'Habe ich nicht genug Tumult ausgelöst?' - Günter Scholz - E-Book

'Habe ich nicht genug Tumult ausgelöst?' E-Book

Günter Scholz

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Beschreibung

"Ich habe die Welt satt, sie hat mich wiederum satt … sie meint, wenn sie mich los wäre, so wäre es gut … Es ist doch, wie ich oft gesagt hab: ich bin der reife Dreck, so ist die Welt das weite Arschloch; darum sind wir zu Recht zu trennen." Bücher über Luther füllen ganze Bibliotheken, aber was sagt Luther selbst über sich? Seine Tischreden, Briefe und Traktate stecken voller spontaner Selbstaussagen. Günter Scholz hat sie erstmals systematisch ausgewertet, um Luther sein Leben selbst erzählen zu lassen. Der Reformator teilt uns mit, wie er erzogen wurde, warum er ins Kloster ging und wann er den Kampf gegen das Papsttum aufnahm. Er spricht ganz ungeschminkt über Frauen und Liebe, Musik und Essen, Türken und Juden und lässt uns teilhaben an seiner Angst vor dem Teufel und an seinen Leidenschaften. Gerade in seinen Äußerungen über sich selbst und die Welt erweist sich Luther als Meister der deutschen Sprache, der seine Meinung knapp, anschaulich, gerne drastisch und immer unvergesslich auf den Punkt bringt.

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Günter Scholz

«Habe ich nicht genugTumult ausgelöst?»

Martin Luther in Selbstzeugnissen

C.H.Beck

Zum Buch

Bücher über Luther füllen ganze Bibliotheken, aber was sagt Luther selbst über sich? Seine Tischreden, Briefe und Traktate stecken voller spontaner Selbstaussagen. Günter Scholz hat sie erstmals systematisch ausgewertet, um Luther sein Leben selbst erzählen zu lassen. Der Reformator teilt uns mit, wie er erzogen wurde, warum er ins Kloster ging und wann er den Kampf gegen das Papsttum aufnahm. Er spricht ganz ungeschminkt über Frauen und Liebe, Musik und Essen, Türken und Juden und lässt uns teilhaben an seiner Angst vor dem Teufel und an seinen Leidenschaften. Gerade in seinen Äußerungen über sich selbst und die Welt erweist sich Luther als Meister der deutschen Sprache, der seine Meinung knapp, anschaulich, gerne drastisch und immer unvergesslich auf den Punkt bringt.

Zum Autor

Günter Scholz, Dr. phil., Kulturhistoriker, hat das Deutsche Bauernkriegsmuseum in Böblingen aufgebaut und war lange dessen Leiter. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Reformation, Bauernkrieg und Konfessionsbildung im 16. Jahrhundert.

Inhalt

Einleitung

Luther der Große

Die Tischreden

Ein Blick auf das Zeitalter

1. «Ich bin eines Bauern Sohn»

Herkunft und Eltern

Schule und Studium

2. «Der Welt abgestorben»

Ein Gewitter macht Weltgeschichte

Luther im Kloster

Die Romreise

Ablass und Reliquien in der Ewigen Stadt

3. «Durch den Glauben neu geboren»

Der Mann mit dem stechenden Blick

Luthers neues Glaubensverständnis

Kampf gegen den Ablass

Der Thesenanschlag fand nicht statt

Wittenberg – Rom der Protestanten

Der Beschützer: Friedrich der Weise

Der Gegner: Albrecht von Mainz

4. «Ein neues Feuer angezündet»

Kampf mit Wort und Bild

An den christlichen Adel deutscher Nation

Hoffnungsträger der jungen Generation

5. «Hier stehe ich»

Ein Kniefall in Augsburg

Der Bruch mit Rom

Worms 1521

Gesandter und Werkzeug Gottes

6. «Ich schlaf bei einer schönen Frau»

Erste Erfahrung mit Frauen

Priesterehe statt Zölibat

Raus aus dem Kloster, rein in die Ehe

Martin Luther heiratet

Luthers Eheglück

Herr Käthe

7. «Seid fruchtbar und mehret euch»

Ehe und Sexualität

Die Frau, das minderwertige Wesen

Starke Frauen der Reformation

Kinder sind die Zukunft

Gute Schulen braucht das Land

8. «Du hast ein böses Maul»

Viele Feinde …

… wenige Freunde

Der Erzrivale Thomas Müntzer

Keine Gnade für Täufer

9. «Den Fuggern einen Zaum ins Maul legen»

An Gelddingen nicht interessiert

Zins und Wucher

10. «Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern»

