Talión - Die Gerechte - Santiago Díaz - E-Book

Talión - Die Gerechte E-Book

Santiago Díaz

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Beschreibung

Über Schuld und Strafe, Gerechtigkeit und Moral – der Sensationsthriller aus Spanien!

Marta Aguilera ist die beste Journalistin Madrids. Vom Idealismus getrieben versucht sie, die Welt mit ihren Enthüllungen besser zu machen. Doch dann bricht ihre eigene Welt zusammen: Diagnose Hirntumor. Sie hat nur noch wenige Wochen zu leben. Nach dem ersten Schock wird Marta plötzlich klar, was das bedeutet. Sie hat nichts zu verlieren, keine Konsequenzen zu befürchten. Und sie beschließt, ihre letzten Tage dem Kampf gegen das Böse zu widmen und die Gerechtigkeit selbst in die Hand zu nehmen. Doch schon bald wird Inspectora Daniela Gutiérrez auf die mysteriöse Rächerin aufmerksam. Und für Marta beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, gegen die Polizei – und gegen ihren eigenen Tod.

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Seitenzahl: 698

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Das Buch

Inspectora Daniela Gutiérrez kennt die dunkelsten menschlichen Abgründe und die finstersten Ecken Madrids. Derzeit ermittelt sie im Fall eines ermordeten Mädchens, eine Tat, die selbst sie als erfahrene Ermittlerin an ihre Grenzen bringt. Bald schon ahnt sie, dass sie allerdings noch ein ganz anderes Problem hat: Jemand scheint zu versuchen, Recht und Gesetz in die eigene Hand zu nehmen …

Die Journalistin Marta Aguilera erhält eine Diagnose, die ihr Leben auf den Kopf stellt: Sie leidet an einem inoperablen Tumor und ihre Tage sind gezählt. Im ersten Schock kündigt sie zunächst ihren Job und will Madrid und ihre Vergangenheit hinter sich lassen. Doch die Verbrechen, denen sie als Journalistin Tag und Nacht auf der Spur war, lassen sie nicht los. Ihr wird klar: Sie hat keine Konsequenzen mehr zu befürchten, ganz egal, was sie tut. Und sie trifft eine gefährliche Entscheidung: Sie nutzt ihre plötzliche Freiheit, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen – auf ihre Weise.

Der Autor

Santiago Díaz Cortés wurde 1971 in Madrid geboren. Nachdemer fünf Jahre lang bei dem Fernsehsender Antena 3 als Content Manager gearbeitet hatte, widmete er sich ganz dem Drehbuchschreiben. Im Laufe seiner Karriere hat er für verschiedene erfolgreiche Produktionsfirmen gearbeitet und zahlreiche preisgekrönte Serien entwickelt. »Talión – Die Gerechte« ist sein erster Roman.

SANTIAGO DÍAZ

TALIÓN

DIE GERECHTE

Aus dem Spanischen

von Anja Rüdiger

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe TALIÓN erschien erstmals 2018 bei Planeta de Libros, Barcelona.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 06/2021

Copyright © 2018 by Santiago Díaz Cortés

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Peter Thannisch

Umschlaggestaltung: Designomicon unter Verwendung von

© Trevillion Images/Stephen Carroll

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-26157-3V001

www.heyne.de

Für meine Eltern

Ist weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.

Lex Talionis, Exodus, 21, 23–25

ICHÜBERQUEREDIEBRÜCKE über den Fluss Urumea und verlasse kurz nach halb neun am Abend Hernani in Richtung Zarautz. Mein Kopf schmerzt, und mein linkes Bein kribbelt vom Fußknöchel bis in die Hüfte, was sich anfühlt, als drohe es für immer abzusterben. Aber ich glaube, ich werde es aushalten, denn es ist nicht mehr weit.

Ich nehme die Abfahrt auf die Autobahn und gerate in eine Kontrolle der baskischen Polizei Ertzaintza. Zwei Motorräder stehen quer auf der Fahrbahn, und die beiden Polizisten fordern mich bereits zum Anhalten auf, als ich noch mehr als hundert Meter entfernt bin.

Ich nehme die Pistole aus der Tasche, entsichere sie und verstecke sie unter meinem rechten Oberschenkel. Es war zwar nicht geplant, dass ich zwei unschuldige Menschen umbringe, die nur ihren Job machen, aber nachdem ich es so weit geschafft habe, kann ich auf keinen Fall das Risiko eingehen, festgenommen zu werden.

Ich halte auf dem Randstreifen, löse den Sicherheitsgurt und öffne den obersten Knopf meiner Bluse, denn im Laufe meines inzwischen achtunddreißigjährigen Lebens hing die Freundlichkeit der Beamten, mit denen ich zu tun hatte, stets direkt proportional mit dem Einfallsreichtum zusammen, mit dem ich sie behandelt habe. Ich fahre das Seitenfenster runter, während der Jüngere der beiden langsam auf mein Auto zugeht. Der andere bleibt bei den Motorrädern stehen, beide Daumen unter den Gürtel geschoben, die Beine leicht gespreizt und eine irritierende Überheblichkeit im Blick.

»Guten Abend, Agente«, sage ich mit meinem schönsten Lächeln.

»Die Papiere bitte, Señorita.«

»Ich weiß, dass ich zu schnell gefahren bin, und es tut mir leid, aber ich habe einen Termin mit einem Kunden in Zarautz und bin äußerst spät dran.«

»Die Papiere bitte!«

»Natürlich.«

Ich sehe ihm zwei Sekunden lang in die Augen, damit er mich doch bitte einfach weiterfahren lässt, denn das würde ein Blutbad verhindern. Aber er ist nicht bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen, und scheint nicht einmal zu ahnen, welche Bedrohung ich darstelle. Also krame ich nach meinem Führerschein, wobei ich den Kollegen, der bei den Motorrädern steht, nicht aus den Augen lasse. Er reagiert gerade auf einen Funkspruch und hat keine Ahnung, was gleich passieren wird.

Während ich mit der linken Hand meine Brieftasche öffne, die nun auf meinem Schoß liegt, taste ich mit der rechten nach der Pistole. Wenn ich sie erst in der Hand habe, wird der Ertzaintza nur einen Sekundenbruchteil später in den Lauf meiner belgischen FN Five-Seven blicken, und ich kann nur hoffen, dass er nicht so dumm ist, mich zum Abdrücken zu zwingen. Dabei vertraue ich darauf, dass auch sein Kollege nicht den Helden spielen, sondern sich mit dem Gesicht nach unten auf den Asphalt legen wird, wenn ich ihn dazu auffordere.

Als ich gerade meinen Führerschein aus der Brieftasche ziehe und die Pistole bereits fest im Griff habe, ist ein Pfiff zu hören.

»Ander! Ein Überfall auf die Tankstelle in Usurbil. Sie sind in einem BMW über die N-634 geflohen. Komm, wir müssen los!«

Der andere Ertzaintza zögert, während ich ihm mit unschuldigem Blick und falschem Lächeln weiterhin meinen Führerschein hinhalte. Wenn er meinen Namen liest, wird die Sache hier äußerst unangenehm werden, denn es ist nicht davon auszugehen, dass ihm der Name Marta Aguilera nichts sagt, da ich seit Stunden der Star in den Radio- und Fernsehnachrichten bin. In Spanien sind Serienmörder eher selten, insbesondere Serienmörderinnen, sodass sich alle Chefredakteure und Nachrichtenmoderatoren die Hände reiben.

Anders Kollege, der bereits mit laufendem Motor auf der Maschine sitzt, ruft erneut nach ihm, und gottlob ergreift er die Chance, am Leben zu bleiben.

»Schnallen Sie sich wieder an, Señorita.«

Nachdem er den unvermeidlichen Blick in meinen Ausschnitt geworfen hat, eilt er davon, startet sein Motorrad, und beide verschwinden mit Höchstgeschwindigkeit über die Landstraße.

Ich atme auf, erleichtert darüber, dass ich die zwei im unpassenden Moment auftauchenden Polizisten doch noch losgeworden bin, stecke meinen Führerschein wieder in die Brieftasche, verstaue die Pistole und fahre weiter.

Eigentlich habe ich vor, mich des Autos zu entledigen, indem ich es über die Felsen hinter Zarautz ins Meer schiebe, doch auf halbem Weg wird mir bewusst, dass dies keine gute Idee ist. Sie werden in jedem Fall schon bald nach dem Wagen suchen, und wenn sie ihn finden, wissen sie, dass ich bereits im Baskenland bin und was ich vorhabe, was die Dinge beträchtlich verkomplizieren würde.

Allerdings denke ich, dass es ausreicht, den Wagen an irgendeiner Flussbiegung des Urumea zu verstecken. Er darf nur heute Nacht nicht gefunden werden, denn morgen bin ich wahrscheinlich schon tot, und dann kann es mir gleich sein, ob sie das Auto finden oder nicht.

Genauso gut könnte ich den Wagen auch bei dem Einkaufszentrum abstellen, das in der Ferne vor mir liegt, denn er würde zwischen den Dutzenden Autos vor dem Supermarkt sicher nicht auffallen. Aber ich will nicht, dass irgendein eifriger Sicherheitsmann auf den Gedanken kommt, das Kennzeichen zu überprüfen, wenn die anderen Fahrzeuge nicht mehr da sind.

Letztendlich lasse ich den Wagen zwischen zwei Bäumen auf einem Feldweg hinter Zubieta zurück, was wahrscheinlich das schlechteste Versteck von allen ist, an denen ich bisher vorbeigefahren bin, aber es ist bereits neun Uhr abends, und um zehn habe ich eine wichtige Verabredung.

