben den dunklen Horizont berührte.

»Siehst du«, sagte Clancy, »sie bedeuten rein gar nichts, diese verdammten Sprichwörter. Sollen sie auch gar nicht.«

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Vom französischen Hafen aus ging es auf richtigen Truppentransportern weiter, großen, ächzenden Lastwagen, wie er sie noch nie gesehen hatte.

Als sie sich dem Krieg näherten, war es, als träten sie durch eine Reihe von Türen. Jede öffnete sich kurz und fiel hinter ihnen wieder ins Schloss.

Zuerst aber war da die erstaunliche und glänzende See, so als habe ein großer Zauberer versucht, aus stumpfem Metall einen riesigen Spiegel zu fertigen, und sei halb erfolgreich gewesen, halb gescheitert.

Dann die Salzgärten und die flachen, kalten Äcker mit kleinen, bescheidenen Waldstücken und die hohen, geraden Bäume entlang der grauen Chausseen. Nun ja, die Straßen waren fast weiß vom Reif, denn es war ungewöhnlich trocken gewesen. Einer der Burschen meinte, es sehe aus wie daheim, nur die Berge seien flacher, und die Leute steckten in merkwürdigen Kleidern.

Es war erregend, durch diese fremde Landschaft zu reisen. Willie Dunne war hingerissen von der schlichten Freude, etwas von der Welt zu sehen. Er setzte sich auf, um durch die Bretterverkleidung des Lastwagens spähen zu können, und trommelte vor Vergnügen mit den Fingern. Er verglich die stille Gegend mit dem Landstrich, den er am besten kannte: mit den Feldern und Gütern um den Hof seines alten Großvaters in Kiltegan. Nichts hier glich den mysteriösen Höhen des Lugnaquilla, dem Faltenwurf seiner weiten Ausläufer, wie ein aus der Form geratener gigantischer Pudding. Nur an ihm vorbei gelangte ein Reisender endlich in die Stadt Dublin.

Doch so nüchtern die Landschaft auch war, sie überwältigte ihn.

Er hatte sich zu seinen neuen Gefährten Williams und Clancy gesetzt. Auf der Bank gegenüber saß sein Kompaniefeldwebel Christy Moran, ein gespenstischer Kerl aus Kingstown mit dem Gesicht eines Adlers. Wenn der auch nur ein Gramm Fett am Körper hatte, dann war Willie kein Christ. Der Mann bestand nur aus Fasern, wie ein Teppich in der Manufaktur von Avoca, bevor der Webstuhl seine Arbeit aufnahm. Er bestand nur aus langen Fäden, die alle in eine Richtung verliefen.

Als sie an der Limerick Junction den Zug nach Dublin bestiegen, hatte Willie sich auch darüber gefreut, dass ihr Zugführer ein junger Hauptmann aus Wicklow war, einer der Pasleys of the Mount, und als er seinem Vater schrieb, um ihm davon zu berichten, war auch dieser erfreut, denn die Pasleys kannte jeder, das waren hochgeachtete Leute, die einen wunderschönen Garten ums Haus hatten. Willies Vater war überzeugt, dass der Hauptmann ganz nach seinem Vater geraten war, so wie er selbst, Willies Vater, ganz nach seinem eigenen Vater, in seiner Glanzzeit Verwalter von Gut Humewood, und Willie wiederum nach ihm.

Der große Truppentransporter rumpelte dem Krieg entgegen. Willie war so stolz auf sich, dass er schon glaubte, seine Zehen würden aus den Stiefeln platzen. Ja, einen Augenblick lang bildete er sich ein, um die bisher fehlenden Zentimeter gewachsen zu sein und, wenn er wollte, zum Erstaunen seines Vaters doch noch Polizist werden zu können. Lord Kitchener hatte die Männer der anständigen Welt aufgerufen, die dreckigen Hunnen dorthin zurückzutreiben, wo sie hingehörten, in ihr eigenes widerwärtiges Land jenseits der grünen Grenzen Belgiens. Willie spürte, wie sein Körper vor Stolz prickelte. So mussten die Berge von Wicklow das Prickeln der Heide und das Prickeln des Regens spüren.