Die Not der Bauern

Der Bauernkrieg von 1525

Thomas Müntzer und die soziale Revolution

Luther gegen die Bauern

Spott und Strafe

11. «Denn sie sind uns eine schwere Last»

Bettler an die Arbeit

Kein Herz für Behinderte

Luther und die Juden

Pogrome im Mittelalter

1523: Mitgefühl für Juden

1532: Enttäuschung und Resignation

1543: Hass und Hetze

Das schreckliche Erbe des Reformators

12. «Zu strafen die Bösen und zu schützen die Frommen»

Abneigung gegen Juristen

Luther und die Obrigkeit

13. «Dem Volk aufs Maul schauen»

Vom Dolmetschen

Sprache und Sprachschöpfer

Von der rechten Predigt

14. «Ein feste Burg ist unser Gott»

Musik, eine Gottesgabe

Bücher und Bilder

15. «Nicht mehr denn Berg und Tal»

Luther mobil

Reisender in Sachen Reformation

Ablehnung des Fremden

Ein Herz für Schwaben

Pflanzen und Tiere

Unbekannte Welten

16. «Ich lobe mir eine gute Hausspeise»

Schweinefleisch und Torgauer Bier

Gegen die Völlerei

17. «Und wenn die Welt voll Teufel wär»

Der Mensch – böse und verdorben

Die Welt wird immer schlechter

Teufelswerk und Hexenwahn

18. «Die Welt wird zerbrechen am Jüngsten Tag»

Die Türken, Geißel Gottes

Kometen als Warnung

Das Weltende steht bevor

19. «Ich habe die Welt satt, die Welt hat mich satt»

Mensch mit Ecken und Kanten

Ein kranker Mann

Depression und Melancholie

Frustration im Alter

Mitten im Leben …

Von der Bereitung zum Sterben

Die letzte Reise

Worte an Luthers Grab

20. Sprichwörter und Redewendungen

Geflügelte Worte

Lebensweisheiten in Reimen

Nachwort

«Ich habe nicht umsonst gelebt»

Mythos Luther

Dank

Zeittafel

Quellen

Schriften Martin Luthers

Andere Quellen

Literaturhinweise

Für Uta

Einleitung

Luther der Große

Befragungen auf der Straße durch die Medien sind heutzutage sehr beliebt. Wenn man wissen will, wer Martin Luther war, erhält man unterschiedliche Antworten: «Den Namen habe ich schon einmal gehört, aber ich fange damit wenig an»: Das ist die Ausnahme. Die meisten verbinden etwas mit Luther: «Er hat es dem Papst und den alten Männern in Rom gegeben»; «Er hat seine Thesen – wie viele waren es noch? – an die Kirchentür angeschlagen»; «Seit Luther dürfen Geistliche heiraten, katholischen Priestern ist es bis heute verboten»; «Luther hat die Bibel übersetzt und die deutsche Sprache geschaffen.» Es gibt für Luther Lob auf der Straße, aber auch Kritik: «Er hat die Kirche gespalten»; «Er war ein grober Klotz und ein Macho»; «Und da war noch etwas, das mit den Bauern und den Juden.»

Einige der Befragten erinnern sich vielleicht an Lutherworte, solche, die ihm in den Mund gelegt werden: Auch wenn ich wüsste, dass morgen die Welt zu Grunde geht, würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen. Und an das deftige Ihr rülpset ja nicht, ihr furzet ja nicht, es hat euch wohl nicht geschmecket? Oder an ein Wort, das Luther tatsächlich gesagt hat: So die Frau nicht will, komme die Magd.

Die Passanten von heute schneiden deutlich besser ab als preußische Rekruten aus Schlesien um 1900. Sie antworteten, Luther habe die Bibel gemacht; er glaube nicht an Christus; er habe die katholische Kirche gegründet; und er habe das Schießpulver erfunden.

Das Fazit unserer Befragung: Luther ist den meisten bekannt. Für viele, aber längst nicht alle, ist er ein bedeutender Mann. Er polarisiert bis heute, er hat Freunde und er hat Feinde.

Mich selbst hat Luther in meinem Leben begleitet, obwohl ich katholisch bin. Das erste Mal begegnete er mir, als ich acht Jahre alt war. Ein Onkel war 1949 nach schlimmer Kriegsgefangenschaft in Wittenberg gestorben, «Lutherstadt Wittenberg» heißt die Stadt offiziell seit 1938. Die Eltern reisten mit mir zur Beisetzung. Im Anschluss daran wurde ich in die menschenleere, düstere Schlosskirche vor eine Grabplatte geführt. Hier ruht Martin Luther, ein großer Mann, wurde mir zugeraunt.

