Tagebuch eines Kreuzfahrers - Gunter Scholz - E-Book

Tagebuch eines Kreuzfahrers E-Book

Günter Scholz

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Beschreibung

Kreuzfahrer werden beneidet Sie genießen viel Luxus, dekadenten, umweltfeindlichen, dickmachenden und asozialen Luxus. Sie sehen viel von der Welt, immerhin sind zwei Drittel der Erdoberfläche mit Wasser bedeckt. Sie erobern spektakuläre Orte, wie den Kohlehafen von Gdingen. Sie begegnen Menschen aus aller Welt z.B. in den paar bunten Häuschen im Hafen von Bergen, die sie gemeinsam mit Kreuzfahrern von fünf gleichzeitig im Hafen liegenden Kreuzfahrtriesen besuchen. Sie kämpfen um die stets zu wenigen Liegen am Pool oder die günstigsten Essenzeiten. Sie wollen den aufregenden Kitzel der letzten Kreuzfahrtgeheimnisse spüren, wenn Kreuzfahrerinnen plötzlich vermisst werden. Hier wird die ganz normale Geschichte einer traumhaften Kreuzfahrt erzählt, die für einige wenige auch alptraumhaft wurde.

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Für alle, die überlegen Kreuzfahrerinnen zu werden oder zu bleiben

Im Supermarkt

Wer weiß, ob wir jemals eine Kreuzfahrt gemacht hätten, wenn ich damals in einen anderen Supermarkt gegangen wäre. Ich hatte den Einkaufswagen üppig gefüllt an das Fließband der Supermarktkasse manövriert. Alle Teile wurden von mir schnell auf das Band gelegt, so schnell, dass keine lange Warenspur entsteht. Es sah aus, als hätte jemand die Artikel auf der Flucht auf dem Fließband verloren. Alle Einkäufe waren vernünftig, so wie es bei einem Einkauf im Discounter üblich, vom Anbieter aber unerwünscht ist. So vernünftig sie waren, so langweilig war die Ansicht der Ansammlung aller Artikel im Einkaufswagen. Es war exakt die Auswahl an Artikeln, die meine Frau auf dem Einkaufszettel für mich notiert hatte. Auch der Gedanke daran, alles Eingekaufte nach dem Packen des Einkaufswagens, gleich zum dritten Mal anpacken zu müssen, damit es im Auto deponiert werden konnte und die Vorausschau auf das vierte Anpacken vom Kofferraum in die Wohnung und schließlich der fünfte Kontakt zur Lagerung in die häuslichen Vorratsregale waren ohne Glamourfaktor. Träge sein war hier die Lösung zur Verhinderung von Stress. Es war einfach eine Pflichtaufgabe, die stoisch bewältigt werden musste. Die durch diese Perspektive erzeugte Stimmung musste mich wohl besonders empfindlich für die farbigen Kataloge gemacht haben, die jeden Supermarktkunden fast den Weg aus dem Markt versperren. Eine bunte Glitzerwelt strahlte mich an und verhieß deutlich spektakulärere Ansichten als sie das Sammelsurium in meinem Einkaufswagen bot.

Es waren nicht die unüberschaubaren Katalogtitelseiten mit den Sonderangeboten, bei denen die Größe der Preisdarstellung fast das jeweils bebilderte Angebot verdeckte und deren Aussage nur sein konnte, egal wohin, Hauptsache billig. Es war Hawaii. In kräftigem Türkis stellte sich mir die Na Pali Küste der Insel Kauai in den Weg. Dort wanderte man bei Meeresrauschen ganzjährig in kurzen Hosen die Küstenpfade entlang und fotografierte was alle Touristen von dort mitbrachten: Fotos von prächtigen Pflanzen und eindrucksvoller Brandung. Gefahren gingen allein von Wanderern in Badesandalen auf glitschigem Untergrund aus.