Es war dieses Land, das zu heilen er gekommen war, er ganz persönlich, Willie Dunne. Er hoffte, die inbrünstige Verehrung seines Vaters für den König werde ihm Halt geben, als eine Art Pflock, der das gefährdete Zelt der Welt am Erdboden befestigte. Und er war überzeugt, dass alles, was Irland war, und alles, was Irland besaß, gegen diesen ganz und gar widerlichen und ekelhaften Feind in Stellung gebracht werden musste.

Das Blut in seinen Armen schien mit sonderbarer Macht durch die Adern zu schießen. Ja doch, ja, er spürte, dass er trotz seiner mickrigen eins achtundsechzig gewachsen war, es war eine unbestreitbare Tatsache, etwas in ihm hatte einen Sprung gemacht zu diesem unbekannten Etwas hin. Er konnte es nicht deutlicher ausdrücken. Alle Verwirrung, die er empfunden hatte, alle Ahnungen, die ihn berunruhigt und verunsichert hatten – sie schmolzen dahin in dieser Euphorie. Nach der neun Monate langen Schinderei in Fermoy erfreute er sich bester Gesundheit. Seine Muskeln waren bestes festes Fleisch und hätten jeden Schlachter glücklich gemacht. Die Ausbilder in Fermoy hatten die Kavalleriegefechte geschildert, die bald möglich wären; so etwas wie jenen elenden Rückzug, der den Kriegsbeginn zu einem Schreckensszenario gemacht hatte – so viele Dubliner Füsilierewaren gefallen und Helden zu Gefangenen gemacht worden –, würde es nicht noch einmal geben. Diesmal würden die feindlichen Linien von den Millionen neuer Männer, die Lord Kitcheners Ruf gefolgt waren, durchbrochen werden. Es lag auf der Hand, dachte Willie. Eine Million war eine Menge Männer. An tausend Stellen würden sie die feindlichen Linien durchbrechen, und die Pferde und ihre furchtlosen Reiter würden aufschließen, würden über offenes Terrain dahinpreschen und die todgeweihten Deutschen mit ihren Säbeln niedermetzeln. Und das geschähe ihnen recht. Die Zügel ihrer Pferde würden unter einer fremden Sonne flattern, und die braven Nationen wären erleichtert und dankbar!

»Was fuchtelst du denn so mit dem Arm?«, fragte Clancy scherzhaft.

»Tu ich das, Joe?«, sagte Willie lachend.

»Du hättst mir fast den Kopf abgeschlagen«, sagte Joe Clancy aus dem Dorf Brittas in der Grafschaft Dublin – wohlgemerkt nicht dem Ort am Meer, wie er zu betonen nicht müde wurde. Sondern aus dem anderen Brittas. Dem ohne Meer.

»Aus dem anderen verfluchten Brittas!«, hatte Williams gesagt, als diese Litanei zum ersten Mal geprobt wurde. »Himmel noch eins!«

»Tut mir leid, Joe«, sagte Willie. »Ist das nicht ein schönes, weites Land?«, fragte er.

Plötzlich tauchte die Hand der Angst in seinen Magen. Was für eine seltsame Sache. Eben noch so mutig wie ein junger Vogel. Um ehrlich zu sein, hatte er fast das Gefühl, sein Frühstück wieder von sich geben zu müssen. Und das hatte aus drei knorpeligen Blutwürsten bestanden, die der Koch ins Leben gemordet hatte – die wollte er nicht wiedersehen.

»Himmel, was ist los mit dir, Schütze? Da bist ja ganz grün im Gesicht«, sagte Christy Moran, der Spieß.

»Ach, nur das Geschaukel, Sir.«

»Er ist es nicht gewohnt, stilvoll zu reisen, Sir«, sagte Clancy.

Die Männer auf dem Lastwagen lachten.

»Kotz bloß nicht in meine Richtung«, sagte ein anderer Bursche.

»Mach einer mal das Fenster auf für das arme Arschloch!«

»Hier gibt’s kein verdammtes Fenster!«

»Wenn ihr’s nicht aufmacht, habt ihr gleich warme Kotze im Schoß!«

»Nein, nein«, sagte Willie, »schon gut, Jungs. Fühle mich schon besser.«

»Der arme Scheißer«, sagte Clancy und gab ihm einen Klaps auf den Rücken. »Der arme kleine Scheißer.«

Und Willie erbrach die Würste, auch wenn sie nicht mehr wie Würste aussahen. Sie verteilten sich auf dem hölzernen Fußboden wie ein kleiner Teller voll Gedärme.