Ich gehe am Wegrand entlang auf ein paar Lichter zu, die wenige Hundert Meter entfernt zu sehen sind, als hinter einem Baum plötzlich eine Frau hervorkommt. Zu Tode erschrocken greife ich instinktiv nach meiner Pistole.

»Hallo, Süße. So spät noch eine Runde joggen?«

»Verdammt …« Ich beruhige mich, als ich begreife, dass sie ungefährlich ist, und nehme die Hand aus der Tasche. »Was machen Sie denn hier, Señora?«

»Ein bisschen frische Luft schnappen? Schau doch mal genauer hin!«

Ich mustere sie von oben bis unten. Die Frau ist über sechzig und wie eine Prostituierte zurechtgemacht. Sie ist etwas rundlich, sieht aber noch gut aus und hat einen gewissen Stil. Ohne den übertriebenen Ausschnitt und den knallroten Lippenstift könnte sie eine ganz normale Mutter oder Großmutter sein.

Auf dem Campingstuhl, auf dem sie auf ihre Kunden wartet, liegen ein aufgeschlagenes Rätselheft und eine brennende Taschenlampe. Neben dem Stuhl steht eine große, offene Strandtasche, in der ich feuchte Handtücher, irgendein Kleidungsstück und eine Packung Präservative sehen kann.

»Sollten Sie sich nicht einen etwas belebteren Ort suchen, Señora?«

»Ich hab meine fünf, sechs festen Kunden, und mehr will ich nicht, meine Liebe.« Sie mustert mich. »Bist du im gleichen Gewerbe?«

»Nein, ich bin zufällig hier. Ich bin ein paar Kilometer entfernt mit dem Auto liegen geblieben, und der Akku meines Handys ist leer. Wissen Sie vielleicht, wo ich ein Taxi finden könnte?«

»Ich könnte dir eins rufen.«

»Würden Sie das tun? Ich gebe Ihnen zwanzig Euro.«

Sie bittet um Vorkasse und ruft dann ein Taxi, das mich in einem nahe gelegenen Restaurant abholen soll, damit ich ihr nicht die Kunden vertreibe.

Als ich später im Taxi noch einmal an ihr vorbeifahre – während sie sich wieder ihren Kreuzworträtseln widmet –, bitte ich den Taxifahrer, kurz anzuhalten.

»Señora! Gehen Sie für heute nach Hause!«

Ich werfe ihr durchs Autofenster ein Fünfundzwanzigtausend-Euro-Bündel zu, das ich noch habe, und lasse mich dann im Taxi nach San Sebastian bringen.

In der Wohnung angekommen, lade ich mein Handy auf und bereite mich darauf vor, mein erstes und einziges Interview zu geben. Ich dusche, trage dezent etwas Schminke auf, brauche zehn Minuten, um mich für das einfache Kleid von Zara zu entscheiden, in dem ich in die Geschichte eingehen werde, und rufe kurz nach halb elf bei Álvaro Herrero, meinem Nachfolger bei Nuevo Diario an, der Zeitung, bei der ich vor weniger als einem Monat gekündigt habe.

»Ja?«

»Hast du der Polizei gesagt, dass ich dich anrufen werde, Álvarito?«

»Nein.«

»Bist du sicher?«

»Sonst würde ich es nicht sagen, Marta«, antwortet er mit rauer Stimme.

Ich beende das Gespräch und rufe ihn über Skype erneut an. Álvaro und ich kennen uns von der Uni, und wir haben uns immer gut verstanden. Er ist nicht mein Typ – zu weichlich für meinen Geschmack –, und ich habe ihm gleich klargemacht, dass er mich nicht interessiert, sodass wir nur gute Freunde wurden. Normalerweise freut er sich, mich zu sehen, aber heute lächelt er nicht, als ich auf dem Bildschirm seines Computers auftauche.

Seinem Gesicht ist eine Mischung aus Neugierde, Enttäuschung und Aufregung eingeschrieben, als er die Person, von der gerade alle sprechen, vor sich sieht. Meine frisch geschnittenen, blond gefärbten Haare tragen, wie es scheint, auch nicht dazu bei, ihn zu beruhigen. Zum Glück hat es die Natur gut mit mir gemeint, sodass ich trotz meiner miesen Verfassung nach dem, was ich in den letzten Stunden durchgemacht habe, und trotz der billigen Kamera meines Laptops wahrscheinlich gar nicht so schlecht aussehe. Ich nehme mal an, dass mein vollkommen normales Äußeres bei denen, die meine Geschichte erzählen, für mich spricht.

»Hallo, Álvaro. Es tut mir leid, dass ich dich da mit reingezogen hab.«

»Das braucht dir nicht leidzutun; du hast mich zu einem berühmten Mann gemacht.«

»Ich habe dich im Fernsehen gesehen. Das hast du sehr gut gemacht. Freut mich für dich.«

Ich fingere mir eine Zigarette aus der Packung und will sie anzünden, habe aber nicht genügend Kraft in der linken Hand und muss die rechte zu Hilfe nehmen. Die Flamme zittert, und es dauert eine Weile, bis es mir gelingt, die Zigarette zum Qualmen zu bringen.

»Du solltest zum Arzt gehen, Marta.«

»Mein Arzt kann nichts für mich tun.«

Nachdem die Zigarette endlich brennt, nehme ich einen langen Zug, wobei Álvaro mich abwartend beobachtet, ohne ein Wort zu sagen.

»Ich nehme an, dass du das jetzt schon aufnimmst, oder?«

»Ist es nicht das, was du willst? Auf der ganzen Welt in den Nachrichten zu sein und dass ein Film über dich gedreht wird? Darauf hast du es doch abgesehen, oder nicht?«

»Ich wollte nicht berühmt werden; das ist nur eine unangenehme Begleiterscheinung.«

»Also, warum hast du es getan?«

»Ich muss zugeben, dass das Ganze nicht gerade vernünftig war, aber wer weiß schon, wie er reagiert, wenn er erfährt, dass er nur noch zwei Monate zu leben hat …«

1 JONÁS UND LUCÍA

DIESISTDERDRITTETAGINFOLGE, an dem mir morgens beim Aufstehen übel und schwindelig ist. Bis jetzt war ich der Meinung, dass lediglich mein Immunsystem ein wenig schwächelt, doch so allmählich frage ich mich, ob sich das Schicksal mit mir einen seiner berüchtigten makabren Scherze erlaubt. Hoffentlich bin ich nicht schwanger, nachdem ich gerade beschlossen habe, nach einer fünfmonatigen Beziehung, die beinahe ausschließlich auf Sex basiert, mit Jaime Schluss zu machen.

Ich ziehe meine Jeans und das erstbeste Paar Schuhe an, setze die Sonnenbrille mit den größten Gläsern auf, die ich finden kann, und gehe runter in die Apotheke, um einen Schwangerschaftstest zu kaufen.

»Mal sehen.« Wieder zurück in der Wohnung lese ich laut den winzigen Beipackzettel. »Nehmen Sie den Teststreifen aus der Verpackung. Halten Sie den Teststreifen zehn Sekunden lang mit dem Pfeil nach unten in den Urin. Legen Sie den Teststreifen dann auf eine saubere, nicht saugfähige Unterlage.«

Ich folge den Anweisungen und harre die fünf Minuten, die man warten muss, aus, ohne den Blick von dem verdammten Teststreifen zu lösen, der mir sagen soll, ob sich von diesem Moment an mein Leben radikal ändern wird oder nicht. Ich habe noch nie so etwas wie einen mütterlichen Instinkt gehabt und bin davon überzeugt, dass jemand wie ich, sosehr er sich auch anstrengt, niemals eine gute Mutter sein kann.

Während meines letzten Jahrs an der Fakultät für Journalismus habe ich die Vorlesung eines berühmten Kriminologen besucht, wobei mir bewusst geworden ist, dass ich zu den zwei Prozent der Weltbevölkerung gehöre, die nicht in der Lage sind, Empathie für ihre Mitmenschen zu empfinden. Ich kann einem anderen Menschen gegenüber lediglich Sympathie, Zuneigung oder Lust verspüren, was für ein Kind jedoch bei Weitem nicht ausreicht.

Als auf dem Kontrollbereich des Teststreifens schließlich nur ein einzelner farbiger Strich sichtbar wird, überkommt mich eine Mischung aus Erleichterung und Traurigkeit. Wahrscheinlich weil ich im Grunde meines Herzens gern ausprobieren möchte, ob ich nicht doch in der Lage bin, tiefere Gefühle zu empfinden, und nur einfach noch nicht dem richtigen Menschen begegnet bin.

Als ich aus der Dusche komme, klingelt das Telefon. Es ist Serafín Rubio, der Chefredakteur der Zeitung, bei der ich schon seit sieben Jahren für die Rubrik »Aktuelles« arbeite.

»Wo steckst du, meine Liebe?«, fragt er verärgert. »Es ist äußerst gewagt, noch im Bett zu liegen, während ich schon seit einer halben Stunde im Büro bin.«

»Ich liege nicht im Bett, Serafín«, sage ich geduldig.