Martin Luther der Große: An der Schwelle zur Neuzeit kämpfte er gegen die Missstände der katholischen Kirche. Er wollte eine umfassende Erneuerung der Kirche auf der Grundlage des Evangeliums der Heiligen Schrift. Damit wurde er zum Vater der Reformation und zum Begründer des Protestantismus. Gegen seinen Willen löste er die bis heute nicht überwundene Glaubensspaltung aus. An die Stelle der bis dahin einen Kirche traten seitdem unterschiedliche Konfessionen. Sie bekämpften sich erbittert mit Intoleranz und Gewalt bis zum Dreißigjährigen Krieg und noch darüber hinaus. Luther wurde eine Persönlichkeit der Weltgeschichte.

Luther der Große: Von seinen Anhängern wurde er schon zu Lebzeiten mit Glorienschein umgeben und ins Übermenschliche entrückt. Nach seinem Tod verklärten ihn die evangelischen Theologen als Heilsbringer der allein selig machenden reinen Lehre der Reformation. Im 19. Jahrhundert wurde er auf den Sockel der Denkmäler gestellt, zum Monument deutscher Größe und Herrlichkeit, hoch erhoben und unnahbar.

Luther der Große – aber auch der Monströse: Für seine Gegner war er bis ins 20. Jahrhundert Ketzer und Kind des Teufels, der die einzig wahre katholische Kirche in Brand gesteckt habe.

Luther als Mensch: Von seinen Freunden und Feinden wurde er biografisch zurechtgebogen, wie es jeweils in ihr voreingenommenes Lutherbild passte. Verkörperung aller Tugenden für die einen, aller Laster für die anderen.

Die Tischreden

Über Martin Luther wurde unendlich viel geschrieben. Theologen haben akribisch jeden noch so kleinen Stein und Balken seines Lehrgebäudes hin und her gewendet und kontrovers diskutiert. Die Person des Reformators interessierte sie meist weniger. Dieses Buch rückt dagegen den Menschen Luther ins Zentrum. Mit einem neuen Zugang: Nicht andere sollen über ihn urteilen, sondern er kommt selbst zu Wort in seinen Tischreden. Sie füllen in der großen Weimarer Lutherausgabe stattliche sechs Bände mit jeweils rund 700 Seiten. Obwohl als Quelle von unschätzbarem Wert, wurden sie bis heute nicht umfassend ausgewertet. Stattdessen nutzte man sie meist als Steinbruch und holte sich heraus, was ins eigene Lutherbild passte. Weniger Erwünschtes unterschlug man, oder man zweifelte am historischen Gehalt der Aussage. Luther wurde so historisch geliftet und weichgespült. In den Tischreden kommt er als Mensch so nah wie kaum eine andere Persönlichkeit der Frühen Neuzeit. Er äußert sich dort so spontan wie heute die User von Facebook und Twitter.

Die vorliegende Textauswahl möchte Luther ausgewogen und ohne eine vorgefasste Deutungsabsicht selbst zu Wort kommen lassen, vor allem durch Zitate aus seinen Tischreden, aber auch aus Flugschriften, Traktaten und Briefen des Reformators.

Wie entstanden die Tischreden? Im Wittenberger Lutherhaus wurden die Mahlzeiten in großer Runde im Refektorium des ehemaligen Augustinerklosters eingenommen. Bevor die Hausfrau die mit Liebe, aber auch Sparsamkeit bereiteten Speisen servierte, sprach der Hausherr das Tischgebet, gern das Vaterunser:Es bindet die Leute zusammen und ineinander, dass einer für den andern und mit dem andern betet, und wirkt so stark, dass es alles Übel und den Tod vertreibt. (TRI, 700) Beim Essen herrschte der Klostersitte gemäß Schweigen. Nach Tisch versammelte sich eine ausgewählte Männerrunde in der bis heute erhaltenen Lutherstube. Katharina Luther war als einzige Frau dabei, soweit es der Haushalt zuließ.

