Karsten und Marie - Gunter Scholz - E-Book

Karsten und Marie E-Book

Günter Scholz

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Beschreibung

Mein Lieblingsbuch: Kein Mord, kein Totschlag, keine Gewalt. Sondern ein spannendes Buch über Liebe und Vertrauen, über Werte, die nie unmodern werden. Mit viel Humor und Respekt entwickeln Marie und Karsten ihre Liebe zueinander. Leserinnen und Leser tauchen hier in eine Beziehung ein, erleben mit wie sie sich entwickelt und sind berührt von der Harmonie, die beide für sich und andere schaffen. Zwar ein Märchen, aber ein Märchen, das wahr werden kann, wenn wir uns gegenseitig vertrauen. Der Leser ist den beiden immer sehr nahe und fiebert jederzeit mit ihnen mit. Eine spannende, abwechslungsreiche Begleitung des Lebens zweier moderner junger Menschen. Ein durch und durch positives Buch, das unseren Alltag erhellt. Wer in jedem Kapitel zwei Ermordete braucht, wer aus den Seiten des Buches Blut tropfen sehen möchte oder einen liederlich gekleideten Kommissar mit Kraftausdrücken liebt sollte dieses Buch sofort beiseite legen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorbereitungen

Anreise

Skigruppen

Am Hang

Alltag

Ein neues Universum

Ein neuer Tag-ein neues Leben

Es geht weiter

Ungewollt

Freunde: Ja oder Nein

Bozen, Alto Adige

Neues Spiel

Gemeinsamkeiten

Weiter geht´s

Abschied am Donnerstag

Etwas Bleibendes

Umarmung

Zurück in Hamburg

Besuch

Der erste Kuss

Gärtner

Geschwister

Nachlese

Bei Bruce

Germknödel und mehr

Nacht ohne Björn

Fahrt nach Münster

Karoline

Sex

Anruf

Der Kreis schließt sich

Vorbereitungen

Obwohl es erst Mitte Oktober war, verbreiteten Nieselregen und spärliche Beleuchtung der Nebenstraße die Atmosphäre eines winterlichen, ungemütlichen Tages. Zwei Gongschläge der Kirche an deren Vorplatz die Müllerstraße ihren Anfang nahm, gaben die Gewissheit, bis zum Beginn der Veranstaltung bliebe noch eine halbe Stunde Zeit. Erst wenn die kleine Glocke die volle Stunde mit vier Schlägen und der große Tieftöner ihr mit sieben Schlägen folgen würde, sollte die Veranstaltung beginnen. Ohne akademisches Viertel, was ausdrücklich auf der Einladung an alle Sportstudentinnen und -studenten erwähnt wurde.

Noch war in der Straße kein Verkehr. Kein Fußgänger kreuzte die Fahrbahn, um vom belebten Sportzentrum mit seinen Umkleiden und Geräteräumen in die auf der anderen Straßenseite verstreut in mehreren Gebäuden liegende Bibliothek oder eben in den Hörsaal zu kommen, dem Ziel der heutigen Einladung. Die Leere in der Straße passte sehr fotogen zu den Spiegelungen der in weitem Abstand stehenden Straßenlaternen, deren Licht vom nassen Kopfsteinpflaster reflektiert wurde, ohne dabei Helligkeit zu erzeugen. Noch ein bisschen Nebel dazu gedacht und der Anblick hätte die perfekte Szenerie für einen schaurigen Kriminalfall sein können.

Karsten trug unter dem einen Arm zwei Ordner und in der linken Hand einen kleinen Kasten aus Holz. Er kam aus dem Sportinstitut, nutzte dessen Nebenausgang zur Müllerstraße und überquerte diese in einer langen Diagonale, die direkt vor dem Hörsaal des Instituts endete. Kein Fahrzeug erinnerte ihn an die Regel, eine Straße auf möglichst kurzem Weg zu passieren. Wer hier mit dem Auto fuhr war auf der Suche nach einem Parkplatz. Den konnte man nur finden, wenn auch die kleinstmögliche Lücke nicht übersehen wurde, also langsam an allen Parkenden vorbeigeschlichen wurde und für Fußgänger ungefährliche Schrittgeschwindigkeiten daraus resultierten. Es kam kein Auto. Karsten erreichte das Gebäude, das allein für den Hörsaal in die Reihe der benachbarten Villen gestellt wurde. Er setzte den Holzkasten ab, zog einen einzelnen Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Tür und schaltete sofort das Licht für die Eingangsbeleuchtung ein. Dann ging er mit Ordnern und Holzkasten durch den dunklen Vorraum des Hörsaals, der für Garderobe und Hinweistafeln gedacht war. Beidem schenkte Karsten keinerlei Beachtung. Die ausgehängten Hinweise betrafen die Wahl zum Studentenparlament und hingen seit Wochen an jeder freien Wand im Univiertel. Dass jemand jemals die Garderobe für seine Kleidung genutzt hätte, erinnerte er nicht. Der Hinweis darüber, dass jegliche Haftung für die Garderobe abgelehnt wurde, zwang quasi die Studentinnen und Studenten, ihre Kleidung mit in den Hörsaal zu nehmen. So entstanden überfüllte Hörsäle, in die nach einem Sommerregen dreißig Grad bei 100%iger Luftfeuchtigkeit herrschten. Diese Werte würden heute nicht erreicht werden, obwohl der Saal wieder einmal sehr großzügig vom Hausmeister vorgewärmt worden war. Karsten konnte nur durch öffnen einiger Fenster in der noch zur Verfügung stehenden Zeit für ein angemessenes Raumklima sorgen. Er ließ die Fenster solange geöffnet wie er für das Ablegen seiner Jacke und das Bereitlegen der Ordner auf dem Dozentenpult benötigte.

Als kurz danach die ersten Studentinnen vorsichtig die Tür zum Hörsaal öffneten und sich von seiner Dunkelheit nicht abhalten ließen, einen Platz darin zu suchen, gönnte Karsten allen Anwesenden Licht. Mit dem Neonlicht im Raum erstrahlten auch die Gesichter der Anwesenden. Für mehr als ein Hallo war jetzt aber keine Zeit. Karstens Aktivitäten machten das klar und die nun einzeln oder in kleinen Gruppen ankommenden Studentinnen und Studenten beobachteten sich gegenseitig.

Als Karsten seine Vorbereitungen abgeschlossen, die Ordner auf der richtigen Seite aufgeschlagen, der Holzkiste ein paar Dias entnommen und damit einen musealen Diaprojektor gefüttert hatte, kam eine älterer Herr in den Saal und befreite Karsten von der Überlegung, was er jetzt noch vorbereiten könnte. Dass der ältere Herr entweder der Hausmeister oder ein Professor sein musste, war in dieser Umgebung nicht schwer zu erraten. Da der Mensch freundlich auf Karsten zuging, diesen lachend begrüßte und nicht gleich quer durch den Hörsaal über was auch immer zu schimpfen begann, belegte die Zugehörigkeit des schon ergrauten Herren zur Gruppe der Professoren. Professor Schmidt war am Sportinstitut für Wintersportarten und Segeln zuständig. Beides ließ sich natürlich wunderbar übers Jahr verteilen. Karsten war selbst noch Student am Sportinstitut. Den Professor lernte er kennen, als er an dessen Lehrveranstaltung Skilaufen teilnahm. Es war wohl nicht nur das skiläuferische Vermögen, das den Professor beeindruckte und ihn animierte für Karsten Lehraufträge zu beantragen. Er musste bei der Wahl seiner Lehrbeauftragten auf Zuverlässigkeit achten und darauf, dass sie Themen der Theorie abdeckten: Wetter, Erste-Hilfe, Umweltschutz, Probleme des Skitourismus usw.. Schmidt konnte sich auf Karsten verlassen, was sich auch gerade wieder beim ersten Treffen der Skireisegruppe jetzt im Oktober zeigte. Insgesamt waren sie vier Lehrkräfte für vierzig Sportstudentinnen und -studenten. Aber außer Karsten und dem Professor war keiner der anderen Lehrer zu diesem ersten wichtigen Organisationstreffen gekommen. Die anderen beiden hatten kurzfristig mit durchaus originellen Begründungen abgesagt. Vorbereitende Arbeiten hatten sie bei ihren Absagen nicht angeboten und so wussten sowohl Schmidt als auch Karsten, dass die meiste Arbeit an ihnen hängen bleiben würde. Sie hatten bereits zweimal diese Skireise organisiert und durchgeführt und waren sich dieses Dilemmas wohl bewusst, fanden aber in der Sicherheit, dass ihre Organisation ohne die anderen wenigstens verlässlich war, schnell ihren Trost.

