Tannenduft im kleinen Strickladen in den Highlands - Susanne Oswald - E-Book + Hörbuch

Tannenduft im kleinen Strickladen in den Highlands Hörbuch

Susanne Oswald

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Beschreibung

Amely freut sich auf die Hochzeitsfeier ihrer Freunde Maighread und Joshua. Callwell Castle erstrahlt im festlichen Glanz und ist voller Besucher, auch einer der ältesten Freunde von Amely ist als Fotograf angereist. Er wohnt auf einem Hausboot am nahen See. Doch während der Feier geschieht ein Unglück auf Amelys Alpakafarm. Von den Ereignissen verunsichert und zweifelnd an ihrer Entscheidung Edinburgh zu verlassen, flüchtet Amely zu Paul auf das Hausboot. Das verärgert nicht nur ihre neue Liebe Peter. Ihre Freunde aus Callwell geben alles, um Amely auf die Beine zu helfen und ihr zu zeigen, dass ihr Platz bei ihnen ist. Bis Weihnachten ist es nicht mehr weit – Tannenduft liegt in der Luft und eine schöne Überraschung wartet auf Amely …

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Zeit:7 Std. 26 min

Sprecher:Anja Taborsky
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Zum Buch:

Amely hat nach dem Tod ihrer Mutter ihre Zelte in Edinburgh abgebrochen und ist ins beschauliche Callwell aufs Land gezogen. Sie ist nicht nur eine begnadete Wollfärberin, Amely strickt auch, spinnt Schaf- und Alpakawolle und interessiert sich für alles Handwerkliche rund um das Thema Wolle. Auf ihrer Farm versucht sie, sich eine Alpaka-Zucht aufzubauen, als ein ausbrechendes Feuer ihren Traum beinahe zerstört. Doch ihr Partner Peter, der eine Whiskydestillerie betreibt, und ihre Freunde aus Callwell schaffen es, ihr neuen Mut zu schenken.

Zur Autorin:

Susanne Oswald ist Bestsellerautorin – ihr Traum wurde wahr. Die gebürtige Freiburgerin liebt das Meer. Gemeinsam mit ihrem Mann am Strand spazieren zu gehen und den Abend vor dem Kamin mit Strickzeug auf dem Schoß ausklingen zu lassen, ist für sie das Schönste. Mit dem Kopf ist sie fast immer bei ihren Heldinnen und Helden, und es macht sie glücklich, ihre Fantasie Wirklichkeit und Buchstaben zu Geschichten werden zu lassen.

Lieferbare Titel der Autorin:

Ein Jahr Inselglück

Verliebt im Café Inselglück

Inselglück im kleinen Strickladen

Der kleine Strickladen in den Highlands

Wintertee im kleinen Strickladen in den Highlands

Neues Glück im kleinen Strickladen in den Highlands

Neubeginn im kleinen Strickladen in den Highlands

Schneezauber im kleinen Strickladen in den Highlands

Mein Strickjournal

Tod im Stroh

Neue Träume am Strand

Ostfriesenglück

Originalausgabe

© 2024 HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von www.buerosued.de

unter Verwendung von shutterstock

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749907700

www.harpercollins.de

Widmung

Für alle Heldinnen, die wissen, was es bedeutet, dem Schicksal zu trotzen. Mögen die Maschen eures Lebens sich zu einem wunderbaren Werk zusammenschließen und sich tröstend über die Wunden legen.

Kapitel 1

Amely

Der Morgentau lag noch auf dem Gras, als Amely zusammen mit ihrem Hund Piper aus dem Haus trat und über die Wiese zum Hühnergehege ging. Sie liebte diese frühen Stunden, wenn die Welt gerade erst erwachte. Alles wirkte friedlich, und der Tag lag vor ihr wie ein Geschenk, das sie nur auspacken musste.

Als sie die Pforte öffnete, versuchte Piper, sich an ihr vorbeizudrängeln. Die Schnauze hatte er bereits in den Spalt zwischen Pfosten und Tor gedrückt. Doch diese Rechnung hatte der junge Hund ohne sein Frauchen gemacht.

»Nix da, du Schlawiner!« Amely hielt das Gatter fest, sodass Piper es nicht weiter aufstoßen konnte. »Das könnte dir so passen. Du weißt genau, dass du hier nicht reindarfst.

Sie packte ihn am Halsband und zog ihn zurück. Piper sah zu seinem Frauchen hoch und wedelte mit dem Schwanz. Er wusste ganz genau, dass er nicht zu den Hühnern durfte, schuldbewusst wirkte er trotzdem nicht. Eher sah es so aus, als würde er grinsen. Dieser Hund war ein echter Frechdachs. Zweimal hatte er sich sogar unter dem Zaun durchgebuddelt, als Amely nicht aufgepasst hatte. Sie ließ ihm viele Freiheiten, aber bei den Hühnern blieb sie streng, und das hatte auch einen guten Grund.

Die Hennen reagierten hysterisch, wenn ein Hund in ihre Nähe kam.

Obwohl Piper die Hühner weder scheuchte noch bedrängte, war er kein gern gesehener Gast im Gehege. Seine bloße Anwesenheit reichte, um die Damen in Aufruhr zu versetzen. Wenn er dann auch noch an ihren Federn schnupperte, rannten sie flügelschlagend herum und gackerten und glucksten, als wäre der böse Wolf persönlich hinter ihnen her. Dem Geschrei nach musste man glauben, dass sie jeden Moment verschlungen werden sollten. Das Resultat waren jedes Mal ein bis zwei eifreie Tage und reichlich frei fliegende Federn, die den Hennen vor Schreck ausgefallen waren.

Damit der übermütige Piper nicht doch noch seinen Kopf durchsetzte, quetschte Amely sich durch den schmalen Torspalt und schloss das Gatter sofort fest hinter sich.

Dieser Sieg ging an sie, das sah offenbar auch Piper ein. Er gab sich geschlagen und trollte sich. An Grasbüscheln schnuppernd, tat er so, als hätte er sowieso überhaupt kein Interesse an dem Gackervolk.

»So ist es brav. Lies du deine Hundezeitung, bis ich hier fertig bin. Nachher gehen wir spazieren.« Amely überließ den Rüden seiner Morgenlektüre und wandte sich um. »Kommt, putt, putt, putt. Kommt!« Mit weicher Stimme lockte sie die Hühnerbande.