Für das Gespräch nach Tisch gab es ein festes Ritual. Luther leitete es mit der Frage ein: Was hört man Neues? Darauf gab es zunächst allgemeines Schweigen. Der Hausherr hakte nach: Ihr Prälaten, was Neues im Lande? Dann begannen zögernd die Älteren in der Runde zu reden, allmählich auch andere. Das brachte den Reformator in Fahrt, und er setzte zum Monolog an. Johannes Mathesius, sein Tischgenosse und erster Biograf, beschrieb den Ablauf: «Oftmals legte man gute Fragen ein aus der Schrift, die löste er fein rund und kurz, und da einer mal Part (Widerpart) hielt, konnte er es auch leiden, und mit geschickter Antwort widerlegen.» Luther lenkte das Gespräch mit unangefochtener Autorität. Wenn Gäste von Rang und Stand an der Runde teilnahmen, kam er in Hochform: «Oftmals kamen etliche Leute von der Universität, auch von fremden Orten an den Tisch, da gefielen sehr schöne Reden und Historien», schwärmte Mathesius. Begierig hingen alle an Luthers Lippen: «Wie wir denn sein Reden Condimenta mensae (Tischgewürze) pflegten zu nennen, die uns lieber waren als alle Würze und köstliche Speise.» Er sprach «nunc Latinae, nunc Germanicae», unvermittelt wechselte er vom Lateinischen ins Deutsche, sogar im selben Satz.

Luthers Worte sind für den Zeitraum von 1531 bis 1546 überliefert. Über die bewegten Jahre der frühen Reformation wird im Rückblick berichtet. Sie hatten sich tief in sein Gedächtnis eingeprägt. Er erinnerte sich minutiös daran. Manchmal berichtete er das Gleiche sogar mehrfach. Unsicher war er gelegentlich in der Datierung. Aufgeschrieben wurden die Lutherworte von einem Dutzend Zuhörer. Sie machten zunächst Notizen in dünne Hefte oder auf einzelne Blätter. Später überarbeiteten sie die Konzepte. Die Schreiber waren alle Schüler und enge Vertraute Luthers. Sie wollten ihn in ein positives Licht rücken. Der eine oder andere hatte wohl auch schon seinen Nachruhm im Blick. Bei den Autoren gab es Hörfehler, Missverständnisse, Erinnerungslücken, wohl auch Wichtigtuerei und Übertreibungen.

Das galt besonders für seinen Famulus, den späteren Feldprediger Johannes Aurifaber (1519–1575). Zwanzig Jahre nach Luthers Tod gab er 1566 die erste Sammlung der Tischreden heraus. Sie hatte bis ins 19. Jahrhundert starken Einfluss auf das Lutherbild. Bedenkenlos machte Aurifaber Luthersätze mundgerecht. Bei der Sprache setzte er noch eins drauf und steigerte kräftige Lutherworte zur Deftigkeit. Eigenmächtig brachte er Zitate in Umlauf, die nicht vom Reformator stammen. Deshalb verwendet das vorliegende Buch diese Textvorlage nicht, sondern die von Ernst Kroker (1859–1927) besorgte Edition der Tischreden nach den Aufzeichnungen von Luthers Tischgenossen (WA, TRI–VI).

Den Wert der Tischreden erkannte übrigens auch Luthers Frau mit ihrem Sinn fürs Praktische. Als das Geld im Lutherhaus einmal knapp war, mahnte sie den Gemahl: Herr Doktor, lehret sie nicht umsonst, schon sammeln sie viel! Doch Luther winkte ab: Ich habe 30 Jahre lang gelehrt und gepredigt. Warum sollte ich jetzt im vorgerückten Alter anfangen zu verkaufen? (TRIV, 5187)

Ein Blick auf das Zeitalter

Die Epoche Martin Luthers liegt ein halbes Jahrtausend zurück. Vieles von damals erscheint heute fremd und abstoßend, etwa Teufelsglaube, Hexenwahn, panische Angst vor Fegfeuer, Höllenpein und Endgericht. Doch anderes wirkt bis heute nach, zum Beispiel das damals neue Medium des Buchdrucks, der Vorstoß der Entdecker in unbekannte Welten, die Zunahme von Wissen und Bildung, die Auflehnung gegen Unterdrückung und Gewalt, der Kampf um Freiheit. Die Zeit um 1500 gleicht einem Januskopf, nach rückwärts gewandt, aber auch in die Zukunft weisend.

Krise von Kirche und Reich. Morsch und brüchig geworden waren die tragenden Säulen von Kirche und Reich. Missstände waren in die Kirche eingerissen, bei Päpsten, Bischöfen, Mönchen, Nonnen und Weltgeistlichen. Die Päpste setzten ihre Autorität bedenkenlos für politische, finanzielle und private Zwecke ein. «Lasst uns das Papsttum genießen, da Gott es uns gegeben hat», war die Devise des Renaissancepapstes Leo X. (1513–1521). Erasmus von Rotterdam spottete: «Die Päpste überlassen alles, was Mühe macht, den Aposteln Petrus und Paulus … ein glänzendes Vergnügen aber nehmen sie selbst wahr» (Lob der Torheit). Kirchenfürsten vernachlässigten ihr geistliches Amt, führten einen ausschweifenden Lebenswandel und strebten nach Macht und Geld. Die niederen Geistlichen, meist nur mangelhaft ausgebildet, waren ihren Seelsorgepflichten oft nicht gewachsen. Dabei war das Verlangen des Kirchenvolkes nach Seelenheil an der Schwelle zur Neuzeit vielleicht stärker denn je.