Der Saal füllte sich und Karsten wandte sich der vor ihm aufgeschlagen liegenden Liste der Angemeldeten zu. Nur zwei hatten abgesagt, aber gleichzeitig zugesagt, sich von Anwesenden vertreten und später auch informieren zu lassen. Karsten hakte die Namen der ihm bekannten Anwesenden ab. Das waren nicht viele. Er war im achten Semester und viele der Angemeldeten waren erst im vierten bis sechsten, so wie er selbst, als er als Student den Lehrgang absolvierte.

Die Zahl der Anwesenden ließ bald nicht mehr zu, dass alle nur die äußeren hinteren Plätze belegten. Nach üblichem Musterverhalten rückten aber nicht die am Rand sitzenden in die Mitte der Sitzreihe, sondern ließen jeden neu Eintreffenden sich mit seiner Jacke unterm Arm und der oftmals begleitenden Sporttasche in die Mitte des Saals drängeln. Das erzeugte bei Passanten und Passierten oft mürrische Gesichter, wenn die nassen Jacken durch die Gesichter der Sitzenden wischten oder die am Sitz abgestellten Taschen Stolperfallen waren.

Karsten und Schmidt unterhielten sich am Dozentenpult über Belangloses. Die Unterhaltung befreite sie davon, in die Sitzverteilung eingreifen zu müssen. Es wäre ein sowieso sinnwie hilfloses Unterfangen geworden, die Studenten an diesem Abend eine vernünftige Sitzordnung zu lehren. Vielleicht brauchte es dieses bekannte allgemeine Hörsaalbelegungschaos, um einigen die Chance zu geben, sich davon positiv abzuheben.

Im Gespräch mit Schmidt wurde Karsten erst kurz abgelenkt von einer Bewegung am Rande seines Sehfeldes. Dann blieb sein Interesse bei der Studentin, die seinen Blick auf sich zog. Sie war offensichtlich allein erschienen. Ohne Zögern scannte sie den Hörsaal, der von hinten oben betreten wurde, sah ihren Sitzplatz im unteren Drittel der Klappsitzreihen und steuerte darauf los. Keine ihrer Bewegungen verriet Hektik oder Unsicherheit. Mehr noch, ihren natürlichen Bewegungen setzte sie noch ein Lächeln auf, das bei jedem, an dem sie sich vorbei zu ihrem Sitzplatz drängeln musste wirkte wie eine Entschuldigung für ihr drängeln. Sie setzte sich, ordnete kurz Tasche und Jacke und hatte sofort einen Stift samt Block für Notizen bereitliegen. Obenauf legte sie das Einladungsschreiben für diesen Abend, das Karsten sehr gut kannte, hatte er es doch selbst verfasst, kopiert und versandt. Natürlich ließ er vor dem Kopieren Schmidt noch mit unterschreiben. Karsten wusste nicht sofort, warum ihm diese Studentin auffiel. Er fragte sich erst einmal ganz vordergründig, warum sich nicht alle so verhalten konnten: natürlich, unaufgeregt, organisiert.

Warum er dann gleich seinem Professor die Frage nach dem Namen der Studentin ins Ohr flüsterte wusste Karsten nicht. Vielleicht fand er es in seiner Rolle als Mitorganisator völlig unverdächtig, sich nach den Mitreisenden zu erkundigen. Die schnelle Antwort von Schmidt lautete:

„Das ist Marie Brahms. Die war im Sommer schon in meinem Segelkurs.“

Karsten markierte hinter dem Namen Marie Brahms deren Anwesenheit und sammelte weiter Anwesenheitshaken.

Dass solche ersten Organisationstreffen für attraktive Exkursionen pünktlich beginnen konnten, lag sicher auch an der Begeisterung und Vorfreude auf die Reise. Es wurden viele Details der Reise, der Ausrüstung, der Kleidung und des Reiseziels besprochen. Wenige Fragen bezogen sich auf das Skigebiet, was wohl daran lag, dass Antworten dazu von Skianfängern nicht verständlich bewertet werden konnten. Welcher Skineuling wusste denn schon, ob ihm Sessellifte mehr liegen als Seilbahnen, Buckelpisten mehr Spaß machen würden als Half-pipes? Die Stimmung war gut. Aus allen Ecken des Hörsaals kamen Fragen und den Antworten wurde allseitig gelauscht. War die Stimmung gut, war die Veranstaltung gelungen, diente sie doch dazu einen positiven Auftakt für eine Gruppe zu bilden, die sich untereinander wenig kannte und die sich vorgenommen hatte, vierzehn Tage bei jedem Wetter eine für viele unbekannte Sportart, die nicht ohne Tücken war, zu erobern. Unter den vierzig Sportstudentinnen und -studenten waren nur zehn die angaben, schon mehrere Jahre skialpine Erfahrung gesammelt zu haben. Erfahrungsgemäß gab es dann noch eine Gruppe, die ihr Licht gerne unter den Scheffel stellte und vorsichtig von sich als Anfänger oder Fast-Anfänger sprach, weil sie nicht in einer Gruppe von Könner überfordert werden wollte. Das Lehrerteam sah es gelassen, teilten sie die, die eigenständig in ihre Skiausrüstung kamen und den Anfängerhang hinunterrutschen konnten doch sowieso vor Ort nach Sichtung und Fahrprobe in Gruppen ein. Für Karsten lohnte es sich also gar nicht, genauer auf das Fahrkönnen einer Gruppe einzugehen, die schon mal auf Skiern gestanden hatte, aber nicht genau sagen konnte, auf welcher Stufe des Deutschen Skilehrplans sie zu finden sein würde. Karsten gab sich keine Mühe, in den Äußerungen zum eigenen Können die Basis für eine Gruppeneinteilung zu sehen. Aber eine Ausnahme bildeten die Anfänger. Alle die noch nie in eine Skibindung geklemmt unterwegs waren, sollten zu Beginn das gleiche Könnensniveau haben. Fast nebenbei registrierte Karsten Maries Zugehörigkeit zur Gruppe der Anfänger.

Da die Reise erst im Februar des Folgejahres starten sollte, verblassten die Eindrücke aus der Auftaktveranstaltung von Woche zu Woche immer mehr. Bis zur Abreise würde sich Marie Brahms für Karsten wieder in die Reihe aller anderen Reiseteilnehmer einordnen. Das dachte Karsten zumindest. Aber es kam anders. Sah er sie am Sportinstitut konnte er sie aus einer Gruppe von Sportlerinnen mit seinem Blick isolieren. Er grüßte sie, sie grüßte ihn und ihre jeweilige Begleitung blieb ungegrüßt. Karsten dachte nicht mehr an Marie Brahms, sondern an Marie.