Wie jeden Tag versorgte sie zuerst das Federvieh, bevor sie zu den Alpakas ging, um Heu und Wasser aufzufüllen, nach der Herde zu sehen und etwas Zeit mit ihren Lieblingen zu verbringen. Erst wenn sie wusste, dass es allen gut ging, konnte sie den Spaziergang mit Piper genießen.

Diese Zeit mit den Tieren war zu ihrem liebsten Morgenritual geworden. Früher, als sie noch in Edinburgh gelebt hatte, war sie deutlich später aufgestanden, hatte lange am Frühstückstisch gesessen, die Tageszeitung gelesen, über die Pläne für den Tag nachgedacht oder direkt vom Küchentisch aus ihre Festivalteilnahmen organisiert und Bürokram erledigt. Damals hatte sie ihre handgefärbte Wolle auf Woll-Events im gesamten Königreich präsentiert und verkauft. Das konnte sie sich heute gar nicht mehr vorstellen. Mit ihrem Umzug nach Callwell hatte ein neuer Lebensabschnitt für sie begonnen. Auf Festivals ging sie schon lange nicht mehr – außer natürlich auf das Callwell Yarn Festival –, und für ein ausgedehntes Frühstück fehlte ihr die Ruhe. Meist gab es nur einen schnellen Tee und Toast, nachdem Joel und Maggie, ihre beiden Tigerkatzen, und Piper versorgt waren, dann zog es sie nach draußen.

Seit sie in Callwell lebte und die Tiere hatte, war sie oft schon vor sechs Uhr auf den Beinen und bereit für den Tag. Ihre blonden Haare trug sie bei der Arbeit zu einem praktischen Zopf gebunden. Sie musste auch nie lange überlegen, was sie anziehen wollte, denn ihre Arbeitskleidung bestand aus einer Jeanslatzhose, einem Pullover und ihren geliebten selbst gestrickten Socken. Sie hatte eine Leidenschaft für quietschbunte Gute-Laune-Socken entwickelt.

Schuld daran war Maighread, die nicht nur den kleinen Strickladen, das Wolle & Zeit, führte, sondern auch einen YouTube-Kanal mit Wollpräsentationen und Stricktutorials hatte. Maighread war ein wunderbarer Mensch. Allen voran ihr verdankte Amely den Neuanfang in Callwell. Ohne ihre Hilfe wäre Amely nach dem Tod ihrer Mutter womöglich in der Schwärze ihres Schmerzes zugrunde gegangen. Doch Maighread, Joshua, Chloe, Scott, Peter und Eilidh hatten sie damals unter ihre Fittiche genommen, sie aufgepäppelt und ihr beigestanden. Eine ganze Weile hatte Amely bei Joshua und Maighread auf Callwell Castle gewohnt. Am Ende hatte sie nicht nur den Neubeginn gewagt, sondern auch die Liebe zu Peter gefunden.

Auch dass sie wieder färbte, hatte sie ihren Freunden zu verdanken. Chloe hatte ihr geholfen, das Trauma zu überwinden, und dank Maighreads Unterstützung arbeitete sie sogar mit KingCole zusammen, einem der führenden Wollunternehmen in Großbritannien, und unterstützte damit im Gedenken an ihre Mutter auch die Pink-Ribbon-Bewegung. Die Krebsfrüherkennung war so ein wichtiges Thema. Wäre ihre Mutter früher zum Arzt gegangen … Energisch stoppte Amely diesen Gedanken. All dieses wäre, hätte, wenn änderte nichts. Lieber dachte sie wieder an ihre bunten Socken.

Maighread hatte ein Video dazu hochgeladen und Amely mit der Idee infiziert.

Im Moment steckten ihre bunten Socken zwar gut verborgen in den Gummistiefeln, aber allein der Gedanke an die Farbenvielfalt an ihren Füßen stimmte sie fröhlich.

Abgesehen von der guten Laune, die sie schenkten, waren die Socken auch ungemein praktisch. Beim Stricken konnte Amely sämtliche Wollreste kunterbunt zusammenpacken und verwerten. Je schriller, desto besser. Außerdem musste sie nach dem Waschen keine Paare mehr zusammensuchen, da keine Socke der anderen glich. Amely legte sie einzeln in die Schublade, schnappte sich bei Bedarf wahllos zwei und schlüpfte hinein. War eine zu löchrig, als dass es sich lohnte, sie zu flicken, kam sie weg. Da es keine Paare gab, war das kein Problem. Konnte das Leben einfacher sein?

Gleiche und weniger bunte Sockenpaare strickte sie nur noch selten. Meist wenn sie welche für Peter auf den Nadeln hatte. So lustig und locker ihr Liebster auch war, was seine Kleidung anging, war er eher der konservative Typ. Als Inhaber der für die Region wichtigen Whiskydestillerie fand Amely das auch nachvollziehbar. Peter betrieb das Unternehmen in dritter Generation, und McDurmanns Whisky war weit über die Grenzen Schottlands bekannt. Die Firma hatte weltweit Kunden. Verständlich, dass es Peter wichtig war, seriös aufzutreten.

Dafür liebte er Amelys bunte Seite umso mehr. Sie waren über ein Jahr zusammen, und er wurde nicht müde, es ihr zu sagen und bei jeder Gelegenheit auch zu zeigen. Und sie liebte ihn ebenso. Seriös oder nicht, für sie war er perfekt. Peter war liebenswert, warmherzig und immer dabei, wenn es darum ging, gemeinsam zu lachen – besonders gern über sich selbst.

Bei dem Gedanken an ihn lächelte Amely versonnen. Er wollte sie am späten Vormittag abholen. Sie würden nach Callwell Castle fahren, um bei den Vorbereitungen für Maighreads und Joshuas Hochzeitsparty zu helfen. In drei Tagen war es schon so weit. Sie konnte es kaum erwarten. Das würde ein rauschendes Fest werden.

Eigentlich hatten die beiden bereits im Januar feiern wollen. Doch kurz nach Weihnachten hatte Joshua einen schweren Unfall gehabt. Er war auf der Eisfläche vor dem Pferdestall ausgerutscht und mit dem Hinterkopf auf der Mauer aufgeschlagen, die als Aufstiegshilfe diente. Bei dem Sturz hatte er sich den Arm gebrochen und ein Schädel-Hirn-Trauma zugezogen. Zu seinem Glück war Scott mit ihm beim Stall gewesen. Er hatte schnell reagiert und darauf bestanden, Joshua ins Krankenhaus zu bringen. Durch den Schock hatte der zuerst gar nichts von den Schmerzen gemerkt. Im Krankenhaus war er dann zusammengebrochen – die Kopfverletzung hatte eine Hirnblutung nach sich gezogen.