Nicht nur die Kirche, sondern auch das Heilige Römische Reich deutscher Nation war in der Krise. An seiner Spitze stand der Kaiser, ihm zur Seite «ratend und beratend» die Stände des Reiches. Dazu zählten die sieben Kurfürsten mit dem Recht der Königs- und Kaiserwahl, ferner die geistlichen und weltlichen Fürsten, Grafen und Herren sowie die Reichsstädte. Sie versammelten sich auf den Reichstagen und entschieden über die Geschicke des Landes. Der Kaiser hatte im Spätmittelalter deutlich an Macht verloren. Kaiser Friedrich III., des «Heiligen Römischen Reiches Erzschlafmütze», wie er oft genannt wurde, zog sich zeitweilig ganz aus den Reichsgeschäften zurück. Die Stände, vor allem die aufstrebenden Landesherren, stärkten ihre Rechte auf Kosten des Kaisers. Das Reich wurde von außen durch Krieg und Gewalt erschüttert. In einem Zweifrontenkrieg war es von Frankreich und den Osmanen bedroht. Die als «Erbfeind» und «Geißel Gottes» gefürchteten Türken drangen nach der Eroberung von Konstantinopel (1453) unaufhaltsam nach Europa vor und belagerten 1529 Wien – ein Schock für die Christenheit. Im Innern des Reiches herrschten Raubrittertum und Fehde. Der Adel griff zu rechtswidriger Selbsthilfe. Das Land war gelähmt. Deshalb wurde der Ruf nach einer umfassenden Reform immer lauter.

Bewegung und Veränderung. Trotz Zerrüttung und Krise war die Lutherzeit zugleich eine Epoche kraftvoller Veränderungen: «Das 16. Jahrhundert schafft wesentlich diejenigen großen Positionen in der materiellen und geistigen Welt, welche die folgenden Zeiten beherrscht haben; es ist eine Zeit der gewaltigen Neuerung», so bewertete Jacob Burckhardt den Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit (Historische Fragmente).

Eine Zeit der Erneuerung: Kaiser Maximilian I., bei seiner Wahl noch nicht siebenundzwanzig Jahre alt, reich begabt und beim Volk beliebt, wurde zum Hoffnungsträger der Reichsreform und proklamierte auf seinem ersten Reichstag 1495 in Worms den «Ewigen Landfrieden». Künftig waren alle Fehden verboten. Das neu geschaffene Reichskammergericht wurde mit der obersten Gerichtsbarkeit betraut. Der «Gemeine Pfennig», eine Kopf- und Vermögenssteuer, sollte dem Kaiser aus seiner chronischen Finanznot helfen. Doch weitergehende Reformen wie die Einführung eines Reichsregiments scheiterten. Stattdessen stärkten die Fürsten ihre Macht. In ihren Territorien bauten sie die Verwaltung aus und bestellten «gelehrte Räte», Juristen, die am Römischen Recht geschult waren. Da es altes Gewohnheitsrecht verdrängte, war es beim Volk verhasst. Seine Ausbildung erhielt der Beamtenapparat an den neu gegründeten landesherrlichen Universitäten, etwa in Tübingen (1477), Wittenberg (1502), Frankfurt an der Oder (1506) und Marburg (1527). Landes- und Polizeiordnungen regelten bis ins kleinste Detail Handel und Wandel, so gab es genaue Qualitäts- und Preisvorschriften für Fleisch und Brot. Sie überwachten Sitte und Moral von Verlobten und Eheleuten, verboten Prostitution, Kleiderluxus, üppige Hochzeitsfeste sowie übermäßiges Trinken und «Zutrinken», ein weit verbreitetes Laster. Damals begannen Bürokratie und staatliche Bevormundung, die heute in manchen Bereichen bis zur Überregulierung auf die Spitze getrieben sind.

