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Nach dem letzten Kampf gegen die Firma steht Igor vor der Herausforderung, einen Clan zu führen. Schnell finden sich neue Verbündete aber auch Feinde. Wird er seine unkonventionelle Linie nach innen und außen halten können? Mira sucht nach einem Weg, ihr Versprechen gegenüber Licht und Schatten zu halten. Ausgerechnet ein handgeschriebenes Buch von Horatio bringt sie auf eine Spur... bereits erschienen: Band 1 Mira, Band 2 Anzheru, Band 3 Letizia, Band 4 Shaun, Band 5 Gigi und die Kurzgeschichte Marada in Planung: Band 7 Yero
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Inhaltsverzeichnis
Tageswandler VI
Über die Autorin
Widmung
Prolog
Steinbock
Kaffee
Shaquan
Theater
Suche
Diplomatie
Frustration
Sergej
Bibliothek
Übersetzer
Versammlung
Rückkehr
Finanzier
Band
Eltern
Eisbär
Jagd
Haroon
Stalker
Soraya
Melissa
Leibwächter
Tastsinn
Rat
Anführer
Tageswandler
Impressum
~Igor~
von Al Rey
Al Rey ist in Solingen geboren und aufgewachsen. Jetzt lebt sie im schönen Rheinland.
Kontakt:
al-rey.jimdofree.com
Für Gina
„Wie soll ich sehen, ob du dich vor deinem Angriff verwandelst, oder nicht?“, fragte Okon missmutig und rappelte sich vom Boden auf. Sie trainierten seit über einer Stunde auf einer kleinen schneebedeckten Wiese abseits des Quartiers. Seichte Hügel und Sträucher schirmten sie ab, sodass ihnen niemand zusah. Igor hatte Okon erneut mit Leichtigkeit besiegt. Es spielte tatsächlich keine Rolle, in welcher Gestalt der Hundemann angriff. Er war zwar etwas älter, als Igor ursprünglich angenommen hatte, besaß jedoch noch zu wenig Erfahrung, um es im Einzelkampf mit ihm aufzunehmen.
„Ich weiß, es fällt dir schwer, aber überlass dich fürs Erste deinem Instinkt.“ Der Hyänenmann lehnte sich vor. „Er wird dir zeigen, was auf dich zukommt, solange du gegen Gestaltwandler kämpfst. Kontrolle lernen wir alle erst später.“
Nach drei weiteren Attacken gab Okon es auf. Er blieb im Schnee auf dem Rücken liegen und rieb sich die schmerzenden Knochen. „Vielleicht bin ich einfach kein Kämpfer.“
„Du hast mich gebeten, es dir beizubringen. Das spricht gegen diese These.“
„Du glaubst nicht, wie sehr ich das gerade bereue.“
„Hab Geduld mit dir.“ Igor half ihm mit einem Grinsen auf.
„Wie lange muss ich das?“
„Du hast dich Jahrzehnte lang gegen deine zweite Gestalt gewehrt und ihr Potenzial nicht entfaltet. Natürlich wird es dauern, bis du sie wie ich benutzen kannst.“
Der Albino nickte nachdenklich, während sie sich auf den Rückweg zum Quartier machten. Der Mond stand hoch am Himmel. Er tauchte die Gegend in ein kühles, fahles Licht. Jeder noch so niedrige Busch warf einen unwirklich langen Schatten. Trotzdem hatte Igor sich schnell wieder heimisch gefühlt. Hier war er aufgewachsen.
„Ich wünschte, ich wäre dir früher begegnet. Oder hätte den Mut aufgebracht, mich ein paar Abtrünnigen zu offenbaren. Dann hätte ich früher gelernt, ein Hund zu sein“, sagte Okon. Er bleckte die Zähne. „Abtrünnige leben gefährlich und müssen jedem gegenüber misstrauisch sein. Wer weiß, wie sie unter normalen Umständen auf dich reagiert hätten.“
„Ich dachte, in den meisten Gruppen ist meine Hundegestalt allgemein akzeptiert. Wäre ein anderer Clan besser gewesen?“
„Hätten sie dich aufgenommen, hätten sie von dir erwartet, ein Wächter zu sein und den Clan um jeden Preis zu beschützen. Gefragt, ob du das willst, hätten sie nicht.“
Der Hundemann zuckte mit den Schultern. „Warum tue ich mir diese Kampflektionen mit dir wohl an? Ich will die anderen beschützen können.“
„Einverstanden.“ Igor stieg ein paar flache Felsen hinauf. Ihr Quartier kam in Sicht.
„Aber dann bin ich nicht mehr lange dein geeigneter Trainingspartner. Falls sich ein Clan gegen uns wenden sollte, was ich wirklich nicht hoffe, schicken sie zuerst ihre Bären. Du wirst Katinka fragen müssen, ob sie dir beibringt, wie man sich gegen sie verteidigt.“
Okon zog die Schultern hoch. Er konnte es ihm nicht verübeln. Einige im Clan fühlten sich von Katinka eingeschüchtert. Die hünenhafte Bärin war ebenfalls auf dem Weg ins Haus und warf ihnen einen kurzen Blick zu. Falls sie den letzten Teil ihrer Unterhaltung mit angehört hatte, schien sie noch nicht darauf eingehen zu wollen. Sie verhielt sich allgemein ein wenig reserviert und beobachtete jeden Einzelnen in ihrem Clan genau, bevor sie überhaupt ein Gespräch begann. Igor hatte sie inzwischen erzählt, dass ihre Familie aus Kroatien geflüchtet und sie in Kolumbien geboren worden war. Vor wem sie geflohen waren und wer ihre Eltern letztendlich getötet hatte, behielt sie für sich. Sie hatte nur gesagt, dass dem Clan ihretwegen keine Gefahr drohen würde. Igor vermutete im Stillen, dass Katinka ihre Familie gerächt hatte. Sie besaß ohne jeden Zweifel das Herz einer Kriegerin. Er betrat mit Okon die Eingangshalle. Die alten sowie die neuen Clan-Mitglieder hatten gemeinsam beschlossen, das Quartier zu renovieren. Zuerst hatten sie die dunklen Vorhänge und muffigen Teppiche entfernt und teils durch hellere Stoffe ersetzt. Statt der alten Gemälde zierten drei Dutzend Fotos die Korridorwand in der ersten Etage. Melissa hatte sie von sämtlichen Clan-Mitgliedern gemacht. Auch von jenen, die zuvor nie aus Spaß fotografiert worden waren. Dementsprechend hatten ein paar sehr irritierte Mienen in die Kamera geschaut. Igors Bild hing genau in der Mitte und zeigte ihn dabei, wie er auf einer Leiter stand und einen Karton von einem verstaubten Regal hob. Fjodor hatte gefragt, ob das Mädchen nicht besser neue und vielleicht etwas würdevollere Aufnahmen von ihnen machen sollte. Bisher gefielen sie Igor allerdings sehr gut. Melissa kam ihnen entgegen und begrüßte ihren Gefährten mit einem Kuss. Dann betrachtete sie seine vielen Blessuren.
„Was hast du schon wieder mit ihm gemacht?“, fragte sie an Igor gewandt.
„Es geht schon“, nahm Okon die Antwort vorweg. „Ich bin nur dreckig. Ich dusche mich schnell ab und dann streichen wir die letzte Wand in unserem Zimmer, einverstanden?“
Sie nickte begeistert, blieb jedoch stehen, während er schon die Treppe hinauf lief. Sie musterte Igor erneut, als ob er ihrem Geliebten all die Schrammen absichtlich zugefügt hätte.
„Er will kämpfen lernen“, sagte er leise. „Es gibt keinen anderen Weg, als zu trainieren.“
„Ich verstehe ja, warum. Aber wie wäre es mal mit zwei Tagen Pause?“
„Sag du ihm das“, schlug Igor vor. Melissa nickte resigniert. In diesem Punkt hörte Okon offenbar nicht auf sie.
„Marcus hat angerufen“, sagte sie, bevor sie sich zum Gehen wandte. „Er lässt dich grüßen.“
„Danke. Was hat er gewollt?“
„Er hat sich nur erkundigt, wie es Valeska und mir geht.“ Das Mädchen hob die Schultern. „Denkst du, er fühlt sich immer noch verantwortlich, obwohl wir uns selbst entschieden haben, bei euch zu bleiben?“
„Gut möglich.“
Diese Art der Nachfrage war unter den Gestaltwandlern unüblich, Igor nahm es seinem alten Freund aber nicht übel. Woher sollte Marcus wissen, dass Jason und Okon die beiden Mädchen als ihre Partnerinnen ansahen und nicht als Sklavinnen, was auch in diesem Jahrhundert nicht vielen Begabten vergönnt war. Melissa stieg leichtfüßig die Treppe hinauf. Es hatte ein wenig gedauert, aber sie hatte sich eingelebt. Ihre zierliche Erscheinung besaß etwas Elfenhaftes, was ihr den Spitznamen Fee eingebracht hatte. Zum Glück ärgerte es sie nicht. Im Gegenteil. Die jüngeren im Clan nannten sie fast alle so. Außerdem besaß sie das Talent, die anderen mit ihrer inzwischen meist guten Laune anzustecken. Igor sah ihr noch einen Augenblick nach, bis Sergej ihn in den Empfangssaal rief. Es musste entschieden werden, welche Wand welche Farbe erhalten sollte. Selbstverständlich packte er bei den Renovierungsarbeiten mit an, wann immer er konnte.