Die ersten Tage waren kritisch gewesen. Maighread war nicht von seiner Seite gewichen und fast durchgedreht vor Angst. Vier Wochen hatte Joshua im Krankenhaus gelegen. Es war ein Glück gewesen, dass er gute Männer hatte, die sich um die Tiere und Ländereien kümmerten, die zu Callwell Castle gehörten. Wieder zu Hause, hatte er das Leben langsam angehen und erst wieder zu Kräften kommen müssen. Eine rauschende Hochzeitsfeier wäre da unvorstellbar gewesen.

Also hatten die beiden das Fest verschoben. Weil sie aber nicht mehr länger hatten warten wollen, hatten sie im Januar bereits heimlich im kleinen Kreis geheiratet. Nur die engsten Freunde waren eingeweiht gewesen.

Im Rahmen der bevorstehenden großen Feier wollten sie nun ihr Ehegelübde erneuern. So würde es für die Gäste trotzdem diesen emotionalen Moment geben, der Hochzeitsfeste so besonders machte.

Wenn sie daran dachte, musste Amely jetzt schon tief durchatmen, um nicht vor Ergriffenheit zu weinen. Sie würde auf jeden Fall mehr als ein Taschentuch einstecken müssen, das war klar. Aber bis es so weit war, gab es noch viel zu tun. Schließlich sollte alles so werden, wie das junge Paar es sich erträumte.

»Putt, putt, putt!«

Den Eimer mit den Körnern hatte Amely unter den linken Arm geklemmt. Mit rechts griff sie hinein und warf das Futter in weitem Bogen vor sich. So waren die Hühner eine Weile beschäftigt. Wenn die Hennen auf den Nestern saßen, brachte sie es nie über sich, ihnen die Eier wegzunehmen. Es war albern, aber sie taten ihr leid. Deshalb war sie auf den Trick mit der Ablenkung gekommen. Während die Tiere die verstreuten Körner im Gras suchten, konnte sie in aller Ruhe die Eier einsammeln und den Stall säubern. Heute wollte sie die Ausbeute der letzten Tage mit nach Callwell Castle nehmen. Dort wurde Nachschub benötigt.

Mit der Bewirtung bei dem großen Fest hatten Maighread und Joshua eine Cateringfirma beauftragt. Für Eilidh allein wäre das nicht zu schaffen gewesen. Aber selbst mit Helfern wollten sie ihr die viele Arbeit nicht zumuten. Seit vielen Jahrzehnten war sie als Köchin und Haushälterin auf Callwell Castle angestellt und gehörte mit zur Familie. Während des Festes sollte sie nicht in der Küche stehen müssen, sondern mit ihnen feiern können. Für Joshua war es selbstverständlich, dass sie an diesem Tag freihatte.

Abgesehen davon war sie schließlich nicht mehr die Jüngste, was der Hausherr allerdings nicht wagte, ihr gegenüber auszusprechen. Egal, wie alt und erwachsen Joshua war, es hinderte Eilidh nicht daran, ihm bei Bedarf die Ohren langzuziehen.

Über seinen Wunsch, sie bei dem Fest dabeizuhaben, freute Eilidh sich und fühlte sich geehrt. Doch andere ihre Arbeit machen zu lassen, kratzte an ihrer Ehre als Köchin. Es fiel ihr schwer, den Kochlöffel aus der Hand zu geben. In diesem Punkt stand sie sich mit ihrem schottischen Dickschädel selbst im Weg. Um zumindest einen Beitrag zu leisten, backte sie deshalb seit Tagen Kuchen, süße Pies und Shortbread. Wie es aussah, wollte sie nicht nur die Gäste auf Callwell Castle, sondern die gesamten Einwohner Callwells mit ihren Backkünsten verwöhnen. Ihrer Laune half das leider nicht wirklich auf die Sprünge. Seit Eilidh wusste, dass sie nicht für die Hochzeitsgäste kochen würde, war sie gereizt wie ein Drachen mit Zahnschmerzen. Sogar ihre Freundinnen, Maighreads Großmutter Elisabeth und Chloes Großmutter Gwendolyn, gingen bei Eilidhs Donnerwetterlaune in Deckung.

»Kommt, putt, putt!«, rief Amely erneut.

Louisa, Miss Pimpelton, Sweetie, Lexi und Charlie ließen sich Zeit. Die Hennen saßen in ihrem Haus und schienen nicht die geringste Lust zu haben herauszukommen.

Während Amely bei den Hühnern war, warf sie in Abständen einen Blick zu Piper. Der schlich mit aufmerksam gespitzten Ohren um das große Gehege und schnupperte über den Boden. Obwohl er noch jung war, nahm er seine Rolle als Wachhund ernst. Allerdings nur so lange, bis er ein Mauseloch entdeckte, dann war die wichtige Aufgabe vergessen. Piper bellte aufgeregt. Er schnüffelte, umkreiste das Loch, bellte erneut und wedelte mit dem Schwanz. Im nächsten Moment buddelte er so wild an der Stelle, dass die Erde in dicken Klumpen durch die Luft flog.

Amely ließ ihm seinen Spaß. Solange er mit dem Mauseloch beschäftigt war, machte er wenigstens keinen anderen Unsinn. Mit seinen sechs Monaten hatte er mehr Flausen im Kopf als jeder andere Hund, den sie gehabt hatte. Peter nannte ihn oft ein übermütiges Riesenbaby.

»Habt ihr denn heute keinen Hunger?«, fragte sie und warf eine weitere Ladung Körner ins Gras, das an dieser Stelle noch üppig wuchs. Da sie genug Fläche zur Verfügung hatte, steckte sie das Gehege regelmäßig um. Während die Hühner im frischen Grün scharrten, konnte sich der Rest der Weide erholen und neues Gras wachsen.

Jetzt streckte Miss Pimpelton ihren Kopf aus dem Haus. Sie neigte ihn nach links und nach rechts, um die Lage zu erfassen. Endlich trat sie ins Freie und machte ein paar Schritte auf Amely zu. Das war für die anderen das Signal. Eine nach der anderen kam heraus und folgte der Anführerin. Zu fünft staksten sie gackernd in dem typischen, etwas ruckartigen Hühnergang herbei.