Die Große Pest. Der Tod war im Mittelalter allgegenwärtig. Massenhaft und unversehens hielt er Ernte: Media vita in morte sumus – mitten im Leben sind vom Tod wir umgeben. Unheil und Vernichtung brachte das 14. Jahrhundert: 1313 bis 1317 mit schwerer Hungersnot, 1348 mit der Großen Pest. Ihr Erreger wurde durch infizierte Ratten auf Handelsschiffen von der Krim nach Europa eingeschleppt. Da sich die Haut der Pestkranken dunkel verfärbte, wurde die Seuche «Schwarzer Tod» genannt. In den eng bebauten Städten raffte sie die Menschen zu Tausenden dahin. Dem Sterben von 1348 folgten weitere Pestwellen. Insgesamt fiel ihnen ein Drittel der europäischen Bevölkerung zum Opfer. Ganze Landstriche verödeten zu «Wüstungen». Die Nachfrage nach Agrarerzeugnissen brach ein. Unter dem Preisverfall litten die Grundherrschaften und noch mehr die abhängigen Bauern.

Der Pest standen die Menschen ohnmächtig gegenüber: «Gegen dieses Übel half keine Klugheit oder Vorkehrung … Ebenso wenig nützten die demütigen Gebete», klagte Giovanni Boccaccio in seinem Decamerone um 1350 in Florenz. Auch Pestärzte, die wie «Doktor Schnabel» durch makabre Schutzkleidung – langer Mantel und Schnabelmaske – Ansteckung verhüten wollten, konnten nichts bewirken. Die Epidemie war «Geißel Gottes», Strafe für Sünde und Laster. Um den Zorn des Allmächtigen zu besänftigen, zogen die Flagellanten «nackt, mit Geißeln, eingereiht wie zu einer Prozession» durch die Lande (Chronik von Jean de Venette, zit. nach Romano/Tenenti). Die Schuld an allem Übel gab man den Juden; sie hätten die Brunnen vergiftet, Hostienfrevel und Ritualmorde an Kindern verübt. Das «finstere Mittelalter» warf einen langen Schatten auf die Zeit Martin Luthers und darüber hinaus.

Bevölkerungswachstum und technischer Fortschritt. Nach einem Jahrhundert der Stagnation im Gefolge der Pest setzte seit 1450 ein kräftiges Bevölkerungswachstum ein. Die Einwohnerzahl Deutschlands stieg bis 1550 von 10 auf rund 15 Millionen. Zugleich begann ein wirtschaftlicher Aufschwung. Die Nachfrage nach Agrarerzeugnissen wuchs, und die Preise zogen an. Sie erhöhten sich für Brotgetreide spürbar um ca. 4 Prozent pro Jahr. Von der guten Konjunktur profitierten die Grund- und Gutsbesitzer, nicht aber die Bauern. Sie mussten die Ernteerträge an die Obrigkeiten abliefern; nur einen Bruchteil durften sie in den Städten selbst vermarkten.

Der Bergbau blühte. Für Kaiser Karl V. war er «die größte Gabe und Nutzbarkeit, die der Allmächtige deutschen Landen mitgeteilt hat». Fieber nach Gold, Silber und Kupfer brach aus. Glücksritter suchten im Harz, Mansfelder Land und Erzgebirge, in Tirol und Böhmen den schnellen Reichtum. Bergbaustädte wie Schneeberg und Annaberg schossen aus dem Boden. Selbstständige Bergunternehmer (Gewerke) wurden zu abhängigen Lohnarbeitern. Im Silberbergbau von Schwaz in Tirol arbeiteten zeitweilig über 10.000 Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen. Deutschland wurde führend in der Bergbautechnik. Der Entwässerung von Stollen und Schächten dienten aufwändig konstruierte Pump- und Schöpfwerke. Der Arzt und Bürgermeister Georg Agricola (Bauer) aus Chemnitz begründete mit seinem Kompendium De re metallica – Vom Bergwerk (1556/57) die neuzeitliche Montanwissenschaft. Innovativ bei der Verhüttung war das Saigerverfahren: Um aus Kupfererz das begehrte Silber herauszuschmelzen, wurde Blei zugesetzt. Auch die Metallverarbeitung und die Waffentechnik schritten fort. Angesichts der Bedrohung durch das nach Europa expandierende Osmanische Reich hatten die Waffenschmieden Hochkonjunktur.