Erst nach Sonnenaufgang wurde es langsam still im Haus. Igor wusch sich zwei verschiedene Wandfarben von den Fingern, dann machte er sich auf den Weg in die Bibliothek des Quartiers. Als er die Eingangshalle durchquerte, zog Fjodor gerade die Haustür auf. Er und Sergej wollten offenbar einen ihrer üblichen Patrouillenwege ablaufen. Sie nickten ihm ergeben zu, bevor sie das Gebäude verließen. An die Regelmäßigkeit, mit der ihm diese Geste entgegengebracht wurde, hatte der Hyänenmann sich immer noch nicht gewöhnt. Genauso wenig wie an die Tatsachen, dass er das Vermögen des Clans verwalten musste, und ihm stets als erstes ein gefüllter Teller gereicht wurde, wenn sie gemeinsam aßen. Die Tür zur Bibliothek knarrte, als er sie öffnete. Dies war einer der Räume, die sie noch nicht renoviert hatten. Eine dicke Staubschicht bedeckte die Pergamentrollen und Lederbände, die über Jahrhunderte gesammelt worden waren. Im hinteren Teil des Raums befand sich ein abgeschlossener Schrank, zu dem kein Schlüssel zu finden war. Die Hunde vermuteten, dass eines der alten Oberhäupter darin Dokumente versteckt hatte, die die Verwicklung des Clans in den letzten großen Krieg gegen die Werwölfe vor über 500 Jahren bewiesen. In diesen Konflikt waren sie offiziell nicht involviert gewesen und keines der lebenden Clan-Mitglieder konnte das Gegenteil bezeugen. Dennoch hielt sich der Verdacht, da damals mehrere Kämpfer spurlos verschwunden waren. Igor hatte sich vorerst dagegen entschieden, das antike Möbelstück deswegen aufzubrechen. Zum einen waren sie immer noch damit beschäftigt, zu einer Gemeinschaft zusammenzuwachsen. Zum anderen hatten innerhalb von zwei Monaten bereits vier fremde Gestaltwandler vor ihrer Tür gestanden, weil sie vom Umdenken des Clans unter Igors Führung gehört hatten. Drei von ihnen waren nur neugierig gewesen und wieder gegangen, ein Hundemann war geblieben, um vielleicht sogar für immer bei ihnen zu leben. Selbstverständlich waren alle vier eingehend darüber befragt worden, wer sie waren und zu wem sie Kontakt hatten. Schließlich bestand immer noch die Möglichkeit, dass Soraya irgendwo im Schatten lauerte und in ihrem Auftrag spioniert wurde. Die Gegenwart hielt sie alle in Atem, daher wollte Igor lieber keine alten Wunden aufreißen. Außer Fjodor waren ohnehin nur zwei weitere Männer alt genug, um sich an jene Zeiten zu erinnern. Er setzte sich auf das einzige Sofa im Raum und schlug den Band über die Entstehungsgeschichte seines Clans auf, den er als Kind nicht hatte lesen dürfen. Mittlerweile war er bei Aufzeichnungen angelangt, die sich hauptsächlich um Grenzstreitigkeiten mit einer gewissen Jasmina drehten. Angeblich war ihre Mutter seinem Clan entwendet und in eine Abscheulichkeit verwandelt worden. Darauf würde er die geborene Vampirin nicht ansprechen. Schließlich war ihre Mutter Rahel beim Angriff der Firma getötet worden. Ein Knarren ließ ihn aufhorchen. Die Tür zur Bibliothek wurde vorsichtig geöffnet, bis diejenige den Kopf durch den Spalt stecken konnte. Olgas zierliches Gesicht kam zum Vorschein. Igor war ihr und ihrem Bruder Jurij zum ersten Mal in Anzherus Hauptquartier begegnet, als die Vampire die kläglichen Überreste des Clans kurzzeitig beherbergt hatten. Die Kinder hatten beide Eltern an den Kampf gegen die Firma verloren. Olga hatte sogar mit angesehen, wie ihre menschliche Mutter abgeschlachtet worden war. Seitdem litt sie unter Alpträumen und sprach so gut wie nie. Igor streckte ihr eine Hand entgegen. „Kannst du wieder nicht schlafen?“
Sie schüttelte den Kopf und kam auf ihn zu. Statt seine Hand zu nehmen, kletterte sie auf das Sofa und klammerte sich an seinen Oberarm. Er legte das schwere Buch beiseite und strich über ihr lockiges Haar. Das beruhigte sie häufig eher, als auf sie einzureden.
„Ist dir kalt?“
Der Raum war ziemlich kühl und Olga trug nur ihren Pyjama. Sie nickte. Igor befreite sich aus ihrem erstaunlich festen Griff und stand auf. Auf dem Regal neben ihnen lag eine alte Decke. Als er sie anhob, löste sich eine wahre Staublawine. Außerdem hatte sie genau mittig ein riesiges Loch, durch das mindestens der Kopf des Mädchens gepasst hätte. Igor schaute Olga fragend durch das Loch im Stoff an. Sie hob lachend die Arme, damit er den dreckigen Lumpen bloß nicht über ihr ausbreitete.
„Na gut, du hast recht. Die entsorgen wir lieber.“ Er legte die Decke beiseite und zog stattdessen seinen Pullover aus. Damit deckte sie sich sofort freiwillig zu. Sobald er wieder saß, schmiegte sie sich an seine Seite. Igor nahm den Geschichtsband von der Armlehne und las weiter. Nach einer halben Stunde schlief Olga tief und fest. Als sie die ersten Male zu ihm gekommen war, hatte er sich in Gegenwart dieses dreijährigen Kindes völlig hilflos gefühlt. Niemand hatte Rat gewusst, also hatte er es mit gut zu reden oder vorlesen versucht. Einmal war er über eine Stunde lang mit ihr spazieren gegangen, aber nichts hatte geholfen. Nur still sein und sie im Arm halten funktionierte. Gegen Mittag beendete Igor den Geschichtsband. Kaum etwas daran hatte ihn sonderlich überrascht bis auf die Erwähnung des Ersten Clans. Natürlich stammte auch der Asiatische Clan mehr oder weniger direkt von ihnen ab, aber er konnte sich nicht erinnern, dass in diesem Haus je darüber gesprochen worden war. Olga zuckte im Schlaf und gab sogar einen Laut von sich. Allerdings schien sie ihr Traum nicht schon wieder zu wecken. Igor hob sie in seine Arme und trug sie die Treppe hinauf zum Zimmer der beiden Geschwister. Ihr Bruder lag zusammen gerollt in seinem Bett und bemerkte sie nicht. Er war bereits acht Jahre alt und verglichen mit einem Menschen so groß wie ein Fünfzehnjähriger. Bald würde Jurij wohl zum ersten Mal seine zweite Gestalt annehmen. Igor legte Olga behutsam ab und tauschte seinen Pullover gegen ihre Decke. Anschließend schlich er zurück nach unten. Fjodor und Sergej kamen ihm in der Eingangshalle entgegen. Sie stützten eine Frau in ihrer Mitte, die ihren Zügen nach aus der Mongolei stammen mochte. Ihr schwarzes Haar war zerzaust und unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Ihre Kleider waren schmutzig und sogar mit Blut befleckt.
„Wir haben sie drei Kilometer vom Haus entfernt und mit einem Armbrustbolzen im Rücken aufgegriffen“, sagte Fjodor und setzte die Frau auf der Bank ab, die sie unter einem der großen Fenster in der Halle aufgestellt hatten.
„Sie sagte, ihr Name sei Charlotte.“
Sie sackte völlig erschöpft auf der Bank zusammen. Igor näherte sich ihr behutsam. Ihrem Geruch nach war sie definitiv eine Gestaltwandlerin, aber was ihre zweite Gestalt sein mochte, erschloss sich ihm nicht.
„Ich bin Igor, Oberhaupt dieses Clans. Wirst du noch immer verfolgt?“
Charlotte nickte schwach.
„Von wem und können sie herfinden?“
„Von den Männern, die mir gütigerweise erlaubt haben, eine Weile bei ihrer Gruppe zu leben.“ Sie hustete gequält, wobei sie sich die Hand vor den Mund hielt. Dennoch war der Geruch von Blut unverkennbar.
„Ich glaube, ich habe sie abgehängt, bevor ich euer Patrouillengebiet betreten habe.“ Sie warf den beiden Hundemännern einen argwöhnischen Blick zu. „Sie dürfen nur nicht herausfinden, dass ich mich hier aufhalte. Jeder auf dem Kontinent weiß, wo euer Quartier ist.“
Diese Tatsache war selbstverständlich, da der Asiatische Gestaltwandler-Clan Jahrhunderte lang seine Vormachtstellung behauptet hatte. Igor musste sich trotzdem noch daran gewöhnen, dass im Grunde jeder Unsterbliche seinen Aufenthaltsort kannte.
„In Ordnung. Ruh dich aus. Wir reden heute Abend.“ Er wandte sich zu Fjodor um und bat ihn, sie in einem Gästezimmer unterzubringen.
„Nicht nötig“, widersprach Charlotte. „Ich bin euch sehr dankbar für das Angebot, aber ich muss so weit weg wie möglich. Ich bleibe höchstens eine Stunde. Diese Bank hier reicht völlig.“
„Und dann willst du dich schwer verwundet weiter durch die Einöde schleppen?“ Igor hob skeptisch die Brauen.
„So schlimm ist es nicht.“
Er griff nach ihrer Hand, die sie seit ihrem Hustenanfall vor ihm verbarg. Charlotte fletschte drohend die Zähne, daher zog er seine Hand zurück. Sie hatte auch so verstanden, worauf er hinaus wollte.
„Du befindest dich auf unserem Land und bist erschöpft und verletzt. Daher biete ich dir Gastfreundschaft an, bis du dich erholt hast, statt dich in den halbwegs sicheren Tod zu schicken.“
„Unter welcher Bedingung?“, gab sie sarkastisch zurück.