»Na ja, du klingst noch ziemlich verschlafen. Wo ist der Artikel über die Pistole, die diese Kinder in Lavapiés gefunden haben?«

»Ich bin dran.«

»Dann beeil dich, Marta. Ich will ihn in der morgigen Ausgabe haben.«

Serafín beendet das Gespräch, ohne mir die Gelegenheit zu geben, ihm klarzumachen, dass ein solcher Artikel seine Zeit braucht und dass ich vielleicht erst nächste Woche damit fertig werde, denn ich habe noch nichts Konkretes herausgefunden.

Ich beende mein morgendliches Styling und mache mich in einem Internetforum schlau, was es mit der Übelkeit und dem Schwindel auf sich haben könnte. Da ich nicht schwanger bin und seit meinem zwanzigsten Lebensjahr keinen Tauchsport mehr betreibe, beschließe ich, einen Termin beim Arzt zu machen. Zum Glück hat gerade jemand abgesagt, sodass ich an diesem Morgen noch kommen kann.

»Ich weiß nicht …«, sagt mein langjähriger Hausarzt, während er, nachdem er mich ausgiebig untersucht hat, auf dem veralteten Bildschirm seines Computers meine Krankengeschichte studiert. »Und mit dem Magen ist wirklich alles in Ordnung?«

»Absolut.«

»Und Sie sind ganz sicher nicht schwanger?«

»Ganz sicher. Ich verhüte, und der Schwangerschaftstest, den ich heute Morgen gemacht habe, war eindeutig negativ. Übrigens habe ich vor ein paar Tagen für eine ganze Weile meine Hand nicht mehr gespürt. Ich war kaum in der Lage, meine Kaffeetasse zu halten.«

Das scheint dem Arzt gar nicht zu gefallen. »Die letzte Blutuntersuchung ist gerade mal einen Monat her und war absolut unauffällig. Allerdings sollten wir vorsichtshalber ein CT machen lassen. Wenn Sie einverstanden sind, rufe ich meinen Kollegen Doktor Oliver an und frage, ob das heute noch möglich ist.«

Doktor Oliver tut meinem Hausarzt den Gefallen – zum Glück bin ich Privatpatientin –, sodass ich zwei Stunden später bereits in die Röhre geschoben werde, in der im Schnittbildverfahren mein Gehirn fotografiert wird. Wie mir die Sprechstundenhilfe schlecht gelaunt und mit einem Anflug von Eifersucht erklärt, pflegt der Doktor derartigen Untersuchungen normalerweise nicht beizuwohnen. Offenbar will er sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mich in dem furchtbaren, hinten offenen grünen Kittel zu begutachten.

»Keine Sorge, Señorita Aguilera«, erklärt der Arzt mir freundlich. »Es wird schon nichts Schlimmes sein. In ein paar Tagen, wenn die Ergebnisse vorliegen, rufen wir Sie an, um einen Termin zu vereinbaren.«

Als ich das medizinische Zentrum verlasse, ist es beinahe Mittag. Eigentlich sollte ich mich auf den Weg in die Redaktion machen, doch da ich keine Lust habe, mir die Vorhaltungen meines Chefs anzuhören, weil ich mit meinen Recherchen noch nicht weitergekommen bin, nehme ich ein Taxi und lasse mich zur Marconi-Siedlung im Madrider Stadtteil Villaverde fahren.

Vor wenigen Wochen haben ein paar Kinder in Lavapiés eine geladene Pistole gefunden, und die Recherchen für meinen Artikel haben mich zu einem im kleinen Stil agierenden Waffenhändlerring geführt, für dessen Existenz ich jedoch noch keinen stichhaltigen Beweis habe. In der Marconi-Siedlung gibt es neben Wohnhäusern und Unternehmen einen Straßenstrich, einen ziemlich großen sogar, der in Zonen für Afrikanerinnen, Rumäninnen, Spanierinnen und eine für Transvestiten aufgeteilt ist.

Ich lasse mich an der Tür der Bar Los Mellizos absetzen, die, wie an dem draußen hängenden Werbeschild zu erkennen ist, die Biermarke Mahou anbietet. Elías Pardo, der wegen einer Narbe, die seine Nase in der Mitte teilt und ihm ein eindrucksvolles Äußeres verleiht, Dos Napias – Doppelzinken – genannt wird, sitzt wie üblich an seinem Tisch hinten im Raum. Ich bestelle eine Cola Zero und ein Häppchen Tortilla, das ich in der Vitrine entdeckt habe, und warte, dass er zu mir herüberkommt.

»Was machst du hier, du Drecksreporterin? Ich hab dir doch gesagt, dass ich dich nicht mehr sehen will!«

»Du weißt ja, dass ich keinen Namen nennen muss und dass ich, falls es dazu kommt, vor Gericht meine Quelle bis zuletzt schützen werde, oder?«

»Welche Quelle?« Er wird aggressiv. »Hier wirst du nichts finden, also schieb deinen vornehmen Arsch von diesem Barhocker, und zisch ab!«

»Das Problem ist, wenn ich zu meiner Zeitung gehe und sage, dass ich nichts herausgefunden habe, schicken sie einen anderen, und wer weiß, vielleicht sogar das Fernsehen. Kannst du dir vorstellen, wie unangenehm das wäre, wenn in der Tür von dieser Bar vierundzwanzig Stunden am Tag eine Kamera steht?«

Dos Napias, der sich zu gern weiter mit einer wie mir anlegen würde, ist tatsächlich schlau genug zu kapieren, dass ich ihn an den Eiern hab.

»Was willst du?«, schleudert er mir schließlich angewidert entgegen.

»Nur, dass du mir ein paar Fragen beantwortest. Setzen wir uns?«

Der Waffenhändler gibt unwillig nach, und wir setzen uns an den Tisch, der am weitesten von der Theke entfernt ist. Ich will mein Handy herausnehmen, aber er hält mich zurück.

»Komm nicht auf den Gedanken, irgendwas aufzunehmen. Notier es dir, wenn du willst, aber sonst nichts. Und wenn du meinen Namen nennst oder irgendwas anderes, wodurch man mich identifizieren könnte, such ich dich und bring dich um, bevor ich umgebracht werde, verstanden?«

»Ist gut, beruhig dich«, sage ich und nehme mein Notizbuch und einen Kuli aus meiner Tasche. »Ich hab ja schon gesagt, dass es ein anonymes Interview sein wird. Vertrau mir.«

»Aber mach schnell. Fehlt nur noch, dass sie mich hier mit dir reden sehen, dann kann ich einpacken.«

In der nächsten halben Stunde erzählt mir Dos Napias, dass er und seine Komplizen nur ab und zu ein paar Schusswaffen aus Deutschland, Italien oder vom Balkan erhalten. Die sind neu und werden aus Fabriken gestohlen, denn mit den gebrauchten aus Polizeiwachen oder polizeilichen Asservatenkammern wurde fast immer bereits eine Bluttat verübt, darum sind sie entsprechend registriert. Während er mir das erklärt, beklagt er sich, dass das Geschäft den Bach runtergehe und sich das Risiko für die paar Kröten nicht lohne. »Auf Dauer bringen nur Drogen und Nutten wirklich was ein.«

Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass seine Kunden üblicherweise Verbrecher sind, die irgendeinen Überfall planen, doch ich erfahre, dass die Schusswaffen fast immer in Privathäusern landen, deren Bewohner sich vor möglichen Einbrechern schützen wollen.

»Denn wenn man sich auf die Polizei verlässt … Bis die da ist, bist du längst ausgeraubt, vergewaltigt und manchmal sogar getötet worden.«

»Die Leute ohne Waffenschein wissen doch gar nicht, wie man eine Pistole benutzt, und wenn man sie sich illegal verschafft, riskiert man eine Gefängnisstrafe.«

»Sag das mal einem Mann, der verhindern will, dass seine Frau und seine Töchter vergewaltigt werden …«

Ich muss zehn Minuten Überzeugungsarbeit investieren, bis ich ihn von hinten fotografieren darf, damit ich ein Foto für den Artikel habe, und weitere zehn Minuten gehen dafür drauf, dass er verschiedene Filter ausprobiert und das Foto beinah komplett verdunkelt.

Um fünf Uhr nachmittags komme ich nach Hause und tippe das Interview mit Dos Napias ab, wobei ich es fantasievoll, aber durchaus professionell ein wenig ausschmücke. Als ich den Text gerade per Mail an meinen Chef schicken will, ruft Jaime an und fragt, ob ich am Abend mit ihm essen gehe.

Das ist die Gelegenheit, die Sache hinter mich zu bringen. Wenn ich doch schwanger sein sollte, wird die Sache kompliziert, aber schon jetzt gibt es nichts mehr, was mich mit ihm verbindet.

Als ich im Restaurant Con Amor in der Calle Espronceda ankomme, sitzt mein Noch-Lover bereits am Tisch und wartet auf mich. Er sagt mir, wie gut ich aussehe, und ich gebe ihm das Kompliment zurück, ohne lügen zu müssen. Jaime ist wirklich ein attraktiver Mann; wie schade, dass er nicht in der Lage ist, die Art unserer Beziehung zu verstehen.

Wir unterhalten uns etwa zwanzig Minuten lang über unsere jeweiligen Jobs – er spekuliert an der Börse mit dem Geld anderer Leute –, und als unser Gespräch langsam ins Stocken gerät, zaubert er ein kleines Kästchen mit der Aufschrift Fiona Hansen hervor. »Ich hoffe, es gefällt dir.«

»Du musst mir nichts schenken«, sage ich gleichgültig.