Karsten ging seinem Studium nach wie eh und je. Anfangs konnte er mehrere Stunden am Sportinstitut zubringen bevor er zusammenzuckte, weil er glaubte Marie gesehen zu haben. Die Zeiträume, die er am Sportinstitut zubringen konnte, ohne eine Fata Morgana Marie zu sehen, wurden immer kürzer. Schließlich, es war schon Anfang Februar geworden, betrat er die Uni schon mit dem Gedanken an eine mögliche Begegnung mit Marie. Er beschloss, vernünftig zu werden. Was wusste er schon von Marie?

Anreise

Der Februar brach an und damit kamen die letzten Tage des Wintersemesters in Sicht. Für die ersten beiden Wochen der vorlesungsfreien Zeit war die Ski-Lehrveranstaltung geplant.

„Ich bin Marie Brahms.“

„Ich weiß.“

Es rutschte Karsten so heraus und nun war es Marie, die kurz verwirrt war. Karsten versuchte mit einem Schmunzeln eine Erklärung zu ersetzen. Marie aber ließ das nicht zu und hakte sehr freundlich nach.

„Warum erinnerst du dich an meinen Namen?“

Zuerst wollte sich Karsten mit einer Bemerkung zu seinem guten Namensgedächtnis davonstehlen. Dann fiel ihm Gott sei Dank eine sympathischere, weil glaubhaftere, Marie spezifische Erklärung ein.

„Brahms? Den Namen kann sich doch jeder Hamburger merken. Mozart oder Beethoven wäre schwieriger geworden.“

Warum sollte Marie an dieser Erklärung zweifeln? Dafür fand sie keinen Grund und beendete den Dialog mit ihrem Lächeln.

Die Begegnung fand im Rahmen der Materialübergabe für die Reise statt. Jede Studentin und jeder Student hatte etwas für die Gruppe mitzunehmen: Langlaufski, Werkzeuge, Steigfelle, Kurzski, Wachs, Erste-Hilfe-Taschen. Die Materialausgabe fand im Büro von Professor Schmidt statt, wurde aber von Karsten vorbereitet, indem er alles im Büro zusammentrug und einzelne Pakete zusammenstellte. Er war es dann auch, der zum Übergabetermin vor Ort war und sich das Gemecker derjenigen anhören musste, die glaubten, das größte oder schwerste Paket aufgeladen bekommen zu haben.

Marie kam allein ins Büro nachdem sie angeklopft hatte, was längst nicht mehr studentische Usance war. Ganz stimmte das mit dem alleine das Büro betreten nicht. Sie begleitete sich mit einem Lächeln, das Karsten sofort weiche Knie einbrachte. Er konnte sich nur mit der sofort herbeigerufenen Vernunft retten. Marie lächelt immer so, das gilt nicht dir, Karsten! Schade, war dann in dieser Denkfolge die letzte gedachte Bemerkung.

Das Treffen dauerte nur wenige Minuten. Spontan hatte er noch für Marie eine erleichternde Änderung vollzogen. Er gab ihr nicht die Langlaufski mit, für die sie eingetragen war, sondern die wesentlich leichteren und kleiner zu verstauenden Steigfelle. Es war ein gutes Gefühl für ihn, etwas Gutes tun zu können ohne sich erklären zu müssen. Was hätte er auch sagen sollen, wenn seine Manipulation doch bedeutete, dass nun ein anderer die Skier schleppen musste. Besser war es also, Marie erfährt nichts von der Gunst, dann musste diese auch nicht begründet werden. Doch er kam sich korrupt vor. Warum sollte ein Dritter für einen Vorteil, den Karsten wegen seines Amtes organisieren konnte einen Nachteil haben? Er löste die Frage, in dem er selbst die für Marie ursprünglich gedachten Ski transportierte und niemanden Drittes die Bevorzugung Maries, für die sie ja gar nichts konnte, jedenfalls nichts schuldhaft konnte, ausbaden ließ. Es gefiel Karsten, ein anonymer Wohltäter zu sein. Tief in Karsten versteckt blieb doch ein Stück Hoffnung, dass Marie von dem Materialwechsel zu ihren Gunsten eines Tages erfahren würde. Natürlich nicht von Karsten selbst, denn das würde die Selbstlosigkeit seiner Geste zerstören. Alle hatten profitiert, er hatte es geregelt.

Erst als Marie mit den anderen dreiundvierzig Reisenden auf Gleis zwölf des Hamburger Hauptbahnhofs erschien, sah er sie wieder, spürte seine Knie weich werden und zugleich sein Herz verkrampfen. Beides lag nicht an Marie allein, sondern an ihrer Begleitung, die ihr beim Tragen half. Ein junger Mann im Alter der ihn umwimmelnden Studenten trug Maries Koffer.

Von dem aufgeregten Durcheinander, in dem Abteile und Sitzplätze, Liegen und Gepäcktransport für die reservierten Waggons diskutiert wurden, hielten sich die vier Skilehrer fern. Sie besprachen die ersten Stunden in Südtirol, die Einzelheiten der Busfahrt von Bozen nach Deutschnofen, wo ihre Gruppenunterkunft lag und die Besorgung der Liftkarten. Es gab viele Einzelheiten zu klären. Dank der vorjährigen Erfahrungen konnten alle aber auf eine gute Routine vertrauen.

Dann wurde es ernst. Die Einfahrt des Zuges nach München wurde angekündigt. Die Reisegruppe wusste nicht, dass damit bereits das vielleicht aufregendste Erlebnis der ganzen Reise bevorstand. Vierundvierzig Personen samt Gepäck für mindestens achtzig Personen mussten in einen Zug, dessen Fahrplan einen etwa vierminütigen Halt im Hauptbahnhof vorsah. Die quietschenden Bremsen der Waggons gaben das Startzeichen für die ersten Studenten, die ohne Gepäck die Waggons stürmten, die Fenster der reservierten Abteile oder diesen Abteilen gegenüberliegende Gangfenster aufrissen und von außen Gepäckstücke entgegennahmen als hätten sie lebenslang nichts anderes gemacht. Der letzte Zureicher des Gepäcks vom Bahnsteig stieg gewöhnlich erst ein, wenn der Zug schon rollte. Warum dachte Karsten in dieser Situation als erstes daran, ob Marie es geschafft hatte einzusteigen? Natürlich war sie in der Studentenmenge, die sich aufgeregt auf der Suche nach einer vermeintlich sympathischen Gruppe für eine lange Bahnfahrt befand. Die reservierten Plätze galten der ganzen Gruppe und waren keinem namentlich zugeordnet. Es entstand eine Situation, die sich jeder Psychoanalytiker nicht besser hätte wünschen können. Konzentriert auf die beste Sitzplatzkonfiguration für sich selbst oder für eine bereits gebildete Kleingruppe, rempelten sich Studenten und Studentinnen durch den Gang des Waggons, rissen Türen auf der Suche nach freien Plätzen oder vermissten Kommilitonen auf und drangen oft enttäuscht weiter gegen den Strom der ihnen entgegenkommenden Suchenden. Die vier Kursleiter wussten um das stets wiederkehrende Muster rücksichtsloser Vorteilssuche, die Erziehung, Takt und Gelassenheit vergessen ließ. Sie blieben auf der Plattform zwischen zwei Waggons und warteten beobachtend wie sich von Kilometer zu Kilometer die Lage mehr beruhigte. Schließlich kam es zu einem bis München anhaltenden Gleichgewicht aus Noch-Suchenden und Schon-Wieder-Suchenden. Auf jeder Gruppenreise schwirrten die ganze Länge der Fahrt über Menschen durch die Gänge, die mit der gefundenen Position nicht zufrieden waren. Schmidt und sein Team wussten, dass in dieser Gruppe später die zu finden sein würden, die bei der Einteilung der Bahnhofswachen asoziale Zeichen geben und von denen überproportional viele mit dem Pensionsessen, den Schneeverhältnissen oder der Zusammensetzung der Skigruppe nicht zufrieden waren. So konnte das Skilehrerteam dieses Mal beruhigt feststellen, dass die Zahl der Zugwanderer kleiner blieb als in den Vorjahren, was bedeuten konnte, sie hatten eine pflegeleichte Gruppe zu erwarten. Die vier verabredeten sich zu einem Rundgang durch die Ergebnisse der Sitzplatzrallye und zu einem Treffen danach in ihrem gemeinsam genutzten Abteil. Zu zweit begannen sie die Abteile zu inspizieren. Die einen gingen in Fahrtrichtung, die anderen entgegengesetzt.