„Sei nicht so unhöflich“, knurrte Sergej.
Igor hob beschwichtigend eine Hand, damit sich der Hund zurückhielt. „Du verhältst dich friedlich. Wenn du ein Problem mit unserer Lebensweise hast, wendest du dich an mich.“
Sie neigte den Kopf. „Das sollte ich hinbekommen.“
„Gut.“
Fjodor half ihr von der Bank auf und zeigte ihr den Weg zu den Gästezimmern. Sergej trat dichter an Igors Seite und fragte, was diese Charlotte wohl sein könnte, als die beiden in der ersten Etage verschwunden waren. Er hob ratlos die Schultern. Wenn sie wollte, würde sie es ihnen offenbaren.
Bei Sonnenuntergang ließ Charlotte sich noch nicht blicken. Erst gegen Mitternacht, als Igor gerade mit Katinkas Hilfe den reinigungsbedürftigen Kronleuchter in der Eingangshalle abmontierte, erschien sie auf der Treppe. Die tiefen Schatten unter ihren Augen waren verschwunden und ihre Schritte wirkten wesentlich leichtfüßiger als am Mittag.
„Es geht dir schon besser“, stellte Igor zufrieden fest.
„Um Welten. Ich glaube, ich habe noch nie in einem so gemütlichen Bett geschlafen.“ Sie wandte Katinka das Gesicht zu, aber die Bärin schwieg und trug den schweren Leuchter nach draußen. So reserviert verhielt sie sich gegenüber allen Neuankömmlingen. Charlotte schien es auch ohne diese Anmerkung nicht persönlich zu nehmen.
„Wir sollten uns unterhalten“, sagte Igor. „Wenn deine Verfolger hier auftauchen, will ich wissen, mit wem ich es zu tun bekomme.“
Sie verzog das Gesicht.
„Am besten sagst du mir auch, warum sie dich jagen.“
Dieser Vorschlag gefiel ihr offensichtlich noch weniger. Jason und Valeska betraten die Halle. Sie trugen Farbeimer und Pinsel die Treppe hinauf.
„Ihr seid wirklich viele“, sagte Charlotte leise. „Vielleicht sind wir irgendwo ungestört?“
Igor ging mit ihr in die Bibliothek, da in den umliegenden Räumen nicht renoviert wurde und die Stimmen der anderen nur gedämpft bis zu ihnen drangen. Sie beäugte die verstaubten Regale einen Augenblick, als wäre sie überrascht.
„Deine Hunde haben Zeit zu lesen?“
„Das hoffe ich doch.“ Igor lehnte sich gegen die Fensterbank. Charlotte nickte anerkennend.
„Also? Wo möchtest du anfangen?“
„Nun… meine alte Gruppe steht mit einem kleinen Clan in Nordchina in Verhandlungen und unser Anführer wollte mich für ihre Freundschaft an ihr Oberhaupt verkaufen. Ich habe mich geweigert. Jetzt sind sie hinter mir her.“
„Verstehe“, gab er zurück. „Ich verspreche, wir werden dich nicht hier festhalten, um dich auszuliefern. Meiner Meinung nach sollten wir Gestaltwandler diese mittelalterliche Unsitte endlich ablegen.“
„Mir gefällt, wie du denkst.“ Sie schob die Fingerspitzen in die Hosentaschen und wippte auf den Fußballen vor und zurück. „Trotzdem kommen wahrscheinlich zwei Hunde und ein Bär, um mich einzufordern, wenn ich nicht bald von hier verschwinde.“
„Sie schicken nur deinetwegen drei Männer“, hielt Igor fest. Ihre zweite Gestalt musste beeindruckend sein, denn besonders alt roch sie nicht.
„Ich war auch überrascht, als ich sie entdeckt habe.“ Sie zog freudlos die Mundwinkel breit. „Ich war noch nie so wichtig.“
Der Hyänenmann nickte verständnisvoll. Ihr Sarkasmus täuschte nicht über ihren Schmerz hinweg.
„Du musst mich nicht trösten“, sagte sie abweisend. „Früher oder später musste so etwas passieren. Und leiden konnten sie mich sowieso nie.“
„Warum? Stören sie sich an Sarkasmus?“
Charlotte lachte kurz auf. „Wenn es bloß das wäre.“
„Ist es die Gestalt, die du an Kinder vererben würdest?“, riet er.
„Das dürfte der Hauptgrund sein.“ Sie sah zu Boden.
„Möchtest du sie mir zeigen?“
Um ihr zu beweisen, dass er sie nicht verurteilen würde, nahm er seine Hyänengestalt an. Sie hielt seinem Blick stand, rührte sich jedoch nicht. Igor verwandelte sich in einen Menschen zurück. Charlottes Herz schlug ein wenig schneller, ihre Atmung ging flacher.
„Es ist wahr, was man über dich hört“, sagte sie. „Du bist anders.“
„Ja, aber das erkläre ich Gästen nicht am ersten Abend.“
„Verstehe.“ Sie neigte den Kopf und atmete tief durch. Ihre Verwandlung setzte ein. Sie schrumpfte, bis sie ihm nur noch bis zum Knie reichte. Ihr Fell war dicht und grau, ihr spitz zulaufendes Gesicht und ihr buschiger Schwanz schwarz und weiß gestreift. Igor hatte ein solches Tier zuletzt nahe einer Stadt in Deutschland entdeckt, da sie in der Nähe der Menschen ihre Scheu verloren. Bevor er etwas sagen konnte, wurde die Tür zur Bibliothek schwungvoll geöffnet.
„Igor, weißt du zufällig, wo wir die Säge…“ Melissa unterbrach sich und sah von ihm zu Charlotte. Sie hob drohend den Besen, den sie in der rechten Hand trug.
„Was zum Teufel macht der Waschbär hier drin?“
Die Bärin wandte sich wortlos ganz zu ihr um.
„Ouh… du bist eine von uns, oder?“ Melissa grinste breit. Es war ihr offensichtlich peinlich. Charlotte lachte und verwandelte sich zurück. „Dich mag ich. Wer bist du?“
Das Mädchen stellte sich vor und erzählte kurz von ihrer Gabe.
„Aber du riechst anders als eine gewöhnliche Begabte“, merkte Charlotte interessiert an.
„Ja, das ist ein kleines Andenken an meine Gefangenschaft bei der Hybridenfirma. Ich bin unsterblich geworden, statt wie die anderen in der Testreihe zu krepieren.“
„Also… bist du im Grunde ein künstliches Halbblut? Unsterblich aber keine zweite Gestalt“, hakte sie verwundert nach. Melissa warf Igor einen fragenden Blick zu.
„So würde ich es nicht ausdrücken. Keines ihrer Elternteile ist ein Gestaltwandler und sie hat keine Chance auf eine zweite Gestalt.“ Er verkniff es sich, auszusprechen, dass dies wahrscheinlich nur auf die reale Welt zutraf. In der anderen Dimension könnten sie eine andere Antwort auf diese Frage erhalten. Allerdings hatte weder Melissa noch ihre Cousine ihn bisher danach gefragt und er wollte ihnen in dieser Hinsicht weder Angst, noch falsche Hoffnungen machen. Das Mädchen verabschiedete sich mit einem verhaltenen Winken und zog die Tür hinter sich zu.
„Tauschen will ich jedenfalls nicht mit ihr“, flüsterte Charlotte. „Ich bin kein Grizzly, aber ich kann mich wehren. Sie ist nur ein Mensch.“
„Deshalb beschützen wir sie, wann immer es nötig ist“, sagte Igor gelassen.
„Nichts für ungut.“ Sie räusperte sich. „Hast du noch weitere Fragen oder darf ich bei Tagesanbruch weg? Bis dahin sollte ich mich vollständig erholt haben.“
„Gehst du weiter nach Westen?“, fragte er.
„Klar, sonst laufe ich ihnen in die Arme.“
„Wenn sie vor deinem Aufbruch nicht sowieso herkommen, werden sie dich an meiner Grenze erwarten.“
„Die ist groß.“ Charlotte zuckte mit den Schultern. „Und ich kann mich sehr klein machen, wenn es sein muss.“
„Es gibt nur sehr wenige Straßen und abseits davon wirst du dich verirren. Dein Weg ist zu berechenbar.“ Igor schüttelte den Kopf. „Es gibt Menschendörfer auf meinem Gebiet. Nimm den langen Weg über sie. Wenn deine Leute etwas darauf geben, keine Sterblichen in euren Kampf zu ziehen, reise über Astana und dann nimm ein Flugzeug. Bleibe unter Menschen, so oft und lange es geht. Allein sein kannst du später immer noch.“
Sie hob überrascht die Brauen. „Klingt, als hättest du das selbst schon getan.“
„Ja, meine ersten hundert Jahre als Abtrünniger gab es einige, die meinen Tod wollten.“
Seine Offenheit diesbezüglich überraschte sein Gegenüber. Charlotte wandte betreten den Blick ab. „Wenn ich bloß ein Ziel hätte.“
„Du könntest zum Clan in Kanada gehen“, schlug Igor vor. „Zwei ihrer Söhne sind Otter. Ein Waschbär erschreckt sie vielleicht nicht so sehr.“
Sie brachte ein kleines Lächeln zustande. Dennoch war offensichtlich, wie sehr ihre Situation ihr zusetzte.