Ein leises Lachen stieg in Amely auf. Sie liebte das Glucksen der Hennen. Es gab ihr ein Gefühl der Zufriedenheit. Wenn dann noch das Summen der Alpakas und das sanfte Rauschen des Windes, der über die Highlands strich, dazukamen und ihr der Duft nach Kräutern und Gras in die Nase stieg, war der Moment perfekt.

Die Hennen waren bei ihr angekommen und pickten nach den ersten Körnern.

»Na also, guten Appetit.«

Jetzt konnte sie sich ungestört um ihre Arbeit kümmern. Das Hühnerhaus war schnell gereinigt, und die Eier waren flink eingesammelt. Ihre Beute brachte sie ins Haus und legte sie in die Schüssel zu den Eiern der letzten Tage.

Kapitel 2

Amely

Nachdem Amely die Hühner versorgt hatte, führte ihr nächster Gang sie in den Schuppen. Sie belud gerade die Schubkarre mit Heu, als ihr Handy vibrierte. Neugierig tippte sie auf das Display. Es war eine Nachricht von Peter.

Fast fertig, demnächst kann ich mich hier loseisen. Ich freu mich schon auf meinen Gutenmorgenkuss.

Amely lächelte. Am Wochenende blieb Peter meist bei ihr auf der Farm, aber unter der Woche wohnte er in seiner kleinen Wohnung über der Destillerie. Das war praktisch und für sie beide für den Moment vollkommen in Ordnung. Den Rest würde die Zeit bringen. Bevor sie sich wieder um das Heu kümmerte, schrieb Amely schnell zurück:

Ich freu mich auch. Und damit du durchhältst:KUSSKUSSKUSS

Bestimmt würde Peter gleich antworten. Aber die Alpakas warteten, deshalb schaltete Amely das Handy aus und schob es in die Hosentasche zurück. Gut gelaunt machte sie sich mit einem Berg Heu auf den Weg.

Die Arbeit ging ihr gut von der Hand. Als Greenhorn hatte sie viel lernen müssen und war noch immer dabei, Erfahrungen zu sammeln. Besonders der Umgang mit der Heugabel war anfangs eine Herausforderung gewesen. Was bei anderen so leicht aussah, entpuppte sich als Knochenjob. An vielen Abenden hatte sie die Hände kaum noch heben können vor lauter Muskelkater.

Inzwischen hatte sie sich an die Abläufe gewöhnt und wusste genau, wie sie das Heu am kräftesparendsten aufgabeln konnte.

Als sie die Alpakaweide erreichte, hoben die Stuten ihre Nasen aus dem saftigen Gras. »Guten Morgen, ihr Süßen. Ist alles in Ordnung bei euch? Geht es euch gut? Ich habe frisches Heu dabei.«

Es war selbstverständlich für sie, mit den Tieren zu sprechen. Sie verstanden vielleicht nicht Wort für Wort den Inhalt des Gesagten, aber ganz sicher konnten sie die Tonlage einordnen und Stimmen auseinanderhalten.

Mary Poppins kam, um Amely zu begrüßen. Sie war immer die Erste. Vorsichtig nahm sie das Heu, das Amely ihr hinhielt, und ließ sich streicheln. Während die Alpakadame fraß, zupfte Amely ihr das Stroh aus der Wolle, das sich über Nacht dorthin verirrt hatte.

»Lass dich ein bisschen hübsch machen, meine Süße«, sagte sie leise.

Mary Poppins hatte nichts dagegen. Sie nahm derweil einen zweiten Happen Heu.

Amely fuhr über den weichen Hals. Sie liebte dieses Gefühl des warmen Fells an ihrer Haut. Als sie der Alpakadame sanft auf den Rücken klopfte, staubte es. Wenn sie noch Zeit hatte, würde sie die Stute später bürsten.

Die legte nun den Kopf auf ihre Schulter. Es knarzte und knirschte in ihrem Ohr, da Mary Poppins noch immer Heu zwischen ihren Zähnen zermalmte. Überwältigt von dem Vertrauen, schmiegte Amely ihre Wange an das Alpaka. Dabei atmete sie ein und schnupperte. Mary Poppins duftete herrlich nach Gras, Heu und Stroh.

Während sie dort stand, wanderte ihr Blick über die Weide. Sunrise lag in der Sonne und döste, während ihre Mutter Dawn zusammen mit den anderen Gras rupfte. Sunrise war das erste auf der Farm geborene Cria. Wenn sie an die Aufregung dachte, als es bei Dawn so weit gewesen war, bekam sie noch immer Gänsehaut. Zum Glück war die Geburt problemlos verlaufen. Den vorsorglich herbeigerufenen Tierarzt Sully hatten sie gar nicht gebraucht. Dawn hatte alles allein geschafft und sich sofort liebevoll um ihr Neugeborenes gekümmert.

»Jetzt lass mich erst das Heu abladen, dann habe ich Zeit«, erklärte Amely der für ein Alpaka erstaunlich verschmusten Mary Poppins.

Nachdem sie das Heu in die Raufe gefüllt hatte, hielt sie inne und sah über die Wiese bis zum Wald. Die letzten Nebelschleier, die noch über dem See hingen, lösten sich langsam auf. Dort, wo die Sonne auf die Bäume traf, leuchteten die Baumkronen. Erste bunte Verfärbungen konnte sie bereits ausmachen. Nicht mehr lang und die Blätter würden ein regelrechtes Farbenfeuer präsentieren. Von Rot über Orange zu Gelb, dazwischen Grün – alle Farben in unzähligen Schattierungen. Doch noch hatte der Spätsommer dem Herbst das Feld nicht überlassen.

Amely genoss diese Zeit des Übergangs. Jedes Jahr, wenn die Herbstfarben sich über die Wälder und Wiesen legten, beobachtete sie den Wechsel mit wachem Blick und bekam Lust, das Spektakel auf ihre Wollstränge zu bannen. Die tiefen Farben waren wärmer und voller als die klaren kühlen Sommerfarben. Von der Natur inspirierte Färbungen waren für Amely normal, so hatte sie es schon immer gehalten.

Piper kam angelaufen und blieb erwartungsvoll mit dem Schwanz wedelnd vor ihr stehen.

»Na, keine Lust mehr auf Mäusejagd?« Sie kraulte ihr Riesenbaby hinter dem Ohr. Ganz unrecht hatte Peter nicht mit der Bezeichnung. Piper war jetzt schon so groß wie eines von Joshuas ausgewachsenen Schafen. Seinen mächtigen Pranken nach zu urteilen, würde er wohl noch ein gutes Stück wachsen.