Überall war die gelungene Enterung des Zuges Gesprächsthema. Die Abteile waren meist mit sechs Personen voll besetzt. War eines leer, so deshalb, weil sich deren Insassen auf die Gangtüren zu den anderen Abteilen verteilten. Karsten ließ sich nur auf kurze Gesprächsfetzen ein und nutzte seine Inspektion als Entschuldigung dafür, bei keiner Gruppe zu verweilen. Wie bei einer Pokalauslosung die Spannung von gezogenem Verein zu gezogenem Verein zunimmt und die Wahrscheinlichkeit, dass der eigene Verein als nächstes gezogen wird, allein aus der immer kleiner werdenden Menge der für die Ziehung zur Verfügung stehenden Kugeln abgeleitet werden kann, so nahm von Abteil zu Abteil bei Karsten die Unruhe zu, wann er endlich Marie sehen würde. Die Sicherheit mit der er Marie als sympathisch, vielleicht sogar liebenswert einstufte erstaunte ihn sehr, hielt er sich doch eher für einen kontrollierten Menschen, der es auch schaffte, Gefühle vernünftigen Überlegungen zu- und unterzuordnen. Als er Marie gegen die Fahrtrichtung an einem Fenster sitzen sah, fingen seine Gedanken an zu stottern. Karsten war voll damit ausgelastet, Luft zum Atmen einzuholen. Marie sah ihn sofort. Sie blickte ihn an, als hätten sich ihre Blicke zu einem ersten Rendezvous verabredet. Immerhin brachte Karsten ein

„Hallo, alles klar bei euch?“

heraus. Während zwei sofort jovial

“Aber, Hallo,“

riefen und sofort Geschichten erzählen wollten, beschrieb Marie mit nur einer Nuance ihres Blickes, dass auch für sie alles in Ordnung war und die vorlauten Mitreisenden nicht ihre Favoriten waren. Karsten musste bei ihrem Anblick schmunzeln und erschrak sofort, weil ihm klar wurde, er hatte nicht allein die Situation kommentiert, sondern Marie und nur Marie allein angelächelt. Ging er zu weit? Neben ihrem Lächeln nahm er noch den Anblick ihrer brünetten ungezähmten Locke als Erinnerung an diese Begegnung mit. Dann rettete er sich in seine Aufgabe und steuerte zum nächsten Abteil.

Professor Schmidt hatte Karsten nicht mit in die Lehrgruppe genommen, weil er in ihm die große Unterhaltungskanone für die langen Hüttenabende sah. Für die gute Stimmung unter den Stimmungsabhängigen sollte Bob sorgen. Bob war auch ein zweites Mal als Skilehrer angeheuert worden und entsprach dem Klischee des skifahrenden und dabei Skihaserl jagenden Lehrers genau. Langes flatterndes Haar, gespiegelte Sonnenbrille, Goldkettchen an Hals und Handgelenk und abends immer ein Bier in der Hand. Bob war für Späße, Sprüche und Lautstärke zuständig. Schmidt wusste, dass unter vierzig Studenten genügend waren, die ohne Bobs Qualitäten nicht zu einer positiven Sicht auf den Kurs kamen. Dafür nahm Schmidt in Kauf, mit Bob den schlechtesten Skifahrer im Lehrerteam zu haben und einen, der sich allein um seine Unterhaltungsaufgaben kümmerte und damit wenig zum Gelingen der Reise beitrug. Aufgaben, die im Hintergrund erledigt werden mussten und nicht mit viel Juchhu die Beachtung mindestens einiger weiblicher Studentinnen fanden, waren Bobs Sache nicht. Dafür hatte Schmidt Karsten dabei. Der würde im Skikeller stehen und Skier reparieren, während Bob die Lautstärkeregler des Discoboosters aufdrehte und für Stimmung auf der abendlichen Party sorgte. Karsten war mit dieser Aufteilung der Arbeit stets zufrieden. Er wollte nicht den Kasper machen und wusste aus Erfahrung, dass es immer Menschen gab, die seine Art, still zu wirken, sehr viel sympathischer fanden als extrovertierte Hopserei. Karsten musste sich nicht verstellen, weil er genau von den Menschen anerkannt wurde, die ihm viel mehr bedeuteten als die, die sich gerne von Dünnbrettbohrern blenden ließen.

Der vierte Skilehrer im Team war Wilfried. Ein Lehrer, den Schmidt engagiert hatte, weil er auf Grund seines Alters eine natürliche Autorität ausstrahlte. Wilfried war Gymnasiallehrer und hatte Erfahrung mit Klassenskifahrten. Davon sollten auch die Studenten profitieren können, die ja nicht zu Skirennläufern ausgebildet werden sollten, sondern mit der erfolgreichen Teilnahme am Kurs die Berechtigung erwarben, Klassenskireisen durchzuführen. Sie konnten von der Erfahrung Wilfrieds profitieren, auf der Piste und an Hüttenabenden. Karsten kam mit Wilfried sofort gut klar. Beide akzeptierten sich mit ihren Fähigkeiten und Temperamenten rückhaltlos. Es gab keine Frage, die der jeweils andere nicht uneitel vollständig beantworten wollte. Auch Kritik konnte hier unter vier Augen angebracht werden und wurde dankbar angenommen. Karsten und Wilfried konnten auch beide gut mit Schmidt umgehen, den sie in seiner Art auch mochten, der durch seine Chefrolle aber nervig werden konnte. Dann war es für Karsten gut, Wilfried in der Nähe zu haben und für Wilfried war es gut, Karsten solidarisch zu wissen. Auch Schmidt wusste die Ruhe im Team sehr zu schätzen, die durch die solidarische Zusammenarbeit mit Karsten und Wilfried gesichert war. Derweil Bob herumscharwenzelte erledigten die anderen Drei die Aufgaben, die anfielen.

Die Nachtfahrt in den Süden verlief wie üblich. Zwischen lesenden, schnarchenden, Reiseschach spielenden und sich unterhaltenden Reisenden war kein Platz mehr in den Abteilen, die zu Liegeflächen umgebaut waren. Das Lehrerteam hatte noch die nächste Aufgabe adressiert und zog sich dann zum Dösen zurück. Wilfried hatte es übernommen Gepäckwachen für den Koffer- und Materialberg einzuteilen, der auf einem Gleis des Münchner Hauptbahnhofs entstehen würde, weil sie dort auf den Anschlusszug nach Bozen warten mussten. Er hatte einen Zettel vorbereitet, auf dem Eintragungen für Halbstundenschichten möglich waren, an denen sich jeweils vier Studentinnen oder Studenten beteiligen sollten, am besten freiwillig. Karsten begleitete Wilfried am nächsten Morgen durch den Zug.