»Ich weiß, aber heute habe ich durch eine geschickte Investition viel Geld verdient und wollte mir den Luxus leisten. Bist du nicht neugierig, was es ist?«

Jaime stellt das Kästchen neben meinen Teller, und ich sehe mich gezwungen, es zu öffnen. Darin ist ein mit Diamanten besetztes Armband aus Weißgold. Wunderschön und sicher ausgesprochen teuer. Das hätte er mir mal vor einem Monat schenken sollen, es hätte toll zu meinem Kleid von Elie Saab gepasst.

Ich schließe das Kästchen wieder und schiebe es zu ihm zurück. »Es ist wunderbar, aber ich kann es nicht annehmen.«

»Warum nicht?«

»Weil ich mit dir Schluss machen will, Jaime.«

Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, täuscht eine Überraschung vor, die er nicht wirklich empfinden kann, und sieht mich schweigend an, um mir seine angebliche Verblüffung deutlich zu machen. Dabei ist ihm sicherlich seit einiger Zeit klar, dass dieser Moment früher oder später kommen würde, und ich bin davon überzeugt, dass das Armband nichts anderes als der vergebliche Versuch ist, mich an ihn zu binden.

»Ich dachte, wir würden uns gut verstehen?«, sagt er schließlich.

»Haben wir auch. Bis du angefangen hast, mich um Dinge zu bitten, die ich dir nicht geben kann.«

»Wenn es darum geht, dass ich bei dir übernachten wollte, vergiss es. Wir können so weitermachen wie bisher.«

»Das Problem ist, dass ich nicht verliebt in dich bin.«

»Warst du denn schon mal in irgendjemanden verliebt, Marta?«

»Das ist nicht die Frage.«

»Was dann, verdammt?« Er ist in seinem männlichen Stolz verletzt, das ist aus seinen Worten deutlich herauszuhören. »In meinem ganzen beschissenen Leben bin ich noch keiner Frau begegnet, die so kalt ist wie du.«

»Es ist besser, wenn wir es beenden, Jaime. Es tut mir leid, aber es wird dir sicherlich nicht schwerfallen, eine andere zu finden, die dich über den Verlust hinwegtrösten wird.«

»Willst du mich nicht nur verlassen, sondern mich auch noch demütigen?«, fragt er verletzt und so laut, dass die Leute an den Nebentischen zu uns herübersehen.

»Das ist nicht meine Absicht.«

»Dann nimm das Armband. Wenn du es in ein paar Tagen immer noch nicht willst, dann gibst du es mir zurück, und gut ist.«

»Es würde nichts ändern.«

»Bitte, Marta! Tu es mir zuliebe …«, fleht er mich pathetisch an.

Ich sollte ihm sagen, dass er das verdammte Armband zurück ins Geschäft bringen oder für die nächste Glückliche an seiner Seite aufbewahren soll. Aber die anderen Gäste sehen immer noch zu uns herüber, und ich will die Sache hinter mich bringen. Darum stehe ich auf und stecke das Kästchen in meine Tasche. »Ich ruf dich an, um es dir zurückzugeben. Du wirst sicher bald darüber hinweg sein.«

Ich verlasse das Restaurant unter vorwurfsvollem Getuschel, höre sogar, wie eine Frau zu ihrem Mann sagt: »Ich wette, dass das Miststück das Armband behält.«

Um kurz nach elf bin ich wieder zu Hause und sehe mir im Fernsehen ohne jegliches Schuldgefühl eine Sendung mit singenden Kindern an. Wobei ich tatsächlich gestehen muss, dass ich mich noch nie für irgendetwas schuldig gefühlt habe.

Daniela Gutiérrez, vierundfünfzig Jahre alt, Inspectora und seit beinahe dreißig Jahren bei der Mordkommission der Kriminalpolizei von Madrid, nimmt den Brandgeruch bereits vor dem Betreten des Hauses in der Calle Huertas wahr. Der ihr unterstellte Kollege, Agente Martos, fünfunddreißig, spricht mit einer Hausbewohnerin im Morgenmantel, die ziemlich mitgenommen aussieht.

»Mein Gott, wie kann es sein, dass ich nichts bemerkt habe?«, fragt die Frau schluchzend. »Beinahe wären wir alle verbrannt!«

»Beruhigen Sie sich, Señora, und gehen Sie in Ihre Wohnung. Es ist bereits alles unter Kontrolle. Es besteht keine Gefahr mehr.«

Die Leiche der achtundsechzigjährigen María Luisa Ramírez liegt verkohlt auf den Resten ihres Bettes in ihrem Schlafzimmer. Die Kollegen von der Gerichtsmedizin versuchen den Körper anzuheben, was gar nicht so einfach ist, da sie angesichts seines Zustands fürchten müssen, dass er in der Mitte durchbricht. Die Spurensicherer markieren und fotografieren im ganzen Raum, konzentrieren sich jedoch vorwiegend auf den Nachttisch, auf dem neben den Scherben eines Wasserglases, einem in der Hitze deformierten Plastikfeuerzeug, einem angekokelten Zigarettenpäckchen und einer halb verbrannten Packung Schlaftabletten eine angerußte Ginflasche steht.

»Und der Aschenbecher?«, fragt die Inspectora, nachdem sie sich einen ersten Überblick verschafft hat.

»Wir haben keinen entdeckt.«

»Wenn sie beim Rauchen im Bett gestorben ist, müsste hier irgendwo ein Aschenbecher stehen«, sagt Daniela Gutiérrez.

Die Polizisten durchsuchen die ganze Wohnung und finden lediglich einen Souvenir-Aschenbecher aus Soria, in dem, so wie er aussieht, noch nie eine Zigarette ausgedrückt wurde.

»War jemand da, der die Feuerwehr gerufen hat?«

»Ihre Tochter und ihr Schwiegersohn haben die 112 angerufen. Sie sind in der Küche.«

»Fragen Sie die Nachbarin, ob das Opfer geraucht hat.«

Im Laufe ihres Berufslebens hatte Daniela Gutiérrez bereits mit Hunderten Familienangehörigen von Verstorbenen geredet, und sie weiß, dass wahrer Schmerz nicht leicht vorgetäuscht oder unterdrückt werden kann. Es gibt Menschen, die das Gefühl haben, dass nicht nur das Leben des Toten, sondern auch ihr eigenes vorbei ist, andere, die über die Ungerechtigkeit fluchen und schimpfen, die resignieren oder sich der Tatsache stellen, so gut sie können, aber auch solche, die sich, obwohl sie weinen und jammern, über den Tod des Dahingeschiedenen freuen, und das zumeist aus wirtschaftlichen Gründen.

Bevor Daniela auf das Paar zugeht, beobachtet sie es zunächst ein paar Minuten schweigend. Sie weint in den Armen ihres Mannes und scheint von der furchtbaren Entdeckung stark mitgenommen, und er tröstet seine Frau, wobei er sich immer wieder mit fahrigen Blicken umsieht. Die beiden bleiben auch nie länger als drei Sekunden an einer Stelle stehen.

Danielas Kollege Martos betritt die Wohnung, um leise mit seiner Chefin zu reden. »Die Nachbarin sagt, dass der Ehemann der Toten vor ein paar Jahren an Lungenkrebs gestorben ist und dass sie sich nicht erinnern kann, dass die Frau geraucht hat.«

»Lass mich raten«, gibt sie ebenso leise zurück. »Es gibt nur einen Erben. Oder, besser gesagt, eine Erbin.«

»Richtig.«

»Miststück!«, murmelt Daniela und geht zu dem Ehepaar hinüber. »Guten Tag, ich bin Inspectora Gutiérrez von der Mordkommission.«

»Mordkommission?«, fragt der Schwiegersohn, der seine Nervosität nicht überspielen kann. »Es war doch ein Unfall, oder?«

»Mir scheint es relativ unwahrscheinlich, dass eine Frau, die nicht raucht, völlig verkohlt ihr Leben verliert, weil sie mit einer brennenden Zigarette in der Hand eingeschlafen ist.«

Der entsetzte Blick, den die frischgebackene Waise mit ihrem Ehemann angesichts der Erkenntnis wechselt, dass ihr Verbrechen alles andere als ein perfektes gewesen ist, bestätigt Daniela, dass die beiden einen häuslichen Unfall vorgetäuscht haben, um die Mutter aus dem Weg zu räumen und sich die Wohnung und die beinahe achtzigtausend Euro auf dem Sparkonto unter den Nagel zu reißen. Es wird nicht viel länger als ein paar Stunden dauern, ihnen ein Geständnis zu entlocken. Wie es scheint, hat das Paar angesichts drückender Schulden, anhaltender Arbeitslosigkeit und nicht vorhandener Skrupel beschlossen, dass María Luisa lange genug gelebt habe und sie ihr einen Gefallen tun, wenn sie sie zu ihrem Mann ins Jenseits befördern.

Auf dem Rückweg ins Kommissariat schaut Daniela in ihrer Wohnung vorbei, um ein paar Kleidungsstücke für die Reinigung mitzunehmen, wobei ihr ein an der Einfahrt zur Garage aufgebocktes Motorrad auffällt.

»Sergio?«

In der Wohnung sind ein Fluch sowie gedämpfte Stimmen zu hören. Als Daniela in den Flur tritt, verlässt der zweiundzwanzigjährige Sergio gerade mit zerwühltem Haar sein Zimmer und zieht sich ein Shirt über.

»Mama, was machst du denn hier?«

»Wieso bist du nicht in der Schule?«

»Ich mach gerade ein Praktikum.«

»Dann sei froh, dass ich nicht frage, was das für eins ist, Sergio. Ist es wieder diese Nuria?« Daniela richtet den Blick auf die geschlossene Tür hinter ihrem Sohn.