Obwohl ich mich sehr selten von Werbeprospekten verführen lasse, war an diesem trüben Septembertag der Kontrast zwischen meinem tristen Einkaufswagen und der großen, weiten Welt einfach unwiderstehlich. Ich griff zu dem Prospekt, dass Wärme und Meer verhieß und legte es oben über meine Einkäufe in den Wagen. Sofort hellte sich meine Stimmung auf und ich war psychologisch angeschlagen, geöffnet für die gedruckten Versprechungen von der Verwirklichung von Träumen. Die spätere Durchsicht aller Angebote erfolgte vor dem gerade geschilderten Kontrast zwischen pflichtgemäßem Supermarkt-Versorgungseinkauf im regnerischen September und der gekonnten Darstellung einer Traumwelt, in der die Menschen sicher keine Tiefkühlpizza oder in Plastik verpackten Käse einkauften, sondern sich ausschließlich von saftig süßer Ananas und kokosbasierten Cocktails ernährten, keine Wareneinkäufe schleppten, sondern sich bedienen ließen in Mehr-Sterne-Luxusrestaurants. Bedienung, Luxus, mehrgängige Menüs, üppige Buffets 24 Stunden am Tag, anderen im Fitnessstudio zusehen und lieber eine Metformin für Diabetiker mehr als verordnet einwerfen, als auf das alles zu verzichten.

Warum dann meine Wahl für einen Urlaubsvorschlag nicht auf Hawaii, sondern auf eine Ostseekreuzfahrt fiel, hatte viele Gründe. Meine Frau und ich hatten bis dahin nie eine Kreuzfahrt erlebt. Ich kannte im Kollegenkreis aber mehrere geradezu fanatische Kreuzfahrer, die jeden Anflug von Kritik an dieser Urlaubsweise aggressiv und gut vorbereitet abschmetterten. Ihre Darstellungen waren kritiklos und ignorierten alles, was über Kreuzfahrtschiffe und Kreuzfahrer als allgemein anerkannt gelten durfte. Aber dazu später.

Mein Name ist Gernot Raiter. Noch vor ein paar Jahren wäre unsereins nicht in der Nähe von Kreuzfahrten verortet worden. Das war etwas für Gelangweilte, die schon in Acapulco auf der einen Seite der Welt und in Auckland auf der anderen waren. Und natürlich dazwischen schon alles mit einer Abenteuerreise abgedeckt hatten. Für Buchhalter wie mich oder einer Kindergärtnerin wie meine Frau war das nichts. Unser jährliches Urlaubsbudget hätte ein paar Jahre unangetastet bleiben müssen, um dann für eine Kreuzfahrt kumuliert eingesetzt werden zu können. Dazu waren wir bisher nicht bereit.

Kreuzfahrende Urlauber vermehrten sich wie der Schimmelpilz in Hamburger Mietwohnungen. Waren es vor ein paar Jahren Angebote an Reiche und noch Reichere, so waren voll verpflegte Kreuzfahrten heute schon für unter 1000 Euro im Angebot. War man nicht bald völlig out oder als arm eingestuft, wenn man sich nicht mal auf eine Kreuzfahrt begab? Nun wollten wir nicht länger darauf warten, dass Kreuzfahrten den letzten Rest Exklusivität verlieren würden.

Ein weiterer Grund für die Buchung einer Kreuzfahrt war die Route. Immer an der Küste entlang die Ostsee zu umrunden, war schon mehrmals eine Urlaubsidee, die aber immer nur soweit gesponnen wurde, bis uns die zurückzulegenden Kilometer, die Visa-Prozeduren und unser tolles Automobil einfielen. Letzteres fiel sicher in den zu passierenden Ländern nicht nur den Gutmenschen auf. Auch Menschen, die ihr Neid oder ihre Gier zur Planung eines Diebstahls oder einer Hehlerei animierten, waren potenzielle Störfaktoren, denen wir mittels einer Kreuzfahrt aus dem Weg gehen konnten. Im Angebot war eine Kreuzfahrt mit Landgängen in allen Ostseeanrainerländern. Start im Mai des nächsten Jahres. Perfekt. Und weil im Mai wie sich zeigen sollte, noch keine Blüte die Bäume in St. Petersburg ziert, auch preislich eine akzeptable Variante.

Wir nahmen uns eine Kreuzfahrt aus dem Katalog des Discounters vor und waren sicher, weder vor, noch während, noch nach der Kreuzfahrt zu Kreuzfahrern zu degenerieren. Das Schiff würde ein Transportmittel an die Orte sein, die wir sehen wollten und die wir auf dem Wasserweg effizient abfahren konnten. Außerdem liebte ich die Fahrt übers Meer, den Blick bis zum Aufeinandertreffen von Himmel und Wasser, das Geräusch der Gischt erzeugenden Bugwelle und den salzigen Wind. Vielleicht würde es diesmal ja auch meiner Frau gefallen. Für sie würden Cafés, Shops und Shows nie weit sein. Ich nahm mir vor, sie auch zu abendlichen Spaziergängen an Deck zu überreden.