Dabei fragte sich Karsten warum er das tat. Wollte er in der Begleitung dieser Aufgabe ein Alibi unterbringen, Marie unverdächtig einen guten Morgen zu wünschen? Als er mit Wilfried loszog, blieb er vor den Abteilen, während Wilfried mit der Liste auf Namensjagd in die Abteile ging. Karsten konnte so den Gang im Auge behalten und lugte öfter in die Richtung des Abteils, in dem er Marie vermutete, als in die andere Richtung.

Wilfried war für diese Aufgabe genau der Richtige. Seine natürliche Autorität ließ bei den Angefragten bewusst oder unbewusst den Wunsch aufkeimen, sich positiv zu präsentieren und einen ersten guten Eindruck zu hinterlassen. So konnten auch reibungslos die weniger attraktiven Zeiten für Wachen verteilt werden. Vielleicht war einigen auch egal, ob sie gleich nach Ankunft die Wache übernehmen sollten oder mitten in der Umsteigezeit. Wer mittendrin antreten musste konnte sich nicht allzu weit und allzu lange vom Bahnhof entfernen. Die Wachen zu Beginn und am Ende der Wartezeit konnten ihre Ausflüge in die Münchner City ohne Unterbrechung planen.

Karsten wusste, dass die Münchner Fußgängerzone sonnabendmorgens um sechs Uhr wenig Attraktives bot. Kehrmaschinen, Müllwagen und Logistikfahrzeuge glichen sich in München wie in Hamburg oder Köln. Karsten bot daher an, die drei Stunden Wartezeit am Bahnhof zu verbringen. Er nahm sich vor, die weniger attraktiven Wachezeiten mit frischem Kaffee und vielleicht auch einem Snack zu versehen. Wilfried war dankbar, dass ihm etwas Verantwortung als Lagermeister abgenommen wurde und Karsten war sich sicher, dass Wilfried von sofort an eine Gelegenheit suchte, sich bei Karsten zu revanchieren.

Wilfried bestimmte zielsicher einen Lagerplatz für das Gepäck. Schnell entstand eine ansehnliche Gepäckansammlung. Wilfried machte Vorschläge für die Platzierung der Wachen. Seine Vorschläge trugen natürlich dem Überblick über das Gepäck, aber auch dem Wunsch der Wachen Rechnung, nicht allein in einer Ecke stehen zu müssen. So kam es zu Zweiergruppen, die nicht an einem Standort kleben mussten, sondern zur Abwechslung innerhalb einer bestimmten Zone patrouillieren konnten.

Karsten platzierte sich dem Gepäckhaufen gegenüber, hatte also alles, Wachen und Bewachtes im Blick. Allerdings war sein Blick oft abgelenkt von Unterlagen, die er durchblätterte. Darin ging es um die Weiterreise und um die Zimmeraufteilung in der Pension. Ein Thema mit Sprengstoff, da nicht alle Wünsche erfüllt werden konnten. Die nach einem Einzelzimmer schon einmal gar nicht. Jedenfalls nicht für Studenten. Die vier Lehrkräfte bekamen jeweils Einzelzimmer. Professor Schmidt ordnete das so ohne Widerstand seiner Kollegen an, weil es ihm eine Argumentation für sein eigenes Einzelzimmer schuf. Er meinte, die Lehrkräfte bräuchten einen Rückzugsraum, um eventuell personelle Probleme der Gruppe anonym besprechen zu können. Karsten erinnerte sich nicht daran, dass sein Zimmer jemals diese Funktion hatte. Natürlich gab es bei vierzig Reisenden immer wieder Opfer und Täter der sozialen Kommunikation. Die Probleme wurden aber eher bei einem Spaziergang nach dem Essen, in einer Ecke des Speisesaals oder bei einer Zweiersellelliftfahrt diskutiert.

Karsten wirkte aber wenigstens beschäftigt mit seinen Papieren und entkam so dem Verdacht, als Oberaufsicht der Wachen zu fungieren. Dann kam Marie. Hatte sie die unbequeme Mittelwachzeit bewusst oder naiv übernommen? Sie kam pünktlich in Begleitung einer Sportstudentin und sah Karsten sofort, ohne sich das anmerken zu lassen. Karsten nahm es aber in seinem peripheren Sehen wahr. Beide waren sich sicher, wahrgenommen worden zu sein, ohne dass es dafür ein von außen wahrnehmbares Anzeichen gab. Marie löste mit einem Hinweis darauf, wo sie gerade mit ihrer Kommilitonin etwas Sehenswertes beobachtet hatte, die ersten Wachen ab und nahm deren Platz ein. Sie verschaffte sich gemeinsam mit ihrer Begleitung einen Überblick über den zu bewachenden Schatz und setzte dann ihre Unterhaltung fort, in der sie schon den Bahnhof zur Wachablösung betrat.

Karsten erinnerte sich an seine Rolle als Lehrbeauftragter einer Lehrveranstaltung der Universität Hamburg. Seine Arbeitsdisziplin verlangte von ihm, eine Gleichbehandlung aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Das bedeutete nicht, dass ihm alle gleich sympathisch sein mussten, aber seine Behandlung der ihm sympathischen und eher weniger sympathischen musste nach außen hin gleichwertig sein. Als Lehrprofi verlangte er von sich, dass von Sym- oder Antipathie unabhängige Suchen und Finden der jeweils für seine ihm anvertrauten Schüler besten Lösung, seien es Fünftklässler oder erwachsene Studenten. Diese Arbeitsmoral schützte ihn auch vor Skiaffären. Dass Skilehrer im Mittelpunkt weiblichen Konkurrenzdenkens und ihrer Jagdlust stehen konnten, hatte er schon erfahren. Da ihm aber sowohl dieses Verhalten, als auch die Person, von der es ausgeübt wurde, zuwider waren, konnte er bisher leicht der Versuchung widerstehen, eine Skiaffäre zu beginnen oder einen One-Night-Stand zu verabreden. Er hatte nie etwas vermisst. Insbesondere wenn er die Beziehungen verfolgte, die einer Skiliaison entsprangen. Wichen weiße Hügel unter blauem Himmel vor imposanten Bergen dem Mensa Alltag der Unis, wurde damit in allen ihm bekannten Fällen einer aus dem Skiurlaub mitgebrachten Beziehung der Boden entzogen. Den Kummer und Verdruss, der mit einem Ende einer hochfliegend begonnenen Liebesbeziehung verbunden war, wollte er sich und der Partnerin ersparen. Es war doch keine Anstrengung, ein oder zwei Wochen diszipliniert zu bleiben. Als Belohnung blieb eine intakte Gefühlswelt, die keine Trennung zu verkraften hatte.

Karsten erhob sich und sofort hob auch Marie, die ihm in etwa zehn Metern Abstand auf einem Gerätesack gegenüber saß, ihren Kopf. Sie unterbrach dabei aber nicht ihren Satz und ließ Karsten durch ihren Blickfeldrand gehen. Er steuerte auf das andere Wachepärchen zu.