„Ich wünschte, es gäbe einen anderen Weg“, sagte sie nach einem tiefen Atemzug. „Kannst du dem Clan in Nordchina weismachen, dass ein Bündnis anders entstehen sollte, als eine Frau als Gegenleistung zu fordern?“
„Ich fürchte, das steht nicht in meiner Macht.“ Igor schüttelte den Kopf. Es kursierten bereits einige Gerüchte über die Ansichten innerhalb seines Clans. Damit konnte er umgehen, da ihm deshalb noch keine schwerwiegenden Vorwürfe gemacht werden konnten. Sobald er anfing, anderen Oberhäuptern aktiv vorzuschreiben, was sie zu tun und zu lassen hatten, provozierte er damit eine Allianz gegen sich, die weit mächtiger sein würde als alle seine Hunde und Bären zusammen. Zum einen nahm er dieses Risiko für eine Fremde nicht in Kauf, zum anderen strebte er nicht danach, andere Clans zu bekehren.
„Entschuldige, ich hätte das nicht fragen sollen“, sagte Charlotte ohne jeden Vorwurf. „Es ist überaus freundlich von dir, mich überhaupt zu beherbergen.“
„Keine Ursache.“
Sie kaute kurz auf ihren Nägeln. „Ich neige zur Rastlosigkeit, musst du wissen. Wäre es in Ordnung, wenn ich Melissa helfe, diese Säge zu finden, bis ich aufbreche?“
„Da hat sie bestimmt keine Einwände.“
Etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang legte Okon den Pinsel beiseite und betrachtete ihr Werk. Sergej und er hatten die letzten Stunden damit verbracht, eine Wand im Empfangssaal mit einem Ornamentmuster zu verzieren. Der Hundemann klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Deine Seite sieht noch akkurater aus als meine. Du besitzt eine ruhige Hand.“
„So groß ist der Unterschied nicht“, gab er verlegen zurück.
„Wie du meinst. Willst du noch auf den Trainingsplatz?“
Okon verneinte. Er hatte Melissa versprochen, seinen Knochen heute einen Tag Ruhe zu gewähren. Gemeinsam räumten sie noch kurz auf, dann begab er sich auf die Suche nach seiner Geliebten. Sie saß mit der Frau in der Küche, die am vergangenen Mittag eingetroffen war. Charlotte zeigte ihr gerade, wie man ein Loch in einem Vorhang stopfte. Sie sah ihn strahlend an. „Den habe ich im Keller gefunden und keiner will ihn haben. Ich will ihn vor unser Fenster hängen.“
„Schön.“
Die Gestaltung ihres Zimmers überließ er getrost ihr. Melissa besaß den Elan, sich um jedes Detail zu kümmern. Okon selbst war einfach nur froh und dankbar, seit über 94 Jahren wieder ein Zuhause zu haben. Von Gestaltwandlern umgeben zu sein, war völlig neu gewesen, aber er hatte sich schnell daran gewöhnt. Seine Geliebte schnitt den letzten Faden zurecht und sah triumphierend auf. „Was denkst du?“
„Es wird halten“, gab Charlotte trocken zurück. Melissa grinste. „Sowas musste ich eben noch nie machen. Seid ihr euch eigentlich schon begegnet?“
Sie warf Okon einen fragenden Blick zu. Er schüttelte den Kopf, woraufhin er der fremden Gestaltwandlerin vorgestellt wurde.
„Sie ist ein Waschbär“, ergänzte Melissa. „Was es nicht alles gibt.“
„Ich bin wohl die Erste, die du mit einem Besen verscheuchen wolltest.“ Charlotte hob amüsiert die Brauen.
„Wie lange hat sie gebraucht, um dich als eine von uns zu erkennen?“, fragte Okon spaßeshalber, obwohl seine Gefährtin ihn böse ansah. Er würde nie vergessen, wie sie ihn bei ihrer ersten Begegnung hinter den Ohren gekrault hatte.
„Zwei Sekunden“, lautete die Schätzung.
„Da bist du besser weggekommen als ich“, sagte er mit einem breiten Grinsen und fing den leeren Becher auf, den Melissa nach ihm warf.
„Ist ja auch überhaupt nicht peinlich, oder so“, knurrte sie.
„Das war die lustigste Reaktion auf meine zweite Gestalt, die ich je erlebt habe“, merkte Charlotte nachdenklich an. „Hast du eine Ahnung, was aus deinen Nachkommen wird, wenn du denn mal welche hast?“
Sie hob unschlüssig die Schultern. „Wenn es seine Kinder sind, werden sie doch Hunde.“
Okon drehte sich bei dem Gedanken, jetzt schon Vater zu werden, der Magen um. Er lernte immer noch ständig dazu, was die Regeln und Gewohnheiten der Gestaltwandler anging. Außerdem kannte er Melissa erst seit gut drei Monaten und sie war gerade einmal 17 Jahre alt. Er liebte sie, aber dafür war es zu früh.
„Oh nein, Kleines“, sagte die Waschbärfrau. „Mein Partner könnte der älteste und stärkste Hund auf der ganzen Welt sein, meine Kinder wären trotzdem Waschbären. Die Gestalt hängt immer vom Erbe der Mutter ab.“
„Das wusste ich noch nicht“, gab Melissa zu. „Irgendwie habe ich noch nie darüber nachgedacht.“
„Das hat schließlich auch noch jede Menge Zeit“, sagte Okon schnell.
„Natürlich.“ Charlotte lächelte entschuldigend. „Ich wollte euch nicht in Verlegenheit bringen.“
„Ist schon in Ordnung. Und gut zu wissen, dass es an mir läge.“ Seine Geliebte musterte sie einen Augenblick. „Willst du nicht einfach bei uns bleiben?“
„Wie bitte?“
„Ich meine ja nur… Du sagtest, deine alte Gruppe besteht nur aus acht Männern. Gegen die können wir dich locker verteidigen, wenn sie tatsächlich Ärger wollen.“
„Du lebst noch nicht lange unter Gestaltwandlern, oder?“, fragte Charlotte. „Wenn ich bleibe, gebe ich ihnen damit die Chance, andere Clans gegen Igor aufzuhetzen, weil sie dann behaupten, er hätte mich gestohlen. Da wäre ich ein wirklich undankbarer Gast.“
„Was?“, gab Melissa ungläubig zurück. „Aber du bist doch zu uns gekommen.“
„Das würde keine Rolle spielen. Sobald sie sicher sind, dass ich hier bin, werden sie kommen und mich einfordern.“
Okon schüttelte langsam den Kopf. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie andere Clans und Gruppen ihre Frauen behandelten. Der Unmut stand seiner Gefährtin ins Gesicht geschrieben.
„Das ist doch nicht fair! Besteht eine kleine Chance, dass sie es nicht wissen?“, hakte sie nach.
„Sie sind ziemlich gute Spurenleser.“
Melissa zuckte mit den Schultern. „Lass es darauf ankommen. Wenn sie dich nie einfordern, kann Igor genauso gut behaupten, dass er von nichts wusste.“
„Stimmt.“ Charlotte lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und schaute sie verwundert an. „Bist du immer so mutig?“
„Nein, ich… finde dich bloß nett und würde dir gern helfen.“ Sie sank ein bisschen in sich zusammen. Okon verkniff es sich, ihr zu widersprechen. Seit Melissa sich in ihrem neuen Zuhause wohlfühlte, war ihr Selbstvertrauen immens gewachsen.
„Wenn du unbedingt willst, kannst du ja später gehen, wenn es nicht mehr so gefährlich ist“, fügte sie hinzu. Die Waschbärfrau nickte langsam. „An diese Option hätte ich nie gedacht, ich wollte einfach nur so weit weg wie möglich.“
Sie stand auf. „Ich frage Igor, was er davon hält.“
„Den Versuch ist es wert.“ Melissa lächelte sie strahlend an. Nachdem Charlotte den Raum verlassen hatte, näherte Okon sich seiner Geliebten. Sie erhob sich und legte die Arme um seinen Nacken. „Hoffentlich habe ich nichts Falsches gesagt.“
„Du hast es gut gemeint und Igor wird wissen, was er tut“, sagte er zuversichtlich. „Willst du deinen Vorhang aufhängen?“
Sie bejahte und küsste ihn. Hand in Hand gingen sie hinauf in ihr Zimmer. Nach seiner Gefangennahme durch die Firma hätte Okon sich nie träumen lassen, dass für ihn ein völlig anderes Leben beginnen würde. Ein so wunderbares noch dazu. Im Stillen wünschte er Charlotte, dass Igor sich einverstanden zeigen würde und auch sie neu anfangen konnte, ob allein oder bei ihnen.