Hätte Clancy ihm nicht den Klaps auf den Rücken gegeben, wäre es nicht so weit gekommen.

»Ach, du kleines Arschloch«, sagte der Spieß.

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Als sie zu ihrem Schützengraben kamen, fühlte er sich ziemlich klein. Das Größte dort war das Gebrüll des Todes und das Kleinste ein Mensch. Gar nicht so weit entfernt erschütterten Artilleriegranaten die belgische Erde, wirbelten große Klumpen davon in die Luft und taten alles, außer ihn sofort in den Tod zu reißen, wie er es beinahe erwartete.

Er zitterte wie ein Wicklower Schäferhund auf einem verschneiten Hof, dabei war das Wetter laut amtlichem Bericht »milde«.

Seine erste Kleiderschicht war sein Uniformrock, seine zweite sein Hemd, seine dritte seine lange Unterhose, seine vierte sein Teil Läuse, seine fünfte sein Teil Angst.

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»Diese verfluchte britische Armee, wie ich sie hasse«, sagte Christy Moran im fragwürdigen Glanz seiner verdreckten britischen Uniform.

Sie alle, der ganze Zug, saßen um ein kleines Kohlenbecken mit schwacher Glut. Aber in der trüben Dämmerung war es einigermaßen warm, und der Artilleriebeschuss war eingestellt worden.

Während der vergangenen drei mörderischen, lärmenden Stunden hatte Christy Moran mithilfe eines kniffligen Spiegels Wachdienst versehen. Der konnte einen gesunden Mann in den Wahnsinn treiben. Der Einfallswinkel hatte ihn ganz kirre gemacht, die patentierte Erfindung eines Genies für die tapferen Männer in den Gräben. Moran hatte versucht, die geschundenen Äcker nach Anzeichen grauer Gestalten abzusuchen, die sich jeden Augenblick aus ihren ziemlich weit entfernten Gräben erheben mochten. Jene geheimnisvollen Fremden, die zugleich Nachbarn waren: der verfluchte Feind. Damit nicht genug, weit und breit war keine Spur von der warmen Mahlzeit zu sehen, die die lange Nacht erträglich machen würde, ganz zu schweigen von der Ration Rum, neben Kau- oder Rauchtabak der unentbehrlichste Teil ihrer Ausrüstung.

Mittlerweile redete Christy Moran mit sich selbst, oder mit dem Spiegel, oder mit den Männern seines Zuges. Er musste der dreckigen Stille etwas entgegensetzen. Einer Art wimmernder Stille. Vor lauter Schlafmangel war er ganz weiß im Gesicht.

Willie Dunne konnte ihn nicht einmal richtig hören; es war ein Kuddelmuddel und ein bloßes Getröpfel von Worten. Aber es bewirkte etwas, es vertrieb den Nebel der Panik, der mit jedem neuen Tag in ihm aufstieg.

Das Gerede entsprach Christy Morans aufrichtiger Überzeugung, seiner inneren Auffassung, dem Ursprung seiner Freude. Es war nicht für einen Leutnant, Oberleutnant oder Hauptmann bestimmt. Es war für die gewöhnlichen irischen Philosophen bestimmt, für die Allgemeinheit der angeworbenen Männer in diesem gottverlassenen Abschnitt der Quälerei, Männer aus den Armenvierteln von Dublin, Tagelöhner irgendeines Farmers in Wexford oder Wicklow. Letztere waren Burschen, die vielleicht nicht einmal die Stoßrichtung von Christy Morans Argumentation erfassten, da sie meist loyale Männer waren, die alles gedankenlos hinnahmen.