Der Frühkapitalismus. Der Bergbau warf hohe Gewinne ab, aber Kapitaleinsatz und Risiko waren ebenfalls hoch. Neben Landesfürsten engagierten sich finanzstarke Kaufleute, wie die Fugger in Tirol und in der Slowakei. Kaufleute und Unternehmer stiegen in das «Verlagswesen» ein: Sie stellten selbstständigen Handwerkern, besonders in der Textil- und Metallbranche, Geld, Rohstoffe und Produktionsmittel zur Verfügung. Dafür mussten ihnen die Handwerker ihre Erzeugnisse zur Vermarktung überlassen. Sie wurden so zu abhängigen Lohnarbeitern. Das Zunfthandwerk wurde verdrängt.

Durch den Fernhandel mit Getreide, Gewürzen (Spezerei) und Luxuswaren häuften Kaufleute und Handelsgesellschaften große Vermögen an. Sie beherrschten die Märkte mit Preisabsprachen und Monopolen. Die Waren verteuerten sich, der gemeine Mann litt darunter. 1512 erließ der Reichstag ein Verbot der Monopole, es blieb allerdings wirkungslos. Fugger, Welser und andere Handelshäuser betrieben das Geld- und Bankgeschäft in großem Stil, nachdem die katholische Kirche sich über das Zinsverbot hinweggesetzt hatte. Der Theologe Johannes Eck hielt einen Zinssatz von 5 Prozent für zulässig; tatsächlich lag er oft weit darüber. In der Zeit des Frühkapitalismus wurde der Graben zwischen Arm und Reich immer tiefer. Die sozialen Spannungen verschärften sich.

Die Medienrevolution. Bahnbrechend wurde die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg (1400–1468). Gutenbergs wichtigste Neuerung waren die gegossenen Bleibuchstaben, die Lettern. Dadurch wurde die zeitraubende Herstellung der Druckstöcke vereinfacht; nicht mehr eine starre Holzplatte war Träger des Druckwerkes, sondern einzelne Buchstaben wurden zu Texten zusammengefügt. Die Lettern konnten wiederverwendet werden, das verbilligte den Druck. Eine weitere Innovation Gutenbergs war die Druckerpresse. Sie ermöglichte die schnelle Vervielfältigung der Texte. Vorbild war die Obst- oder Weinpresse. Gutenbergs streng gehütetes Geheimnis war die intensiv schwarze Druckfarbe. Sein Meisterwerk wurde 1454/55 der Druck der 42-zeiligen lateinischen Vulgata-Bibel – ein Meilenstein der Buchgeschichte. Am Druck arbeiteten mehrere Setzer gleichzeitig. Sie verwendeten 100.000 Typen. Hergestellt wurden rund 180 Exemplare, davon 140 auf Papier und 40 auf Pergament. Dafür war die Haut von 5000 Kälbern notwendig. Bis heute sind noch rund 50 Gutenberg-Bibeln erhalten.

Der Buchdruck verbreitete neue Ideen. Künstler und Gelehrte entdeckten und idealisierten die Antike. Diese «Wiedergeburt» der Kultur des Altertums bewirkte «die Entdeckung der Welt und des Menschen» (Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien). Von Italien ging auch der Humanismus aus. Seine Anhänger förderten Sprache, Wissen und Bildung. Sie gingen auf die Schriftquellen im Urtext zurück (ad fontes). Gedruckt wurden Grammatiken, philosophische Schriften, Lexika und Atlanten. Ein Kompendium der Universalgeschichte war die Weltchronik von Hartmann Schedel (Nürnberg 1493). Das opulente Werk mit einer Fülle reizvoller Holzschnitte war zugleich ein frühes Beispiel für die gefährliche Seite des Buchdrucks: Mit Berichten und Illustrationen über angebliche jüdische Ritualmorde propagierte es Diskriminierung und Hass.

Der Buchdruck hatte Breitenwirkung. Flugblätter und Flugschriften in Deutsch erreichten nicht nur die Oberschichten, sondern auch den gemeinen Mann. Sie umfassten nur wenige Seiten, wurden für die damalige Zeit in hoher Auflage gedruckt und waren im Preis erschwinglich. Von «Buchführern» wurden sie auf Märkten und Messen verkauft. Den Analphabeten, vor allem auf dem Land, wurden sie vorgelesen. Oft sprachen auch die Abbildungen für sich. Die Menschen waren fortan nicht mehr auf Gerüchte und Hörensagen angewiesen, sondern bekamen schwarz auf weiß handfeste Informationen. Sie wurden hellhörig und begannen zu diskutieren. Die Bauern seien «witzig», das bedeutete kritisch geworden, heißt es in den Quellen. So entstand die öffentliche Meinung.