Melissas Argumente hatten Igor offenbar überzeugt. Trotz aller Bedenken hatte er Charlottes weiterem Aufenthalt beim Clan zugestimmt. Mittlerweile waren drei Tage vergangen und niemand war vor ihrer Tür erschienen, um sie als seinen Besitz zurückzuverlangen. Ihre Renovierungen gingen bestens voran. Im Grunde brauchten sie nur noch aufzuräumen und Farbkleckse zu beseitigen. Okon trug eine Leiter in den Keller und stellte sie in dem Raum ab, den Sergej ihm genannt hatte. Bisher war er selten im Untergeschoss des Quartiers gewesen und wenn, dann nur, um Vorräte oder Werkzeug zu holen. Den hinteren Teil des Kellers hatte er noch nie betreten. Er rieb die Hände an seinem ohnehin schmutzigen Hemd ab und schaltete das Licht auf dem weiterführenden Gang ein. Zu seiner linken lag ein recht großer Raum, in dem mit Laken abgedeckte Gegenstände gelagert waren. Auf manchen hatte sich bereits eine dicke Staubschicht gebildet. An der massiven Säule in der Mitte lehnten augenscheinlich die Gemälde, die sie aus der Eingangshalle und den Korridoren entfernt hatten. Nicht einmal die Älteren im Clan vermissten sie. Okon schlenderte weiter. Es folgten weitere Vorratsräume, manche waren ganz leer. Am Ende des Ganges blieb er stehen. Fünf eiserne Zellentüren waren in die Wände eingelassen. Er spähte durch die erste und entdeckte mehrere Ketten, die offenbar dazu gedacht waren, Hals und alle vier Gliedmaßen an Ort und Stelle zu halten. So ließ sich bei den meisten Gestaltwandlern sicherlich eine Verwandlung unterbinden. Dem Geruch nach war lange niemand hier unten gewesen. Dennoch beschlich Okon ein mulmiges Gefühl bei der Vorstellung, an einem solchen Ort eingesperrt zu sein. Seine Gefangenschaft bei der Firma hatte sich nur über wenige Tage erstreckt und trotzdem waren ihm die Angst und die Ungewissheit bestens im Gedächtnis geblieben. Was hätten die Wissenschaftler wohl mit ihm angestellt, wenn Igor ihn nicht gefunden hätte? Er erschauderte heftig und wandte sich ab. Zügig verließ er den Keller. In der Eingangshalle traf er auf die anderen Hunde, die die nächsten Patrouillen absprachen. Fjodor teilte ihn und Jason für den kommenden Morgen auf der Route nach Süden ein. Okon nickte seinem Partner zu. Jason war einer derjenigen, die die Geduld aufbrachten, mit ihm zu laufen und zu trainieren. Nicht jeder im Clan hatte Verständnis dafür, dass er seine zweite Gestalt die letzten 94 Jahre seines Lebens nie genutzt hatte.
„Die nördliche Route übernehmen Sergej und ich“, sagte Fjodor. „Haltet nach Beute Ausschau. Wir…“
Ein Schrei unterbrach ihn. Es klang nach Jurij. Sie liefen nach draußen. Der Junge befand sich auf dem Vorplatz, wo er mit Katinka die Abfälle ihrer Renovierungsarbeiten auf einen Pick-up-Truck verladen hatte. Er wand sich am Boden. Die Bärenfrau strich ihm behutsam über den Kopf.
„Atme ganz ruhig“, sagte sie. „Lass es geschehen.“
„Verwandelt er sich?“, fragte Okon leise an Fjodor gewandt. Er nickte bedächtig. „Sag Igor Bescheid.“
Der Hundemann eilte zurück nach drinnen. Sein Oberhaupt kam ihm bereits mit Charlotte aus der Bibliothek entgegen. Sie hatten den Jungen ebenfalls schreien hören. Gemeinsam traten sie in den Kreis, der sich um Jurij gebildet hatte. Er lag mittlerweile auf dem Bauch und atmete nur noch stoßweise. Sein Herz raste. Seine linke Hand hatte sich seltsam überstreckt.
„Bitte…“, keuchte er. „Es soll aufhören!“
„Du hast es gleich geschafft“, ermutigte ihn Katinka. „Wehr dich nicht dagegen.“
Okon war im Stillen froh, wie viel Zuspruch Jurij in diesem Moment erhielt. Niemand sollte mit seiner ersten Verwandlung allein gelassen werden wie er damals. Der Junge schrie ein weiteres Mal laut auf. Seine Gliedmaßen verschoben sich, es bildeten sich Fell und Hörner. Als es vorüber war, herrschte im ersten Moment erstauntes Schweigen.
„So eine Ziege habe ich noch nie gesehen“, sagte Sergej.
„Diese Art gibt es auch nicht überall.“ Igor trat vor und legte Jurij eine Hand auf die Schulter. Schwer atmend kämpfte er sich auf seine Hufe.
„Du bist ein Steinbock.“
Unsicher setzte Jurij einen Fuß vor den anderen. Nach sieben Schritten geriet er ins Stolpern und fiel hin.
„Ich kann so nicht laufen. Meine Füße sind zu schmal!“
„Das lernst du schon noch“, gab Igor zuversichtlich zurück. „Lass uns zur Klippe im Norden laufen.“
„Dafür brauchen wir normalerweise schon fast eine halbe Stunde“, protestierte der Junge. „Auf diesen dünnen Beinen komme ich dort nie vor Morgengrauen an.“
„Du schaffst es“, hielt der Hyänenmann geduldig dagegen. „Okon, kommst du mit?“
„Klar.“
Ein wenig frische Luft würde ihm nach seiner Entdeckung im Keller gut tun. Außerdem wollte er unbedingt sehen, welche Fortschritte Jurij innerhalb einer Nacht machen würde. Die Patrouille mit Jason würde er sowieso erst am Morgen beginnen. Zu dritt liefen sie los. Ein Blick über die Schulter verriet dem Hundemann, dass die anderen an ihre Aufgaben zurückkehrten, Sergej und Fjodor waren jedoch stehen geblieben und sahen ihnen nach. Offenbar flüsterten sie miteinander. Als das Quartier längst außer Sicht war, stolperte Jurij erneut und schnaubte wütend. Igor stieß ihn freundschaftlich mit der Pfote an und ging einfach weiter. Bald erhöhte er das Tempo. Okon war auf seinen Pfoten in der Regel der Langsamste, aber jetzt fiel Jurij sogar hinter ihm zurück. Mit einigem Vorsprung erreichten er und Igor den Fuß des Hügels, hinter dem ihr Ziel lag. Auf dieser Seite war der Anstieg für jeden zu bewältigen. Ein Pfad schlängelte sich vorbei an Büschen und Felsen, den sie trotz der Schneedecke schnell wiederfanden. Jenseits der Hügelkuppe fiel das Gelände in ein zerklüftetes Tal ab. Von oben sah es stellenweise so aus, als ginge es senkrecht in die Tiefe. Igor richtete sich in seiner menschlichen Gestalt auf und warf einen Blick über die Schulter. Okon tat es ihm gleich und entdeckte Jurij, der ihnen wieder näher war, als er vermutet hätte. Mittlerweile bewegte er sich wesentlich sicherer auf seinen vier Hufen und statt des Pfades nahm er den direkten Weg über die unebenen Felsbrocken. Igor sah ihm mit einem zufriedenen Lächeln dabei zu.
„Kannst du dich schon zurück verwandeln?“, fragte er, als Jurij ihm gegenüberstand. Der Steinbock schüttelte missmutig den Kopf.
„Gut, dann darfst du jetzt vorgehen.“
Ihr Oberhaupt wies geradewegs die Klippen hinab. „Wir holen dich ein.“
Das bezweifelte Okon, hielt aber lieber den Mund, da ihm bewusst geworden war, dass Igor den Jungen absichtlich provozierte. Wie erwartet kam Jurij leichtfüßig und schnell voran. Auf ihren menschlichen Füßen konnten sie ihm kaum folgen. Zudem war es stellenweise entsetzlich glatt, sodass sie immer wieder abrutschten und im Schnee landeten. Noch ein paar Meter oberhalb des Talgrundes gab Okon es auf und rutschte den Rest des Abhangs hinunter. Igor erging es nicht besser. Jurij scharrte mit den Hufen, während sie sich vom Boden aufrappelten.
„Da habe ich mich gründlich verschätzt. Hinauf kommst du bestimmt auch viel schneller als wir“, merkte der Hyänenmann an, während er seine Jacke zurecht zog.
„Großartig“, brummte der Junge. „Ich kann klettern.“
„Dir ist bestimmt nicht so kalt wie uns gerade“, sagte Okon und versuchte, den langsam schmelzenden Schnee unter seinem Hemd loszuwerden. Igor stimmte dem zu und schüttelte sich.
„Ich friere nicht, aber was nützt das?“
Die Vorteile seiner zweiten Gestalt schienen ihm völlig egal zu sein. Er wirkte noch zorniger als zu Beginn ihres Ausflugs. Bevor Igor etwas erwiderte, setzte Jurijs Rückverwandlung ein. Mit einem schmerzerfüllten Stöhnen stemmte er sich auf seine menschlichen Knie.
„Ich will ein Wächter sein!“, rief er so laut, dass es von den Klippen widerhallte. „Was soll ich mit diesen blöden Hufen?“
Er schlug mit der bloßen Faust gegen den Felsen rechts neben sich. Der Schnee darauf füllte den entstandenen Spalt. Igor schob einen Fuß vor. So stand er normalerweise, wenn er angreifen wollte.
„Denkst du, Reißzähne sind alles, worauf es ankommt?“
Jurij übte bereits regelmäßig mit Sergej oder Fjodor den Zweikampf. Dennoch riss er überrascht die Augen auf, als er Igor blitzschnell auf sich zukommen sah. Okon ging vorsichtshalber auf etwas mehr Abstand. Der Junge hatte sichtlich Mühe, Igor auszuweichen. Bei seinem nächsten Angriff wurde Jurij so hart getroffen, dass er sich in der Luft überschlug. Der Hundemann fing ihn auf, damit er nicht auch noch auf die Felsen krachte. Beleidigt stieß der Junge ihn von sich, sobald er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Okon hob beschwichtigend die Arme und trat zurück. Wenigstens Igor nickte ihm beiläufig zu.
„Verwandle dich!“, forderte er. Jurij schnaubte wütend und ging in seiner menschlichen Gestalt zum Gegenangriff über. Igor wehrte ihn mühelos ab.
„Ich sage es nicht noch einmal.“
Sein ungewohnt strenger Ton zeigte Wirkung. Jurij gab seine Angriffshaltung auf. Dann schloss er die Augen und atmete konzentriert durch. Dieses Mal lief seine Verwandlung schon deutlich schneller ab. Als er auf seinen vier Hufen stand, schüttelte er sich. „Und jetzt?“
„Tust du, was dein Instinkt dir befiehlt.“
Im nächsten Moment stürzte Igor sich wieder auf ihn. Okon bewunderte im Stillen, wie gut der Hyänenmann selbst bei dieser Geschwindigkeit kontrollieren konnte, wie hart er zuschlug. Bis auf ein paar Schrammen war Jurij unverletzt. Der Steinbock sprang behände auf den nächsten Felsen, um auszuweichen.