»Dieselbe verfluchte Armee, die’s schon immer auf uns abgesehen hat. Die die ganze Geschichte hindurch meinen Kopf nach unten gedrückt hat, die mich und meine Familie und alle davor ersäuft hat wie räudige Hunde, die uns über den Haufen geschossen und als niederträchtige Rebellen verbrannt hat. Englische Schweinehunde, allesamt Schweinehunde, und arme Leute wie ich und mein Vater und sein alter Pa und dessen Pa und so immer weiter zurück, alle unter dem Stiefel, dabei haben sie sich doch nur um ihren eigenen Kram gekümmert, vor Kingstown Harbour gefischt, bei Wind und Wetter.«

Aber einfach nur Hetzreden zu halten war Christy Morans Sache nicht. Er hielt inne, steckte eine Hand unter den Saum seines Waffenrocks, zog eine Handvoll Läuse heraus, zerquetschte sie verzweifelt und sagte: »Und ich bin hier draußen, bin hier draußen und kämpfe für denselben gottverdammten König.«

Es war bekannt, dass schon Christy Morans Pa in der Armee gedient hatte, und wenn der Spieß in anderer Stimmung war, würde er ihnen vielleicht vom Krimkrieg und von seinem Pa in den Gräben unterhalb von Sewastopol erzählen.

Statt einer guten warmen Mahlzeit gab es zwar nur kalten Maconochie-Stew, aber es war recht angenehm, diesen aus der Dose zu löffeln und dabei über Christy Morans unaufhörliches Gerede den Kopf zu schütteln. Denn sie wussten, man konnte auch für weniger erschossen werden. Aber sie wussten auch, dass er sich nur über den kniffligen Scheißspiegel ärgerte, über den Lärm und darüber, dass das Kommando mit den Rationen nicht aufgetaucht war – und auch nicht der vermaledeite Rum.

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»In fünf Minuten heißt es angetreten, Willie«, sagte Christy Moran, »also schlepp deinen Arsch zur Latrine und verrichte dein Geschäft, dann steigst du auf den verdammten Schützenauftritt und hältst die Augen offen, bevor der Hauptmann aus seinem verdammten Unterstand kommt und dir den Arsch aufreißt.«

»Jawohl, Sir«, sagte Willie Dunne.

»Williams, Clancy, McCann und ihr anderen Saftsäcke ebenfalls«, sagte er. Und die Männer des Zuges huschten umher wie aufgescheuchte Asseln. »Ich hab das ungute Gefühl, dass der Hauptmann heut Abend was mit uns vorhat«, sagte er.

McCann war ein stiller Miesepeter von einem Mann, aus Glasnevin, mit einem Gesicht, das aussah, als wäre es von Rußflecken übersät, aber das lag nur daran, dass er ständig unrasiert war.

Während ein Mann Wache hielt, liefen die Übrigen also um die Traverse herum zu den Latrinen. Dort gab es vier schöne große Eimer mit einem Holzbrett als Sitz, und die Männer wechselten einander ungeduldig ab. Es war wie eine Droge, wenn die Scheiße rauskam, der Leib schien sich einem Glücksgefühl hinzugeben. Vielleicht war’s das giftige, aber hoffentlich nahrhafte Zeug in den Konservendosen.

Christy Moran dagegen litt nur. Er saß auf dem Holzsitz wie ein gemarterter Heiliger. Er zog eine finstere Miene und stöhnte. Auf seinen mageren Wangen schienen sich kleine rot-blaue Linien zu bilden. Er sah aus wie ein Whiskeytrinker, der seit zehn Tagen auf dem Trockenen sitzt. Er war der Inbegriff des Leidens.

»Wenn man sich waschen und seine armen Eier in einen Zuber mit heißem Wasser hängen könnte, das wär mal ’ne Entschädigung für diese verdammte Qual, Feuer zu pissen«, sagte er.

»Jawohl, Sir«, sagte Clancy hilfsbereit.

»Verdammt, ich hab doch gar nichts gesagt«, erwiderte Christy Moran.

»Doch, Spieß«, entgegnete Clancy, »Sie haben gesagt –«

»Ich hab den Mund nicht aufgemacht«, sagte Christy Moran.

»Doch, Sir«, sagte Clancy freundschaftlich.

Und Kompaniefeldwebel Moran betrachtete ihn voller Entsetzen. Tatsache war, dass der Kompaniefeldwebel ein kleines Problem hatte. Er glaubte, seine Gedanken nicht etwa auszusprechen, sondern nur zu denken. Schon eigenartig. Allmählich aber bekamen sie ihren Feldwebel in den Griff. Zweifellos mochten sie ihn, mitsamt seinen Fürzen und Flüchen.

»Heilige Muttergottes«, sagte Christy Moran, und barmherzigerweise konnte er endlich wie ein freier Mann pissen und seinen Darm entleeren.

»Halleluja«, sagte McCann leise und hob seine großen, eckigen Hände gen Himmel.