Eigentlich hatte Amely keinen so großen Hund gewollt, aber als er mit tapsigen Schritten auf sie zugewackelt war, hatte sie gar keine Wahl gehabt. Piper hatte sie ausgesucht, nicht umgekehrt.

Wie groß er werden würde, blieb eine Überraschung, denn er war ein Mischling. Sein wuscheliges Fell ließ vermuten, dass Komondor mit drinsteckte. Sully tippte zusätzlich auf Deerhound und Labrador. Pipers Mutter Kerry war Sullys Hündin. Der Tierarzt hatte Amely auch von dem Wurf erzählt und sie gefragt, ob sie nicht einen Welpen adoptieren wollte. Dass Amely eigentlich einen kleineren Hund wollte, hatte er überhört – und sein Plan war aufgegangen.

Für Amely zählte vor allem, dass Piper ein freundliches Wesen hatte und sich gut mit den anderen Tieren verstand, die bei ihr lebten. Mit den Katzen teilte er sich oft ein Körbchen, die Alpakas akzeptierten ihn, als wäre er Teil der Herde. Sie ließen sich von seinen übermütigen Sprüngen nicht beeindrucken. Dafür, dass die Hühner schier in Ohnmacht fielen, wenn er sich näherte, konnte er nichts. Es lag auch nicht speziell an ihm. Es war ein grundsätzliches Problem, das Miss Pimpelton mit Hunden hatte. Da sie die ranghöchste Henne war, ließ sich der Rest der Bande schnell anstecken, wenn sie in Panik geriet.

Anfangs hatte Amely versucht, die aufgeregte Henne zu beruhigen und langsam an Piper zu gewöhnen. Doch nachdem sie in der folgenden Woche ihre Eier wieder auf dem Markt hatte kaufen müssen, gab sie die Zusammenführung auf und erklärte das Hühnergehege zur hundefreien Zone. Damit war wieder Frieden eingekehrt, und sie konnte morgens ihr Frühstücksei genießen.

»Hör mal, Piper, lass mich noch nach Sunrise sehen, dann können wir unsere Runde drehen. Einverstanden?«

Sie legte die Heugabel in die Schubkarre und stellte beides zur Seite, damit die Alpakas an das Futter kamen. Gerade wollte sie zu dem Cria hinübergehen, da fuhr Maighreads gelber Mini auf den Hof.

Schon rannte Piper ihr entgegen. Er winselte vor Freude und schnüffelte aufgeregt an der Tür. Sein Schwanzwedeln galt allerdings nicht Maighread, sondern ihrer vierbeinigen Begleitung. Piper liebte Maighreads Hündin Molly. Schon begrüßten sich die beiden und jagten zusammen über die Wiese, um ihr Wiedersehen zu feiern.

Amely ging ihrer Freundin entgegen.

»Hey, Maighread. Guten Morgen. Was machst du denn hier? Ich dachte, wir wollen heute Callwell Castle dekorieren. Sollte nicht Jim mit seinen Leuten bei euch sein und den Anfang machen? Peter kommt nachher und holt mich ab.«

»Hallo, Amely. Ich sage dir, es ist zum Verrücktwerden! Sollte ich je noch mal ein großes Fest auf Callwell Castle planen wollen, fessle und kneble mich bitte. Wenn ich geahnt hätte, wie aufwendig das wird, hätte ich mich nie darauf eingelassen.«

Maighread umarmte sie und gab ihr links und rechts einen Kuss auf die Wange. »Was ist, hast du vielleicht einen Tee für mich? Und einen Schrank, in dem ich mich verstecken kann, bis alles vorbei ist?«

Amely lachte. »Mit einem Tee kann ich dienen, Verstecken kommt allerdings nicht infrage. Na komm, wir setzen uns in die Sonne, und dann erzählst du mir in Ruhe, wo der Knoten in der Wolle ist.«

»Tut das gut, mal einen Moment Ruhe zu haben.« Maighread seufzte. Sie saßen zusammen neben dem Haus und genossen den Frieden.

Amely hatte Tee und Shortbread auf den Tisch gestellt. Die Hunde spielten ein Stück entfernt im Gras. »So wie die beiden toben, kann ich mir den Spaziergang heute sparen«, sagte sie. »Also habe ich Zeit. Was ist los? Hast du dich mit Joshua gestritten?«

Es klirrte, als Maighread die Teetasse, die sie gerade nehmen wollte, hastig zurückstellte. Sie warf Amely einen fassungslosen Blick zu. »Was? Nein! Wie kommst du denn auf so eine Idee?« Um die Worte zu untermalen, schüttelte sie kräftig den Kopf.

Statt nach der Tasse griff sie nach ihrer Tasche, kramte darin und gab ein überraschtes Keuchen von sich. »Das gibt es doch nicht«, murmelte sie fast tonlos, als hätte ihr die Überraschung die Sprache verschlagen.

Mit leicht gerecktem Hals versuchte Amely, einen Blick auf das Innenleben von Maighreads Tasche zu erhaschen, aber sie konnte nichts erkennen. »Hast du einen Goldbarren gefunden? Oder Schafmist?« Bei Maighreads Gesichtsausdruck wäre beides möglich.

»Ich habe mein Strickzeug vergessen«, hauchte die und schüttelte offensichtlich fassungslos den Kopf. »Dabei muss Eilidhs Stola unbedingt fertig werden, die soll sie doch bei unserer Hochzeitsfeier tragen.«

Oha. Das war allerdings wirklich erstaunlich. Maighread ohne ihr Strickzeug – das hatte Amely noch nie erlebt.

»So ernst?«, fragte sie. Doch noch bevor Maighread antworten konnte, war Amely aufgesprungen. Mit einem »Bin gleich wieder da« verschwand sie im Haus.

Keine fünf Minuten später kam sie zurück und hielt Maighread selbst gefärbte Sockenwolle und Stricknadeln hin. »Bitte schön. Kleine Wollkrisen behebe ich doch im Handumdrehen. Die Stola schaffst du garantiert trotzdem noch rechtzeitig. Immerhin bist du Maighread – die Herrscherin über alles, was sich stricken lässt.«

Doch als Maighread nach Wolle und Nadeln greifen wollte, zog Amely schnell die Hand zurück. »Nur wenn du mir jetzt sagst, wo auf Callwell Castle der Blitz eingeschlagen hat«, forderte sie.

