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Im Wien der Ringstraßen-Zeit und der Belle Epoque ermittelt Leopold Kern, ein geheimer Sonderermittler mit engen Kontakten zur Halbwelt, in seinem neuesten Fall. »Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte der blade Ferdl so etwas wie Todesangst. Er kämpfte die Übelkeit nieder, die sich seiner zu bemächtigen drohte und unterdrückte das übermächtige Verlangen, einfach davonzulaufen.« Während die Wiener den Feierlichkeiten zum 50. Geburtstag Kaiser Franz Josefs entgegenfiebern, hat Sonderermittler Leopold Kern nur eines im Sinn. Allen Verboten zum Trotz will er Rache für die Intrige nehmen, die zu seinem Ausschluss aus der Polizei geführt hat. Und tatsächlich scheint ihm der Zufall in die Hände zu spielen. Da bricht das Inferno in Form eines Bandenkriegs über die Leopoldstadt herein. Plötzlich befindet sich der Sonderermittler im Brennpunkt des Geschehens. Doch aus dem Jäger wird ein Gejagter und die Angst wird Kerns ständiger Begleiter. Als die Schockwellen des Verbrechens sogar die Hofburg erreichen, gerät selbst Polizeipräsident Marx unter nie gekannten Druck.
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Cover & Impressum
Widmung
1 – Steininger
2 – Im Allerheiligsten
3 – Lust auf ein Verhör
4 – Die schöne Feodora
5 – Sechs Finger
6 – Unerwarteter Besuch
7 – Wespennest
8 – Frau Siebenfreud
9 – Privatissimum
10 – Überraschung
11 – Krisenstimmung
12 – Der glückliche Borovic
13 – Sechs Finger 2
14 – Eine sehr schlimme Geschichte
15 – Steiningers Schatten
16 – Noch mehr Krise
17 – Grafen
18 – Krisensitzung
19 – Krankenbesuch
20 – Intervention
21 – Schmerzen und Akten
22 – Familientragödie
23 – Stille Marschierer
24 – Erkenntnisse
25 – Die Welt von gestern
26 – Leichtsinn
27 – Alte Feinde
28 – Wut
29 – Eine Theorie
30 – Bündnis auf Zeit
31 – Offizier und Unteroffizier
32 – In der Höhle des Löwen 1
33 – Auf der Jagd
34 – In der Höhle des Löwen 2
35 – Kampf
36 – Angriff
37 – Dichtung und Wahrheit
38 – Schmutziges Geld
39 – Vikerl
40 – Ganz oben
41 – Epilog
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Birgit, meine Inspiration, mein Leben
In seinem schäbigen dunkelblauen Anzug – der einzige, den er besaß – wirkte Rudolf Steininger an diesem sonnigen Augusttag des Jahres 1880 in der Hauptallee ein wenig deplatziert. Das hier war der Nobelprater, die Straße der Reichen und Schönen, einfache Menschen wie er hatten hier eigentlich nichts verloren, es sei denn als Kindermädchen oder Dienstboten. Die Luft war angenehm mild, der leichte Wind sorgte für Erfrischung. Gelächter und Geplapper erfüllten die Luft, während die Kapellen der Kaffeehäuser ihre Walzer und Märsche erklingen ließen.
Seinen richtigen Vornamen Roderich hatte er nach seiner Rückkehr nach Wien abgelegt. Er war Teil einer Vergangenheit, die er hinter sich lassen wollte. Damals hatten sie ihn respektvoll »Rodrigo« genannt, aber das lag bereits sechs Monate zurück. Seine Arbeit als Kellner im Balkaneser auf dem Karmeliterplatz erschien ihm der optimale Neubeginn, weit weg von den Geistern der Vergangenheit, auch wenn der karge Lohn kaum zum Überleben reichte.
Obwohl groß gewachsen, machte seine hagere Gestalt mit den langen, dünnen Armen und Beinen einen eher zerbrechlichen Eindruck. Der vielfach geflickte Anzug saß schlecht und schlotterte an ihm. Das magere Gesicht mit den geschwungenen Augenbrauen und dem schmalen Oberlippenbärtchen strahlte Offenheit aus, in den braunen Augen schimmerte ein Hauch von Melancholie. Feine graue Strähnen durchzogen das dunkle, pomadisierte Haar und ließen ihn älter wirken als die dreißig Jahre, die er tatsächlich war. Die Vergangenheit hatte ihre Spuren hinterlassen.
Der Jahrmarkt der Eitelkeiten, durch den er sich im Schatten der mächtigen Kastanienbäume bewegte, versetzte ihn jedes Mal aufs Neue in Erstaunen. Kopfschüttelnd betrachtete er die lange Reihe eiserner Stühle vor den drei, wie Perlen aneinandergereihten Kaffeehäusern. Für einen Kreuzer konnte man von hier aus die Jeunesse d’orée kritisch beäugen, nach Herzenslust neuesten Tratsch austauschen und – was am wichtigsten war – selbst gesehen werden. Reife Damen in protzigen Garderoben weideten sich an der Luftnot der jungen Frauen in ihren eng geschnürten Miedern und kommentierten kritisch kleinste Fehler in Haltung oder Kleidung.
Die koketten Schönheiten, die an ihnen vorbeistolzierten, waren sich dessen durchaus bewusst und hielten die bunten Sonnenschirme extra hoch, um die kunstvollen Frisuren und kecken Hüte mit den bunten Federn und Bändern besser zur Geltung zu bringen. Arme Dinger, dachte Steininger, wenn sie sich so viel Mühe geben müssen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ein bisschen Verachtung schwang dabei mit. Die Offiziere in ihren bunten Ausgehuniformen, die in den schmachtenden Blicken der jungen Damen badeten, waren für ihn nur aufgeplusterte Gockel mit geschwollenen Kämmen. Steininger hasste das Militär. Er hatte zu viel Grauen gesehen, das auf Befehl von Offizieren verübt worden war.
Freitag war Ruhetag im Balkaneser und er befand sich auf dem Weg zu Resi. Vor ein paar Wochen war sie in sein Leben getreten und hatte innerhalb kurzer Zeit sein Gefühlsleben komplett auf den Kopf gestellt. Jetzt waren sie zusammen und trafen sich einmal in der Woche zum gemeinsamen Abendessen in der Leopoldstadt. Danach ging es zum Fünfkreuzertanz im Prater, mit romantischem Abschluss in den Tiefen der Praterauen. Da er sich keinen Fiaker leisten konnte, begleitete er Resi selbstverständlich auf ihrem nächtlichen Heimweg in die »Waschburg« in der Sechsschimmelgasse, wo sie als Wäschermädel lebte. Es war ein weiter Weg, von dem er erst im Morgengrauen zurückkehrte.
Es war für ihn selbstverständlich, dass er das alles bezahlte. Und da sein Lohn dafür nicht ausreichte, war er ständig auf der Suche nach neuen Verdienstmöglichkeiten. Erst vor kurzem hatte ihn ein Gast im Balkaneser in ein Gespräch verwickelt. Als Steininger in einer unbedachten Bemerkung seine Vergangenheit erwähnte, bot ihm der Fremde einen lukrativen Auftrag an, den er dankbar angenommen hatte. Und so hatte seine dunkle Vergangenheit erneut ihre Krallen nach ihm ausgestreckt.
Heute war das Essen ausgefallen. Resi hatte ihm mit einem Dienstmann eine Nachricht geschickt, dass sie sich direkt vor dem Tanzsaal vom »Bunten Vogel« treffen würden. Er hatte die gewonnene Zeit genutzt und den halben Tag in der Leopoldstädtischen Bade- und Waschanstalt verbracht, wo er sogar eine der dreißig Badewannen für männliche Besucher ergattert hatte, ein unvorstellbarer Luxus, den er in vollen Zügen genossen hatte.
Hinter dem »3. Café« – auf eine Namensgebung der drei Kaffeehäuser in der Hauptallee hatte man verzichtet – ragte in der Ferne die gewaltige Kuppel der Rotunde in den Himmel. Die Wiener nannten diesen größten Kuppelbau der Welt respektlos den »Gugelhupf« und Steininger fand, dass kein Begriff die Form der Kuppel besser hätte beschreiben können. Er bog allerdings schon nach dem »1. Café« in Richtung Wurschtelprater ab, wo bereits die Hölle los war. Das Geplärr der Ausrufer vermengte sich mit den Schreien der Straßenhändler, dem Gequengel der Kinder, der Ringelspiel- und Leierkastenmusik und dröhnenden Paukenschlägen. Auf seinem Weg bestaunte er die Dame ohne Unterleib, den Rumpfmenschen, Riesinnen, Fettwänste, Krüppel, Artisten und sogar einen Wassertank mit einem Taucher in Gummianzug und Kupferhaube – lediglich ein Bruchteil der dargebotenen Sensationen. Geschickt Dirnen und Taschendiebe abwehrend, drang er zum Gastgarten vom »Bunten Vogel« vor, wo ihn der Geruch nach Bier, gebratenem Fleisch und Paprika empfing und Zigarrenjungen und »Brotschanis« in weißen Umhängen ihre Waren anpriesen.