Unsere Erfahrungen an Bord würden uns auch als Kreuzfahrtkritiker, die wir bis dahin waren, glaubhafter werden lassen, weil uns nach einer Kreuzfahrt niemand die Kompetenz zur Beurteilung aller Kreuzfahrten dieser Welt absprechen könnte. Es gab viele uns überzeugende Argumente für diese eine Kreuzfahrt. So haben wir also gebucht. Dem Anschein einer kritiklosen Vergnügungstour, die uns Themen der Umweltbelastung oder der Arbeitsbedingungen für die meist philippinischen Besatzungen haben vergessen lassen können, trat ich mit dem Entschluss entgegen, ein Tagebuch zu führen, dass quasi für alle Berichte Beweischarakter erlangen sollte.

Bei der Wahl, die Ereignisse altmodisch in Tagebuchform festzuhalten, kamen mir gegenüber der heute gängigen Vorgehensweise, die Welt mit einem Blog zu langweilen, zwei Argumente zu Hilfe. Ein Tagebuch konnte auf seiner gesamten Länge ständig verändert und der jeweils aktuellen Interessenlage angepasst werden. Nichts ist veröffentlicht bevor, der letzte Eintrag erfolgt ist. Schlug sich der Enthusiasmus der ersten Tage in begeisterten Kommentaren nieder, so war nicht auszuschließen, dass sich die täglich ansteigende Anzahl, profaner Erlebnisse zu einer ernüchterten Betrachtung der gesamten Tour entwickelte. Blogs waren dann längst in der Welt. Nicht wieder einzufangen, nie wieder aus dem Moloch „Netz“ zu tilgen. Schlug das Aufmerksamkeitspendel zur anderen Seite, und niemand nahm Kenntnis vom Blog, war das weder dem eigenen Selbstvertrauen in die literarischen Entertainerqualitäten noch dem selbstgepflegten Image des modernen Weltreisenden zuträglich, für dessen Abenteuer sich doch jeder Sofabewohner daheim interessieren sollte. Also lieber ein Tagebuch verfassen und es nach Abschluss der Reise so formen, dass der von der gesamten Reise mit all ihren Aspekten gewünschte Eindruck sicher vermittelt wird. Sie halten das Ergebnis in der Hand. Sie können mehrere Tage nacheinander während einer S-Bahnfahrt lesen. Sie können das Tagebuch tagelang ignorieren und nach Laune wieder einsteigen. Sie versäumen nichts, denn alle Schilderungen betreffen eine abgeschlossene Vergangenheit und Tricks wie Cliffhänger werden nicht benötigt, um sie im Blog zu halten. Werbefrei ist das Tagebuch außerdem, wenn man davon absieht, dass es sie für die Möglichkeiten wirbt, die eine Kreuzfahrt bieten kann.

Nehmen wir also Fahrt auf, Kreuzfahrt.

Buchung

1. Oktober 2019

Wir haben uns entschieden. Die Ostseerunde erreicht interessante Ziele, kostet nicht viel und startet in der Nähe unseres Wohnortes Hamburg in Warnemünde. Die Rahmenbedingungen versprechen eine interessante Urlaubsvariante, die wir bisher nicht kennen. Ein italienisches Schiff mit etwa 2000 Passagieren und 1000 Besatzungsmitgliedern. Essen fast rund um die Uhr. Einige Tagesausflüge sind im Preis eingeschlossen, andere können für unverschämt viel Geld dazu gebucht werden. So sollen 500 € pro Person für einen Leihwagen im polnischen Gdingen für einen halben Tag bezahlt werden! Könnten wir uns das leisten, würden wir doch keine Low-Budget-Rundfahrt buchen! Dafür gönnen wir uns eine Außenkabine und zwei Busausflüge in Russland. Und die bereits im Preis eingeschlossenen Tagesausflüge werden auch alle gebucht. Was man reserviert hat, hat man. Tagsüber haben wir an jedem Zielhafen mehrere Stunden Landgang. Nachts sind wir auf See. Hätten wir diese Details individuell planen dürfen, wir hätten sie genauso geplant. Zu diesen Plänen haben wir keinen Verbesserungsvorschlag: passt perfekt.

4. Oktober 2019