„Schön, dass ihr eure Kolleginnen pünktlich abgelöst habt. Ich habe gerade gesehen, dass der erste Coffee-Shop in der Halle eröffnet hat. Ich gehe da jetzt hin und hole mir einen Kaffee. Darf ich euch auch zu einem einladen?“

„Wow, so gute Ideen schon am Sonnabendmorgen. Ich nehme gerne einen, schwarz ohne alles. Und du?“

„Naja, ich will ja kein Spielverderber sein. Dann nehme ich auch einen. Was Barbara an Zucker und Milch nicht haben wollte nehme ich gerne. Also wenn’s geht bitte mit Zucker und Milch.“

„Gut. Klare Anweisungen. Mal sehen wie das Trinkgeld für mich ausfällt.“

„Soll ich dir tragen helfen, Karsten?“

„Danke, ich habe gesehen, dass die solche Pappen für die Aufnahme von Kaffeebechern ausgeben. Die sollte ich tragen können. Ich geh dann mal. Haltet durch.“

Karsten steuerte auf die zweite Wachegruppe zu, die ihr Gespräch zu Gunsten der Beobachtung ihrer Kommilitonen schon aufgegeben hatte und Karsten mit ungekünstelter Erwartungshaltung entgegensahen.

„Barbara und Irene haben mir gerade großzügig gestattet, ihnen einen Kaffee dort aus dem Coffee-Shop in der Halle zu holen. Ich würde mein Angebot auch auf euch ausweiten. Also wie wär´s mit einem heißen Kaffee?“

Marie sah zu ihrer Nachbarin Kerstin was eindeutig als Aufforderung zu verstehen war, den Vortritt bei der Antwort einzunehmen.

Kerstin blickte zurück zu Marie.

„Wollen wir ihm eine Chance geben?“

„Na gut, dann wollen wir mal nicht so sein,“

antwortete Marie Karsten direkt ins Gesicht. Jetzt musste Karsten aufpassen, damit er die Bestellung von Barbara und Irene nicht vergaß.

„Ich nehme einen Kaffee mit Milch. Und du Marie?“

„Ich nehme auch einen Kaffee mit viel Milch, wenn´s geht.“

Karsten:

„Ich werde sehen was sich machen lässt. Bitte nicht weglaufen.“

Er machte sich auf den Weg, ständig die einzelnen Getränkewünsche wiederholend. Er war sich nicht sicher, ob er auch noch die Croissants für sie fünf gekauft hätte, wäre Marie nicht in der Gruppe gewesen. So brachte er die Kaffees und bot Croissants an, die ihn zum beliebtesten Anwesenden machten. Ihm wurde alles dankbar abgenommen. Karsten freute sich darüber, dass es ihm gelungen war, wie selbstverständlich für eine nette Überraschung zu sorgen. Er gehörte zu den Menschen, die lieber Weihnachtsgeschenke verteilen als sie zu erhalten. Nicht angeberisch, nicht väterlich, nicht protzig, einfach so: spontan, keine große Sache aus etwas machen. Mehr hätte er hier am Lager auf dem Münchner Hauptbahnhof nicht tun können. Deshalb konnte er Marie und die anderen zum Ende ihrer Wachen auch ziehen lassen, ohne der Versuchung zu unterliegen, sich ihnen für einen Gang Richtung Stachus anzuschließen.

Karsten blieb bei seinen Unterlagen und hatte fast die Aufteilung der Pensionszimmer als Vorschlag fertig. Sein Einzelzimmer legte er in die Nähe des Zimmers, in das er Marie einquartieren wollte. Die Liste blieb aber ein gut gehütetes Geheimnis und sollte nicht einer ungezügelten Diskussion ausgesetzt werden. Je weniger Zeit für die selbstständige Organisation von Veränderungen blieb, desto größer war die Chance, die vorgesehene Zimmeraufteilung wahr werden zu lassen. Schmidt war mit der Aufteilung einverstanden. Karsten hatte sich die Zustimmung durch die Vergabe des einzigen Zimmers mit Balkon an Schmidt gesichert. Erst auf der Busfahrt von Bozen nach Deutschnofen sollte die Zimmeraufteilung bekanntgegeben werden.

Tatsächlich interessierte die Studentinnen und Studenten in dieser halben Stunde Anfahrt durch spektakuläre Schluchten die Zimmerbesetzung mehr als die Landschaft.

Während einige nicht nur die Besetzung ihres Zimmers regeln wollten, sondern auch die an ihr Zimmer angrenzenden Nachbarschaften beeinflussen wollten, waren andere sofort zufrieden und konzentrierten sich darauf, die ihnen zugedachte Zimmergenossenschaft im Bus zu suchen. Aufregend war es für alle. Nach dem Ausstieg aus dem Bus versuchten einige wenige ihren Zimmerplatz zu tauschen. Alle scheiterten an der Kette von Änderungen, die eine Umbesetzung an einer Stelle an anderen Stellen nach sich ziehen würde. Und so blieb es bei dem von Karsten ausgearbeiteten Vorschlag. Die Liste der tatsächlichen Zimmerbelegung hing im Essraum mit nur einer Abweichung von Karstens Vorschlag aus. Sie diente dazu, Einzelne in der komplett durch die Hamburger Studenten besetzten Pension zu finden.

Skigruppen

Marie stand geduldig in der Gruppe, die die Zimmeraufteilung sehen wollte. Sie sagte kein Wort, verzog keine Miene, obwohl die sie bedrängende Umgebung ihr Anlässe genug dazu gegeben hätte. Als sie nach einer Weile das Blatt mit der Zimmeraufteilung lesen konnte, zog sie sich zurück und ging auf Wilfried zu, der ihr geradewegs im Weg stand.

„Sag mal, kannst du mir sagen wer Kristine ist? Mit ihr soll ich mir ein Zimmer teilen.“

„Nöö, da kann ich dir leider noch nicht helfen. Aber geh doch einfach zu deinem Zimmer. Die Türen sollten alle geöffnet sein. Kristine wird dahin kommen und ihr werdet euch dort begegnen.“

Karsten beobachtete noch wie seine Vorschläge der Zimmergenossenschaften aufgenommen wurden und ging dann mit seinem Koffer in den Gang, in dessen Mitte sein Zimmer lag. Er hatte Marie und Kristine nur durch ein Zimmer von seinem getrennt untergebracht. Marie ging vor ihm zu ihrem Zimmer. Sie trug einen gelbgrünen Anorak, eine dunkelblaue Jeans, Winterstiefel und auf dem Kopf eine hellbraune Strickmütze. An keinem Kleidungsstück war ein Markenzeichen erkennbar. Karsten blickte unwillkürlich an sich hinab und was er sah beruhigte ihn. Eine Jeans von Armed Angels, die als solche nicht sofort identifiziert werden konnte. Eine Skijacke ohne Markenwerbung auf Brust oder Oberarm und eine einfarbige, zur Farbe der blauen Jacke passende Wollmütze. Karsten konnte unauffällig sein Zimmer erreichen. Davor angekommen musste er allerdings Teile seines Gepäcks absetzen, um eine Hand für die Klinke freizubekommen. Er öffnete die Tür, bückte sich nach dem abgesetzten Gepäck und sah direkt in Maries Augen. Sie bewältigte parallel zu ihm zwei Zimmertüren weiter die gleichen Aufgaben. Die Parallelität ihrer Handlungen erkannte Marie sofort und tat Karsten das mit einem Lächeln kund. Karsten konnte gar nicht anders, als sich darüber zu freuen und das in einem Schmunzeln zu verpacken. Dann verschwanden beide zeitgleich und sich synchron bewegend in ihren Zimmern. Nach einer kurzen Irritation, die ihrer beider Blickwechsel bei Karsten ausgelöst hatte, wandte er sich profanen Aufgaben zu. Koffer auspacken, Bad einrichten, Kursunterlagen bereitlegen. Das Programm für die nächsten beiden Wochen musste ausgehängt werden.

Mit Tesa-Film und Papierlisten ausgestattet steuerte Karsten zurück in den Essenssaal, in dem die Gruppe alle Mahlzeiten einnahm und ihre Theorieveranstaltungen abhielt und der, wenn er dafür nicht benötigt wurde, der Gruppe für Gespräche, Spiele oder Feiern zur Verfügung stand. Erfahrungsgemäß zogen sich die Feiern der Studenten schnell in die Zimmer zurück, was ungewollte Teilnehmer und Beobachtung durch die Kursleitung verhinderte. Die Studenten nahmen wohl nicht an, dass die Kursleitung über die Zimmerfeiern nicht unerfreut war, entzogen sich die dortigen Ereignisse doch der Verantwortung der Kursleitung. Sie waren eine Gruppe aus volljährigen Erwachsenen, wenn auch deren Verhalten manchmal Anlass gegeben hätte, die Volljährigkeit mit 18 Jahren zur Diskussion zu stellen.

Karsten hatte richtig darauf spekuliert, dass die Mitreisenden sich ausgiebig ihres Gepäcks widmen würden und er so ungestört die Tagesplanungen veröffentlichen konnte.

Täglich

Frühstück

ab 8.00 Uhr

Busabfahrt ins Skigebiet

pktl. 9.00 Uhr

Mittagspause

i. d. Regel im Skigebiet – Zeit und Ort bestimmen die Gruppen

Busabfahrt zur Pension

pktl. 16.00 Uhr

Abendessen

ab 18.00 Uhr

Die Busabfahrten müssen pünktlich durchgeführt werden, da wir einen Bus nutzen, der auch für den Schülertransport eingesetzt wird.

Theorie (Wetterkunde, Erste-Hilfe, Skitourismus, Schneeformen, alpine Gefahren, Umwelt und Skifahren) ab 19.00 Uhr. Das Thema wird im Bus angesagt.

Für das Treffen innerhalb der Ski-Gruppen steht die Zeit von 17.00 bis 18.00 Uhr zur Verfügung. Die Themen werden in den Gruppen selbst festgelegt (z.B. Theorie zum Skitag, Fehleranalyse, Korrekturen schulen an Hand von Videoaufnahmen, Biomechanik des Skilaufens).

1. Tag Sonntag

Einteilung der Skigruppen am Skihang

Kennenlernen des Geländes und der Ausrüstung

2. Tag Montag

Gruppenspezifisches Programm im Gelände

3. Tag Dienstag

Skifreier Tag zur Akklimatisation

4.-6. Tag Mittwoch bis Freitag

Gruppenspezifisches Programm im Gelände

7. Tag Sonnabend

Skifreier Tag (Markt in Bozen!)

8. Tag Sonntag

Aktualisierung der Gruppeneinteilung

9. bis 13. Tag Montag bis Freitag

Gruppenspezifisches Programm im Gelände

Sonnabendvormittag Abfahrt nach Bozen

Die Reaktion auf solche Veröffentlichungen war immer wie eine Charakteroffenbarung. Karsten saß im Essraum den Raumpfeilern gegenüber, an die er den Aushang geklebt hatte und tat so, als wäre er mit weiteren Listen beschäftigt. In Wirklichkeit hatte er das, was er wissen wollte längst den Listen entnommen und versteckte sich nun hinter ihnen, um die Studentinnen und Studenten und ihre Reaktion auf die Listen zu beobachten. Was er selbst wissen wollte, nämlich das Geburtsjahr samt Geburtstag von Marie hatte er längst herausgefunden. Marie war zwei Jahre jünger als er und hatte in der Woche nach der Skireise Geburtstag.

Professor Schmidt und Wilfried verabschiedeten sich Richtung Büro der Liftgesellschaft, der sie das Geld von vierzig Sportlern bringen wollten, die vierzehn Tage lang die Lifte nutzen wollten. Die Karte erlaubte das Befahren einer Region, die von den meisten aus der Gruppe, nämlich den Anfängern, niemals ausgenutzt werden konnte. Da die Liftpreise sich an die Spitze der inflationären Preise im Skisport gesetzt hatten, zogen Schmidt und Wilfried mit über 12.000 € los. Dabei mussten sie für die Skilehrer nicht einmal eine Karte mit einkalkulieren. Die bekamen von der Liftgesellschaft Freikarten. Schmidt wusste noch von italienischen Lira-Zeiten zu berichten, in denen er mit einem Köfferchen über 100.000 Lira transportieren musste.

Karsten beobachtete die ersten Studenten an dem ausgehängten Tagesprogramm. Sie trafen ein, weil sie sich dem Abendessen nähern wollten und waren auf die Ankündigung des Kursrahmens nicht vorbereitet. Es ergab sich für Karsten ein Muster. Die, die einzeln aus ihren Zimmern kamen, nahmen die Information des Aushangs ohne erkennbare Reaktion auf. Wer aber Gelegenheit hatte, einem Nebenmann oder einer Nebenfrau einen Kommentar zu geben, nutzte diese Gelegenheit. Aus der Entfernung konnte Karsten keine Kommentare hören, auch vielleicht weil deren Lautstärke motiviert durch den Anblick eines Skilehrers gedrosselt wurde. Karsten glaubte aber an den Gesichtern zu erkennen, ob es sich um einen bemüht witzigen Kommentar hauptsächlich männlicher Herkunft, einen gekonnt lustigen vorwiegend aus weiblichem Mund oder um einen sarkastisch-negativen Kommentar handelte, für den immer die verantwortlich waren, die es schon unmittelbar nach der Anreise anstrebten, eine Rolle als Führer zumindest einer Kleingruppe zu übernehmen. Hier lag schon mal die eine Keimzelle für Konflikte, die in einer so großen Gruppe spätestens in der zweiten Woche auftraten. Die Spannung zwischen führen wollenden und denen die nicht geführt werden wollten, konnte dadurch entspannt werden, dass sich die einen den penetrant herrschen wollenden unterordneten oder alle einen freien Tag verordnet erhielten, an dem sich jede und jeder ungewolltem Einfluss entziehen konnte. Die Kursleitung nahm durch die Lage des freien Tages zur Mitte der Reise ihren möglichen Einfluss auf ein gedeihliches Gruppenklima wahr. Mehr wollten sie mit einer Gruppe angehender Sportlehrer nicht tun.

Natürlich entging Karsten nicht, dass Marie den Raum betrat. Er sah auch, dass sie ihn sah. Aber keine und keiner der beiden ließ den Blick mehr als schweifend über den anderen ziehen. Seltsam wie eine flüchtige Betrachtung in ihrer Intensität eine lange intensive Beobachtung übertreffen kann, wenn Emotionen eine Rolle spielen.

Karsten war mittlerweile von Studentinnen und Studenten umlagert, die Fragen zum Programm hatten. Für diese Interessenten zu arbeiten, für sie alles abzurufen, was er ihnen in Sachen Skilaufen beibringen konnte, motivierte Karsten außerordentlich. Dann konnte er ohne Rücksicht auf seine Bequemlichkeit agieren und eine Portion Helfersyndrom in seine Rolle packen. Er maß sich dann selbst am Umgang mit weniger sympathischen Zeitgenossen und gab sich eine bessere Bewertung, wenn er diesen Menschen genauso professionell helfen konnte wie denen, die ihm sympathisch waren. Er wusste, er war im Umgang mit Menschen nicht neutral. Das wollte er als Lehrer nie sein, sondern immer die unterstützen, die seiner Meinung nach eine Hilfe anzuerkennen wussten und sie nutzten, vor allem wieder für Dritte.

Karsten gab bereitwillig Auskunft und bemerkte wieder einmal, dass es extrem leichtfällt, sich als Kundiger gegenüber Anfängern überlegen zu zeigen. Nicht durch wissende, detailreiche Kommentare, sondern durch eine kurze, klare und damit verständliche Antwort. Das Mehr an Wissen, das hoffentlich dem Lehrer innewohnt, sollte dann von einem guten Lehrer in verdaulichen Einheiten dargereicht werden. Jedes Detail zu viel in einer Antwort auf Anfängerfragen war Karstens Meinung nach Angeberei.