Sozialkritik und Revolten. Die Kritik an Kirche, Staat und Gesellschaft wurde immer lauter, die Päpste seien verweltlicht, der Klerus sittenlos, der Kaiser ohnmächtig und die Gesellschaft ungerecht. Scharf ging 1476 der Hirt, Dorfmusikant und Analphabet Hans Böheim mit Geistlichen und weltlichen Obrigkeiten ins Gericht. Der «Pfeifer von Niklashausen» bei Wertheim in Franken war wohl Nachfahre hussitischer Einwanderer aus Böhmen. In Hasspredigten rief er dazu auf, die Pfaffen, allesamt Bösewichte, zu erschlagen. Er forderte die Abschaffung von Steuern und Abgaben. Und er verlangte soziale Gleichheit: Papst, Kaiser, Fürsten, Grafen, Ritter und Bürger sollten mit dem gemeinen Mann teilen. Keiner sollte mehr haben als der andere. Massenhaft und von weit her erhielt der Pfeifer Zulauf. Wie ein Heiliger soll er verehrt worden sein. Doch bald schritten die Obrigkeiten ein. Böheim wurde gefangen genommen und in Würzburg verbrannt. Die Kapelle, in der er gepredigt hatte, wurde dem Erdboden gleichgemacht.

Aber der Protest des Volkes ließ sich nicht mehr unterdrücken. Gegen die ungerechten Herrschaften erhob sich die Bundschuh-Bewegung, benannt nach dem mit Riemen geschnürten Schuh der Bauern, im Unterschied zum Stiefel der Ritter. Zu Revolten kam es 1493 in Schlettstadt, 1502 im Bistum Speyer, 1512 und 1517 am Oberrhein. Württemberg wurde 1514 vom «Armen Konrad», einem Bündnis der «gemeinen liute», erschüttert. Bauernaufstände gab es auch in den habsburgischen Alpenländern und in Ungarn. Ein «soziales Dauerbeben» (Karl Eder) erfasste das Reich am Vorabend der Reformation.

Härte des Lebens. Die Zeit Martin Luthers war unbarmherzig. Grausam war die Justiz. Vergehen und Verbrechen ahndete das Strafgesetzbuch der Zeit, die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V., die sogenannte Carolina, von 1532, nicht mit Gefängnis, sondern fast nur mit Strafe «am Leib oder Leben». Wer einer Tat verdächtig war und nicht sogleich gestand, wurde in der Folter «peinlich befragt, mit Bedrohung der Marter». Die Todesstrafe wurde oft und schnell verhängt, in vielen qualvollen Varianten. Der Feuertod war vorgesehen bei Sodomie, Homosexualität und Brandstiftung. Vergewaltiger, Aufrührer gegen die Obrigkeit, Räuber und Männer, die Abtreibungen vornahmen, wurden mit dem Schwert enthauptet. Mörder wurden mit dem «Rad durch Zerstoßung der Glieder zum Tod gerichtet». Bei dreifachem Diebstahl drohte Männern der Galgen, Frauen die Hinrichtung durch Ertränken. Die gleiche Strafe galt Giftmörderinnen. Lebendig begraben und «gepfählt» werden sollten Kindesmörderinnen. Wo es Gewässer gab, war «Abmilderung» auf Ertränkung möglich. Weitere Todesstrafen waren die Vierteilung («durch seinen ganzen Leib zu vier Stücken zu schnitten und zerhauen»). Die Todesqual konnte durch Schleifen an die Richtstätte und durch Reißen mit glühenden Zangen noch gesteigert werden. Die Leibesstrafen dienten der Kennzeichnung von Straftätern. Sie trugen für jedermann sichtbar und zur Abschreckung ihr «Vorstrafenregister» am eigenen Leib. So wurden Kupplerinnen die Ohren abgehauen, anderen Missetätern die Zunge abgeschnitten. Leichter kam davon, wer an den Pranger gestellt oder mit Ruten ausgepeitscht wurde. Wer des Landes verwiesen wurde, der musste heimatlos von Ort zu Ort ziehen.

1. «Ich bin eines Bauern Sohn»

Herkunft und Eltern

Das Reformationsjahr 1517 war der Einschnitt in Luthers Leben. Sogar die Schreibweise seines Namens änderte er damals. Ursprünglich war der Familienname Lyder oder Luder (TRIV, 4378). Im Brief vom 31. Oktober 1517 an Kardinal Albrecht von Brandenburg mit den 95 Thesen in der Anlage verwendete er erstmals die Namensform Luther. Zeitweilig nannte er sich auch griechisch-lateinisch «Eleutherius», der «Befreier». Für seine Gegner war die Namensänderung von Luder (Nomen est omen!) zu Luther ein Akt der Eitelkeit.