Scharen junger Menschen warteten mit hoffnungsvollen glitzernden Augen vor dem Tanzsaal auf den Beginn des Fünfkreuzertanzes. Die Luft war von einem babylonischen Sprachgewirr erfüllt. Von den vielen Landestrachten gefielen ihm am besten die jungen Hanakinnen in ihren kurzen, bunt gemusterten Röcken, den schwarzen kniehohen Stiefeln, den blütenweißen farbenfroh bestickten Hemden und den prachtvollen Kopftüchern über den geölten schwarzen Haaren. Natürlich wusste er, dass die Trachten nur dazu dienten, Landsleute zu finden, mit denen man in der Muttersprache reden und das bittere Heimweh ein wenig lindern konnte.
Plötzlich schlangen sich von hinten zwei braun gebrannte nackte Arme um seinen Hals, zwei Hände legten sich auf seine Wangen. Er spürte die harte rissige Haut der Finger. »Servus Rudi! Mmmhm, riechst du gut nach Seife!«
Eine zierliche junge Frau zog ihn an sich und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Sie mochte um die Zwanzig sein und trug ein leuchtend blaues, kurzärmeliges Kleid mit buntem Blumenmuster. Ihr rundes, sonnengebräuntes Gesicht hatte strahlende Züge und einen vollen, geschwungenen Mund. Das lange, dunkle Haar war unter einem nach hinten gebundenen, knallroten Kopftuch nach oben gesteckt.
»Ich hab schon geglaubt, du kommst nicht mehr! Was war los?«, begrüßte er sie ein wenig argwöhnisch.
»Hab noch eine Ladung Wäsche ausliefern müssen. Deswegen musste ich unser Essen absagen. Die Butte im Wirtshaus darf ich nicht vergessen.« Kaum begann die Kapelle zu spielen, drängten die jungen Menschen in den Tanzsaal.
»Bei wem warst du denn?«
Sie lachte. »Kannst dich noch an den unglaublich g’füllten Herrn im Wirtshaus erinnern, kurz nachdem wir uns kennengelernt haben? Der hat ein Vergnügungsetablissement! Vor drei Tagen kommt der zu mir und sagt, ich soll die ganze Wäsche waschen, angefangen von den Tischtüchern, Bettwäsche, Vorhänge, Servietten, einfach alles!«
Steininger stand mit offenem Mund da. Was hatte das Schicksal nur dazu bewogen, diesen unglaublichen Zufall herbeizuführen? Hatte der Teufel die Hand im Spiel? Aber er konnte nicht mehr zurück, er benötigte dringend das Geld. Allein der Ring, den er ihr geschenkt hatte, hatte ein Vermögen gekostet.
Resi bemerkte seinen gehetzten Blick. »Passt was nicht?«
Schnell hatte er sich wieder im Griff. »Gemma tanzen.«
Die Luft auf der Tanzfläche war heiß und stickig. Es roch nach Schweiß und Zigarrenrauch. Das bunte Potpourri aus böhmischen, ungarischen und galizischen Melodien drang tief in die Herzen und entfachte quälendes Heimweh. Im rasenden Polkarhythmus flogen die Paare dahin und der Tanzboden erbebte unter den lauten Tritten. Am Ende eines jeden Liedes gab es für die erschöpften Tänzer eine Verschnaufpause, während die Kapelle von jedem Paar fünf Kreuzer einsammelte, ehe sie ihr Programm fortsetzte. Sie machte heute ein blendendes Geschäft.
Als Steininger einen freien Tisch im Garten erspähte, zog er Resi mit sich und kämpfte ihnen den Weg durch das dichte Gedränge frei. Außer Atem ließen sie sich in die Stühle fallen.
»Schani, Brot!«, rief er einem der Jungen zu und kaufte zwei Salzstangerln für den ersten Hunger. Als der Kellner nach einer schier endlosen Wartezeit erschien, bestellten sie für jeden ein großes Bier und Gulasch. Dann wurde er plötzlich ernst. »Die Wäsche von dem Fettwanst. Schaffst du das denn? Schau dir doch deine Hände an!«
Nachdenklich starrte sie auf das Ekzem auf ihren Handrücken, die feuerrot schimmernden, tiefen Risse in der entzündeten Haut. »Brennt wie Feuer. Aber die Waschmutter erlaubt es und die Kathi hilft mir. Ein Monat Probezeit. Wenn alles gut geht, mach ich mich selbstständig.«
»Lass es! Wir sind doch glücklich, so wie es ist!«
Sie atmete tief durch. »Das kommt gar nicht infrage. Von einem eigenen Betrieb hab ich immer geträumt. Außerdem ist die Wäsche schon ausgeliefert, ein heller Sommeranzug und ein ganzer Stoß Unterwäsche.« Sie lachte. »Der hat Unterhosen wie Zirkuszelte.«
»Du hättest es mir sagen müssen.«
»Nix muss ich«, erwiderte sie schnippisch. »Jetzt schauen wir erst einmal, ob es was wird.«
Steininger wirkte alles andere als glücklich. Als endlich das Gulasch kam, aßen sie in gedrückter Stimmung. Nach dem zweiten Bier blieben sie noch ein wenig sitzen und lauschten der Musik. Steininger hielt ihre Hand so fest, als wollte er sie dran hindern, davonzulaufen. Schließlich winkte er nach dem Kellner und bezahlte. Sie holten Resis leere Butte und gingen in den Wald. Doch heute war der Ausklang des Abends anders als sonst. Seine Liebkosungen waren flüchtig und ungeschickt, seine Gedanken schienen weit weg.
»Was ist denn heut los mit dir? Du bist in so einer komischen Stimmung«, fragte Resi befremdet.
»Beim nächsten Mal wird es wieder gut sein«, beruhigte er sie und schwieg. Sie wusste, dass keine Macht der Welt ihn dazu bewegen konnte, ihr sein Herz auszuschütten. Am Beginn ihrer Beziehung war es für sie schwer gewesen, mit seiner Verschlossenheit zurechtzukommen, denn sie trug das Herz auf der Zunge. Aber sie hatte sich daran gewöhnt, denn er war gut zu ihr und verwöhnte sie wie eine Prinzessin.
Die Straßenbeleuchtung war bereits zur Hälfte gelöscht, als sich Steininger die Wäschebutte auf den Rücken schnallte und sie den Heimweg antraten. Kaum hatten sie die Wildnis des Praters hinter sich gelassen, wurde die Luft wieder heiß und stickig, denn die tagsüber von der Sonne aufgeheizten Häuser strahlten jetzt die Hitze wieder ab. Das gelbe Licht der Laternen hüllte die menschenleeren Straßen in gespenstisches Halbdunkel. In manchen Fenstern leuchtete noch eine Petroleumlampe oder Kerzen.
Über den Praterstern ging es zur Kaiser Josefs Straße, wo die neuen Mietskasernen das Wien der Biedermeierzeit nahezu vollständig ausgelöscht hatten. Sie bogen in die Wallensteinstraße ein und erreichten bald den Donaukanal und die mächtige Stahlkonstruktion der Brigittabrücke. Im kühlen Wind über dem Fluss legten sie eine Verschnaufpause ein und starrten in das träge dahinfließende, schwarze Wasser. Am anderen Ufer empfing sie in der Alserbachstraße das alte Wien ihrer Kindheit mit ein- oder zweistöckigen Biedermeierhäuschen.
Nach einer guten Stunde kamen sie in die Sechsschimmelgasse. Hier draußen war die Luft deutlich kühler. In der Ferne hörten sie einen Fiaker über das harte Straßenpflaster rumpeln.
Resi war erleichtert, endlich daheim zu sein. Den ganzen schweigsamen Marsch hatte sie seine Anspannung gespürt, ihren Fragen war er ausgewichen. Nun freute sie sich darauf, bald mit ihren Gedanken wieder allein sein zu können, denn der große Auftrag spukte in ihrem Kopf herum.