Der lockeren Runde um Karsten hatte sich inzwischen auch Marie angeschlossen. In zweiter Reihe stehend lauschte sie scheinbar konzentriert den Dialogen. Die Gespräche schienen die Themen zu streifen, die sie interessierten. Warum war Karsten sich da sicher? Kannte er sie wirklich schon so gut oder begann er, seine Wünsche auf sie zu projizieren? Immerhin hatte er bisher wenig Worte mit ihr gewechselt. Konnte er aus seinen Beobachtungen ableiten, dass Marie gerne zuhörte, gut zuhören konnte, bescheiden ihre Fragen in der Hoffnung zurückstellte, sie später noch klären zu können? War Marie jemand mit der man schweigen konnte? Konnte sie widerstehen, ihre Kompetenz durch Vorlautsein zu ersetzen? War sie also so wie Karsten sein wollte? Oder waren das alles Fragen, für deren Entstehen im Zusammenhang mit Marie mehr Wunschdenken als beweissichere Fakten vorlagen?

Halt dich zurück, Karsten und lerne aus dem, was Marie dir vormacht. Beobachte und versuche, du selbst zu bleiben.

Das Essen wurde in großen Schüsseln in den Raum getragen. Sofort machten die Karsten umringenden Studentinnen und Studenten Karsten klar, dass ihnen eine baldige Mahlzeit an einem Sitzplatz mit sympathischen Nachbarn wichtiger war, als die Antworten auf ihre Fragen zu den kommenden Tagen. Das Essen erforderte keine Gourmetkenntnisse und der Anbieter konnte davon ausgehen, dass alle Anwesenden hungrig waren und die Nahrungsaufnahme bereitwillig starten würden. So war es auch als die Nudeln die Terrinen verlassen hatten und bald nach einem Nachschlag gefragt wurde. Der erfahrene Wirt wusste um die Gier junger ausgehungerter Studentinnen und Studenten und um die Entstehung eines Images für die Küche und die Speisen. Also hatte er Nudeln zurückgehalten, die er nun als freiwillige Zugabe dem dankbar johlenden Volk darbot.

Dem Skilehrerteam war klar, dass Theorieeinheiten, die nach dem Essen serviert werden, schwer verdaulich waren und etliche, die eher am Pistenrasen als am Skilehren interessiert waren, mit einem Power-Napp zu kämpfen hatten. Anders war es nur bei dem am ersten Abend anstehenden Thema, der Einteilung der Skigruppen.

Alle wollten wissen, mit wem sie die nächsten Tage von morgens bis abends im Gelände unterwegs sein würden.

Waren die anderen bessere Skiläufer? Würde ich mithalten können oder die Gruppe aufhalten und behindern? Würden mich die anderen gar moppen oder auch nur meiden, wenn ich nicht so gut bin wie sie? Komme ich allein mit diesen harten Stiefeln an diesen langen Brettern klar, die hervorragend Bänder und Knochen schädigen konnten? Und vor allem: Könnte ich bitte eher in die Gruppe von Bob als in die von Schmidt kommen?

Den in der letzten der erwähnten Fragen enthaltenen Wunsch fand Karsten immer sehr dumm und Professor Schmidt gegenüber äußerst unfair. Schmidt war ein sehr guter, weil engagierter und präziser Lehrer, der gut beobachten, analysieren und beraten konnte. Natürlich wirkte er etwas altmodisch in seinem einfarbigen Overall von Bogner, den sich keiner der anderen Skilehrer leisten konnte oder wollte. Aber konnten die Studentinnen und Studenten sich nicht einmal die Toleranz aneignen, die sie ihrer Musik, ihrer Kleidung oder ihren Ansichten gegenüber wie selbstverständlich einklagten?

Karsten hatte in den Vorgesprächen die Übernahme der Gruppe mit Marie verhindern können. Das galt jedenfalls für die erste Woche. Er sollte die Skifahrerinnen und Skifahrer übernehmen, die ein paar Jahre Erfahrung angaben und in der es erfahrungsgemäß die größte Streuung an skifahrerischem Können gab. Bob wollte die beste Gruppe. Auch wenn er es nicht sagte, so wusste jeder im Team, Bob versprach sich davon sein maximales Selbstfahrvergnügen. Mit den Besten konnten alle Pisten gefahren werden. Die im Lehrplan verabredeten methodischen Reihen würde die Gruppe zügig durchfahren und danach wieder durchs Gelände toben. Bob hatte keinen Zweifel an der Akzeptanz seiner Person als Skilehrer in dieser Gruppe. Bob wird den Könnern aber nicht genug bieten können. Keine neuen Techniken, keine Vermittlungstricks und keine sichere Begründung, warum und wie eine Bewegung am leichtesten funktioniert und am sichersten erlernt wird. Schmidt wusste das. Er wollte aber keinen Streit und keinen missgelaunten Bob in einer Anfängergruppe. Es war jedes Jahr verlässlich, dass Bobs Gruppe anfangs euphorisch war, dann aber mitbekam, dass andere Skilehrer mehr boten als nur Gaudi. Bob fing dann an, seine Gruppe zu kritisieren und einen Übungsleiterwechsel anzuregen.

Die beiden Anfängergruppen waren für Schmidt immer sehr wichtig. An ihnen konnten Vermittlungen ausprobiert werden, die auf keinerlei Vorprägung trafen. Während zwei- oder dreijährige Erfahrung durch verkorkste Selbstlernprozesse oder missverstandene Skilehrer sehr unterschiedliches Können zementieren konnten, bestand bei Anfängern die Chance, von Beginn an so zu unterrichten wie es am erfolgversprechendsten war.

Professor Schmidt übernahm die Chefrolle und die Gruppenlisten und erläuterte die Kriterien für die Gruppenzusammensetzung.

“Wir sind hier auf einer Lehrveranstaltung der Universität Hamburg. Am Ende wollen sie von uns bescheinigt haben, dass sie eine Skiexkursion mit Schulkindern jeden Alters durchführen können. Ob sie zwischendurch eine Goldmedaille in der Abfahrt erhalten haben oder ihre Skitechnik sich auf die ersten beiden Bände des Skilehrplans begrenzt ist für uns unwichtig. Wir wollen ihnen allen individuelle Fortschritte auf der Piste ermöglichen, vor allem aber vermitteln, wie man Skifahren vermittelt. Daher ist für uns das alleinige Kriterium für die Gruppenaufteilung die Geländegängigkeit, weil davon abhängt, welche Übungen gemeinsam vor Ort durchgeführt werden können. Diese Geländegängigkeit hängt sehr direkt mit den bisher erworbenen skifahrerischen Fähigkeiten zusammen. Daher werden die unter ihnen, die bisher Skier nur im Schaufenster eines Kaufhauses oder im Fernsehen gesehen haben, eine Gruppe bilden. Wahrscheinlich werden wir zwei Gruppen auf diesem Niveau haben.“

Schmidt wusste, dass nun vor allem interessierte, wer diese beiden Gruppen als Skilehrer übernehmen würde und wer in welche Gruppe kommen würde. Schmidt wusste aber auch, er würde die Aufmerksamkeit mindestens der Hälfte der Anwesenden verlieren, gäbe er Lehrernamen oder Gruppenzusammensetzung preis.

„Wir haben etwa zehn unter ihnen, die angaben, bereits mehrere Jahre, teils von Kindheitstagen an, Ski zu fahren. Dann gab es