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Jetzt endlich begriffen sie den Zweck des Artilleriebeschusses. In dieser Nacht gelangte von der Nachhut nicht ein Bröckchen frischer Nahrung zu ihnen.

Der unermüdliche Boche hatte herausgefunden, wo sich die Nachschubgräben befanden, nicht nur, weil diese früher seine eigenen Gräben gewesen waren, sondern auch, weil am Vorabend ein Aufklärungsflugzeug über sie hinweggeflogen war. Der verdammte Pilot musste die Information an seine Artillerie weitergeleitet haben, wie ein Jagdführer, der den Jägern vorausgeht.

Jetzt waren die Bomben gefallen, genau auf die Jungs von der Versorgungsstaffel. Nicht nur waren die Jungs zusammen mit den Erdklumpen Flanderns in die Luft geflogen und verkohlt. Auch die Suppe war verschüttet und verdorben. Der Rum geröstet. Der Tabak zu Asche verbrannt.

Alles nur wegen dieser Scheißkerle aus Ostbayern.

DRITTES KAPITEL …………… ……………

Wie der Zufall oder die ehrgeizigen Pläne der Generäle es wollten, sprangen sie damals doch nicht auf, um über die Brustwehr zu klettern.

Sie hatten sich Gott weiß wo eingegraben, dabei waren ihre Ziffern auf klugen Karten eingetragen und der Fluss angeblich nicht allzu weit entfernt. Aber Willie war sich nicht sicher, was für ein Fluss es war. Sein Ohr hatte sich noch nicht an die fremden, rauhen Namen gewöhnt. Jedenfalls hieß ihr Graben Sackville Street; das reichte zur ersten Orientierung.

Willie und die anderen Burschen wussten, dass es in der Gegend eine große Schlacht gegeben hatte, denn auf dem Weg zur Front waren sie an kleinen Gräberansammlungen auf eingezäunten Grundstücken vorbeigekommen. Oft lagen auf den allmählich absinkenden Erdhügeln kleine Blumensträuße – oder was ein Mann sich unter einem Blumenstrauß vorstellte: ein paar welke Wildblumen. Daher wussten sie, dass Kameraden dort kurz getrauert hatten und dann weitergezogen waren, vielleicht selbst in den Tod.

Darüber dachten sie nach, jeder für sich. Sie hatten einen eigenen Kompaniegeistlichen, einen großen, gequält wirkenden Mann namens Father Buckley, der einem Spaniel gleich zwischen ihnen umherschoss. Sein Rücken war gekrümmt wie der einer alten Frau. Er hätschelte sie, als wären sie alle seine Söhne.

Aber an diesem Ort war das Leid so gewöhnlich wie gepfiffene Melodien. Und nicht nur bei ihren eigenen Leuten.

Willie wusste, dass die französischen Soldaten bei der Verteidigung ihres geliebten Vaterlands bereits eine halbe Million Seelen verloren hatten, junge Burschen wie er selbst, die sich den Kugeln und Granaten mit dem ganzen Feuer der Ergebenheit und der Jugend entgegengeworfen hatten. Vermutlich lagen sie jetzt überall verstreut in ihrer leidgeprüften Heimaterde, wie Rote Bete, die auf den Feldern verfault. Er versuchte, sich vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn dieser Krieg in Irland ausgetragen würde, auf den Ebenen der düsteren Grafschaft Mayo oder in den Bergen, um Lugnaquilla und Keadeen.

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Später am Abend zitterten Willie Dunnes Hände. Er betrachtete sie, diese Hände, achtzehn Sommer alt. Sie zitterten, aber er konnte nichts dafür.

Willie dachte nicht an die Versorgungsstaffel, die ums Leben gekommen war. Seine Hände schon.

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»Himmel«, sagte Christy Moran, »ich wünschte, ich wär am Denkmal auf der Promenade von Kingstown mit ’nem Mädchen verabredet.«

Er zündete sich eine herrliche Woodbine an und zog an der dünnen Zigarette. Er hoffte, morgen würden ein paar erschöpfte Ärsche mit Nachschub durchkommen, denn er hatte nur noch dreißig Kippen übrig, und die würden einem Mann nicht reichen für die Nacht.

»Ich sag euch, wenn’s so wär, würd’s mir nichts ausmachen, ob’s Regen, Schlamm oder sonst was regnet, denn ich würd an das Kleid an ihrem Körper denken und wie sauber und gut und süß sie riecht und so, und an die hübschen Mäntel, die die Mädchen tragen.«

Wieder ein heftiger Zug an der Kippe.

»Und ich würd auf keinen Fall vergessen, meine Stiefel zu polieren. Zehn Minuten lang würd ich draufspucken und sie mit dem Ellbogen wienern, wisst ihr? Ach ja, verdammt!«

Er kratzte sich andächtig an der Innenseite seiner Schenkel.

»Nicht, dass ich was gegen’s Soldatentum hätte, nein. Ich mag diese weißen Scheißläuse, die auf meinen Eiern rumkrabbeln, und die verdammten Rationen, die ins Jenseits befördert worden sind, und den ganzen Dreck und das Durcheinander, und ich mag es, in einen Donnerbalken zu pissen, der nach der Scheiße von euch Arschlöchern stinkt.«

Die Jungs in seiner Nähe lachten.

»Aber es ist schon was Schönes, sich mit ’nem Mädchen zu treffen, in der Monument Creamery ’ne Tasse Tee zu trinken und das Fluchen sein zu lassen und im Lauf des Nachmittags auf ’n ordentlichen Kuss hinzuarbeiten.«

Christy Moran hatte sich unter einen kleinen Vorsprung geduckt, um sich vor der heftigen Regenkaskade zu schützen, die plötzlich herabstürzte. Willie fragte sich, was passieren würde, wenn er den Kopf über die Brustwehr hob. Würde er sehen, wie der Regen über die geschundenen und zerrissenen Äcker strich, oder würde man ihm nur das Gesicht wegschießen?

Der Regen hörte genauso plötzlich auf, wie er eingesetzt hatte, und Hauptmann Pasley kam aus seinem Unterstand. Die Männer rafften sich auf.

»Abend, Feldwebel«, sagte Pasley.

»Abend, Sir«, sagte Christy Moran und salutierte liebenswürdig. »Was können wir für Sie tun, Sir?«

»Haben die Jungs ihre Verpflegung bekommen?«

»Ist nicht eingetroffen, Sir.«

»Ach, ist nicht eingetroffen, Jungs?«, sagte Hauptmann Pasley und blickte in ihre Gesichter. Aber die Gesichter lächelten recht aufmunternd.

»Wir hatten noch ein paar Konserven übrig, Sir«, sagte Christy Moran.

»Ich werde telefonieren, dass es morgen doppelte Rationen gibt«, sagte Hauptmann Pasley.

»Die werden wir uns schmecken lassen, Sir«, sagte Christy Moran, nahm einen letzten Zug von seiner Woodbine und schnellte sie ins Niemandsland. Sie flog in die Höhe wie ein Leuchtkäfer. Willie Dunne rechnete schon mit einem Schuss von der anderen Seite.

»In Ordnung, Feldwebel«, sagte Hauptmann Pasley. »Regt sich da drüben wer?«, fragte er.

»Kein Schwein«, sagte Christy Moran.

Hauptmann Pasley trat forsch auf den Schützenauftritt und hob mit alarmierender Gleichgültigkeit den bemützten Kopf, um hinüberzuspähen.

»Vorsicht, Sir«, sagte Christy Moran, unwillkürlich nervös geworden. »Wollen Sie nicht den Spiegel benutzen, Sir?«

»Es wird mir schon nichts passieren«, sagte Hauptmann Pasley.

Christy Moran blieb nichts anderes übrig, als dabeizustehen, während sein Hirn leise Alarm schlug. Er rechnete mit einem Schuss.

»So ein schönes Land«, sagte Hauptmann Pasley. »So eine schöne Nacht.«

»Jawohl, Sir«, sagte Christy Moran, der die Schönheit nicht so recht bemerkt hatte, jedoch gewillt war, die Möglichkeit einzuräumen.

»Da drüben rechts kann man den Fluss glitzern sehen. Der ist bestimmt bis oben hin voller Forellen«, sagte Hauptmann Pasley mit träumerisch entrückter Stimme.

Christy Moran war noch beunruhigter. »Ich hoffe, Sie haben nicht vor, hinauszugehen und Ihr Glück beim Angeln zu versuchen, Sir.«