»Was macht denn der da?«, fragte sie mehr sich selbst als ihren Begleiter, als sie den protzig verzierten Zweispänner mit den zwei prachtvollen Schimmeln erblickte. »So eine vornehme Equipage hab ich hier noch nie gesehen.« Sie lachte kurz auf. »Wahrscheinlich hat eine meiner Kolleginnen ein Rendezvous mit einem reichen Verehrer!«
Viele Frauen besserten ihr karges Einkommen durch reiche Gönner auf. Die beliebten Wäschermädelbälle galten als ergiebiges Jagdrevier für reiche Kavaliere und bedürftige Mädchen.
Steininger musterte den Kutscher, der mit offenem Hemd auf dem Kutschbock lümmelte und rauchte. Seine Jacke lag zusammengeknüllt neben ihm. Er hatte helle, schulterlange Haare. Trotz des tief in das von Pockennarben verunstaltete Gesicht gezogenen Hutes konnte man einen langen ungepflegten Backenbart erkennen. Brust und Unterarme waren von Tätowierungen bedeckt. Die Kutsche mag vornehm sein, dachte er, ihr Besitzer ist es mit Sicherheit nicht.
Normalerweise trat er hier den Heimweg an. Wie es ihre Angewohnheit war, drehte sich Resi für einen Abschiedskuss zu ihm. Doch Steininger hatte ein flaues Gefühl im Magen. Um diese Uhrzeit war ein solches Gefährt ein einziges Alarmsignal. Ihr neuer potenzieller Kunde und der verwahrloste Kutscher fachten seine Sorge zusätzlich an. Er ergriff ihre Hand.
»Willst du mitgehen?«, fragte sie ein wenig enttäuscht, denn sie war froh gewesen, seiner gedrückten Stimmung zu entfliehen. Als er sie wortlos mit sich zog, sagte sie nur achselzuckend: »Mir soll’s recht sein.«
Ein schmaler Weg führte sie zu einem großen, unbebauten Stück Land. Dort befand sich die »Hängstatt«, ein dichter Wald aus hohen Holzmasten, zwischen denen ein nahezu undurchdringliches Netz von Wäscheleinen aufgespannt war. Sie waren unter der Last der feuchten Wäsche zum Zerreißen gespannt. Die Wäschestücke wiegten sich im sanften Nachtwind und leuchteten gespenstisch im kalten Licht der Sterne. Resi sog genießerisch die feuchte, kühle Luft durch die Nase.
»Willkommen im Reich der Resi Szilhavy«, flüsterte sie stolz zu sich selbst. »Bald hab ich mein eigenes Geschäft. Dann ist es endlich vorbei mit den wunden Händen.«
Sie schlenderten zwischen den Wäschepfählen hindurch und schreckten einige Ratten auf. Über einen leicht ansteigenden Feldweg erreichten sie schließlich die »Wäscherburg«. Der weitläufig verzweigte, einstöckige Biedermeierbau war für Steininger ein Labyrinth, in dem er sich immer noch schwer zurechtfand, denn jeder Innenhof – und es gab zahlreiche – sah für ihn gleich aus. In der Heimstatt der Wäscherinnen war die Feuchtigkeit allgegenwärtig. Von den durchnässten Wänden bröselte der Putz, auf den freiliegenden Ziegeln schimmerte grauer Schimmel. Er hatte gelernt, die einzelnen Häuser anhand der zahlreichen Bauschäden zu unterscheiden. Aus den geöffneten Fenstern drang Schnarchen, Husten und vereinzelt Kindergeschrei.
Vor einer modrigen Holztür stapelten sich Wäschekörbe und Holzzuber in allen möglichen Größen. Zwischen Waschbürsten, Waschbrettern und Kinderspielzeug saß ein junges abgemagertes Mädchen auf einer kleinen Holzbank und drückte einen Säugling fest an sich. Im fahlen Sternenlicht wirkte ihr Gesicht wächsern.
»Servus Mizzi«, rief Resi aufgeräumt, während Steininger die Wäschebutte abstellte. »Das ist ja gut, dass du da sitzt, da spar ich mir das Sperrsechserl.« Die zehn Kreuzer mussten an den Hausmeister entrichtet werden, wenn man nach der Sperrstunde um zehn Uhr abends Einlass begehrte. »Ein Wunder, dass er dich überhaupt da sitzen lasst, so mitten in der Nacht.« Liebevoll strich sie über den Kopf des Kindes, das tief zu schlafen schien. Seine Haut war eiskalt. Erst jetzt bemerkte sie, dass der Säugling reglos wie eine Puppe in den Armen seiner Mutter lag. »Jessas, Maria und Josef! Wann …?«
»Vor zwei Stunden hat ihn der Herrgott geholt«, erwiderte Mizzi mit tonloser Stimme und starrte ins Leere.
»Is eh besser, er hätt es nie geschafft«, sagte Resi mitfühlend. Der Tod eines Säuglings gehörte zum traurigen Alltag. Wer wusste schon, was dem kleinen Buben erspart geblieben war. Sie selbst war das uneheliche Kind einer Wäscherin und hatte ihren Vater nie kennengelernt. Jetzt war ihre Mutter seit vier Jahren tot und sie musste sich allein durchs Leben schlagen. Ungeduldig zog sie Steininger weiter.
»Du, Resi!«, erklang Mizzis Stimme hinter ihrem Rücken. »Da ist ein Herr für dich da! Unten am Brunnen! Ich hab ihm g’sagt, dass du nicht da bist. Aber er wollte unbedingt warten.«
»Um die Uhrzeit?«, murmelte Resi kopfschüttelnd und blieb stehen. »Wart du da, Rudi, ich geh runter und frag, was er will.«
Soeben hatten sich Steiningers schlimmste Befürchtungen bestätigt. Der Zeitpunkt ließ wenig Hoffnung. »Auf keinen Fall gehst du allein.«
»Geh, was soll schon sein«, erwiderte sie, doch ihre Stimme bebte unsicher. Dankbar nahm sie seine Hand und geleitete ihn im kalten Sternenlicht zurück in das Labyrinth der Hängstatt. Erst jetzt registrierten seine angespannten Sinne den Seifengeruch, den durchtränkten Boden, das schmatzende Geräusch, das jeder ihrer Schritte erzeugte, die Ratten, die vor ihnen die Flucht ergriffen.
Um den Brunnen standen leere Wassereimer. Eine kleine Holzbank ächzte unter dem Gewicht eines riesigen Mannes in einem hellen Anzug. Sein weißes, schweißdurchtränktes Hemd drohte über dem riesigen Bauch aus den Nähten zu platzen. Auf den fleischigen Fingern schimmerte ein Arsenal protziger Ringe. Als der Riese sie erblickte, hob er seinen Panamahut und entblößte einen kugelrunden kahlen Schädel und ein breites, fettes Gesicht mit einer viel zu kleinen Nase. Der sorgsam gezwirbelte Schnauzer glänzte von Pomade. Statt eines Halses quoll ein mächtiges Doppelkinn aus seinem Kragen.
Zwei weitere Männer in verschwitzten ärmellosen Unterhemden glotzten die Ankömmlinge stumpf an. Neben der monströsen Gestalt wirkten sie wie zerbrechliche Püppchen. Beide waren sehnig und muskulös. Der Größere trug einen Hut. Die Syphilis hatte seinen Nasenrücken zerstört. In seinen Händen hielt er ein mit Papier umwickeltes Paket.
»Jessas, des ist der Herr Wanitzky, wo ich die Wäsch abgeliefert hab!«, flüsterte Resi und blieb unvermittelt stehen. »Kannst dich erinnern? Den haben wir im ›Grünen Anker‹ gesehen.« Nun, da sie ihren Besucher erkannt hatte, war sie erleichtert. Sie machte einen kleinen Knicks.
Mit zusammengepressten Lippen musterte Steininger den Fettwanst. Wie konnte sie nur so naiv sein? Er war ein Zuhälter, ein Peitscherlbub, wie man in Wien sagte. Noch dazu einer von der übelsten Sorte! So einer kam doch nicht zum Spaß mitten in der Nacht auf die Hängstatt! Lag es denn nicht auf der Hand, was er von ihr wollte? Er ahnte, was bevorstand, und überlegte fieberhaft, wie er Resi davor bewahren konnte.
»Ja, servus Resi!« Der Riese grinste und entblößte eine klaffende Zahnlücke im Unterkiefer. »Komm ruhig ein bisserl zu mir, ich fress dich schon nicht«, erklang seine dünne, hohe Stimme. Die kleinen schwarzen Augen glitzerten lüstern.
»An mir haben sich schon ein paar die Zähne ausgebissen«, konterte Resi mit der typischen Schlagfertigkeit einer Wäscherin. Steininger zog sie an sich und legte ihr demonstrativ den Arm um die Hüften. Vielleicht konnte ja seine Entschlossenheit etwas bewirken.
»Ist das dein Gschwuf?«, fragte der Riese mit gespielter Neugierde und musterte den Kellner mit einem spöttischen Lächeln.