»Ja und?«, entgegnet dieser abweisend.

»Sie verkauft Marihuana. Wenn du willst, bring ich dir ihre Strafakte mal mit, damit du dir ein Bild von ihr machen kannst.«

»Warum kümmert ihr euch nicht um echte Verbrecher? Ein bisschen Gras hat noch keinem geschadet.«

»Ich will sie nicht in meinem Haus haben. Und das Konzert morgen kannst du vergessen!«

»Ich bin kein Kind mehr, das du so einfach bestrafen kannst, denkst du nicht?«

»Solange du in meinem Haus lebst …«

»Hör doch auf damit, Mama«, fällt Sergio ihr ins Wort. »Musst du nicht irgendjemanden verhaften?«, fragt er herausfordernd, bevor er ihr die Tür vor der Nase zuschlägt.

Daniela würde sie am liebsten eintreten und ihrem Sohn deutlich machen, dass er auf dem falschen Weg ist, dass dieses Mädchen dafür sorgen wird, dass er in ernsthafte Probleme gerät. Doch sie ist die Letzte, die irgendjemandem gute Ratschläge geben sollte. Denn seit dem Anschlag ist sie diejenige, die einen guten Rat brauchen könnte …

Sergio war gerade ein Jahr alt, als Javier und David, sein Vater und sein älterer Bruder, bei einem Terroranschlag in einem Einkaufszentrum ums Leben kamen. Nach der Tragödie und nachdem Daniela ihren Mann und ihren Sohn begraben hatte, legte sie sich mit mehreren Leuten an, weil sie unbedingt in eine Antiterroreinheit versetzt werden wollte. Doch wegen ihres psychischen Zustands und weil sie selbst als Terroropfer galt, hielt dies niemand für angebracht.

Daraufhin fing sie an zu trinken und Sergio zu vernachlässigen, den sie schließlich ohne jeden Widerstand seinen Großeltern übergab. Schon acht Monate nach dem Anschlag sah es nach außen hin ganz so aus, als wäre die Inspectora stabil genug, um in ihren Beruf zurückzukehren, doch innerlich sann sie nur auf Rache.

Nach vielen Jahren der Selbstzerstörung, als sie die dunkle Phase, die ihr Schicksal und das ihres Sohnes geprägt hatte, endlich hinter sich ließ und die Zügel ihres Lebens wieder in die Hand nehmen konnte, trat dann ein neuer Mann in ihr Leben. Dabei ging es nicht um Sex, denn sie hat stets gewusst, wo sie den finden konnte, wenn sie das Bedürfnis danach hatte; bei ihm war es etwas anderes.

Daniela war gerade neunundvierzig geworden und damit neunzehn Jahre älter als der damalige angehende Subinspector Guillermo Jerez. Er war attraktiv und muskulös, mit dunklen Augen und großen, starken Händen. Aber das, was sie an ihm am erregendsten fand, war die Art, wie er sie ansah. Sie liefen sich häufig am Schießstand über den Weg, wo sich der jüngere Mann zunächst darauf beschränkte, sie mit einem Kopfnicken zu grüßen, ihr bei den halbstündigen Schießübungen zuzusehen und sie dann mit einem erneuten Kopfnicken zu verabschieden. Dank eines Metallschilds, das daran erinnerte, beim Schießen Hörschutz und Schutzbrille zu tragen und das gleichzeitig eine Art improvisierter Spiegel war, konnte Daniela es ihrem Kollegen gleichtun und auch ihm eindeutige Blicke zuwerfen. Eines Tages, als er an ihr vorbeiging, nachdem sie zwei Magazine geleert hatte, sprach er sie dann endlich an.

»Herzlichen Glückwunsch, Inspectora Gutiérrez, zur erfolgreichen Festnahme diese Woche. Haben Sie diesen Typen tatsächlich wie ein Cowboy auf dem Pferd verfolgt?«, fragte der angehende Subinspector amüsiert.

»Es war nichts anderes da, und ich hatte hochhackige Schuhe an.«

»Und ich wette, Sie haben noch mit niemandem auf diesen ausgezeichneten Fang angestoßen …«

»Stehst du auf reife Frauen, Junge?«

»Ich stehe auf Sie.«

Bis heute ist Daniela froh, dass sie die Einladung angenommen hat. Noch im Auto, den eher erschrockenen als erregten Guillermo Jerez auf dem Beifahrersitz, rief sie in einem Hotel an der Landstraße an, um ein Zimmer zu reservieren. Ganze sechs Monate lang tobten sie sich miteinander aus.

Inzwischen verläuft das Ganze in ruhigeren Bahnen, obwohl sie sich immer noch drei Mal pro Woche sehen. Sie gehen essen oder etwas trinken, oder sie fahren, wenn Guillermos Mitbewohner zu Hause sind, ins Hotel Las Letras an der Gran Vía.

»Bist du der Sache nicht allmählich überdrüssig?«, fragt sie ihn nach dem Sex, während sie ihm die Brust streichelt.

»Du hast vor Kurzen noch gesagt, dass wir uns auch nach fünf Jahren immer noch prächtig verstehen, oder?«

»Bist du anderer Meinung?«

»Nein, absolut nicht. Ich geh mal duschen.«

Der inzwischen zum Inspector beförderte Guillermo Jerez steht auf und geht ins Bad. Ihr wäre es wesentlich lieber, wenn es anders wäre, wenn sie sich eine gemeinsame Wohnung kaufen und für immer zusammen sein könnten. Aber abgesehen davon, dass jeder in der neuen Nachbarschaft sie für Mutter und Sohn halten würde, wäre Sergio sicher nicht damit einverstanden.

Bisher hat sie Guillermo nicht einmal ihrem Sohn vorgestellt, aber womöglich ist nun der richtige Zeitpunkt gekommen, und möglicherweise ist der geringe Altersunterschied zwischen den beiden sogar ein Vorteil.

Oder auch nicht.

Heute ist der erste Tag in dieser Woche, an dem mir nicht schwindelig ist. Ich frühstücke und lese dabei auf der Webseite von El nuevo Diario die unzähligen Kommentare zu meinem Interview mit Dos Napias, als ich einen beunruhigenden Telefonanruf erhalte. Auch wenn die eifersüchtige Sprechstundenhilfe, die mich gestern in der Praxis empfangen hat, versucht, die Angelegenheit herunterzuspielen, beunruhigt es mich, dass mich Doktor Oliver noch an diesem Morgen sehen will.

Als ich das Sprechzimmer betrete, merke ich sofort, dass etwas nicht in Ordnung ist. Mit ernstem Gesichtsausdruck bittet er mich, Platz zu nehmen, um mir dann die schlimmste Nachricht mitzuteilen, die ein Mensch erhalten kann.

»Es tut mir sehr leid, Señorita Aguilera«, sagt er bekümmert. »Wir haben den Tumor zu spät entdeckt, denn er füllt bereits einen großen Teil des Frontallappens Ihres Gehirns aus. Wenn er so weiterwächst wie bisher, schätzen wir, dass Ihnen noch zwei Monate bleiben.«

»Das ist ein Witz, oder?«

»Entschuldigen Sie, dass ich so direkt bin, aber wenn Sie länger als diese sieben oder acht Wochen überleben, dann sicher nicht unter angenehmen Umständen.«

Seit ich ein kleines Mädchen gewesen bin, hat mir meine Mutter immer gesagt, dass ich stark sein soll, dass ich nicht zulassen darf, dass mich jemand weinen sieht, weil die Leute dann meine Schwäche ausnutzen würden. Jetzt weiß ich, dass das eine Lüge ist, dass man vor vielen Leuten weinen kann, wobei ich mich nicht daran erinnere, es jemals getan zu haben. Nicht um keine Schwäche zu zeigen, sondern weil ich mir dabei lächerlich vorgekommen wäre. Doch in diesem Moment kann ich nicht anders und breche in Tränen aus. Ich heule wie ein Schlosshund in Gegenwart eines mir im Grunde völlig fremden Mannes.

»Bitte, weinen Sie sich in aller Ruhe aus«, sagt der Arzt, während er eine Packung Kleenex vor mir hinstellt.

Dem armen Mann scheint es unangenehmer zu sein, eine schluchzende Frau im Sprechzimmer zu haben, als ihr mitzuteilen, dass sie in sechzig Tagen nicht mehr unter den Lebenden weilen wird. Letztendlich hat sich also doch noch herausgestellt, dass ich durchaus in der Lage bin, Empathie für jemanden zu empfinden: für mich selbst.

Nachdem ich einige Minuten lang, in Tränen aufgelöst, lediglich vor mich hin gemurmelt habe, wie ungerecht das Ganze ist, versuche ich mir bewusst zu machen, was Doktor Oliver soeben zu mir gesagt hat.

»Warum tut es jetzt nicht weh?«

Der Arzt steht auf und zeigt auf die Röntgenbilder meines filetierten Kopfes, die an einem Leuchtschirm hängen. »Der Tumor hat offenbar, obwohl er sich bereits weit ausgebreitet hat, noch keine Bereiche befallen, wo er Ihnen außer dem Schwindel und der Übelkeit noch andere Beschwerden verursachen würde. Da haben Sie bisher Glück gehabt.«

Glück? Das scheint mir nicht gerade das richtige Wort zu sein, um den schlimmsten Moment meines Lebens zu beschreiben.

Der Doktor zeigt mit einem Pointer auf verschiedene Bereiche meines Gehirns, die in Kürze sicher von den Tumorzellen zerfressen werden, und fügt irgendwelche analytischen Werte hinzu, die ich nicht verstehe. Ich glaube nicht, dass er sich über meinen baldigen Tod freut, aber sehr wohl darüber, in seiner Praxis einen Fall unter Millionen begrüßen zu können. Wie er selbst anerkennend zugibt, ist ein Glioblastom vierten Grades im fortgeschrittenen Stadium, das ein beinahe normales Leben zulässt, nicht allzu häufig. Abgesehen davon scheint mein Arzt ein guter Mensch zu sein, und ich glaube nicht, dass er zu denjenigen gehört, die einem Patienten Angst machen, um ihm anschließend zu sagen, dass der Tumor operabel ist und mir nachher höchstens ein schielendes Auge bleibt.

»Ich gehe davon aus, dass eine Operation nicht möglich ist, oder?«

»Wie ich bereits sagte, ist der Tumor schon zu weit entwickelt.«

»Und eine Chemotherapie oder so was?«

»Im Idealfall würden wir ihn mit einer Kombination aus Bestrahlung und Chemotherapie behandeln, aber unglücklicherweise würden wir in Ihrem speziellen Fall damit lediglich eine deutliche Verschlechterung Ihrer Lebensqualität erreichen. Wenn Sie mir einen persönlichen Rat erlauben, ich würde an Ihrer Stelle versuchen, die Zeit zu genießen, solange Sie es noch können.«

»Das heißt, Sie schicken mich einfach so nach Hause?«

»Nein, natürlich nicht. Ich werde Sie auf der Basis von Antiepileptika und Kortikosteroiden behandeln, und wir werden uns regelmäßig sehen, damit ich die Dosis Ihren Bedürfnissen entsprechend angleichen kann. Schon bald werden Sie noch andere Beschwerden als Schwindel und Übelkeit haben.«

»Wann?«

»Bald. Zunächst können das Erbrechen und Kopfschmerzen sein, und später wird ihre Sehfähigkeit beeinträchtigt. Sie werden unter Taubheitsgefühlen leiden, Krämpfe und epileptische Anfälle bekommen … Und auf der psychischen Ebene könnte der Tumor Bewusstseinsstörungen und Persönlichkeitsveränderungen verursachen.«

»Was verstehen Sie unter Persönlichkeitsveränderungen?«

»Verändertes Verhalten. Einige Patienten in Ihrer Situation leiden unter Anfällen von Psychose, die durch Phasen extremer Gewalttätigkeit gekennzeichnet sind, und unter Veränderungen in ihrem, sagen wir, sozialen Verhalten.«

»Erklären Sie mir gerade, dass ich verrückt werde?«

»Nein, ich sage nur, dass Ihr Gehirn Ihnen einige Streiche spielen wird.«

Als Doktor Oliver sieht, wie ich auf meinem Stuhl immer kleiner werde, scheint er zu bereuen, so geradeheraus gewesen zu sein, und demonstriert mir plötzlich eine unangenehme Nähe, indem er meine Hand berührt.

»Regeln Sie alles, was zu regeln ist, reden Sie mit Ihrer Familie, und genießen Sie die Zeit, die Ihnen bleibt, Señorita Aguilera.«

»Bei mir gibt es nichts zu regeln und auch keine nahen Verwandten.«

»Sie müssen sich psychologische Unterstützung suchen. Hier haben Sie die Visitenkarte einer Psychologin, mit der wir zusammenarbeiten. Es wird Ihnen guttun, mit ihr zu reden.«

Der Arzt gibt mir die Karte der Psychologin und stellt mir mehrere Rezepte aus, während er von der Behandlung spricht, der ich mich unterziehen muss, um die kommenden Wochen unter den bestmöglichen Umständen verbringen zu können, doch ich höre ihm bereits nicht mehr zu. Was, verdammt noch mal, kann man in zwei Monaten machen? Das ist so gut wie nichts, eine lächerliche Zeitspanne. Mein letztes Vorhaben war, vier Kilo abzunehmen, und meine Ernährungsberaterin hat mir eine Dreimonatsdiät auferlegt. Sogar dafür fehlt mir jetzt ein Monat.

Ich denke natürlich über meinen Tod nach, und die Vorstellung, dass mich mein fortschreitender Verfall gelähmt, blind und auf riesige Windeln angewiesen wochenlang ans Bett fesseln wird, erschreckt mich zutiefst. Dann bringe ich mich lieber selbst um, wird mir in derselben Sekunde klar, wobei ich noch nicht weiß, ob ich mich lieber in einen Abgrund stürzen oder mich in Afrika von Löwen fressen lassen soll, während die Touristen das Ereignis mit ihren Handys filmen. Das würden sich dann zumindest Millionen Zuschauer auf YouTube ansehen.

Als ich am Schaufenster einer Eisenwarenhandlung vorbeikomme, spiegelt sich darin das Bild meiner Mutter an dem Tag, als ich, gerade siebzehn Jahre alt, unser Dorf verließ, um mein Studium in Madrid zu beginnen.

Ich nehme ein Kleenex aus meiner Michael-Kors-Tasche und wische mir die zerlaufene Wimperntusche von den Augen. Dann bummle ich durch den Retiro-Park und setze mich schließlich auf eine Bank, um meine wirren Gedanken zu ordnen.

Selbst sterbend und mit verzweifeltem Gesichtsausdruck – oder vielleicht gerade deshalb – scheine ich auf einige Männer so anziehend zu wirken, dass sie sich kaum beherrschen können. Einer von ihnen sieht mich durch die Speichen seines Fahrrads, hinter dem er in die Hocke gegangen ist, neugierig an. Ich weiß nicht, ob er wirklich einen Platten hat oder ob es nur eine Taktik ist, um sich einer der Dutzenden Hausfrauen und Mütter zu nähern, die um diese Zeit den Park bevölkern.

»Entschuldigen Sie, geht es Ihnen gut?«

Ich sehe ihn an und würde ihm am liebsten sagen, dass es mir tatsächlich überhaupt nicht gut geht, weil meine Unfähigkeit, etwas für andere Menschen zu empfinden, dafür sorgen wird, dass ich die letzten beiden Monate meines Lebens vollkommen allein verbringen werde, und dass er, wer er auch ist, nicht in der Lage sein wird, das furchtbare Gefühl der Einsamkeit, unter dem ich gerade leide, zu lindern.

»So schlimm es dir im Moment auch erscheint, es wird eine Lösung geben.« Er lässt nicht locker und setzt sich neben mich. »Lass mich raten … Dein Mann hat dich betrogen?«

»Hör mal …« Ich bemühe mich, freundlich, aber entschieden zu klingen. »Im Moment bin ich zu nichts zu gebrauchen, das heißt, entweder suchst du dir eine andere Bank, oder ich werde es tun.«

»Frigides Miststück«, murmelt er, während er sich auf die Suche nach einem anderen Opfer macht.

In diesem Augenblick überflutet mich eine Welle des Zorns, wie ich es bei mir gar nicht kenne, und ich bin kurz davor, mich auf ihn zu stürzen. Ich will ihn beschimpfen, ihn schlagen, ihm einen Tritt in seine durch das Radfahrtrikot deutlich betonte Männlichkeit verpassen, den er niemals vergessen wird … aber es gelingt mir, mich im Zaum zu halten. Vielleicht handelt es sich dabei ja um das, was Doktor Oliver Anfälle von Psychose genannt hat.

Die folgenden beiden Stunden verbringe ich damit, über mein Leben nachzudenken, meine Arbeit, meine Freunde … und über meinen Vater, Juan Aguilera. Er hat meine Mutter und mich verlassen, als ich fünf war, und seitdem habe ich praktisch nichts mehr von ihm gehört. Mit fünfzehn habe ich erfahren, dass er angeblich in Málaga lebt, und war kurz davor, zu Hause abzuhauen und mich auf die Suche nach ihm zu machen. Doch dann habe ich begriffen, dass es, da er offensichtlich nichts von mir wissen will, wohl das Beste war, ihm ebenfalls Gleichgültigkeit entgegenzubringen. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre war ich nur ein paarmal versucht, ihn zu googeln, bin aber nie darüber hinausgekommen, seinen Vornamen ins Suchfeld zu tippen.

Wie es bei uns im Dorf hieß, ist er mit der Frau des Bäckers durchgebrannt, deren Ehemann sich kurz danach das Leben genommen hat. Meine Mutter hat die Erniedrigung niemals überwunden und ist vor vier Jahren gestorben, ohne noch einmal einen Mann zu treffen, der für sie infrage kam. Möglicherweise leben weder mein Vater noch die Frau des Bäckers noch in Málaga, haben vielleicht nie dort gelebt. Womöglich ist er aber auch längst an einem Hirntumor gestorben, vielleicht das einzige Erbe, das er mir hinterlassen hat.

Nach einer ganzen Weile fasse ich den Entschluss, dass niemand von meinem etwa nussgroßen Geheimnis erfahren soll, zumindest solange es sich vermeiden lässt. Ich werde weder in der Redaktion etwas sagen, noch im Freundeskreis. Zum Glück werde ich es nicht vor Jaime geheim halten müssen, da ich gestern mit ihm Schluss gemacht habe. Ich erinnere mich daran, dass er mir mal erzählt hat, dass eine Ex von ihm, die er heiraten wollte, bei einem Fallschirmsprung ums Leben gekommen ist. Wie es aussieht, hat der arme Junge immer Pech mit den Frauen. Oder er bringt einfach Unglück.

Als Nächstes stelle ich fest, dass in einem Moment wie diesem das Geld eines der wichtigsten Dinge im Leben ist, und verbringe eine weitere halbe Stunde damit, meine Ersparnisse zusammenzurechnen. Abgesehen von einigen großzügigen Investitionen in Taschen, Schuhe und Kleidung bin ich nie besonders verschwenderisch gewesen, sodass ich es mit meinen Kontoständen, Aktien und Pfandbriefen auf etwa vierzigtausend Euro bringe. Dazu kommt noch meine Dreizimmerwohnung, die dank des Verkaufs des Hauses im Dorf, das ich von meiner Mutter geerbt habe, vollständig abbezahlt ist. Ich gehe davon aus, dass ich insgesamt auf beinahe eine halbe Million Euro komme, was bedeutet, dass ich, abzüglich der laufenden Ausgaben und verteilt auf die sechzig Tage, die mir voraussichtlich noch bleiben, mehr als sechstausend Euro pro Tag zur Verfügung habe. Man kann also sagen, dass ich reich bin.

Als ich mich schließlich von der Bank erhebe, stelle ich ein Taubheitsgefühl in den Beinen fest.

Ich blicke auf mein Handy und sehe, dass ich vier Anrufe aus der Redaktion verpasst habe, zwei von irgendwelchen Telefonanbietern und einen weiteren von meinem Fitnesscenter, das mich zur Teilnahme an einem Wohltätigkeitslauf einlädt. Außerdem sind mehrere Nachrichten von meinen Freundinnen eingegangen, die mir vorschlagen, am Abend im Ten con Ten essen zu gehen. Ich antworte mit einem simplen ok und rufe dann meinen Chef zurück.

»Wieder mal nicht bei der Arbeit, meine Hübsche? Ich hab den ganzen verdammten Morgen versucht, dich zu erreichen!«

»Ich hatte einen Arzttermin.«

»Zum Arzt geht man um acht Uhr morgens, um dann um Viertel vor neun im Büro zu sein. Die Polizei war hier. Sie wollen mehr über den Waffenhändler wissen, den du gestern interviewt hast.«

»Sag ihnen, dass wir unsere Quellen nicht preisgeben, Serafín. Außerdem bin ich dran, wenn ich etwas verrate. Ich muss jetzt auflegen, entschuldige.«

Ich beende das Gespräch, obwohl er mir droht, mich achtkantig zu feuern, und gehe zu einer Apotheke, um mich mit meiner Ration Medikamente für Sterbende einzudecken.

Als ich wieder zu Hause bin, blicke ich in den Spiegel und versuche irgendeine Veränderung an mir wahrzunehmen, wobei mir lediglich mein panischer Gesichtsausdruck auffällt. Alles andere ist gleich geblieben; mein Haar ist immer noch dunkel und glatt, meine braunen Augen glänzen wie zuvor, meine Stupsnase sieht noch genauso aus wie vorher, und meine Zähne sind immer noch perfekt. Schön von außen und innen verwest.

Ich setze mich aufs Bett und überlege, dass meine Lage, abgesehen davon, dass ich in Kürze ein Häufchen Asche in einer Urne sein werde, durchaus eine privilegierte ist. Ich verfüge über eine eigenartige Freiheit, wie sie nur wenigen Menschen gegeben ist; denn was ich auch in den nächsten acht Wochen tun werde, wird absolut keine Folgen für mich haben.

Alberto Abad weiß, dass es, wenn ihn seine Frau auf der Arbeit anruft, wichtig sein muss. Er hat ihr gesagt, dass er wegen der alle vier Monate stattfindenden Vertriebskonferenz den ganzen Tag beschäftigt sein wird, und sie zählt nicht zu den Leuten, die aus irgendeiner Laune heraus stören.

Doch der Verpackungshersteller, für den er seit zwei Jahren arbeitet, befindet sich in einer schwierigen Phase, und Alberto möchte möglichst wenig auffallen, um bei der nächsten Entlassungswelle nicht zu den Ersten zu zählen, die gehen müssen. Er überlegt, ihr eine kurze Textnachricht zu schicken, um ihr mitzuteilen, dass er beschäftigt ist, doch dies scheint ihm nicht der geeignete Moment, um auf dem Handy herumzutippen.

Als er kurz darauf spürt, dass das Telefon in seiner Tasche zum dritten Mal vibriert, entschuldigt er sich und verlässt den Raum, um ranzugehen. »Was ist?«

»Es geht um Lucía, Alberto!«, ruft seine Frau verängstigt ins Telefon. »Sie ist verschwunden!«

»Wie, verschwunden?«

»Sie hat unten auf der Straße gespielt und ist nicht mehr aufzufinden«, erklärt seine Frau verzweifelt. »Sie ist auch nicht zum Kiosk gegangen. Niemand hat sie gesehen.«

»Hast du die Polizei verständigt?«

»Noch nicht.«

»Verdammt!«

Aberto Abad achtet unterwegs auf keine rote Ampel, während er die Polizei und seine Geschwister anruft, um sie über das Verschwinden seiner Tochter zu informieren. Als er zu Hause ankommt, erwarten ihn dort zwei uniformierte Polizisten. Seine Frau, die völlig aufgelöst ist, wird von einer Nachbarin getröstet.

Einer der Polizisten kommt auf ihn zu. »Sind Sie der Vater von Luciá Abad?«

»Wo ist meine Tochter?«

»Das wissen wir noch nicht. Wir haben bereits die Suche nach ihr ausgerufen.«

»Es tut mir so leid, Alberto. Ich schwöre dir, dass ich sie nur eine Minute aus den Augen gelassen habe«, sagt seine Frau unter Tränen. »Als ich mich wieder umgedreht hab, ist sie nicht mehr da gewesen.«

»Hast du bei deiner Schwester nachgefragt?«

»Da hat sie auch keiner gesehen.«

Für Alberto Abad bricht eine Welt zusammen.

Nach und nach kommen immer mehr Verwandte, Freunde, Bekannte und Polizisten. Später auch Journalisten, Anwälte, die sich zum Sprecher der Familie erklären, und Lokalpolitiker, um sich Wählerstimmen zu sichern.

Ich bin auf dem Bett eingeschlafen und werde von meinem Handy geweckt. Für einen Moment weiß ich nicht, wo ich bin und was los ist. Bevor ich rangehe, blicke ich zum Fenster und stelle fest, dass es bereits dunkel wird.

Es ist Álvaro, mein ehemaliger Kommilitone. »Bist du noch nicht in der Sache mit dem kleinen Mädchen unterwegs?«

»Was für einem Mädchen?«

»In Alcorcón ist eine Siebenjährige verschwunden. Wir alle sind auf dem Weg dorthin.«

»Ich hab heute frei.«

»Geht es dir immer noch schlecht?«

»Nein, nein. Mir wird ständig schwindelig, weil mein Blutdruck zu niedrig ist. Ich hab Tabletten bekommen, mit denen bin ich meine Beschwerden in zwei Monaten los.«

»Du musst mehr Linsen essen, Martita.«

»Ja, das muss ich wohl. Lass uns morgen telefonieren, und dann erzählst du mir alles, okay?«

»Pass auf dich auf.«

Nachdem ich das Gespräch beendet habe, versuche ich mich zu entscheiden, was ich in den neunundfünfzig Tagen anstellen soll, die mir ab morgen noch bleiben. Ich mache den Fehler und sehe im Internet nach, womit sich die Leute beschäftigen, wenn sie wissen, dass sie bald sterben werden, und mir fällt auf, dass keiner der dort gegebenen Ratschläge auf mich zutrifft: Ich habe weder eine Familie, auf die ich mich stützen kann, noch glaube ich an Gott, in dessen Hände ich mein Schicksal legen könnte, noch will ich meinen Freunden zumuten, in meinen letzten Tagen an meiner Seite mit mir zu leiden. So hart es auch sein mag, muss ich mich wohl mit dem Gedanken anfreunden, das Ganze allein durchzustehen.

Vielleicht stehe ich noch unter Schock, denn mir kommt nicht in den Sinn, ein Drama daraus zu machen. So ist nun mal das Leben, und das Einzige, was mir bleibt, ist, mich in mein Schicksal zu fügen und, wie Doktor Oliver gesagt hat, mein Leben bis zum Schluss nach Möglichkeit zu genießen.

Anschließend stelle ich fest, dass die Zahlen in meinem Computer die Rechnung, die ich im Park aufgestellt habe, bestätigen; das, was ich an Aktien und Pfandbriefen und auf dem Sparkonto habe, summiert sich auf dreißigtausend Euro, und meine beiden Girokonten belaufen sich zusammen auf achttausend. Ich konsultiere mehrere Webseiten, um in Erfahrung zu bringen, wie viel meine Wohnung wert ist, und erlebe die angenehme Überraschung, dass einige Leute in meinem Viertel bis zu sechshunderttausend Euro verlangen. Wir zählen zu den wenigen Eigentümern, die von der Errichtung eines Golfplatzes profitieren, der praktisch die gesamte Siedlung umgeben soll.

Ich rufe meinen Freund Germán an, der frisch geschieden und Vater von vier Kindern ist. Er ist Immobilienberater oder so was, eigentlich ein netter Typ, aber der Umstände wegen ziemlich auf seinen Vorteil bedacht, da er jeden Monat die anfallenden Unterhaltskosten berappen muss. Wir verabreden uns zu einem Bier im Clubhaus der Golfanlage.

»Warum willst du so etwas Hirnverbranntes tun?«, fragt er mich dort verwundert. »Wenn du noch ein paar Monate wartest, hole ich dir sechshunderttausend raus. Ein Eigentümer im Haus neben deinem hat seine Wohnung letzten Monat für genau diese Summe verkauft.«

»Mir reichen vierhunderttausend, wenn du einen Käufer findest, der noch in dieser Woche mit dem Geld rüberkommt. Es muss vor Freitag sein. Und das, was du darüber hinaus rausholst, kannst du behalten. Wie wär das?«

»Hast du jemanden umgebracht und musst dich ins Ausland absetzen, oder was?«

»Nein.« Ich lächle. »Die Wohnung ist mir zu groß.«

»Und deswegen verscherbelst du sie auf die Schnelle?«, fragt er ungläubig.

»Ich will einfach nur alles vergessen, mein Lieber. Ich habe von meinem Leben die Nase voll und will ein Jahr lang reisen.«

»Ganz schön gewagt. Aber tu, was du nicht lassen kannst.«

Auf dem Weg zum Restaurant, in dem ich mit meinen Freundinnen verabredet bin, komme ich an einem Geschäft für Brautkleider vorbei und spüre – wahrscheinlich im wahrsten Sinne des Wortes – einen Kloß im Magen. Es ist, als hätte mir die Realität einen Schlag in den Bauch verpasst, denn eines der Dinge, die mir wegen dieses zum unpassendsten Zeitpunkt aufgetauchten Tumors verwehrt bleiben, ist, dass ich jemals in Weiß in der Kirche meines Heimatdorfes heiraten werde, wie ich es meiner Mutter auf dem Sterbebett versprochen habe.

Ehrlich gesagt zählt dies nicht unbedingt zu den erstrebenswertesten Zielen in meinem Leben, aber es ärgert mich, dass ich aus Gründen, die nicht meinem Willen unterliegen, mein Versprechen nicht werde halten können.

Ich ertappe mich sogar dabei, dass ich mir wünsche, der Schwangerschaftstest wäre positiv gewesen, nicht nur, weil ich dann nicht in den nächsten Wochen den Löffel abgeben müsste, sondern weil ich plötzlich mütterliche Gefühle entwickle. Aber nein, ich werde niemals Mutter werden, sondern durch meinen Tod auch meinem Familienstammbaum ein Ende setzen.

Gleich darauf entlockt mir der Gedanke, dass ich auch keinen Marathon mehr laufen kann, ein eher wehmütiges Lächeln. Denn vor ein paar Jahren habe ich mir in den Kopf gesetzt, genau das zu tun, und mich in einem Fitnesscenter angemeldet, um mich in Form zu bringen. Nach zwei Wochen habe ich dann das Lauftraining hinten angestellt und mich aufs Boxen konzentriert. Ich weiß, dass das nicht gerade weiblich ist, aber es hilft mir zu entspannen und ist eine gute Grundlage, um mich bei einem möglichen Angriff zu verteidigen. Vor Kurzem wollte mir ein Betrunkener an die Wäsche, und nachdem ich ihn umgehauen habe, hab ich mich so stark gefühlt wie nie.

Ich treffe zwanzig Minuten vor meinen Freundinnen im Ten con Ten in der Calle Ayala ein. Während ich warte und dabei ein Glas Weißwein trinke, versuche ich meine Gedanken an Hochzeiten und Kinder zu vergessen und den Anblick des gut aussehenden Kellners mit der kaffeebraunen Haut zu genießen.

Das Hemd seiner Uniform ist derartig gespannt, dass es droht, am Rücken zu reißen, und ich warte neugierig darauf, dass er sich zu mir umdreht, damit ich seine ausgeprägte Brustmuskulatur bewundern kann – oder einen enttäuschenden Bierbauch.

Zum Glück handelt es sich um Ersteres.

Als er sieht, dass ich ihn beobachte, schenkt er mir ein Lächeln, wie es nur ein Kreole aus der Karibik zustande bringt. Daraufhin beschließe ich, eine Liste mit den Dingen aufzustellen, die ich sehr wohl in den nächsten acht Wochen erledigen kann, und an erste Stelle setze ich: mit einem karibischen Kellner schlafen.

An letzter Stelle werde ich Selbstmord notieren. Denn ich habe nicht vor, wie eine Scheintote vor mich hin zu vegetieren, während die Ärzte an mir herumexperimentieren. Bevor das passiert, werde ich mich in Würde verabschieden. Ich werde im Internet nach irgendeinem schnell wirksamen Gift suchen, um auf den entsprechenden Moment vorbereitet zu sein, denn ich kann mir keine andere Art vorstellen, um mir das Leben zu nehmen.

Ich überlege auch, mal mit einer Frau zu schlafen. Warum nicht? Nicht dass ich mir das dringend wünsche, aber ich war schon immer neugierig, wie es wohl ist, vor allem, wenn ich zu viel getrunken hatte. Ich bin davon überzeugt, dass es einigen meiner Freundinnen – von denen eine ziemlich abgehärtet ist, wenn es um solche Dinge geht – nichts ausmachen würde, mir diesen Gefallen zu tun, wobei wir uns wahrscheinlich schon bei der ersten Berührung kaputtlachen würden. Obwohl ich Prostitution immer aus tiefstem Herzen abgelehnt habe, glaube ich, dass ich letztendlich wie ein Mann denken und darauf zurückgreifen muss, um diesen Punkt auf meiner Liste abzuhaken.

Die Stimmen von Susana und Silvia und das verlegene Gekichere von Carol und Lorena reißen mich aus meinen Gedanken. Wie ich erfahre, hat sich Susana – die erfolgreiche und bildschöne Vertriebsleiterin einer Verlagsgruppe – geweigert, den Taxifahrer zu bezahlen, weil der zu viele Zusatzrunden gedreht hat, angeblich um das Lokal zu finden. Daher ist die Bezahlung der Rechnung an Silvia – ihrerseits Architektin – hängen geblieben. Carol und Lorena – die eine Anwältin, die andere Direktionsassistentin – haben sich darauf beschränkt, sich von dem aufgebrachten Kerl beschimpfen zu lassen, während sich Susana und Silvia mit ihm gezankt haben wie die Kesselflicker.

»Mädels, bitte! Jetzt beruhigt euch mal. Sonst werfen sie uns noch aus dem Lokal«, sage ich in dem Versuch, Ordnung zu schaffen.

»Ich finde es einfach unglaublich, dass sie bei der Kohle, die sie verdient, so geizig ist!«, beschwert sich Silvia verächtlich.

»Woher willst du denn wissen, was ich verdiene, du Schlaumeier?«, entgegnet Susana, um sich zu verteidigen. »Und vor allem: Du hast ja keine Ahnung, wofür ich es ausgebe!«

»Dann hör auf, dein ganzes Geld in Modellkleider von Carolina Herrera und Taschen von Prada zu stecken, und fahr mal mit der U-Bahn, anstatt immer Taxi.«

»Verdammt, habt ihr den dunkelhäutigen Kellner gesehen?«, fragt Carol beeindruckt.

Der erfreuliche Anblick eines hübschen Typen reicht aus, um den Streit unter den Kampfhennen, mit denen ich befreundet bin, auf einen Schlag zu beenden.

Von den vieren sind nur Lorena und Silvia verheiratet und haben Kinder – die Sekretärin zwei Mädchen von vier und neun Jahren und die Architektin einen achtjährigen Jungen. Susana und Carol versichern, dass sie nicht mal welche geschenkt haben wollen, und für mich ist der Zug nun abgefahren.

»In ein paar Tagen ziehe ich in die USA, um bei einer spanischsprachigen Zeitung in New York zu arbeiten.«

Alle vier schauen mich überrascht und neidisch zugleich an.

»Im Ernst?«, fragt Lorena schließlich.

»Du weiß doch, dass ich keine Witze mache, wenn es um die Arbeit geht. Als das Angebot kam, hab ich gleich zugegriffen.«

Meine Freundinnen freuen sich für mich und veranstalten erneut einen Heidenlärm, diesmal in Form von Jubelschreien, Gelächter und Glückwünschen. Das Paar am Nebentisch ist wahrscheinlich bereits hocherfreut über den angenehmen Abend, den wir ihm bereiten.

»Das sollten wir auf der Stelle feiern!«

Susana jammert, dass sie morgen eine wichtige Sitzung hat, Lorena, weil sie die Mädchen zur Schule bringen muss, Carol, weil sie um acht einen Termin bei Gericht hat, und Silvia, weil sie für neun Uhr mit ihrer Schwiegermutter verabredet ist, um ein Sofa zu kaufen, aber es fällt mir nicht schwer, sie zu überreden.

»Das ist mein Abschied, Mädels. Kann gut sein, dass ihr mich für längere Zeit nicht mehr seht.«

Meine Freundinnen haben keine Ahnung von der wahren Bedeutung meiner Worte, aber der Ton, in dem ich sie sage, überzeugt sie.

Gegen zwei Uhr sind wir bereits ordentlich betrunken, und unser Stammplatz im Club Fortuny ist voller Leute, die ich noch nie gesehen habe.

Nachdem ich gerade die Rechnung über zweihundertfünfzig Euro bezahlt habe, kommt ein muskelbepackter Schönling mit strahlendem gebleachtem Gebiss auf mich zu. »Entschuldigung, aber der Rum ist aus. Und wir haben auch nicht mehr viel Whisky.«