„Jede Faser meines Körpers will vor dir fliehen“, stieß er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „Aber ich will kämpfen!“
„Erst dein Instinkt“, gab Igor ungerührt zurück und bedeutete Okon, den Jungen von der anderen Seite anzugreifen. Ein wenig verwundert sprang der Hund die Felsen hinauf. Während er Jurij vor sich her trieb, schlug Igor einen Bogen, um ihm den Weg abzuschneiden. Es gelang ihnen, den Jungen in die Enge zu treiben. Als es keinen Fluchtweg mehr gab, senkte der Steinbock den Kopf und rammte Igor aus dem vollen Lauf. Dabei stieß er mit seiner Stirn und der Vorderseite seiner Hörner gegen den Oberschenkel seines Gegners. Der Hyänenmann knickte sofort ein und gab somit den Weg frei. Jurij sprang einige Meter aus ihrer Reichweite, bevor er sich schweratmend umwandte.
„Siehst du“, sagte Igor und rieb sich die Stelle, an der er getroffen worden war. „Auch deine zweite Gestalt ist von Natur aus wehrhaft, wenn sie muss. Du brauchst kein Hund zu sein, um deinen Clan und deine Schwester beschützen zu können.“
Jurij verwandelte sich zurück und trat ihnen mit gesenktem Kopf gegenüber. „Du hast recht. Tut mir leid.“
„Schon gut. Ich verstehe deine Zweifel ja. Und ich will nicht leugnen, dass du in manchen Situationen im Nachteil sein wirst. Daran werden wir hart arbeiten müssen.“ Igor klopfte ihm auf die Schulter. „Lasst uns nach Hause gehen.“
Der Junge nickte eifrig. Sie ließen ihm ein paar Schritte Vorsprung, bevor sie sich verwandelten. Okon fiel auf, dass Igor selbst in seiner Hyänengestalt auf dem rechten Hinterbein hinkte.
„Tut ganz schon weh, oder?“, flüsterte er.
„Wenn er diesen Kopfstoß trainiert, ist er irgendwann dazu in der Lage, anderen die Knochen zu zertrümmern.“
Als sie ihr Quartier erreichten, hatten Igors Schmerzen längst nachgelassen. Dennoch ging er davon aus, dass sich ein ansehnliches Hämatom auf seinem Oberschenkel gebildet hatte. Jurij ahnte wohl nichts davon. Der Junge gähnte, als sie die Eingangshalle betraten. Sich in seiner zweiten Gestalt zu bewegen und die Verwandlungen selbst hatten ihn offenbar sehr angestrengt.
„Danke, Igor“, sagte er, bevor er die Treppe hinaufstieg und in seinem Zimmer verschwand. Okon verabschiedete sich ebenfalls, während Sergej und Fjodor an Igors Seite traten.
„Wie hat sich unser Junge geschlagen?“, fragte sein Onkel.
„Gar nicht so schlecht, wie er denkt. Er unterschätzt seine Kraft.“ Er rieb erneut über die Stelle, an der Jurij ihn getroffen hatte. „Seine Enttäuschung über seine Gestalt legt sich hoffentlich bald.“
„Das wird dauern“, meinte Sergej. „Er ist ein Hitzkopf.“
„Wie hat seine Schwester es aufgenommen?“, wollte Igor wissen. Keiner der Hundemänner hatte eine Antwort parat, da sie Olga in den letzten zwei Stunden nicht gesehen hatten. Igor beschloss, sie zu suchen. Vielleicht würde das Mädchen etwas dazu sagen, dass sie sich in absehbarer Zeit in eine Steingeiß verwandeln würde. Es wären ihre ersten Worte seit Tagen. Fjodor folgte ihm die Treppe hinauf, wobei seine Miene schwierig zu deuten war. Vermutlich machte er sich Gedanken darüber, wozu Clan-Kinder mit einer so außergewöhnlichen Gestalt je taugen würden, aber darüber würde Igor nicht laut sprechen, solange auch nur eines von ihnen in Hörweite war. Skeptische Worte der Älteren würden sie nur verunsichern oder im schlimmsten Fall verjagen. Sie fanden Olga im Kaminzimmer in der ersten Etage. Sie saß mit dem Rücken dicht am knisternden Feuer und las. Zu Igors Überraschung lag Charlotte in ihrer Bärengestalt zusammengerollt neben ihr auf dem Teppich. Ihrem Atem nach schlief sie nicht, dennoch hielt sie die Augen geschlossen, bis er und sein Onkel nur noch drei Schritte entfernt waren. Olga war offenbar tief in ihrem Buch versunken gewesen. Jetzt sah sie erschrocken zu ihm auf.
„Wir sind zurück, falls du nach deinem Bruder sehen möchtest“, sagte er. „Du weißt doch, was mit ihm passiert ist?“
Sie nickte, dann senkte sie leicht den Kopf.
„Stimmt etwas nicht?“ Er ging ihr gegenüber in die Hocke, um ihre Mimik besser beobachten zu können. Olga zog verunsichert die Schultern hoch.
„Ich ...“, setzte sie an, verstummte jedoch sofort wieder.
„Ja?“, fragte Igor, um sie zum Reden zu ermuntern. Allerdings seufzte das Mädchen nur enttäuscht und berührte ihn am Handgelenk.
„Sie wäre wohl lieber wie du“, sagte Charlotte, woraufhin Olga nickte.
„Warum? Weil ich zäh bin?“, gab Igor zurück. „Das sind Ziegen auch.“
Darüber schien das Mädchen wenigstens nachzudenken. Sie legte das Buch in ein nahes Regal und verließ den Raum. Fjodor wartete, bis ihre Schritte ein Stück entfernt waren, dann wandte er sich an Charlotte.
„Wir haben uns darauf verständigt, möglichst nie für sie zu sprechen, damit sie es irgendwann hoffentlich wieder selbst tut. Beachte das in Zukunft bitte.“
„Tut mir Leid, das wusste ich nicht. Ich werde daran denken.“ Die Waschbärin stand auf und ging auf den Couchtisch zu, auf dem eine Wasserkaraffe und ein paar unbenutzte Gläser standen. Auf ihren kurzen Beinen würde sie diese wohl nicht erreichen können. Igor bemerkte, dass sein Onkel sich wenig erfolgreich ein Lächeln verkniff. Innerhalb eines Wimpernschlags stand Charlotte auf ihren menschlichen Füßen und sah zu Fjodor zurück.
„Bis eben habe ich mich in meiner zweiten Gestalt so wohlgefühlt wie selten in meinem Leben“, sagte sie angriffslustig. „Ruiniere mir das nicht, indem du mich belächelst.“
„Verzeihung.“ Der Hundemann hob beschwichtigend die Arme. „Das war nicht meine Absicht und ich bin sicher, dass du eben andere Fähigkeiten besitzt als ich. Wie die Kinder.“
„Denkst du das wirklich, oder sagst du das nur, weil dein unkonventionelles Oberhaupt neben dir steht?“ Charlottes Augen wurden schmal, sie schien es aber nicht todernst zu meinen. Fjodor dachte kurz nach. „Da mein Neffe diese unkonventionellen Ansichten vertritt, kann ich mir endlich erlauben, es auf diese Weise zu sehen.“
Diese Aussage erleichterte Igor ungemein, da er schon befürchtet hatte, eine sehr unangenehme Diskussion über Jurij und vor allem Olga mit ihm führen zu müssen. Er entschied, die beiden ihrem Gespräch zu überlassen, und wandte sich zum Gehen.
„Verstehe“, sagte Charlotte, als er schon den halben Weg zur Treppe zurückgelegt hatte.
„Ich dachte mir schon, dass ihr blutsverwandt seid. Aber du bist wesentlich älter.“
„Was sind schon 170 Jahre für uns“, gab Fjodor gelassen zurück. „Erzähl mir doch lieber ein bisschen von dir.“
„Zuerst einmal sind 170 Jahre für meine Verhältnisse viel.“
Mit einem leisen Seufzen fuhr Gigi ihren Rechner herunter. Ihr Arbeitstag im Büro war unheimlich zäh verlaufen. Richtig konzentriert hatte sie sich auch nicht. Den Bericht, den sie geschrieben hatte, würde sie daher morgen lieber noch einmal kontrollieren, bevor sie ihn bei ihrem Vorgesetzten abgab. Ihre Kollegin Camie steckte den Kopf zur Tür herein und strahlte, als sie sah, dass Gigi gerade ihren Blazer anzog.
„Wow, du bist mal zu einer normalen Zeit fertig?“
„Heute ja. Ich… habe noch etwas vor.“ Gigi stopfte ihr Portemonnaie in ihre Umhängetasche. Dann schaute sie kurz nach, ob noch eine Nachricht auf ihrem Handy eingegangen war. Camies Augen wurden schmal. „Ach was?“
„Ja, ich bin verabredet.“ Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen. Jetzt würde Camie erst recht weiterbohren, bis sie alles erfahren hatte.
„Kenne ich ihn?“, fragte sie, während sie gemeinsam den Flur entlang gingen.
„Nein, bestimmt nicht. Er ist nicht von hier.“
„Hast du ihn etwa auf einer Dienstreise kennengelernt?“
Gigi nickte stumm. Seit ihrer letzten Begegnung vor dem Krankenhaus in Oslo waren fast drei Monate vergangen. Seine erste Nachricht hatte sie vor sechs Wochen erhalten, aber ihre Arbeit hatte kein früheres Treffen erlaubt. Den ganzen Tag über hatte sie fieberhaft überlegt, was sie bei ihrer Verabredung sagen sollte und was nicht. Camies unersättliche Neugier bezüglich ihrer Kolleginnen hatte sie leider vergessen. Das Café, in dem sie sich mit ihm treffen würde, lag auch noch auf dem Weg zur Metro. Folglich hatte ihre Kollegin noch reichlich Zeit, um sie weiter zu löchern.
„Was macht er beruflich?“
„Das ist schwierig zu beschreiben“, entgegnete Gigi wahrheitsgemäß und winkte den Pförtnern zum Abschied.
„Wehe er ist ein Agent! Das kann nicht gut gehen!“
„Nein, keine Sorge. Er ist kein Agent.“ Mehr wollte sie lieber nicht dazu sagen. Die Nachmittagssonne schien ihnen ins Gesicht, als sie das Bürogebäude von Interpol verließen. Hier in Lyon verlief der Winter recht mild. In Oslo war es mit Sicherheit bitter kalt.
„Triffst du ihn zum ersten Mal?“
„Ich bin ihm schon mehrmals begegnet, aber heute ist unser erstes… Date.“ Gigi fiel es schwer, das Wort auszusprechen. Irgendwie passte es nicht, wenn man bedachte, dass sie bei ihrer ersten Begegnung auf ihn geschossen hatte. Und das mit voller Absicht. Ihre Vereinbarung, in Zukunft Informationen über verdächtige Fälle auszutauschen, beunruhigte sie im Gegensatz dazu nicht im Geringsten. Wenn es um die Arbeit ging, wusste sie in der Regel ganz genau, was sie zu tun hatte. Alles andere erschien ihr wie Neuland, obwohl sie schon die eine oder andere Beziehung gehabt hatte. Einige Schritte gingen sie schweigend nebeneinander her.
„Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“, quengelte Camie ungeduldig, aber da kamen die Tische des Cafés schon in Sicht. Gigi brauchte nicht lange zu suchen. Er war wirklich hergekommen. Verunsichert blieb sie stehen. Ihre Kollegin folgte gespannt ihrem Blick und pfiff anerkennend durch die Zähne. „Der hübsche Blonde, der Zeitung liest?“
„Ja…“
„Hättest ja gleich sagen können, dass du ein Model datest.“ Camie stupste sie freundschaftlich mit dem Ellbogen an. Gigi drehte sich ganz zu ihr um, damit er ihr Gesicht noch nicht sehen konnte. Der Versuch war albern. Bestimmt hatte er sie längst entdeckt, obwohl er kaum aus seiner Zeitung aufgesehen hatte. Camie schaute sie überrascht an und senkte dankenswerterweise die Stimme. „Meine Güte, bist du wirklich so aufgeregt?“
„Irgendwie schon“, hauchte Gigi. Warum, konnte sie schlecht erklären. Niemand würde ihr glauben, dass der gutaussehende große Mann, mit dem sie verabredet war, seit ungefähr zweitausendfünfhundert Jahren existierte und sich von Blut ernährte.
„Dass ich das noch erlebe, hätte ich nicht gedacht“, feixte Camie. „Ein Kerl, der dich aus der Ruhe bringt.“
Gigi schaute ihr wieder direkt ins Gesicht. Vor allem aus Trotz drehte sie sich um und ging direkt auf ihn zu. Ihre Kollegin verabschiedete sich mit einem amüsierten Lachen und verschwand endlich in Richtung der Metro-Station Foch. Er saß ganz ruhig an seinem Tisch, bis Gigi so nahe war, dass auch ein Mensch sie wohl bemerkt hätte. Mit der Andeutung eines Lächelns stand er auf und begrüßte sie. Die Agentin blieb unschlüssig stehen.
„Möchtest du dich nicht setzen?“, fragte Achilleas verwundert.
„Doch, gern“, antwortete sie ein bisschen zu hastig und ließ sich auf dem zweiten Stuhl am Tisch nieder. Er setzte sich ebenfalls und faltete seine Zeitung zusammen.
„Ich bin mir nicht ganz sicher, was sich derzeit gehört und was nicht. Daher habe ich mit der Bestellung lieber auf dich gewartet.“
„Das ist völlig in Ordnung.“ Gigi versuchte ein Lächeln. „Trinkst du überhaupt Kaffee?“
Achilleas schüttelte den Kopf. „Bedaure, aber nein.“
„Hast du es probiert?“
„Ja und es war widerlich.“ Er erschauderte sogar leicht bei dem Gedanken daran. Gigi grinste. Ein Vampir, der sich vor Kaffee ekelte, besaß eine gewisse Komik, ob gewollt oder nicht.
„Ist es zu früh, um ein Glas Wein zu bestellen?“, fragte er hoffnungsvoll. In diesem Moment wurde die Agentin von einem der Kellner mit ihrem Namen begrüßt. „Dasselbe wie immer?“
„Ja und für ihn einen Weißwein bitte.“
Der Kellner musterte Achilleas geringschätzig, dann ging er in das Café hinein, um ihre Bestellung weiterzugeben. Der Vampir hob die Brauen. „Die Gastfreundschaft in Person.“
„Normalerweise komme ich allein her.“ Gigi lehnte sich zurück. „Er ist beleidigt, weil er heute nicht mit mir flirten kann.“
„Aha.“ Mehr sagte er dazu nicht. Ob Vampire sofort eifersüchtig wurden? Gigi wollte das Thema lieber nicht weiter vertiefen.
„Ihr habt also gewonnen“, stellte sie erleichtert fest.
„Wir haben den letzten großen Stützpunkt der Firma ausradiert.“ Er nickte bedächtig. „Allerdings hat Hugh genauere Daten über die Geldgeber dieses Projekts gefunden. Er forscht noch nach, wo sie sich befinden.“
„Werdet ihr euch mit diesen Menschen auseinandersetzen, weil sie zu viel wissen?“
„Ich fürchte, ja.“ Der Vampir stützte sein Kinn auf.
„Wirst du mich auf dem Laufenden halten?“
„Wenn das dein Wunsch ist.“
Er schlug die Augen nieder. Insgesamt bewegte er sich recht wenig, schien jedoch darauf bedacht, wie ein Mensch aufzutreten. Bloß seine Jacke wirkte wesentlich zu dünn für die Jahreszeit. Gigi verschränkte die Finger auf dem Schoß. Er hatte sie auf den neuesten Stand gebracht, was den Krieg der Unsterblichen anging. Schon fiel ihr nichts mehr ein, worüber sie reden konnten. Bis ihre Getränke kamen, schwiegen sie. Das Sonnenlicht spiegelte sich in seinem Weinglas.
„Wie lange kannst du in der Sonne bleiben, ohne dass… etwas passiert?“ Das war vielleicht nicht der beste Weg, wieder ins Gespräch zu finden. Andererseits musste sie ja irgendwo anfangen. Achilleas musterte sie nachdenklich.
„Die Sonne kann mir nichts anhaben“, sagte er.
„Anderen von euch aber schon.“
„Richtig.“ Er trank einen Schluck Wein. „Es gibt einen Grund für meine Immunität, aber darüber möchte ich nicht sprechen. Für den Anfang muss dir genügen, dass du dir um mich und das Licht keine Sorgen zu machen brauchst.“
„Gut.“ Gigi drehte an ihrer Kaffeetasse. „Warum trinkst du Alkohol?“
„Er verdünnt das Blut, von dem ich zehre.“
„Wie oft musst du denn trinken?“ Beim Gedanken daran, dass Menschen üblicherweise mehrmals am Tag aßen, drehte sich ihr der Magen um. Es saßen so viele Leute in ihrer direkten Umgebung.
„Es hängt davon ab, wie viel Energie ich verbrauche.“
„Sagen wir, du hast quasi nichts mehr übrig. Verlierst du dann die Kontrolle?“
Im ersten Moment regte sich nichts in seinem Gesicht. Diese Frage war entsetzlich indiskret gewesen. Sie glaubte schon, ihr erstes Date in den Sand gesetzt zu haben, und ließ die Schultern sinken. Achilleas schüttelte jedoch mit einem sanften Lächeln den Kopf. Die Mädchen vom Nachbartisch starrten ihn mittlerweile unverhohlen an.
„Wirst du mich öfter verhören?“
„Das bringt der Job mit sich“, gab Gigi zu. Offenbar störte er sich doch nicht daran.
„Ich habe gelernt, mich zu beherrschen, und komme durchaus Wochen ohne frisches Blut zurecht. Aber verhungern kann ich auch nicht.“ Achilleas lehnte sich neugierig vor. „Genügt dir diese Aussage?“
Gigi nickte und trank von ihrem Kaffee, um ein bisschen Zeit zum Nachdenken zu haben.
„War das schon alles?“, hakte er nach. Die Herausforderung in seiner Stimme war unüberhörbar.
„Ist dein Glas Wein dann ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?“ Sie stellte die Tasse ab. Das Klirren des Porzellans war ihr sonst nie so laut vorgekommen.
„Weder noch. Wir haben ihn bestellt, damit ich normaler wirke.“
„Warum habe ich trotzdem das Gefühl, dass ich nicht außer Gefahr bin?“
Seit sie in Achilleas‘ Reichweite war, hatte Gigi neben ihrer Aufregung eine Art ungutes Gefühl. Es wollte einfach nicht verschwinden.
„Du weißt, mit wem du hier sitzt. Daher ist es nur verständlich.“ Seine grünen Augen waren plötzlich seltsam starr auf sie gerichtet, ohne zu blinzeln. „Mit einer einzigen Ausnahme gibt es kein effektiveres Raubtier als mich.“
„Und diese Ausnahme wäre?“
„Asheroth.“ Er griff nach seinem Glas.
Gigi stutzte. „Was unterscheidet euch?“
„Ich besitze das bessere Gehör, er den besseren Tastsinn. Niemand schlägt meinen Bruder darin, andere aufzuspüren. Das muss ich neidlos anerkennen.“ Achilleas verzog das Gesicht. „Aber lass uns nicht über den Mann reden, der mich in meinem Leben am allermeisten Nerven gekostet hat und auch immer kosten wird.“
„Okay.“ Gigi musste lachen. Der Unterton in seiner Stimme verriet, wie sehr er Asheroth in Wahrheit schätzte. Ihr selbst war dieser Vampir zwar am unheimlichsten von allen erschienen, aber das spielte im Moment wirklich keine Rolle. Sie war mit Achilleas allein. Wenn akute Gefahr von anderer Seite drohte, würde er sie mit Sicherheit warnen und ihr nicht gelassen gegenübersitzen.
„Gut… möchtest du vielleicht auch irgendetwas wissen?“
„Warum bist du Polizistin geworden? War das dein Traum, als du ein kleines Mädchen warst?“
Er brauchte wohl nicht über seine Worte nachzudenken, egal wie persönlich diese Frage war. Gigi nahm es ihm nicht übel. Da er vermutlich noch völlig anders über die Rolle von Frauen in der Gesellschaft dachte, überraschte ihn ihre Berufswahl.
„Nein, eigentlich… wollte ich zur Armee wie mein Vater.“
„Wurdest du nicht angenommen?“
Sie zögerte mit der Antwort. „Es wundert dich kein bisschen, dass Frauen Soldatinnen werden können?“
Achilleas zuckte mit den Schultern. „Es gab immer schon welche mit genug Kampfgeist. Man muss sie nur lassen.“
„Wenn du das sagst.“ Sie nickte. „Als ich sechzehn war, kehrte mein Vater von einem sehr langen Einsatz aus Westafrika zurück. Es muss grauenhaft gewesen sein, er hat nie darüber gesprochen. Er sagte mir nur, ich solle unter keinen Umständen zur Armee gehen.“
Der Vampir erwiderte nichts, als wüsste er, dass sie noch etwas hinzufügen würde. Gigi trank erst ihren Kaffee aus. „Welche Geschichte auch dahinter steckt, es war ihm sehr ernst, also hörte ich auf ihn.“
„Was hat er von Interpol gehalten?“
„Begeistert war er damals nicht, aber wir sind darüber hinweg.“
„Hast du noch mehr Familie?“, fragte er.
„Meine Eltern, Tanten, Onkel und drei Cousins. Und so weit ich weiß, ist bei einem davon das erste Kind auf dem Weg.“ Sie neigte den Kopf ein wenig. „Du nennst Asheroth deinen Bruder, aber ihr seid nicht blutsverwandt, oder? Er sieht dir überhaupt nicht ähnlich.“
„Der Vampir, der uns verwandelte, bestand darauf, dass wir uns als Brüder betrachten. Mit den Jahren wurden wir es tatsächlich. Commodus genauso. Wir sind als einzige aus jener Zeit übrig geblieben.“
„Wie ist das so? Ewig zu leben, meine ich.“ Gigi lehnte sich zurück. Langsam fühlte sie sich etwas sicherer in seiner Gegenwart. Achilleas rieb sich das Kinn. „Das tun wir nicht. Auch meine Existenz wird enden, wenn mir jemand den Kopf abschlägt.“
„So explizit musst du es nicht ausdrücken.“
Er schien sich keine großen Gedanken darum zu machen, ob die Menschen an den Nachbartischen zuhörten. Die Agentin sah sich kurz um, aber außer den Mädchen rechts von ihr, die hinter der Getränkekarte miteinander flüsterten, schien niemand besonders an ihnen interessiert zu sein. Der Vampir trank seinen letzten Schluck Wein.
„Bei einem Geschöpf, das so alt ist wie ich, ist es der einzige Weg, sicherzugehen. Bis dahin…“ Er hob unschlüssig die Schultern. „Was soll ich sagen? Ich habe Jahrhunderte gekämpft, bestimmt einige Jahre mit Lesen und dem Kennenlernen anderer Kulturen verbracht, meine Leibwächter ausgebildet und mich mit meinen Brüdern gestritten. Meistens war es aufregend, manchmal eben sehr trist.“
„Das soll alles gewesen sein?“, fragte sie.
„Was möchtest du denn hören?“, fragte Achilleas arglos. Sie machte eine vage Geste. „Erzähl doch einfach ein bisschen. Wo warst du während der Französischen Revolution 1789? Hast du den Sturm auf die Bastille beobachtet?“, fragte sie gespannt.
„Davon habe ich nur gelesen“, gestand er.
„Bist du Louis XIV begegnet?“
„Nein.“
„Jeanne d’Arc? Oder Elisabeth I von Großbritannien?“
Wieder verneinte er.
„Warst du die letzten Jahrhunderte überhaupt in Europa?“
Achilleas dachte einen Augenblick darüber nach, wie er diese Frage beantworten sollte. Ihm hätte klar sein müssen, dass Gigi irgendwann nach dem vergangenen Jahrtausend fragen würde, so neugierig wie sie war. Je mehr Zeit sie miteinander und vielleicht auch mit anderen Vampiren verbrachten, desto höher wurde die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Wahrheit herausfand. Daher konnte er auch direkt offen darüber sprechen.
„Nein, ich war… sehr lange fort. Etwas mehr als tausend Jahre sogar.“
Sie hob gespannt die Brauen. Dabei entstanden ein paar kleine Falten auf ihrer Stirn. Derart aufrichtiges Interesse ohne den geringsten Argwohn hatte er selten erlebt. Achilleas stützte den Kopf auf beide Hände. „Tatsächlich war ich eingefroren. In der Arktis.“
„Jetzt veralberst du mich aber!“ Gigi lachte.
„Nein, wirklich! Es hat nicht gereicht, um mich umzubringen. Mein Stoffwechsel war quasi bei null, deshalb konnte ich tausend Jahre ohne Nahrung überdauern.“
„Das ist unheimlich.“ Sie erschauderte, hörte aber noch nicht auf, zu lächeln. „Wie ist das passiert? Hat dich jemand gefangen genommen und dann vergessen?“
„Das wäre zumindest amüsanter gewesen als die Wahrheit.“ Er schloss kurz die Augen. „Ich… hatte damals jemanden verloren und konnte einfach nicht mehr weitermachen, als wäre nichts geschehen. Irgendwann führte mich meine Reise ins Eis. Ich muss eingeschlafen sein.“
Gigi nickte mitfühlend. Dieses Mal fragte sie nicht, wen er meinte. Stattdessen streckte sie eine Hand über den Tisch und wartete darauf, dass er sie ergriff. Es war das erste Mal, dass sie einander auf diese Art berührten. Ihre Haut fühlte sich ein wenig kühl an. Als er den Tisch im Freien ausgesucht hatte, hatte er nicht bedacht, wie kalt es für einen Menschen sein musste.
„Frierst du? Wir können uns nach drinnen setzen.“
Gigi verneinte. „Es geht schon. Aber…“
Sie wiegte sich für einen Moment auf ihrem Stuhl hin und her, als würde sie in Gedanken mit sich zu ringen. „Wie muss ich mir deine… Auferstehung vorstellen? Haben sie dich einfach wieder aufgetaut wie ein gefrorenes Steak?“
Achilleas schnaubte belustigt. „Das und eine erhebliche Menge Blut waren nötig.“
Trotz dieser Aussage ließ sie seine Hand nicht los. Er drehte sie so, dass er ihren Handrücken betrachten konnte. Zwischen ihren Fingerknöcheln entdeckte er ein paar kleine Narben von Abschürfungen, als hätte sie auf irgendetwas eingeschlagen. An ihrem Daumenballen war sie vor einiger Zeit wohl einmal genäht worden. Er strich mit dem Daumen über die schnurgerade Linie in ihrer Haut.
„Das sind nicht die Einzigen“, sagte sie leise. Er nickte langsam. Sie war eben eine Kriegerin. Seine Narben würden ein anderes Mal zur Sprache kommen. Sie zogen ihre Hände zurück. Der Kellner trat an ihren Tisch und fragte, ob sie noch etwas bestellen wollten. Gigi bat ihn stattdessen um die Rechnung. Er verschwand nur kurz im Café und brachte ihnen eine Quittung. Auf die Frage, ob sie getrennt zahlen wollten, warf sie dem Kellner einen entnervten Blick zu. Wenigstens mit seinem Trinkgeld schien er zufrieden zu sein. Sie standen auf und verließen das Café. Die Agentin hatte einfach bezahlt, bevor Achilleas etwas hatte sagen können. Es war ihm noch nie passiert, dass ihn eine Frau einlud.
„Hast du es weit bis nach Hause?“, fragte er. Gigi schüttelte den Kopf. „Von hier sind es nur zwei Stationen mit dem Bus. Manchmal gehe ich zu Fuß, wenn das Wetter so schön ist wie heute.“
„Wollen wir?“
„Sehr gern.“
Wie damals am Flughafen lauschte Achilleas aufmerksam, ob ihnen von irgendwoher Gefahr drohte. Unter dem Straßenlärm, den zahllosen geschäftigen Menschen und einem knurrenden Hund hinter einem Tor konnte er nichts Auffälliges entdecken. Gigi stupste ihn mit dem Ellbogen an. „Stimmt etwas nicht?“
„Nein, alles ist, wie es sein sollte.“