»Darf ich vorstellen, das ist der Herr Steininger. Er ist Kellner im Balkaneser in der Leopoldstadt!« In ihrer Stimme schwang Stolz mit.
Wanitzky kratzte sich nachdenklich am schweißnassen Kopf. »Der Balkaneser, der Balkaneser …, der ist doch am Karmelitermarkt!? Ich glaub, da hab ich dich schon einmal gesehen. Servus, Steininger!«, sagte er leutselig und drehte sich zu seinen Begleitern. »Pavel, Franz sagt’s Grüß Gott zum Steininger!« Mit einem lauten Schnaufen zog er ein großes weißes Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von Nacken und Glatze. »Heiß isses, gelt?«
»Servus!«, murmelten die beiden Männer unwillig und starrten das Pärchen feindselig an.
Steininger nickte ihnen kurz zu und taxierte sie vom Scheitel bis zur Sohle. Noch sah er keine Waffen.
»So sauber wie dein Mäderl wascht keine, Steininger. Bin ganz begeistert von ihr«, nahm Wanitzky den Gesprächsfaden wieder auf.
Resi machte abermals einen unterwürfigen Knicks. »Was machen Sie denn mitten in der Nacht auf der Hängstatt?«
»Hängstatt! Wie das klingt, wie Galgenhügel!« Wanitzky stieß ein hohes, schrilles Lachen aus. Seine Begleiter verzogen die Münder zu einem breiten Grinsen und entblößten braune Zahnstummel. Nachdem er sich genügend über seinen eigenen Scherz amüsiert hatte, musterte Wanitzky die Wäscherin wieder lüstern. »Ja, weißt, Resi, da ist etwas, das ich mit dir besprechen muss.« Er streckte seine fleischige Hand aus und ließ sich von seinem Begleiter das Paket überreichen. Mit übertriebener Sorgfalt entfernte er das Papier. Das laute Knistern durchbrach die nächtliche Stille. Bald kam ein frisch gewaschener und sorgsam gebügelter, heller Sommeranzug zum Vorschein. »Da schau her, mein Anzug«, sagte er gönnerhaft.
»Der ist ja so schön sauber geworden«, erwiderte Resi stolz.
»Reserl, Reserl!«, seufzte der Fettwanst und schüttelte bedächtig den Kopf. »Das ist nicht nett von dir, dass du meine Zuneigung so missbrauchst.« Abermals sandte er einen kurzen, prüfenden Blick zu Steininger, doch der stand wie in Stein gemeißelt da.
»Ich versteh nicht …« Plötzlich zitterte Resis Stimme.
»Da! Schau selbst!«, erwiderte Wanitzky jovial.
Die Wäscherin nahm die Jacke, entfaltete sie und hielt sie hoch. Darauf leuchtete ein handtellergroßer, rotbrauner Fleck. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Ich schwör, ich hab den Anzug ganz sauber abgeliefert!« Ihre Stimme überschlug sich vor Bestürzung. Mit Tränen in den Augen drückte sie Steiningers Hand so fest, dass es beinahe schmerzte.
Ihre Angst erregte Wanitzky. »Pass auf, was du sagst, Wäschermädel«, ereiferte er sich, während er sie mit seinen Blicken verschlang. »Ich bin kein Lügner. Den Anzug musst du mir ersetzen. Das sind mindestens hundert Gulden.« Vor lauter Begierde vergaß er seine Umgebung. Hätte er jetzt, da er die Katze aus dem Sack gelassen hatte, einen weiteren kurzen Blick für Resis Begleiter erübrigt, er hätte in seinem Gesicht lesen können wie in einem Buch. Steiningers Augen loderten vor Mordlust, sein ganzer Körper bebte vor unterdrückter Aggression. Nur ein oder zwei Sekunden lang, dann hatte er sich wieder im Griff und verbarg seine Gefühle. Darin war er ein Meister. Nur deswegen hatte er überlebt.
»Aber so viel hab ich nicht!« Resi war in Tränen aufgelöst. Verzweifelt starrte sie ihren Geliebten an.
»Aber Resi, das weiß ich doch. Deswegen hab ich auch ein Angebot für dich«, sagte Wanitzky versöhnlich. »Ich mag dich doch!«
»Ich wasch Ihre Wäsche umsonst«, bot sie hoffnungsvoll an.
Die Antwort war ein heftiges Kopfschütteln und ein erhobener Zeigefinger. »So viel kannst du gar nicht waschen, da werden wir nie fertig. Komm ein bisserl näher.« Die schwarzen, bösen Augen tasteten sich an ihrem Körper entlang. Die reichen Kavaliere waren ganz verrückt nach solchen jungen Dingern. Nur die rauen Hände waren ein Makel. So etwas konnte den Preis drücken.
Wanitzky beugte sich nach vorne, so weit es sein gewaltiger Bauch zuließ, und rang kurz nach Luft. »Schau, Reserl«, schnaufte er. »Du könntest in meinem Vergnügungssalon in der Novaragasse ein bisserl arbeiten. So eine fesche Gretel wie du kann im ›Parisienne – viel Geld verdienen.« Das Luxusetablissement mit seinem vorzüglichen Restaurant, fantasievoll ausgestatteten Chambres separeés und verführerisch kostümierten Schönheiten erfreute sich bei begüterten Kunden größter Beliebtheit.
Die Wäscherin sah ihn entsetzt an, doch Wanitzky ließ sich nicht beirren. »Ich geb dir ein paar schöne Kleider und du bist ein bisserl nett zu den Herren. Nach ein paar Wochen hast du deine Schulden abgearbeitet.«
»Aber so eine bin ich nicht«, schrie Resi entsetzt.
»Meine Resi wird nie im Leben in deinem Puff arbeiten!«, sagte Steininger mit merkwürdig ruhiger Stimme. Fast schien es, als hätte er auf diesen Augenblick gewartet.
Beschwörend hob Wanitzky die fleischigen Hände. »Im ›Parisienne‹ verkehren nur Herren aus bester Gesellschaft«, sagte er selbstgefällig. »Dort arbeiten keine Vorstadthuren, sondern nur ausgewählte junge Damen. Für deine Resi ist das eine Auszeichnung, dort für den bladen Ferdl zu arbeiten.« Er war stolz auf diesen Spitznamen, den er seiner enormen Körperfülle verdankte, denn »blad« war der Wiener Ausdruck für fett und leitete sich von dem Wort »gebläht« ab. Und Ferdl war die Abkürzung seines Vornamens Ferdinand. Das war sein Markenzeichen, überall bekannt, geachtet und gefürchtet.
»Die Resi wird das Geld bezahlen«, entgegnete Steininger mit fester Stimme. Resi brachte kein Wort über die Lippen. Ungläubig klebten ihre Augen an ihm.
»Und woher wird sie es bekommen? Vielleicht von dir?«
»Genau, ich bring dir das Geld vorbei.«
»Schau, schau! Dein Gschwuf will sich für dich in Schulden stürzen, die er nie abbezahlen kann. Muss Liebe schön sein.« Ächzend beugte sich der blade Ferdl nach vorne und glitt mit dem Ende seines Spazierstocks über ihre Hüfte. Sie ließ es starr vor Angst über sich ergehen. »Willst du wirklich, dass sich dein Freund bis an sein Lebensende verschuldet? Es ist doch so leicht für dich. Ein paar Herren glücklich machen und alles ist wieder in Ordnung.«
Schützend schob sich Steininger vor seine Liebschaft und stieß den Stock weg. Er hatte beschlossen, dem grausamen Spiel ein Ende zu bereiten, auch wenn er die unvermeidliche Konfrontation lieber ohne Resi ausgefochten hätte. Dass sie gerade hier stattfand, war wie ein Gottesurteil.
»Nimm deine Drecksfinger von ihr.« Es war eine gezielte Provokation, um den Kuppler aus der Reserve zu locken.
»Hast du Drecksfinger gesagt?« Wanitzkys Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, versanken beinahe zwischen den Fettfalten.
»Du hast schon richtig gehört.« Steininger wusste, dass ein Kampf bevorstand. Er spähte kurz zu den beiden Männern. Der größere lächelte boshaft. Wie zur Bestätigung blitzte jetzt in seiner Hand eine Messerklinge im Sternenlicht. Eine eigenartige Ruhe ergriff von Steininger Besitz.
»Der Herr weiß wohl nicht, wen er vor sich hat?« Wanitzkys hohe Stimme klang schneidend und schrill.
Voller Panik zerrte Resi an Steiningers Jacke. »Bitte, Rudi«, schluchzte sie. »Ich hab Angst! Die bringen dich um. Ich mach, was der Herr Wanitzky sagt, es ist ja nur für kurze Zeit …«
»Bleib ganz ruhig, Resi. Ich regle das für dich«, sagte Steininger, ohne die drei Männer aus den Augen zu lassen. »Und euch drei Jammergestalten rate ich im Guten, uns jetzt gehen zu lassen.«
Wanitzky sank zurück. Hilfesuchend blickte er zu seinen Männern. Ein Held, noch dazu so ein langes, dürres Klappergestell, ausgerechnet mitten in der Nacht auf der Hängstatt! Er richtete seinen fetten Zeigefinger auf Steininger. »Für dich, Burschi, wär es besser gewesen, wenn die Resi heute allein gekommen wäre. Niemand droht dem bladen Ferdl.« Er nickte dem größeren seiner Männer zu. »Pavel, stich ihn ab.«
Steininger schob Resi sanft von sich und machte sich bereit. Plötzlich sprang Wanitzky mit unerwarteter Behändigkeit vor, packte die vor Angst schlotternde Wäscherin und presste ihr die schweißnassen Finger auf die Lippen. »Vielleicht kommst du ja zur Vernunft, wenn dein Held aufgeschlitzt wird«, zischte er und erstickte ihre verzweifelte Gegenwehr in seinen gewaltigen Armen. »Dann gehörst du mir. Wir werden noch viel Spaß miteinander haben.«
Mit gezücktem Messer stand Pavel breitbeinig da. Die Furchtlosigkeit seines Opfers ließ ihn kurz zögern, ehe ein siegesgewisses Grinsen über seine Lippen huschte. Nein, diese traurige Gestalt war kein nennenswerter Gegner. Lauernd begannen die beiden Männer, einander auf dem feuchten Boden zu umschleichen. Dem ersten angedeuteten Angriff wich Steininger gekonnt aus. Er wusste, dass er nur getestet worden war.
»Komm her, Scheisserl«, flüsterte der Böhme, »Es tut gar nicht weh. Ich mach’s ganz schnell.«
Steininger war viel zu erfahren, um sich ablenken zu lassen. Er blieb auf den Messerarm seines Gegners konzentriert. Der nächste Angriff erfolgte blitzschnell. Pavels Hand stieß nach vorne, um ihm die Klinge in den Bauch zu stoßen. Jeder andere wäre danach sterbend zu Boden gesunken, doch Steininger hatte den Angriff bereits im Ansatz der Bewegung erkannt. Er hechtete zur Seite, der Stoß ging um Haaresbreite ins Leere. Seine Wucht riss den siegessicheren Böhmen beinahe von den Beinen, der rutschige Boden brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Der Sekundenbruchteil, den er benötigte, um seine Balance zurückzugewinnen, wurde ihm zum Verhängnis. Ganz darauf konzentriert, seinen Beinen Halt zu geben, musste Pavel seine Deckung aufgeben. Einen winzigen Augenblick nur, nicht länger als ein Lidschlag, entspannten sich die Muskeln seines ausgestreckten Armes und waren zu keiner Verteidigung fähig. Er sank leicht nach unten.
Steininger hatte die Lücke in der Abwehr seines Feindes kommen sehen. Der nasse Untergrund hatte sich als unerwarteter Verbündeter erwiesen. Blitzschnell packte er Pavels Arm und drehte ihn beinahe ohne Kraftanstrengung auf den Rücken seines völlig überrumpelten Gegners. Das Messer flog in hohem Bogen durch die Luft. Steininger schlang den anderen Arm um Pavels Hals und drückte ihm die Kehle zu. Mit einem lauten Röcheln rang der Böhme nach Luft. Der Kampf war beendet, noch ehe er richtig begonnen hatte.
Aus dem Augenwinkel sah Steininger, wie sich der zweite Mann einen Schlagring auf die Finger steckte. Aber er war zu weit weg und Pavel ein lebender Schutzschild. Eine Welle des Triumphs durchflutete ihn, als er sich dem Kuppler zuwandte. Alles war einfacher gegangen, als er erwartet hatte. Seine Aufgabe war erfüllt und Resi gerettet. Zwei Fliegen mit einer Klappe, leicht verdientes Geld!
Steininger war in seinem Element. »So, du fette Sau, wenn du glaubst, dass ich Angst vor dir hab, dann irrst du dich«, keuchte er voller Genugtuung und seine Augen blitzten vor Angriffslust. Er genoss die Angst seines Gefangenen, sein hilfloses Zappeln wie ein Fisch auf dem Trockenen, das verzweifelte Schnappen nach Luft. »Lass sie los.«
Wanitzkys Blick schwankte zwischen Wut und Überraschung. Dann fasste er sich. Er war fest davon überzeugt, die Lage noch immer unter Kontrolle zu haben. Immerhin verfügte er über ein wertvolles Faustpfand. »Ich sehe keine Veranlassung. Du kannst den Pavel nicht ewig festhalten. Das war ein guter Kampf, keine Frage, aber jetzt lass ihn los, sonst mach ich dein Mädel fertig.«
»Du meinst, du bist im Vorteil?«, fragte Steininger lauernd. »Willst du mir das damit sagen?«
Wanitzky drückte Resi mit seinem Unterarm nun ebenfalls die Kehle zu und hob sie hoch, bis ihre Beine hilflos in der Luft strampelten, während sie mit aller Kraft gegen das Ersticken ankämpfte. »Schau, was du kannst, kann ich auch. Ich kann ihr jetzt gleich das Genick brechen. Ist nur eine Fingerübung. Oder ich lass sie langsam ersticken, wie am Galgen.« Er lockerte den Griff und die Wäscherin gewann wieder Boden unter den Füßen. Sie rang nach Luft, hustete und starrte Steininger in Todesangst an.
Steininger stand regungslos da und hielt sein Opfer fest. Eigentlich hatte er geglaubt, es bei dem gewonnenen Kampf bewenden lassen zu können, doch jetzt hatten Resis Qualen in ihm einen Schalter umgelegt. Pavel würde für den Fehler seines Chefs teuer bezahlen müssen. Er beendete die tödliche Stille mit einer Art verständnisvollem Nicken.
»So, so, eine Fingerübung«, sagte er mit einem lauten Seufzer. Ein dämonisches Grinsen erschien auf seinem Gesicht. »Du meinst, ich riskier nicht, dass ihr was zustößt?«
»Genau. Und dem Pavel wirst du auch nichts tun, so einer bist du nicht. Er ist wehrlos. Lass ihn jetzt gehen, dalli, dalli.« Ferdl wurde ungeduldig. »Ich hab nicht ewig Zeit.«
»Na gut.« Steininger atmete tief durch, seine Gesichtszüge entspannten sich kurz, ehe er in gereiztem Ton fortfuhr. »Ich zeig dir jetzt eine von meinen Fingerübungen und dann reden wir noch mal über das Geld und über die Resi.« Der Tonfall seiner Stimme verhieß nichts Gutes. Zum ersten Mal wurde Wanitzky unruhig. Reflexartig drückte er die junge Frau wieder an sich, als könnte er dadurch seinen Mann schützen.
Die Gewissheit drohenden Unheils ließ Pavel vor Angst röcheln. Sein verzweifelter Fluchtversuch erstickte in Steiningers stählerner Umklammerung. Erst als sein Opfer wieder stillhielt, lockerte er den Griff und flüsterte seinem Gefangenen zu: »Und jetzt, Scheisserl, muss ich dir leider sagen, es wird sehr wehtun.«
Mit einem gewaltigen Ruck riss er den verdrehten Arm nach oben. Pavel stieß einen gellenden Schmerzensschrei aus, als die Kapsel seines Schultergelenks zerriss. Steininger rammte sein Knie mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, gegen den Ellbogen des Böhmen. Als der Oberarmkopf nach oben getrieben wurde, zersplitterte die Schultergelenkspfanne. Das Schlüsselbein riss aus seiner Verankerung und brach mit einem hässlichen Knacksen.
Pavel schrie wie am Spieß, dann übergab er sich. Schließlich verdrehte er die Augen und verlor das Bewusstsein. Mit grotesk verdrehtem Arm sank er zu Boden. Steininger hob das Messer auf und wog es in der Hand. In seinen Augen blitzte Mordlust. »Und jetzt hab ich ein Messer.«
Er machte eine aufmunternde Handbewegung in Richtung des zweiten Schlägers. »Komm her, du Huadararg’söll.« Von Steininger als Filzlaus bezeichnet zu werden, trieb dem Mann die Zornesröte ins Gesicht. »Ich bin grad in Stimmung. Du wirst nicht so glimpflich davonkommen.« Er blickte wieder zurück zu Wanitzky. »Weißt du, was ich mit dir mache, wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst? Ich schlitz dich auf wie ein Spanferkel. Und zwar ganz langsam, damit du es so richtig genießen kannst.«
Von Steiningers unerwarteter Brutalität völlig überrumpelt, ließ Ferdl Resi los wie ein glühendes Stück Kohle. Schwer atmend stand er hinter der schluchzenden Frau und starrte ungläubig auf seinen bewusstlosen Leibwächter. Schade um ihn, war sein erster Gedanke. Der Arm wird nie wieder heilen. Er ist ein Krüppel, zu nichts mehr zu gebrauchen.
Sein Blick wanderte zu Steininger, dessen Augen auf ihn geheftet waren, kalt und grausam. War da eine Art Leuchten, eine Vorfreude auf das, was möglicherweise noch kam? Die Gewissheit, dass dieser Bursche seine Drohung in die Tat umsetzen würde, jagte ihm einen Schauer den Rücken hinunter. Nein, der bluffte mit Sicherheit nicht.
Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte der blade Ferdl so etwas wie Todesangst. Er kämpfte die Übelkeit nieder, die sich seiner zu bemächtigen drohte, und unterdrückte das übermächtige Verlangen, einfach davonzulaufen. Dieses Mal dauerte es merklich länger, bis er seine Fassung wieder zurückgewonnen hatte. Sein schneller Atem beruhigte sich. Er sah zu dem Mann mit dem Schlagring, in dessen Augen wilde Angst flackerte. Nein, er würde keinen zweiten Mann in einen aussichtslosen Kampf schicken.
»Sehr gut, Held, das hat mir sehr gut gefallen.« Ferdl klatschte in die riesigen Hände. »Ich hab dich unterschätzt. So einen wie dich kann ich gut brauchen. Ich mach dir ein Angebot: Du arbeitest für mich und die Resi lass ich laufen. Du wirst viel Geld verdienen.« Vom Verlust seines Leibwächters abgesehen, konnte er aus der ganzen Angelegenheit immer noch als Gewinner hervorgehen.
»Ganz sicher nicht. Ich bring das Geld und dann sind wir pari.« Steininger deutete mit dem Messer auf den bewusstlosen Leibwächter. »Den hier schickst du in den Ruhestand.«
Wanitzky erhob sich und sah zu Pavel, dem sein Kamerad gerade auf die Beine half. Der Böhme wimmerte vor Schmerz und übergab sich erneut. »Und jetzt zum Geld. Zweihundert Gulden, keinen Kreuzer weniger.«
»Das ist der Fetzen niemals wert!«, protestierte Steininger.
»Das ist die Entschädigung für den Pavel«, erwiderte Wanitzky. »Du kommst in mein Haus in der Pazmanitengasse 12, ins Wespennest.« Er gab sich große Mühe, versöhnlich zu klingen. »Ich glaube, wir können noch gute Freunde werden.« Schwerfällig erhob er sich.
Steininger schloss die zitternde Resi in die Arme. Als der blade Ferdl an ihm vorbeiging, hielt er ihn kurz auf. »Pass du nur gut auf, sonst war das erst der Anfang«, sagte er drohend. »Ich bin nicht allein.« Wanitzky presste die Lippen zusammen und ging schweigend weiter.
Kaum waren die Männer abgezogen, brach Resi zusammen. Sie krallte sich an seine Brust, während ihr Körper von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Er hielt sie so lange fest, bis ihr Tränenstrom versiegte. Endlich hob sie den Kopf und starrte ihn aus rot geweinten Augen an.
»War das ein Albtraum?«, fragte sie stockend. Ihr Herz raste noch immer.
»Es ist vorbei.« Steiningers Stimme klang ruhig. »Sie sind weg«
»Bist du verletzt?« Voll Sorge begann sie ihn überall abzutasten und nach Wunden zu suchen.
»Ich bin heil, mach dir keine Sorgen.«
»Und dieser Pavel? Wird sein Arm wieder gut?«
»Nein.« Seine Augen leuchteten. »Er bleibt ein Krüppel.«
Sein Blick jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Dann machte sie ihrer Erleichterung mit einem lauten Lachen Luft, das in einen neuerlichen Weinkrampf mündete. »Recht geschieht ihm«, schluchzte sie. Abermals drückte Steininger sie an sich.
Eng aneinandergeschmiegt verharrten sie lange Zeit wortlos. Nur langsam ordneten sich Resis Gedanken. Sie umarmte ihn und überschüttete ihn mit Küssen. »Du bist mein Held, weißt du das?«
»Dann war es das wert!«, erwiderte er lächelnd.
Sie lachte. »Hast du das gelernt oder bist du ein Naturtalent?«
Nachdenklich blickte er in die Ferne. »Ich bin schon einmal durch die Hölle gegangen. Mir jagt der Teufel keine Angst mehr ein.«
Sie fröstelte. »Was meinst du? Wo war das?«
»Ich will nicht darüber reden.«
Enttäuscht wich sie ein wenig zurück. »Hättest du Herrn Wanitzky wirklich umgebracht?«
»Wenn er dir auch nur ein Haar gekrümmt hätte, hätte ich ihm den Wanst aufgeschlitzt.« Er packte Resi an den Schultern und sah sie beschwörend an. »Du gehörst mir, Resi, niemand darf dich mir wegnehmen.«
»Rudi, ich hab dich in den ganzen Pallawatsch reingezogen. Wenn du mich nicht getroffen hättest …«
»… wärst du jetzt in Ferdls Bordell.« Er blickte zum Himmel, wo sich im Osten bereits ein grauer Schimmer zeigte. »Ich bring dich jetzt in die kleine Pension in Döbling, die ich dir gezeigt hab. Dort bist du sicher.«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das geht nicht! Ich muss noch so viel waschen. Meine Leute passen schon auf mich auf.«
Seine Miene verriet, dass er mit dieser Lösung nicht glücklich war. »Na gut. Ich muss los. Verlass auf keinen Fall die Waschburg, hörst du? Ich werd mich mit ihm einigen, vertrau mir.«
»Mich bringen keine zehn Pferd mehr auf die Gasse.«
Für die zweite Etage der Wiener Polizeidirektion am Schottenring wurde nur in den seltensten Fällen ein Passierschein ausgestellt, denn hier residierte das Zentrum der Macht: das Büro des Wiener Polizeipräsidenten mit dem großen Sitzungssaal, seine Dienstwohnung, sämtliche Präsidialbüros und verschiedene Spezialabteilungen wie zum Beispiel die Photografiensammlung, die sich gerade im Aufbau befand, das Press- und das Informationsbüro.
Es war vier Tage nach Steiningers Kampf auf der Hängstatt, als die feierliche Stille auf den Gängen durch das Echo eiliger Schritte unsanft entweiht wurde. Dem ehemaligen Polizeiagenten Leopold Kern, der hier ruhelos wie ein Tiger im Käfig auf und ab marschierte, war sein Passierschein per Boten zugestellt worden, denn seine Arbeit als Sonderermittler des Wiener Polizeipräsidenten Wilhelm Marx Ritter von Marxberg war streng geheim.
Kern war eher klein gewachsen und von gedrungener Gestalt. In seinem runden Gesicht mit dem Ansatz eines Doppelkinns blitzten dunkle, lebhafte Augen. Das linke war etwas kleiner geraten als das rechte, was seinen Gesichtsausdruck ein wenig verschlagen wirken ließ. Von seiner Kopfbehaarung war nur ein dichter dunkler Haarkranz geblieben. Dafür wucherte der sorgfältig nach oben gezwirbelte pomadisierte Schnauzbart umso üppiger.
Kerns Kleidung war schlicht, ein brauner abgetragener Anzug mit einer schwarzen Krawatte und einem zerknitterten gelbstichigen Hemd, das wohl einst blütenweiß gewesen sein mochte. Der Hut, den seine Hände hinter dem Rücken umklammert hielten, war arg verbeult.
Eine schlimme Zeit lag hinter ihm. Vor einigen Monaten hatten ihn die Männer seines alten Feindes Ferdinand Wanitzky in eine Schlägerei verwickelt und danach wegen schwerer Körperverletzung angezeigt. Das unvermeidbare Disziplinarverfahren hatte Kern aufgrund der erdrückenden Beweislage schuldig gesprochen und zur Entlassung aus dem Polizeidienst verurteilt – für Kern, der sein ganzes Leben dem Kampf gegen die Prostitution verschrieben hatte, ein vernichtender Schlag. In dieser ausweglosen Lage hatte ihm der Polizeipräsident angeboten, als geheimer Sonderermittler einen mysteriösen Mörder zu jagen, dessen Existenz der Öffentlichkeit verborgen bleiben musste.
Der »Engelmacher« tötete seine Opfer so genial, dass kein Leichenbeschauer ein Verbrechen vermutete. Obwohl Kern ihn zur Strecke gebracht hatte, erfreuten sich seine Drahtzieher noch immer ihrer Freiheit. Fürst Mitjuchin, ein mächtiger russischer Adeliger, war schon aufgrund seines Standes unantastbar. Gegen die Edelkupplerin Susanne Vogler, in deren Diensten der unheimliche Mörder gestanden hatte, gab es keine hinreichenden Beweise.
Sechs Wochen waren seitdem vergangen. Die Vorladung für den heutigen Termin war erst gestern Vormittag zugestellt worden und betraf noch einmal den endgültigen Abschluss des Disziplinarverfahrens. Sie war völlig überraschend gekommen, denn Kern hatte gedacht, seine Entlassung wäre bereits amtlich. In der vergangenen Nacht hatte er kaum ein Auge zugetan, heute war er bereits zwanzig Minuten vor dem Termin erschienen. Er hätte es in seiner kleinen Wohnung ohnehin nicht ausgehalten.
Umso zäher tropften nun die Sekunden dahin. Er wusste nicht, zum wievielten Mal er seine Spesenabrechnung kontrollierte. Und dann begann wieder das Gedankenkreisen um seine aktuelle Situation. Wollte Marx seinen Sonderermittler schon wieder entlassen, weil es keinen neuen Fall gab? Die größte Angst jagte ihm die Vorstellung ein, als Spitzel eingesetzt zu werden. Der Staat führte den Kampf gegen die Sozialdemokraten mit unnachgiebiger Härte und Marx war als »Arbeiterfresser« bekannt. Er sandte viele Polizeispione zu politischen Versammlungen.
Doch Kern hatte sich über die Jahrzehnte ein dichtes Netzwerk aus Informanten in der Halbwelt aufgebaut. Diese Kontakte hatten ihm den Spitznamen »Hurenpoidel« beschert und ihm bei der Aufklärung vieler Fälle geholfen, auch bei der Entlarvung des Engelmachers. Als Spitzel war es nur eine Frage der Zeit, bis er aufflog. Niemand würde ihm danach noch vertrauen, die Arbeit eines ganzen Lebens in Trümmern liegen!
Als der Sekretär endlich erschien, krampfte sich Kerns Herz zusammen. Mit weichen Knien folgte er dem Beamten in der dunkelgrünen Polizeiuniform in Marx’ Büro – ein beschwerlicher Weg nagender Ungewissheit. Und dann glomm da wieder dieses winzige Fünkchen Hoffnung, Marx würde in Anerkennung seiner Verdienste das Urteil der Disziplinarkommission aufheben. Theoretisch konnte er das.
Der Sonderermittler war schon öfter im Allerheiligsten gewesen, wie das Büro des Präsidenten gerne genannt wurde. Marx thronte in seinem über alles geliebten Lehnstuhl aus kunstvoll geschnitztem Eichenholz hinter einem riesigen Schreibtisch, der wohl die Hälfte von Kerns Wohnzimmer eingenommen hätte. Seine knochigen Hände ruhten auf einem geöffneten Personalakt.
Mit seinen fünfundsechzig Jahren wirkte der oberste Polizist Wiens wie ein freundlicher älterer Herr. Das hohlwangige, lange Gesicht mit der Halbglatze und der geraden, aristokratischen Nase umrahmte ein buschiger, grauer Kaiserbart. Die blassblauen, gütig dreinblickenden Augen waren in einen dichten Kranz aus Lachfältchen eingebettet. Er trug eine hellblaue, ärmellose Weste über einem schneeweißen Hemd, dazu eine dunkelblaue Krawatte. Der dazu passende Rock hing am Kleiderständer. Wenn Marx gehofft hatte, durch dieses legere Erscheinungsbild eine Atmosphäre des Vertrauens aufzubauen, so hatte er sein Ziel verfehlt. Auf Kern wirkte er in diesem Moment wie ein finsterer Gott, in dessen Tempel er geopfert werden sollte.
»Kern, Sie schauen zum Fürchten aus«, bemerkte der Präsident mitfühlend. »Ein Urlaub würde Ihnen guttun.« Er nahm die Spesenabrechnung entgegen und zeichnete sie ab, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
»Vielen Dank für Ihr Mitgefühl, Herr Präsident, aber ich fürchte, ein Ortswechsel wird nicht ausreichen.« Die Hände des ehemaligen Polizeiagenten zerknüllten hinter seinem Rücken seinen ohnehin schon arg in Mitleidenschaft gezogenen Hut.
Marx beobachtete die Leiden von Kerns Kopfbedeckung nicht zum ersten Mal. Er reichte seinem Sonderermittler die aufgeschlagene Zeitung. »Vielleicht heitert Sie das ein wenig auf.«
Ehrfürchtig, beinahe schüchtern nahm Kern die Ausgabe der Neuen Freien Presse aus der Hand seines obersten Vorgesetzten. Die Zeitung datierte vom 9. August 1880, war also bereits drei Tage alt. Hastig begann er, die Schlagzeile zu studieren. Seine Miene hellte sich auf. »Der Fürst Mitjuchin erschossen«, murmelte er voller Genugtuung. »Wer hätte das gedacht.« Wenigstens eine gute Nachricht.
»Ist Ihr Gerechtigkeitsempfinden nun endlich befriedigt?«
»Ich glaube zwar nicht an Gott, aber er scheint gerecht zu sein.«
»Damit findet einer der größten Kriminalfälle Wiens doch noch sein gebührendes Ende«, sagte Marx feierlich. »Der Schurke ist der Polizei, nicht aber dem Schicksal entronnen. Wie ich immer sage: Gott richtet uns, nicht das Gesetz. Die Einzige, die davonkommt, ist die Frau Vogler. Vorerst zumindest!«
Marx’ Empathie trug Früchte. Langsam begann die unerträgliche Spannung von Kern abzufallen. »Sie wird weitermachen. Wir dürfen uns keinesfalls einer trügerischen Ruhe hingeben.«
Marx überging die Bemerkung. Kerns Gerechtigkeitsempfinden war zwar durchaus bodenständig, aber mit der harschen Realität mitunter nicht in Einklang zu bringen. »Jetzt ist erst einmal Ruhe. Und darum wenden wir uns nun einer anderen wichtigen Angelegenheit zu, Herr Kern, die ausschließlich Sie betrifft. Ich habe den Beschluss Ihrer Entlassung aufgehoben und teile Sie hiermit dem Lohnwagenamt zu.« Er überreichte dem ehemaligen Polizeiagenten einen neuen Dienstausweis.
Ungläubig starrte Kern auf die eingetragene Dienststelle. Jeder wusste, was das bedeutete. Es war der Weg in den Abgrund, das Abstellgleis für Gescheiterte. Sofort suchte er nach dem berüchtigten »Z. b. V. d. P.« Es bedeutete »zur besonderen Verwendung des Präsidialbüros« und war Marx’ Art, Mitarbeitern die Schmach eines Hinauswurfs zu ersparen. Die Betroffenen wurden zu niederen Diensten wie Aktentragen oder Kaffeekochen eingesetzt, bis sie von sich aus ihre Kündigung einreichten.
»Das Abstellgleis?«, flüsterte Kern mutlos.
»Wo bleibt Ihr Auge fürs Detail«, fragte der Präsident freundlich.
»Ist das denn noch erforderlich?«
»So lesen Sie doch. Hier steht nicht Z. b. V. d. P. Hier steht …« Ein feines Lächeln umspielte die dünnen Lippen des Ritters Marx von Marxberg. »… Z. m. b. V.«, vollendete er seinen letzten Satz geheimnisvoll. »Darunter ist mein Handzeichen. Das m bedeutet zu meiner besonderen Verwendung«, schloss er seine Ausführungen.
Er lehnte sich zurück, stützte beide Ellbogen auf die Armlehnen, legte die Fingerspitzen aneinander und hoffte, seine nächsten Worte würden Kerns zerrüttetem Gefühlsleben ein wenig Trost verschaffen. »Selbstverständlich bleiben Sie mein geheimer Sonderermittler.« Erfreut bemerkte er, wie eine schwere Last von Kerns Seele genommen schien. »Glauben Sie ernsthaft, ich schicke Sie in die Wüste? Sie waren mein bester Polizeiagent! Ihre Kontakte in der Halbwelt sind für mich unbezahlbar. Mit der Zuteilung zum Lohnwagenamt schlage ich mehrere Fliegen mit einer Klappe.«
Der kurze Anflug von Freude in Kerns Zügen wurde sofort von einer neuen Welle des Misstrauens hinweggefegt. »Wie darf ich das verstehen, Herr Präsident?«, erwiderte er kleinlaut.
»Erstens lasse ich mir meine Beamten nicht von einem Kuppler herausschießen. Wenn so etwas Schule macht …«
»Es war eine Falle! Kaum war ich bei der Tür draußen, haben Ferdls Männer ihren eigenen Kameraden so übel zugerichtet und jetzt schieben sie es mir in die Schuhe.«
»Ich weiß. Trotzdem kann der Disziplinaranwalt eine solche Anschuldigung nicht ignorieren. Nicht bei Ihrer Vorgeschichte.«
»Der Tod meiner Frau und meiner Tochter …«
»Hat Ihnen schwer zugesetzt. Wem würde das nicht so gehen? Die Cholera ist eine schreckliche Erkrankung, aber keine Rechtfertigung für Ihre ständigen Regelverstöße. Die haben Ihrem Vorgesetzten Inspektor Brachmann arg zu schaffen gemacht!« Und nicht nur dem, fügte er in Gedanken hinzu. Leopold Kern war trotz seiner überragenden Aufklärungsquote ein Sicherheitsrisiko, das niemand mehr zu tragen bereit war. Kein einziger der zehn Brigadeführer hatte ihn haben wollen. Seine Stellung im Agenteninstitut war unhaltbar geworden.
»Der Brachmann ist doch ein Patschachter«, erwiderte Kern grimmig.
»Na, ganz so hilflos ist er auch nicht. Er wollte Sie schon seit Langem nicht mehr in seiner Brigade. Die Wanitzky-Affäre war da nur noch das Tüpferl am i. Sonst hätte er einen anderen Grund für ein Disziplinarverfahren gegen Sie gefunden.« Marx machte eine ungeduldige Handbewegung. Es war sinnlos, mit Kern über Vorschriften zu debattieren. In dieser Hinsicht war er ein Renegat, ein ungezähmter Mustang. Widerwillig musste er sich gleichzeitig eingestehen, dass gerade diese Eigenschaft diesen unscheinbaren Mann zur schärfsten Waffe machte, über die er im Augenblick verfügte, aber – wie er zu seinem ehrlichen Bedauern feststellen musste – auch zur unberechenbarsten. »Wie auch immer, Sie bleiben Mitglied der Wiener Polizei. Damit halte ich mir die Option offen, Sie nach angemessener Zeit wieder zurückzuversetzen.«
Kern erschien das Lohnwagenamt trotzdem wie ein sibirisches Straflager. »Verdeckt kann ich auch gut arbeiten.«
Der Polizeipräsident seufzte schicksalsergeben. »Noch einmal: Sie sind lediglich der Form halber dem Lohnwagenamt zugeteilt, bis ich für Ihre neue Stelle eine brauchbare Lösung gefunden habe. Dazu muss ich für Sie eine genaue Dienstbeschreibung ausarbeiten. Mit Ihrem neuen Dienstausweis können Sie sich wieder ungestört in der Polizeidirektion bewegen. Ich weiß, dass Sie noch Ihre Dienstmarke aus dem Agenteninstitut haben.«
»Ich weiß, dass ich sie abgeben müsste«, verteidigte sich Kern. »Das war auf Ihren Wunsch …«
Marx nickte. »Und das ist er auch weiterhin. Aber benutzen Sie sie mit größter Vorsicht. Wenn Brachmann davon Wind bekommt, dass Sie sich als Polizeiagent ausgeben, kann er Sie wegen Betrugs hinter Gitter bringen.«
»Was sage ich meinen Kollegen?«
»Die Wahrheit. Sie sind der Form halber dem Lohnwagenamt zugeteilt und stehen dem Präsidialbüro zur besonderen Verwendung zur Verfügung. Jeder weiß, was das bedeutet. Das m in Z. m. b. V. sollten Sie allerdings nicht extra hervorheben.« Marx klappte Kerns Personalakt zu, ein unmissverständliches Zeichen für das Ende ihres Gesprächs. »Bitte vergessen Sie nicht, dass die Geheimhaltung Ihrer Tätigkeit in der Polizeidirektion absolute Priorität hat.«
»Gibt es gerade etwas, wofür Sie meine Dienste benötigen?«
»Im Augenblick gottlob nicht. Nehmen Sie Urlaub, Sie haben es sich verdient. Aber geben Sie mir Ihren Urlaubsort bekannt. Sollte die Monarchie in ernsthafte Gefahr geraten, schicke ich einen Dienstmann – der Geheimhaltung wegen«, sagte der Polizeipräsident schmunzelnd.
Kern grinste schwach, doch in seinem ausgezehrten Gesicht wirkte das eher wie eine Grimasse der Verzweiflung. »Ich hab mit dem bladen Ferdl noch eine Rechnung für das Disziplinarverfahren offen«, sagte er grimmig. »Der soll nur nicht glauben, dass er gewonnen hat.«
Der frisch entfachte Jagdeifer bereitete dem Präsidenten wenig Freude. »Das muss warten. In einer Woche feiert der Kaiser seinen fünfzigsten Geburtstag, mit allen dazugehörigen Festivitäten. Ganz Wien wird auf den Straßen sein. In zwei Wochen wird seine Majestät persönlich die Festsäule am Praterstern besichtigen. Verschnaufen können wir erst, wenn er drei Tage später nach Olmütz abgereist ist. Im Übrigen befürchten wir in den nächsten Tagen ein Anschwellen des Wienflusses und der Donau. Im Wienflusstal, in Baden und in Schwechat schüttet es wie mit Schaffeln. Die Polizei hält sich bereit, um Brücken und Ufer großräumig abzusperren. Wir haben also wirklich alle Hände voll zu tun. Böse Überraschungen sind das Letzte, was wir gebrauchen können, und schon gar keine Alleingänge Ihrerseits.«
Die Antwort gefiel Kern gar nicht. »Selbstverständlich, Herr Präsident.« Er erhob sich.
Marx beglich die Spesenrechnung aus dem Konfidentenbudget und ließ sich den Empfang quittieren. Fest drückte er Kerns Hand. »Lassen Sie den Wanitzky in Frieden. Die Furien sind schlechte Ratgeber.«
»Die Furien?«
»Die Rachegöttinnen. Bei den alten Römern die Furien, bei den Griechen die Erinnyen. Aus ihren Fängen kommt keiner mehr heraus. Rache trägt keine Frucht, Herr Kern, wie Schiller sagt. Sie hinterlässt nur Verlierer.«
Das Zufallen der Tür hinter seinem Rücken klang in Kerns Ohren wie ein Donnerschlag. Auf dem Gang musste er kurz innehalten, sein rasendes Herz beruhigen. Von den Worten des Polizeipräsidenten war nur eines in seinem Gedächtnis haften geblieben. »Endstation Lohnwagenamt« bedeutete das Ende einer elfjährigen Karriere, die mit der Gründung der zivilen Sicherheitswache begonnen und die Gründung des Polizeiagenteninstituts miterlebt hatte. Brachmann hatte auf der ganzen Linie gewonnen.
Dass Marx den Dingen noch einmal eine Wende zum Besseren geben konnte, bezweifelte Kern. Er hatte ihn lediglich vertröstet, seinen Untergang in die Länge gezogen, ihm einfach ein wenig Zeit verschafft, sich damit abzufinden. Ein Abgang mit Ehren, mehr nicht.
Wehmütig schritt er durch die Gänge, betrachtete neiderfüllt die Kollegen, die an ihm vorübergingen, ohne von ihm Notiz zu nehmen, saugte noch einmal jedes noch so kleine Detail in sich auf – wie eine letzte, kostbare Erinnerung, als würde er nie wieder einen Fuß über die Schwelle der Polizeidirektion setzen dürfen. Und obwohl er wusste, dass sein Pessimismus dem wahren Stand der Dinge nicht gerecht wurde, vermochte er daraus keinen Trost zu schöpfen.
In diesem Moment war die Welt für ihn ein Ort hoffnungsloser Düsternis geworden und es gab nichts, was ihn davon abbringen konnte. Und mit jedem Schritt wuchs in ihm das unbändige Verlangen, für die erlittene Schmach am bladen Ferdl Rache zu nehmen.
Nachdem der uniformierte Wachtposten seinen Passierschein kontrolliert hatte, betrat er das prächtige, mit Spiegeln gesäumte Treppenhaus, das aus der Zeit herrührte, als die Polizeidirektion noch das Hotel »Austria« gewesen und wie ein Adelspalast ausgestattet war. Die Treppe benutzte er aus tiefster Überzeugung. Er misstraute den Aufzügen. Eine Todesfalle. