Tamara - Mirjam-Sophie Freigang - E-Book
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Tamara E-Book

Mirjam-Sophie Freigang

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Beschreibung

"Ich habe sein Blut an meinen Händen. Ich habe ihn krankenhausreif geschlagen." Tamaras Haare leuchten wie das Blaulicht auf einem Streifenwagen. Ihr Wunsch, aus der Masse herauszustechen, macht sie zur ungeliebten Außenseiterin - bis sie sich zur Wehr setzt und vor dem Jugendrichter landet. Doch anstatt sie in den Knast zu stecken, schickt er sie in die norddeutsche Einöde auf den Pferdehof ihres Onkels. Dort schwört sie sich, ihren Aufpassern das Leben zur Hölle zu machen. Noch ahnt Tamara nicht, dass nicht nur ihre Verwandten ihr Leben auf den Kopf stellen werden. Als der Pferdestall in Flammen steht, gerät Tamara erneut ins Fadenkreuz. Holen ihre Sünden der Vergangenheit sie letztlich doch ein? Eine Geschichte über Annahme, Akzeptanz und die Kraft der Vergebung.

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Inhaltsverzeichnis

1.

KAPITEL: Weit weg

2.

KAPITEL: Ein (nicht) herzliches Willkommen

3.

KAPITEL: Miss Marple

4.

KAPITEL: Fruchtende Pläne

5.

KAPITEL: Verbündete

6.

KAPITEL: Perspektivwechsel

7.

KAPITEL: Ein neuer Gast und eine Beichte

8.

KAPITEL: Der Durchbruch

9.

KAPITEL: Die Hexe vom Bauernmarkt

10.

KAPITEL: Ein gebrochenes Herz

11.

KAPITEL: Old Time Rock’n’Roll ist nicht mehr

12.

KAPITEL: Die verlorene Tochter kehrt zurück

13.

KAPITEL: „Kannst du mir verzeihen?“

14.

KAPITEL: Das Wiedersehen

1. KAPITEL

Weit weg

Die Landschaft zog an Tamara vorbei und verschwamm vor ihren Augen zu einem grünen Einheitsbrei. Je weiter sie sich von Erfurt entfernte, desto enger schnürte sich ihre Kehle zu. Der Zug fuhr sie aus dem Thüringer Becken mit seinen aneinandergereihten Orten hinaus, hinein in eine offene Landschaft. Bis Tamara nur noch von der Eintönigkeit brauner, gelber und grüner Äcker umgeben war.

Als sie den Plattenbau, in dem sie mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder Tim wohnte, verlassen hatte, hatte sie noch nicht geahnt, in was für ein Gefängnis sie sich begeben würde. Nein, es war nicht diese Art von Gefängnis, das sie hinter dicke Eisenstäbe sperrte und in das die Sonne vielleicht nur einen Mitleidsstrahl durch ein kleines Fenster warf. Dieses Gefängnis hier war weit – eine Ackerwüste mitten in Norddeutschland. Hier hatte die Junisonne kein Mitleid, sie strahlte erbarmungslos auf die Erde herab. Und von Frischluft gab es auch viel zu viel.

Auf der Zugfahrt vom Erfurter Hauptbahnhof zum Zwischenstopp in Berlin versuchte Tamara, die Gedanken an die letzten Tage in trommelfellbetäubender Musik aufzulösen. Denn an Alkohol kam sie seit dem Richterbeschluss nicht mehr heran, da sie Hausarrest erhalten hatte. Jetzt saß ihre Sozialarbeiterin Frau Hertel so dicht neben ihr, dass sie sich gleich auf ihren Schoß hätte setzen können. Genervt schob sich Tamara von ihr weg, als diese sie ermahnte, die Lautstärke herunterzudrehen. „Ich kann trotz deiner Kopfhörer mithören“, hatte sie mit ihren Lippen geformt. Doch das ließ Tamara kalt. Stattdessen rutschte sie ebenso tief in ihren Sitz, wie sie sich ihre Kapuze ins Gesicht zog.

Nach knapp zwei Stunden kam sie mit Frau Hertel in Berlin an, wo sie von einer umher hetzenden Menschenmasse fortgerissen wurden, kaum dass ihre Füße den Bahnsteig berührt hatten. Touristen, Businessleute, Bettler, Tramper, Feierwütige – der Haufen war so bunt, dass Tamara mutig die Kapuze vom Kopf zog. Das strahlende Blau ihrer Haare fiel unter den pinken Punkfrisuren, Dreadlocks, rasierten Köpfen, bunten Hüten und Kopftüchern überhaupt nicht auf. Auch ihre abgetragene Kapuzenjacke und die zerschlissenen Shorts, die ihre bullige Statur umspielten, fügten sich unauffällig in die Masse ein. Warum hatten sie sie nicht hierher nach Berlin verbannt? Die Entfernung zu ihrer hinterhältigen Möchtegern-Mutter reichte doch allemal. Warum also bis ins Nirgendwo von Mecklenburg-Vorpommern?

In der Deckung eines Pfeilers blieb Tamara stehen, kramte in ihrer Jackentasche und holte Zigarettenschachtel und Feuerzeug heraus. Der erste Nikotinzug war immer der beste. Sie schloss die Augen und spürte, wie das betäubende Gift durch ihre Lunge und dann durch ihre Adern kroch. Es dauerte nicht lange, dann beruhigte sich ihr Herzschlag. Der Gedanke an ihren Zielort machte sie ungewohnt nervös. Davon durfte sie sich allerdings nichts anmerken lassen; die Mauer um sie herum durfte nicht ins Bröseln geraten. Noch nie hatte sie Erfurt verlassen. Dieses Drecksloch von Stadt. Noch nie hatte sie in einem anderen Gebäude als diesem Plattenbau gelebt. Sie kannte nur dieses Hochhaus, wo Arbeiter, Hartz-IV-Empfänger, junge Leute mit wenig Geld oder alleinerziehende Mütter lebten – Frauen ohne Mann, aber mit kleinen, nervigen Anhängseln, die ihnen die Haare vom Kopf fraßen. Eine von diesen armseligen Frauen mit Anhängseln war Elke, Tamaras Mutter. Tamara glaubte schon nicht mehr daran, dass Elke auch nur einen Funken von Sympathie für ihre Tochter übrighatte. Tamara war ihr lästig. Genauso, wie Elke Tamara lästig war.

Und jetzt schickte sie sie ins norddeutsche Nirwana. Wahrscheinlich hatte Elke gedacht, sie würde ihrer Tochter damit einen Gefallen tun, wenn sie sie nicht gleich in den Knast sperrte. Das sah Tamara allerdings anders. Sie hatte sich ihren Aufenthaltsort für die nächsten acht Wochen auf Google Maps angeschaut. Vor Schreck hatte sie sich fast an ihrem Zigarettenqualm verschluckt. Der Hof lag im Kaff der Käffer, umgeben von Wiesen und Äckern. Weit und breit kein Supermarkt, keine Kneipe, noch nicht einmal ein Kiosk! Hätte sie vor der Unterschrift ihrer Mutter gewusst, wohin sie geschickt wurde, hätte sie freiwillig die Knastzelle vorgezogen.

Plötzlich zerrte eine Hand an Tamaras Ärmel und riss sie gewaltsam aus ihren Gedanken zurück in die Gegenwart.

„Tamara, jetzt komm schon“, schob sich die energische Stimme Frau Hertels in den Umgebungslärm. „Wir verpassen sonst unseren Anschlusszug.“

„Fass mich nicht an!“, zischte Tamara und entwand sich dem zerrenden Griff der Sozialarbeiterin. „Wäre ja nicht so schlimm, wenn wir das Drecksding verpassen würden.“

Frau Hertel presste die Lippen zusammen, während Tamara genüsslich die letzten Züge ihrer Zigarette ausstieß, um anschließend die Fluppe unter den stehenden Zug zu schnippen.

„Also ich wäre soweit. Worauf wartest du noch?“, provozierte Tamara ihre Aufpasserin und setzte sich mit forschen Schritten in Bewegung. Frau Hertel drehte ihren Rollkoffer umständlich um und hastete hinter ihrem Pflegefall her.

„Wir wären sicherlich längst am anderen Gleis, wenn du nicht diese bescheuerten Tussi-Schuhe anhättest“, stichelte Tamara über ihre Schulter hinweg. Sie wollte noch etwas nachsetzen, aber da prallte sie unerwartet gegen einen Widerstand. Gerade noch rechtzeitig konnte sie einen Ausfallschritt machen und sich an Frau Hertel abfangen, bevor das Gewicht ihres Rucksacks sie zu Boden geworfen hätte.

„Was zum …“, entfuhr es Tamara. Sie drehte sich um und schaute in die zwei weit aufgerissenen Augen eines jungen Mannes. Er hielt seinen Kaffeebecher schützend von sich weg. Anscheinend war etwas Flüssigkeit beim Zusammenprall aus dem Becher über sein Jackett geschwappt.

Tamara stieß sich wütend von ihrer Sozialarbeiterin ab und zerrte heftig ihren Rucksack zurecht. Dann richtete sie sich auf und straffte die Brust – für alles bereit. „Was glotzt du denn so doof?“

„Verzeihen Sie“, schob sich Frau Hertel dazwischen. „Das war absolut keine Absicht. Wir sind ganz schön in Eile und müssen jetzt auch wirklich weiter. Komm, Tammy.“

Mit einem aufgesetzten Lächeln nickte die Sozialarbeiterin dem Mann zu, bevor sie Tamara weiterzuziehen versuchte. Die stemmte sich mit vollem Gewicht gegen Frau Hertels krallende Hand.

„Nenn mich nicht Tammy! Und was soll der Scheiß? Er hat sich zu entschuldigen. Immerhin stand er mir im Weg.“

„Wie bitte?“ Verdutzt zog der Mann beide Augenbrauen nach oben. „Du bist in mich reingelaufen.“

„Wollen wir das vielleicht auf anderem Weg klären?“ Tamara trat einen Schritt näher an ihn heran, schob die Ärmel bis zu den Ellbogen und stellte sich auf die Zehenspitzen. Zornig funkelte sie ihn an, während er ihrer Provokation standhielt. Er nahm nur seinen Kopf ein Stück zurück, sodass sich unter seinem Kinn ein zweites abbildete. Seine Mundwinkel zuckten kaum merklich, was Tamara sofort als Anmaßung interpretierte. Sie glaubte, in seinem Ausdruck so etwas wie Spott zu erkennen, vielleicht sogar Ekel. Egal, was es genau war, es brachte ihr Blut in Wallung. Dieser missbilligende Blick hatte sie schon oft zur Weißglut getrieben. Bis schließlich vor anderthalb Monaten ein weiteres, männliches Exemplar das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Dafür war sie vor Gericht gelandet und nun auf dem Weg ins Nirgendwo.

„Es reicht jetzt!“ Frau Hertel packte ihren Pflegefall und bohrte ihre Fingernägel in Tamaras Oberarmmuskel. Tamaras Gesicht verzog sich zu einer noch angespannteren Miene. Dann kam Frau Hertel dicht an Tamaras Ohr heran und senkte die Stimme. „Wenn du nicht sofort mitkommst, werde ich beim Jugendgericht anrufen.“

Diese Drohung genügte, damit Tamara sich widerwillig zurück auf den Boden gleiten ließ und Anstalten machte, ihrer Sozialarbeiterin zu folgen. Beim Vorbeigehen beförderte sie den Pappbecher des Fremden mit Schwung zu Boden, sodass der restliche Kaffee über seine Hosen und schwarzen Lackschuhe spritzte. „Ey, geht’s noch?“

Mit einem triumphierenden Grinsen auf den Lippen verschwand Tamara schließlich im Menschenstrom.

Vom Rostocker Hauptbahnhof waren es mit dem Taxi nur noch knapp fünfundvierzig Minuten. Als sie die Stadt hinter sich ließen, stieg Tamaras Unwohlsein ins Unerträgliche. Nervös fummelte sie an der Kordel ihrer Kapuzenjacke. Am liebsten hätte sie die Autotür geöffnet und sich vor einen entgegenkommenden Traktor geworfen. In dieser Weite, in dieser schrecklich offenen Landschaft hatten ihre Gedanken und Gefühle ausreichend Platz, sich frei zu entfalten. Hier draußen hatte Tamara noch weniger Kontrolle über ihre Emotionen als in der Enge der Großstadt, wo die Hochhäuser ihre Gedanken am Boden festgekettet hatten. Hier draußen, befürchtete sie, würden ihre Gedanken das Fliegen lernen und sie wie eine Drohne von oben betrachten. Das würde Tamara die Möglichkeit geben, ein klares Bild von sich selbst zu gewinnen – was sie absolut nicht wollte. Tamara war sich sicher, dass diese Ackerwüste ihre ganz persönliche Folterkammer werden würde. Hier konnte sie sich ja nicht einmal billigen Fusel besorgen, um die Stimmen in ihrem Kopf abzuwürgen. Sie musste also versuchen, die negativen Gedanken von ihrer eigenen Person abzulenken.

Mit einem lauten Seufzer ließ sie ihren Kopf gegen die Rückbank des Taxis fallen. Da spürte sie den musternden Blick ihrer Aufpasserin Frau Hertel auf sich ruhen.

„Du hättest es schlimmer treffen können“, sagte sie mit emporgerecktem Kinn. „Du kannst von Glück, nein, von Bewahrung reden, dass du für zwei Monate zu deinem Onkel auf den Hof geschickt wirst, anstatt ins Gefängnis zu gehen.“

Tamara zog eine genervte Grimasse als Antwort. Da bemerkte sie, dass ein weiteres Augenpaar sie durch den Rückspiegel musterte. Mit scharfem Blick fixierte sie die Augen des Taxifahrers. Der blieb allerdings völlig unbeeindruckt und fragte stattdessen: „Was hat sie denn angestellt?“

Was für ein Arschgesicht, dachte Tamara und schob eine blaue Strähne zurück unter die Kapuze.

„Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht“, hörte Tamara Frau Hertels Stimme nur noch in der Ferne. Der Vorfall blitzte in ihrer Erinnerung auf und schleuderte sie zurück in die Vergangenheit. Dabei erinnerte sie sich weniger an ihre eigentliche Tat als vielmehr an den Tag, an dem Frau Hertel und ein Typ im Anzug bei Tamara, Elke und Tim im engen Wohnzimmer Platz genommen hatten. Obwohl sie in diesem stinkenden Taxi saß, stieg Tamara der Duft von Instantkaffee in die Nase. Sie spürte den durchgesessenen Zweisitzer unter ihrem Hintern, den kleinen Tim dicht an sie gedrückt und die Armlehne auf der anderen Seite. Elke saß auf einem Hocker, während die Sozialarbeiterin und der Typ vom Jugendgericht auf zwei Stühlen gegenüber von Tamara saßen.

Tamara konnte nicht glauben, was sie eben gehört hatte.

„Du willst mich wohin abschieben?“ Ihre Augen funkelten Elke zornig an. Dieser standen Tränen in den Augen, während sie angespannt mit dem Löffel durch den Kaffee rührte.

„Das kannst du nicht bringen! Wer ist dieser Typ überhaupt?“ Tamaras Finger krallten sich in das grüne Cordpolster der Armlehne. „Du schiebst mich einfach zu irgendeinem Fremden ab?“

„Er ist kein Fremder. Er ist dein Onkel und er …“, begann Elke, doch Tamara grätschte erneut dazwischen.

„Der Bruder meines Erzeugers?“, fuhr sie Elke an. „Du hast wohl einen Knall!“

Der Mann im Anzug beugte sich vor und hob beschwichtigend die Hand. „Bitte, Fräulein Schmitt, es gibt keinen Grund sich aufzuregen.“

Tamara sprang auf und zeigte mit dem Finger auf den Anzugträger. „Eure geheuchelte Freundlichkeit könnt ihr euch sonst wohin schieben! Ihr setzt mich aus wie einen verwahrlosten Straßenköter. Nur, weil der Köter ein bisschen beißt und ihr leicht überfordert seid, müsst ihr ihn irgendwie loswerden.“ Sie hielt sich zwei Finger an den Kopf wie eine Pistole. „Gebt dem Monster doch gleich den erlösenden Schuss.“

„Ein bisschen überfordert?“ Elke stellte ihre Tasse so heftig auf dem Tisch ab, dass der Löffel darin hüpfte. „Du bist ein einziges Wrack! Seit Monaten warst du nicht mehr in der Schule und schaffst deswegen deinen Abschluss nicht. Du kiffst in irgendwelchen Gossen, kommst nächtelang nicht nach Hause, schläfst dich womöglich durch die halbe Nachbarschaft und wer weiß: Vielleicht machst du mich bald zur Oma!“

„Der Apfel fällt ja bekanntlich nicht weit vom Stamm.“

Elke sog scharf die Luft ein. Ein dunkler Schatten legte sich über ihr Gesicht, während ihr platinblond gefärbtes Haar längst all seinen Glanz verloren hatte – genauso wie ihr Alltag, ihr Leben und das Zusammensein mit ihrer rebellischen Tochter.

Tamara wusste, was für ein Sturm in ihrer Mutter tobte, denn in ihr wütete derselbe Tornado. Eine elektrisierende Spannung baute sich zwischen ihnen auf, die selbst die anderen auf der Haut spüren konnten. Dass sich Elke dieses Mal zurückhielt und ihrer Tochter keine Ohrfeige verpasste, war der Anwesenheit der beiden Besucher zu verdanken. Dieser Fakt hielt Tamara allerdings nicht davon ab, ihre eigenen Emotionen fahren zu lassen.

„Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich verabscheue?“

Wie eine giftige Schlange, die sich anschleicht und dann plötzlich losschießt, um ihre Giftzähne ins Fleisch seines Opfers zu rammen, schickte Tamara ihre Worte hinüber zu Elke. Mit Genugtuung beobachtete sie, wie das Entsetzen im Gesicht ihrer Mutter Einzug hielt. Tamara senkte ihre Stimme, um ihren Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen. „Hätte ich eine bessere Mutter gehabt, hätte ich mich niemals ungewollt gefühlt. Doch du bist wie jeder andere Pisser dort draußen auf den Straßen. Du bist genauso ätzend wie der Bastard, der mich eingebuchtet sehen will.“

Der kleine Tim, der sich die Szene still angesehen hatte, sprang auf und verschwand hastig im Kinderzimmer. Den Knall der zugeschlagenen Tür nahm Frau Hertel als Startschuss.

„Wo wir jetzt wieder beim Thema sind: Wir sollten zu den Formalitäten übergehen, damit sich Tamara nächste Woche auf den Weg nach Wesselstorf machen kann; sofern der Richterspruch es erlauben wird.“ Frau Hertels Stimme war übertrieben ruhig, was Tamara fast zur Weißglut brachte. Diese gekünstelte Freundlichkeit und Gleichgültigkeit. Niemand war echt, keine Menschenseele sagte ihr die ungeheuchelte Wahrheit – weder Elke, die Sozialarbeiterin, der Richter, dieser Anzugträger, noch der Mann, der sie vors Gericht gebracht hatte. Stattdessen logen sie ihr unverschämt ins Gesicht, während der Ekel, die Abneigung, Furcht und Skepsis in ihren Augen Bände sprachen.

Der Anzugträger der Jugendgerichtshilfe öffnete seine Aktentasche und zog zusammengeheftete Papiere heraus, die er vor Elke auf dem Tisch ablegte. „Meine beratende Funktion in diesem Strafverfahren setze ich natürlich zugunsten Fräulein Schmitts ein. Deswegen werde ich dem Gericht vorschlagen, dass Ihre Tochter für zwei Tage in den Kurzarrest kommt – als Abschreckung. Anschließend wird sie sich zu Ihrem Onkel nach Norddeutschland auf den Betrieb begeben. Dort wird sie als Erziehungsmaßnahme beim Ausbau des Hofes helfen. Sein Plan, den Pferdehof in eine soziale Einrichtung für Jugendliche umzugestalten, macht diesen Vorschlag möglich.“

„Und der Fakt, dass er ihr Onkel ist?“, hinterfragte Elke.

„Tamaras Vater hat die Familie verlassen, da war sie noch gar nicht geboren, richtig? Und ihren Onkel kennt sie ebenfalls nicht. Wenn wir den Richter an einem guten Tag erwischen, wird er über die verwandtschaftliche Beziehung hinwegsehen.“

Tamara krümmte sowohl ihre Finger als auch ihre Zehen. Dieser monotone Beamtenton rief in ihr nicht nur Übelkeit hervor, sondern befeuerte den Wunsch, ihre Faust mit Schwung in das Gesicht des Mannes zu befördern. Oder noch besser: Beide Fäuste sollten Bekanntschaft mit den Visagen dieser Heuchler machen. Die zügelten sich in ihren wahren Gefühlsausdrücken doch nur, weil es ihr Job so vorschrieb. Würden sie ihr auf der Straße begegnen, würden sie einen großen Bogen um Tamara machen. Dass sie sich jetzt ihres Falls annahmen, geschah doch nur, weil man sie dafür bezahlte. Und diese Tatsache machte Tamara rasend.

„Und wenn ich diesen Vorschlag ablehne?“, wollte Elke mit gebrochener Stimme wissen.

„Dann kommt die Jugendstrafe mit Freiheitsentzug zum Greifen. Mindestdauer sechs Monate.“

Elkes Lippen bebten.

„Sie hatten großes Glück, dass dieser Jugendrichter ihrem Fall zugeteilt wurde. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, er ist ein vom Himmel gesandter Engel. Die Chancen stehen also gut, dass Fräulein Schmitt keine Haftstrafe absitzen muss.“

„Es hätte für Ihre Tochter schlimmer ausgehen können“, schaltete sich Frau Hertel dazwischen. „Vor allem bei dem Tatbestand.“

„Ich und die Statistiken sehen allerdings eine Jugendstrafe kritisch. Die Rückfallquoten bei Jugendlichen mit langen Haftstrafen liegen bei über siebzig Prozent.“ Der Jugendhelfer machte eine bedeutungsvolle Pause. „Eine Erziehungsmaßnahme sehe ich für eine heranwachsende Frau wie Ihre Tochter als sinnvoller.“

Tamara rollte die Augen. „Leute, ihr wisst schon, dass ich anwesend bin, oder?“

Elke nahm ohne ein weiteres Wort den Stift und setzte eine zittrige Unterschrift unter den Antrag, der ihre Einwilligung bestätigte. Niemand würdigte Tamara mehr eines Blickes. Und damit war Tamaras Schicksal besiegelt.

„Kann man hier drinnen rauchen?“ Tamara setzte sich auf und schaute den Taxifahrer durch den Rückspiegel an, während sie schon nach der Zigarettenschachtel in ihrer Jackentasche kramte.

„Tut mir leid“, sagte der Fahrer und zeigte auf ein Schild, das am Armaturenbrett klebte. „Rauchen ist hier drinnen nicht gestattet.“

„Und warum stinkt es dann hier drinnen so?“

„Bitte, Tamara, pack die Schachtel wieder weg. Wir sind ohnehin gleich da.“

„Ihr Pisser habt mir schon mein Gras abgeknöpft. Noch nicht mal meine Zigaretten lasst ihr mir.“

Mit einem Grollen warf sich Tamara energisch zurück in die Rückbank und schaute nach draußen. Den Blick abzuwenden, half ihr, der beklemmenden Enge in diesem Auto wenigstens gedanklich zu entfliehen. Die unendliche Weite dort draußen machte ihr Angst. Hier gab es absolut nichts, das sie irgendwie ablenken konnte. Vielleich blieb ihr tatsächlich nur der Traktor. Vielleicht war ihr Onkel nicht die hellste Kerze auf der Torte und er würde es überhaupt nicht merken, wenn sie sich vor seinen Schlepper schmisse.

Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gebracht, verlangsamte der Fahrer die Geschwindigkeit und bog von der breiten Landstraße ab. Ach, was hieß hier Landstraße! Es war ein buckliger Asphaltweg, der nun in einer Siedlung sein Ende fand.

Tamara beugte sich nach vorne, um die wenigen Straßenschilder zu lesen, die an jeder Weggabelung aufgestellt waren. Wesselstorf, Wesselstorf … jede bescheuerte Straße hieß wie der Ort selbst! Shit, wo war sie hier gelandet?

Noch einmal bog das Taxi auf eine Nebenstraße ab, die von leuchtend weißen Holzzäunen auf der linken und rechten Seite eingefasst war. Auf einigen eingezäunten Wiesen standen Pferde, die friedlich grasten und neugierig den Kopf hoben, als das Taxi an ihnen vorbei holperte. Wahrscheinlich waren sie über den Besuch überrascht, da sich sonst niemand hierin verirrte – was nicht verwunderlich war. Die Koppeln gehörten zu einem Anwesen mit drei Backsteingebäuden, die wie ein U aufgestellt waren. In der Mitte des Dreiseitenhofs befand sich eine grüne Insel mit einem Eichenbaum, vor dem das Taxi nun zum Stehen kam.

Frau Hertel bezahlte den Taxifahrer und sprang sofort aus dem Wagen, um das Gepäck aus dem Kofferraum zu holen. Dann öffnete Tamara die Autotür. Nach insgesamt sechs Stunden setzte sie einen Fuß auf den Hof, der für die Sommermonate ihre Bleibe sein würde. Sie blieb stehen und versuchte, die Umgebung so schnell es ging zu erfassen. Auf der linken Seite lag das Wohnhaus, dessen überdachte Terrasse Korbmöbel und ein Tischchen zierten. Abgetrennt vom Herrenhaus stand das mittlere Gebäude, eine Scheune, in der Tamara Heu und Stroh im Torbogen entdecken konnte. Direkt daran schloss sich auf der rechten Seite der Pferdestall an. Schlagartig wünschte sie sich in das hässliche Grau Erfurts zurück, denn nach Abwechslung sah es hier nicht aus. Sie lauschte. Hier gab es keinen Autolärm, keine grölenden Jugendlichen, nur Windgeräusche, Pferdewiehern und in der Ferne einen tuckernden Traktor. Allerdings stank es hier wie in der Heimatstadt, nur eben nicht nach Abgasen, sondern nach Pferdemist. Angewidert rümpfte Tamara die Nase.

Das elende Gefühl der Verlorenheit breitete sich in Tamara schlagartig aus. Instinktiv griff sie in die Tasche ihrer Sweatjacke und holte die Schachtel mit Zigaretten hervor. Die erste Qualmwolke stieg in die Luft und wurde sogleich von der leichten Frühsommerbrise davongetragen. Tamara verfolgte die Wolke mit ihrem Blick und entdeckte einen Mann, der soeben auf die Terrasse des Herrenhauses getreten war. Ihm folgte eine Frau in einem knöchellangen Rock. Ihre langen, ergrauenden Haare hatte sie durch eine Hochsteckfrisur gebändigt. An ihre Seite trat ein Mädchen, ebenfalls im Rock, das in Tamaras Alter zu sein schien.

„Hallo“, winkte Frau Hertel fröhlich hinüber.

Die drei auf der Terrasse erwiderten das Winken und warfen ein strahlendes Lächeln hinterher. Tamara stöhnte innerlich über so viele Peinlichkeiten.

„Moin und herzlich willkommen“, rief Tamaras Onkel, „und Gottes Segen an diesem herrlichen Tag, den uns der Herr Gott geschenkt hat.“

Tamara erstarrte. „Boah, scheiße, nein!“

2. KAPITEL

Ein (nicht) herzliches Willkommen

Der Mann, der Tamaras Onkel sein sollte, holperte die Stufen der Terrasse hinunter und kam auf sie zu. Sein graues Haar hatte er unter einem schwarzen Cap verborgen. Trotz der frühsommerlichen Wärme hatte er sich ein rotes Flanellhemd übergezogen, das nun leicht in der Bewegung wehte. Als er nur noch wenige Meter von ihr entfernt war, überkam Tamara das innige Bedürfnis, die Flucht zu ergreifen. Auf der Suche nach einem geeigneten Ausweg drehte sie sich zum Taxi um, das allerdings bereits mit dem Heck um die Ecke verschwand. Nur Frau Hertel und ihr Rucksack standen zurückgelassen vor der grünen Insel in der Mitte des Hofes. Plötzlich stand ihr Onkel vor ihr, mit einem breiten Grinsen im Gesicht und streckte ihr die Hand entgegen.

„Schön, dich endlich kennenzulernen, Tamara“, sagte er und sein Lächeln schien noch breiter zu werden.

Mit einer hochgezogenen Augenbraue musterte Tamara seine Hand, dann wanderte ihr Blick langsam zurück zu seinen Augen. Wortlos setzte sie die Kippe an ihre Lippen, nahm einen tiefen Zug und hielt den Qualm kurz zurück, damit das Nikotin seine volle Wirkung entfalten konnte. Dann spitzte sie den Mund und blies eine Wolke gezielt in seine Richtung, sodass er komplett von ihr eingehüllt wurde. Sie konnte beobachten, wie er die Luft anhielt und erst wieder atmete, als der Wind den Rauch davongetragen hatte. Dann ließ er irritiert seine Hand sinken. Dabei rührte sich Tamara nicht, sondern fixierte seine Augen. Nach außen hin versuchte sie, eiskalt und desinteressiert zu wirken. Hinter der dicken Mauerschicht wütete hingegen ein Sturm. Er hatte ihre Augen! Streng genommen hatte sie seine Augen: Ein Braungrün, das in mandelförmige Augenlider eingebettet war. Und das wärmste Lächeln, das sie je gesehen hatte. Zwar hatte Tamara ihren Erzeuger nie kennengelernt, doch wenn sie sich ihn ausmalte, dann stellte sie sich ihren Vater genauso vor. Dieser Mann sah nicht nur aus wie der Vater ihrer Vorstellung, er strahlte auch eine ungeheuchelte Liebenswürdigkeit aus. Sie unterschied sich krass von der verlogenen Freundlichkeit der Menschheit, mit der sie sonst zu tun hatte. Sein Lächeln war ehrlich und Tamara wollte glauben, dass er sich tatsächlich über ihre Ankunft freute.

Dennoch konnte sie nicht von ihrer Rolle ablassen und die Mauer ignorieren. Deren Grundfesten waren seit Elkes Unterschrift noch dicker und stabiler geworden. Ohne den Blick von ihm abzuwenden, hob Tamara erneut ihre Hand und führte wieder nur ihre Zigarette an die Lippen.

Langsam wich das übertrieben breite Lächeln aus dem Gesicht ihres Onkels und verjüngte sich zu einem schmalen Grinsen. „Ich bin übrigens Olaf“, stellte er sich vor. „Und das sind meine Frau Renate und unsere Tochter Rita.“ Er drehte sich um und machte eine ausladende Armbewegung, damit die beiden Frauen herantraten. Renate nickte Tamara nur kurz zu, bevor sie Frau Hertel begrüßte.

„Hatten Sie eine gute Fahrt?“, fragte Renate und faltete ihre mit pergamentartiger Haut überzogenen Hände vor dem Bauch. In dieser Pose erinnerte sie Tamara stark an eine dicke Nonne, obwohl sie weder Haube noch schwarzweiß trug oder dick war. Im Gegenteil: Renate war eine Frau mittleren Alters, deren seichte Kurven sie unter weiten Stoffsegeln verbarg. Bei ihrem Anblick verspürte Tamara sofort Abneigung. Ob es die frommen Klamotten waren oder dieses zurückhaltende Gehabe oder gar beides, wusste sie nicht. Tamara vermutete, dass Renate von weniger starken Nerven war, was sie zu einer perfekten Zielscheibe machte.

Und dann war da noch Rita. Tamaras Blick wanderte an dem Mädchen langsam auf und ab. Sie begutachtete jeden Zentimeter. Es war ihr egal, ob Rita dabei nervös von einem Fuß auf den nächsten trat. Tamara musste immerhin ausmessen, wen sie die nächsten acht Wochen terrorisieren konnte. Sie schätzte Rita auf das gleiche Alter, auf siebzehn Jahre. Doch im Gegensatz zu Tamara war Rita zierlicher gebaut und es fehlte ihr an weiblichen Kurven. Ihr braunes Haar fiel ihr in sanften Wellen über die Schultern. Auch sie trug einen Rock, der zwar brav, aber um einiges stylischer aussah als der ihrer Mutter. Aus welchen Gründen jemand einen Rock auf einem Reiterhof trug, war Tamara egal. Sie wusste nur, dass sie mit den beiden Frauen nichts zu tun haben wollte.

Tamara war so intensiv mit ihrer Musterung beschäftigt, dass sie Olafs Kommentar überhaupt nicht mitbekommen hatte. Erst, als sich der Zigarettenstummel in die Haut ihrer Finger brannte, erwachte sie aus ihren Gedanken. Sie fluchte leise.

Olaf lachte auf. „Da scheint jemand eine große Träumerin zu sein.“ Unbedarft klopfte er seiner Nichte auf die Schulter.

Entsetzt über diese Berührung, durchzuckte eine unsichtbare Macht Tamaras Körper. Ein Schatten verdunkelte ihr Gesicht, als das Monster in ihr ungefragt geweckt wurde. Der Zorn des Monsters ließ Olaf sofort verstummen und seine Hand zurücknehmen.

„Fass mich nicht an“, knurrte Tamara und schnippte den Stummel von sich. Normalerweise würden die Leute mindestens einen halben Schritt zurückschrecken, sobald das Monster die Zähne fletschte. Diese Familie schien allerdings auf Tamaras Eigenwilligkeit vorbereitet zu sein, denn sie blieb nach einer Schocksekunde unbeeindruckt stehen.

„Wenn du so freundlich wärst“, begann Renate mit einer hauchzarten Stimme, „könntest du deine Zigaretten bitte nicht auf unserem Hof verteilen? Gerade bei der anstehenden Sommerhitze kann eine sich selbst entzündende Zigarette gefährlich werden.“

„Wir haben extra für dich einen Mülleimer mit Sand auf die Terrasse gestellt“, schaltete sich Rita ein und zeigte hinter sich in Richtung Haus. „Das ist übrigens auch der einzige Ort, an dem du rauchen solltest.“

„Ist schon gut, Rita.“ Olaf hob beschwichtigend die Hände. „Wir lernen uns gerade erst kennen. Das ist alles neu für sie. Da wollen wir sie nicht gleich mit unzähligen Regeln überfallen.“

Wieder lächelte er sie an, doch Tamara drehte sich ignorant weg.

Frau Hertel schob sich schließlich an ihrem Pflegefall vorbei. „Wenn es für Sie in Ordnung ist: Könnten wir uns drinnen den Papieren und der Einweisung widmen?“

„Liebend gern. Sie haben bestimmt Hunger und Lust auf einen Kaffee?“, fragte Renate. Freundschaftlich legte Renate einen Arm um die Sozialarbeiterin, um ihren Besuch zum Herrenhaus zu geleiten.

„Oh ja, sehr gerne“, antwortete Frau Hertel und folgte der Einladung. „Mein Bruder kommt erst in einer Stunde, um mich abzuholen. Bis dahin sollten wir alles erledigt haben, nehme ich an.“

„Ah, Sie haben Verwandte hier oben?“

„Ja, meinen Bruder und meine Schwägerin. Sie …“

Mehr konnte Tamara von der Unterhaltung nicht mithören, denn die Frauen waren schon im Haus verschwunden. Tamara holte tief Luft und sog den Freiraum ein, den sie endlich genießen konnte. Diese Sozialtante war ihr auf dem gesamten Weg nicht von der Seite gewichen. Es hatte nur gefehlt, dass sie beide mit Handschellen aneinander gekettet worden wären.

Tamara schaute sich um. Das Anwesen war riesig, vor allem dafür, dass scheinbar nur drei Personen hier lebten. Allerdings war sie froh, dass es nicht mehr Idioten waren, mit denen sie sich umgeben musste. Am Horizont verdunkelte sich der Himmel, als sich die weißen Quellwolken zu einer großen Regenfront zusammenschlossen.

„Vergiss dein Gepäck nicht“, rief Olaf über seine Schulter Tamara zu.

„Bei der Größe des Anwesens dachte ich, ihr seid reich. Habt ihr keine Butler?“, entgegnete Tamara und machte eine spöttische Verbeugung.

Olaf ignorierte den schnippischen Kommentar. „Heute Nacht könnte eventuell Regen fallen. Wenn du morgen etwas zum Anziehen haben möchtest, solltest du deinen Rucksack mitnehmen.“

Damit war er im Haus verschwunden.

Tamara rollte mit den Augen. Es war nicht so, als wäre sie irgendeine Art von Bequemlichkeit oder Bedienung auch nur im Ansatz gewohnt. Niemand trug ihr irgendetwas hinterher. Wenn sie etwas stehen ließ, dann blieb es eben stehen. Doch eine kleine Stimme flüsterte ihr zu, dass man ihr die Freiheit, Dinge einfach liegen zu lassen, hier nicht gewähren würde. Mit Sicherheit würde das der Ort für viele erste Male sein. Mit einem genervten Seufzer lief sie zum Rucksack, schulterte ihn auf und ging zum Haus.

Über die Terrasse führte der Haupteingang in den Flur. Als Tamara ihn betrat, lag rechts von ihr die offene Küche. Dort hatten sich die anderen vier bereits um den massiven Holzesstisch versammelt, der mit frischen Blumen, Porzellan und einem Obstkuchen gedeckt war, und unterhielten sich angeregt. Erste Dokumente hatte Frau Hertel auch schon vor sich platziert. Zu Tamaras linker Seite ging es direkt ins Wohnzimmer. Der kurze Flur endete vor Tamara in einer Treppe. Zwar roch es hier nach Holz, Waschmittel und dem Körperduft der Familie. Dennoch sah dieses Bauernhaus gemütlich aus und war nicht mit der beengten Zweizimmerwohnung zu vergleichen, in der Tamara mit Elke und Tim aufeinanderhockte.

Plötzlich stand Rita neben ihr. „Komm mit nach oben, ich zeig dir unser Zimmer.“

„Moment.“ Tamara traute ihren Ohren nicht. „Unser Zimmer?!“

„Ja, wir beide werden in meinem Zimmer schlafen. Ich habe ein Schlafsofa, das sehr gemütlich und bequem ist. Das kannst du nehmen.“

„Jetzt bin ich schon aus der Abstellkammer, die ich mir mit meinem Bruder teile, herausgekommen. Und jetzt muss ich schon wieder jemandem beim Grunzen zuhören?“

„Ich grunze nicht“, verteidigte sich Rita und runzelte die Stirn.

„Woher willst du das denn wissen? Hörst du dir etwa beim Schlafen zu?“ Tamara wirbelte mit den Händen durch die Luft. „Was ist mit dem Rest des Hauses? Ihr habt mit Sicherheit noch mehr Zimmer als das hier.“

„Auf der Westseite renovieren wir gerade“, erklärte Olaf. Dann wandte er sich an Frau Hertel: „Wir möchten in Zukunft noch mehr Jugendliche aufnehmen und ihnen über den Sommer Arbeitsmöglichkeiten auf unserem Hof anbieten. Aber bislang ist der Westflügel die reinste Baustelle. Und ein Teil der oberen Etage.“

„Du meinst Jugendliche wie mich? Sozialprojekte? Abgeschobene, kleine Monster, die keine Sau haben will?“

„Wir tun das nicht, weil wir müssen oder weil wir Gutmenschen wären“, entgegnete Olaf. „Uns ist es ein Herzensanliegen, Jugendlichen bei der Suche nach neuen Wegen zu helfen. Wir möchten ihnen zeigen, welche Möglichkeiten ihnen das Leben sonst noch zu bieten hat. Und die Arbeit mit Pferden bietet sich dafür hervorragend an.“

Tamara biss die Zähne aufeinander und unterdrückte ein Grollen.

„Hör mal. Ich bin auch nicht scharf darauf, mir mein Zimmer mit jemandem zu teilen. Von mir aus kannst du gerne im Pferdestall übernachten. Im Sommer wird es immerhin nicht allzu kalt.“

„Rita!“ Renate war über die Spitzzüngigkeit ihrer Tochter der Mund aufgeklappt.

„Entschuldigung, Mama“, flüsterte Rita. Dann schaute sie wieder zu Tamara. „Kommst du jetzt?“

„Na, bei euch glitzert die Welt auch nicht immer in Regenbogenfarben“, stellte Tamara fest und folgte widerwillig ihrer Cousine die Treppe hinauf.

Im ersten Stockwerk gab es nicht viel zu sehen. Außer einem Flur, der mit dem Badezimmer endete, zweigte nur noch das Kinderzimmer zu einer Seite und ein leerstehender Raum zur anderen Seite ab. Scheinbar eine dieser Baustellen.