»Gib schon her.« Bevor Amely sichs versah, hatte Maighread ihr die Wolle und das Nadelspiel aus der Hand gezogen. Während sie die Maschen für eine Socke anschlug, redete sie endlich. »Unser Fotograf hat abgesagt, und Eilidh treibt mich in den Wahnsinn. Ich liebe sie, aber …« Sie sprach nicht weiter.

Amely atmete erleichtert auf. »Und ich dachte schon, es wäre etwas Schlimmes passiert.«

Das kommentierte Maighread mit einem unwilligen Prusten. »Mir reicht es auch so, das kann ich dir sagen. Was glaubst du, weshalb ich zu dir komme? Eilidh schickt mich. Sie meint, du hast Eier für sie, die braucht sie dringend, weil sie die Böden für die Hochzeitstorte vorbereiten will. Wenn du mich fragst, will sie nur den Platz am Ofen nicht freigeben. Ich sage dir, es ist schlimm. Wir haben dem Caterer erlaubt, unsere Küche für die Vorbereitungen zu nutzen. Das ist viel einfacher, als wenn er später alles transportieren muss. Schließlich haben wir genug Platz und die passende Ausstattung.«

»Auweia.« Amely nickte. »Und Eilidh hat ein Problem damit, dass jemand in ihr Reich eindringt«, mutmaßte sie und sah es bildlich vor sich. Wenn es um ihre Küche ging, verstand Eilidh keinen Spaß. »Und Joshua kann sie nicht beruhigen?«

»Keine Chance. Du kennst sie ja. Er hat ihr gesagt, sie soll die Leute ihre Arbeit machen lassen und sich gar nicht darum kümmern. Aber sie hält dagegen: ›Papperlapapp, das ist immer noch meine Küche. Ich kann doch nicht untätig danebenstehen und zulassen, dass diese Bande hier Chaos verbreitet. Wie stellst du dir das denn vor?‹«

Amely hatte die Ellbogen auf den Tisch gestellt und das Kinn in die Hände gelegt. »Peter«, sagte sie nach einer Weile.

»Peter und?« Maighread senkte ihr Strickzeug und warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Peter kann gut mit Eilidh. Du weißt, wie sehr sie ihn mag. Wie wäre es, wenn er sie weglocken würde?«

»Hm. Der Ansatz ist nicht schlecht. Aber da bräuchte es ein starkes Argument. So einfach wird Eilidh die Stellung nicht aufgeben – gerade jetzt. Hast du eine Idee? In meinem Kopf gibt es nur Knoten und verlorene Maschen – da ist nichts mehr zu retten.«

»Hey, na, das ist ja eine Überraschung! Gleich zwei wunderschöne Frauen warten auf mich. Womit habe ich das verdient? Habe ich da gerade meinen Namen gehört?«

Amely fuhr herum. Sie hatte Peter gar nicht kommen hören.

Maighread lachte. »Wenn man den Esel nennt …«, sagte sie mit einem breiten Grinsen, ohne den Satz zu beenden. »Wenn du erfährst, was ich von dir möchte, wirst du wahrscheinlich direkt noch einmal fragen, womit du das verdient hast. Dann allerdings mit einer anderen Betonung.«

Peter umarmte Maighread zur Begrüßung, dann küsste er Amely auf den Mund und setzte sich zu den Freundinnen an den Tisch. »Mir scheint, es war Schicksal, dass ich früher fertig geworden bin. Also, wo brennt der Whisky?«

»Eilidh«, sagten Amely und Maighread gleichzeitig.

Peter zuckte erschrocken zusammen, doch Amely legte ihre Hand beruhigend auf seine. »Sie ist okay. Aber sie dreht durch, weil die Caterer in ihrer Küche arbeiten. Wir brauchen dich als Eilidh-Flüsterer.«

»Oha. Und wie stellt ihr euch das vor? Kann Joshua nicht mit ihr …«

»Vergiss es. Wir haben alles versucht. Du bist unsere letzte Hoffnung. Wenn sie so weitermacht, verlieren wir am Ende auch noch den Caterer. Wobei, das würde ja passen. Dann kann der Nicht-Fotograf keine Fotos vom Nicht-Essen machen.«

Peters verdutzter und Maighreads schmollender Gesichtsausdruck brachten Amely dazu, laut aufzulachen. Sie schüttelte den Kopf und machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Nicht böse sein, Maighread. Ich weiß, es ist nicht lustig. Nur der Moment gerade. Pass auf. Wir überlegen uns jetzt einen Plan, wie Peter Eilidh ablenken kann. Und für dein Fotografenproblem habe ich auch eine Idee. Aber bevor ich die verrate, muss ich kurz telefonieren. Ich möchte dir keine Hoffnung machen, wenn es dann vielleicht doch nicht klappt. Bin gleich wieder da. Ihr könnt derweil einen Plan für Eilidh schmieden.«

Kapitel 3

Amely

Amely suchte Pauls Namen im Adressbuch ihres Smartphones und tippte auf das Symbol mit dem grünen Hörer. Während sie auf die Verbindung wartete und gleich darauf dem Freizeichen lauschte, beobachtete sie Maighread und Peter durch das Küchenfenster. Die beiden hatten die Köpfe zusammengesteckt und diskutierten. Was sie sich wohl für einen Eilidh-Besänftigungsplan ausdachten? Doch egal, wie gut der wäre, es würde Peter einiges abverlangen, Eilidh von Callwell Castle wegzulocken. Die alte Lady konnte sturer sein als jedes Maultier.

Amelys Blick wanderte weiter zu Molly und Piper. Die Hunde tollten immer noch ausgelassen über die Wiese. Es tat Piper sichtlich gut, sich auszutoben. Er liebte ihre gemeinsamen Spaziergänge, aber bei seinem Energielevel waren sie nicht genug, um ihn auszupowern und richtig zufrieden zu machen. Vielleicht hatte er deshalb so viel Quatsch im Kopf. Nach dem Yarn Festival würde sie endlich einmal wieder …

Das Knacken aus dem Lautsprecher des Telefons unterbrach ihre Gedanken. Gleich darauf hörte sie die vertraute Stimme ihres Freundes. »Hallo, Amely!«

Er klang überrascht und erfreut. Sie konnte hören, dass er lächelte, und stellte sich sein Gesicht vor.

»Paul, hallo. Ich bin froh, dass ich dich erreiche. Ich hoffe, ich störe dich nicht.«

»Darling, selbst wenn du stören würdest, du darfst das, das weißt du doch«, kam es umgehend zurück. »Allerdings nur, wenn du mir jetzt nicht sagen willst, dass dir etwas dazwischengekommen ist. Tu mir das nicht an, Amely! Ich freue mich so auf unser Treffen. Es ist viel zu lange her, dass wir uns gesehen haben.«

Diese Bemerkung versetzte ihr einen unvermittelten Stich. Plötzlich fröstelnd strich sie sich mit der Hand über den Oberarm und zog das Tuch enger, das sie umgelegt hatte. Wieder einmal wurde ihr bewusst, welch tiefer Einschnitt der Tod ihrer Mutter gewesen war. Der Verlust hatte Amelys Leben komplett auf den Kopf gestellt. Sie hatte viel mehr verloren als nur ihre Mutter. Natürlich hatte sie sich hier in Callwell auch etwas Wundervolles aufgebaut und vieles gewonnen, wovon sie früher kaum zu träumen gewagt hätte. Aber sie würde es ohne zu zögern aufgeben, wenn sie dafür ihre Mutter wieder an der Seite hätte.

Amely erklärte Paul kurz ihr Anliegen, und wie sie es gehofft hatte, musste sie ihn nicht lange überreden. Gut gelaunt beendete sie das Gespräch schon nach ein paar Minuten. Sie steckte ihr Handy in die Hosentasche und dachte einen Moment über Paul und ihr Kennenlernen nach.

Er war ein äußerst attraktiver Mann mit markanten Gesichtszügen. Dazu kam seine natürliche Souveränität. Amely vermutete, dass der Erfolg diese Selbstsicherheit mit sich brachte. Es war beeindruckend, wie lässig er im Fernsehen und Radio wirkte, wenn er interviewt wurde. Selbst unangenehme Fragen außerhalb seiner Komfortzone beantwortete er mit fester Stimme und ohne erkennbare Nervosität. Paul schien in sich selbst zu ruhen, ohne dabei arrogant zu wirken. Sein sicheres Auftreten vermittelte Amely eher das Gefühl, einen Menschen vor sich zu haben, an dem man sich in stürmischen Zeiten festhalten und bei dem man Geborgenheit finden konnte.

Mit dieser ihm eigenen Nonchalance könnte er problemlos als berühmter Hollywoodschauspieler durchgehen. Kein Wunder also, dass er – wie Amely neulich in einer Klatschzeitschrift gelesen hatte – zu den einhundert begehrtesten Junggesellen des Landes gehörte.

Dass er Single war, konnte sie allerdings überhaupt nicht verstehen. An Angeboten mangelte es ihm sicher nicht. Doch Paul schien die Freiheit zu genießen. Sie vermutete, dass die Kunst die wahre Liebe seines Lebens war und ihn ausfüllte.

Trotz seines Erfolgs und all der inneren und äußeren Schönheit war Paul im Umgang mit anderen Menschen sehr natürlich geblieben. Und seine Bescheidenheit machte ihn nur noch attraktiver.

Die Freundschaft zu Paul hatte den Umbruch in Amelys Leben zwar überstanden, aber auch hier hatte es zwangsläufig Veränderungen gegeben. Sie kannten sich seit vielen Jahren. Wann immer Paul in Edinburgh gewesen war, hatten sie sich getroffen und Zeit miteinander verbracht. Sie hatten zusammen gekocht, waren ins Kino gegangen, in Konzerte, Ausstellungen oder auch einfach nur ins Pub. Mit Paul durch die Gassen Edinburghs zu schlendern, war immer ein Erlebnis gewesen.

Seine feine Art, mit Menschen umzugehen, hatte Amely schon bei ihrem Kennenlernen verzaubert. Sie hatte sich eine Fotoausstellung zum Thema Aurora Borealis angesehen. Vor einem Bild war sie lange stehen geblieben. Die Kraft der Farben, das Zusammenspiel zwischen Violett und fast schon Neongrün und der Himmel, aus dem es Sterne auf die Erde zu regnen schien, hatten sie so berührt, dass ihr Tränen in die Augen gestiegen waren. Dieses Foto strahlte eine Kraft aus, die alle Ebenen des Seins zu berühren schien. Tiefstes Glück und zerreißendes Leid konnte sie entdecken. Beim Betrachten fuhren ihre Emotionen Achterbahn, aber sosehr es sie auch aufwühlte, in jeder Sekunde konnte sie die Hoffnung spüren, die das Foto transportierte.

»Beeindruckend, nicht wahr?«, hatte Paul gefragt, der plötzlich neben ihr stand. »Dieser Himmel ist phänomenal. Das ist eins meiner Lieblingsbilder.«

»Es ist magisch«, hatte sie ihm zugestimmt. »Der Fotograf ist ein wahrer Künstler.«

»Oh, ich denke ja eher, die Natur ist die Künstlerin. Aber vielen Dank für das Kompliment.« Er hatte sich die rechte Hand auf das Herz gelegt und eine Verbeugung angedeutet.

Es hatte ein paar Sekunden gedauert, bis sie begriffen hatte, dass nicht irgendein Ausstellungsbesucher, sondern der Künstler persönlich neben ihr stand. Vor Überraschung hatte sie nur stammeln können.

Das war der Beginn ihrer Freundschaft gewesen. Paul hatte sie zum Essen eingeladen. Er hatte ihr von seinen Reisen zu den Polarlichtern erzählt. Auf der Suche nach dem perfekten Fotomoment war er in Finnland, Island und Alaska gewesen. Amely hatte an seinen Lippen gehangen. Er konnte wunderbar erzählen. Sie fachsimpelten über Farben, und Amely verriet ihm, dass seine Fotografie sie zu einer Northern-Lights-Wollfärbung inspiriert hatte. Während sie in dieser Vorstellung versunken war und bereits darüber nachdachte, wie sie die Farben kombinieren wollte, hatte Paul den Fotoapparat hervorgeholt.

Normalerweise ließ sie sich nicht gern fotografieren. Sobald eine Kamera auf sie gerichtet wurde, verkrampfte sie, und ihr Lächeln gefror. Paul war der Einzige, bei dem sie dieses Problem nicht hatte. Er schaffte es, dass sie ganz natürlich und locker blieb.

Erst jetzt, kurz vor ihrem Wiedersehen, wurde Amely bewusst, wie sehr Paul ihr gefehlt hatte. Nach ihrem Umzug nach Callwell im letzten Jahr hatten sie zwar unregelmäßigen Kontakt gehalten, sich aber noch nicht wieder treffen können. Videotelefonate waren nur ein mäßiger Ersatz für echte Nähe. Aber diese Veränderung lag nicht allein an Amelys Wegzug. Paul war seit ihrem Kennenlernen immer erfolgreicher geworden und dadurch natürlich sehr gefragt. Die meiste Zeit des Jahres befand er sich auf Reisen. Als gefeierter Fotograf hatte er weltweit Aufträge und Projekte und war sehr eingespannt.

Seine letzte Ausstellung in New York hatte er unter das Zeichen »Perspektivenwechsel« gestellt. Auf liebevolle und sehr respektvolle Weise übte er Gesellschaftskritik und hielt den Menschen einen Spiegel vor. Themen wie Umweltverschmutzung, Klimakrise, Krieg und Rassismus waren Paul ebenso wichtig wie Liebe, Naturschönheit und Zusammenhalt. Die Art, auf die er das Hässliche mit dem Schönen verband, ließ dem Betrachter ein ums andere Mal den Atem stocken – so hatte die New York Times es formuliert.

Ein paar der Bilder hatte Amely online gesehen, und sie war hingerissen von Pauls Fähigkeit, mit Fotos Wahrheiten hinter dem vermeintlich Offensichtlichen aufblitzen zu lassen. Am liebsten wäre sie zu ihm geflogen, um seinen Erfolg mit ihm zu feiern. Aber das hatte sie sich nicht leisten können – weder finanziell noch zeitlich. Ihr Neuanfang in Callwell war richtig gewesen, sie war noch immer glücklich, sich so entschieden zu haben. Aber dieses neue Leben forderte auch ihren vollen Einsatz und in manchen Bereichen eben auch Verzicht. Einfach so zu verreisen war mit den Tieren nicht mehr möglich.

Umso mehr freute sie sich darauf, Paul schon bald bei sich zu haben.

Mit einem Lächeln auf den Lippen löste Amely sich aus der Erinnerung und ging leichten Schrittes wieder zu Maighread und Peter nach draußen.

»Es klappt«, verkündete sie, während sie sich setzte. Sie strahlte Maighread glücklich an. »Hinter dein Fotografenproblem kannst du einen dicken Haken setzen. Das ist Geschichte.«

»Wirklich?« Für zwei Sekunden standen die Nadeln in Maighreads Hand still, und sie musterte Amely überrascht. »Kannst du zaubern? Ich meine, ich habe alle Fotografen im Umkreis abtelefoniert, so kurzfristig hatte keiner Zeit.«

»Tja, du hast nicht alle angerufen, würde ich sagen. Erinnert ihr euch an Paul Connahan, meinen Freund aus Edinburgh? Er ist gerade von einer Japanreise zurückgekehrt und mit seinem Hausboot auf dem Loch Lomond unterwegs. Wir waren verabredet, er wollte mich nach dem ganzen Trubel nächste Woche besuchen. Aber so sehe ich ihn sogar früher als erwartet.

Normalerweise fotografiert er natürlich keine Hochzeiten. Für euch macht er eine Ausnahme, da er weiß, wie eng wir befreundet sind. Aber er möchte sich auf jeden Fall vorher die Location ansehen und entscheiden, ob er Zusatzausrüstung aus Edinburgh braucht.«

»Warte, warte.« Maighread legte das Strickzeug auf den Tisch und strich sich die dunkelbraunen Locken zurück. »Ich erinnere mich, dass du mal von einem Paul erzählt hast, mit dem du befreundet bist. Aber dein Freund ist Paul Connahan? Ich meine, DER Paul Connahan? Der weltberühmte Fotograf? Kann es sein, dass du vergessen hast, dieses kleine Detail zu erwähnen?«

»Vergessen? Nein. Bestimmt nicht. Wir haben doch sogar zusammen seine Bilder bewundert, weißt du noch? ›Perspektivenwechsel‹ – diese Ausstellung in New York, die ich so gern gesehen hätte.«

»Natürlich erinnere ich mich. An die Ausstellung und auch an deinen Freund Paul aus Edinburgh. Der Zusammenhang war allerdings nicht bei mir angekommen. Wahnsinn. Und er ist hier und würde unsere Hochzeitsfotos machen?« Maighread nahm die angefangene Socke wieder zur Hand und strickte ein paar Maschen. Es war ihr anzusehen, dass sie diese Neuigkeiten erst noch verdauen musste.

»Sehr nett von ihm, so kurzfristig einzuspringen. Scheint ja ein toller Kerl zu sein.« Peter hatte dem Gespräch gelauscht und sah mindestens so überrascht aus wie Maighread. »Allerdings kann er nicht ganz helle sein«, sagte er und grinste Amely schief an. »Sonst hätte er dich nie ziehen lassen.«

Sie schüttelte den Kopf und lachte. »Peter, ich habe dir doch von Paul erzählt. Wir sind nur Freunde. Da war nie mehr.«

Wieso zwischen ihr und Paul nie mehr gewesen war, konnte sie gar nicht sagen. Aber sie hatte diese von Hormonen verschonte, unaufgeregte Freundschaft immer sehr genossen. Sie liebte Paul auf eine asexuelle Art, und ihm musste es mit ihr ebenso gehen, sonst hätte er ihr das sicher irgendwann signalisiert.

»Ja, ich erinnere mich, du hast ihn mal erwähnt. Aber sag ich doch. Nicht ganz helle.« Peters Lächeln wirkte wieder etwas entspannter.

»Du wirst ihn mögen«, versicherte Amely. »Ihr alle werdet ihn in euer Herz schließen. Paul ist ein wunderbarer Mensch.«

»Ich wäre wirklich erleichtert, wenn unser Problem damit vom Tisch wäre, und ich freue mich schon sehr, Paul kennenzulernen. Dann hoffen wir mal, dass Callwell Castle seinen künstlerischen Ansprüchen standhält.«

»Da mache ich mir keine Sorgen. Entspanne dich, Maighread. Er hat bereits zugesagt, es geht nur noch um die notwendige Ausrüstung. Ich werde ihn in zwei Stunden am Anleger abholen. Aber jetzt noch mal Themenwechsel. Habt ihr einen Plan wegen Eilidh?«

»Haben wir.« Peter grinste zuversichtlich. »Ich werde gleich nach Callwell Castle fahren und Eilidh bitten, mir bei der Suche nach dem Geschenk für Maighread und Joshua zu helfen. Wenn ich mit ihr nach Glasgow fahre, habt ihr reichlich sturmfreie Zeit.«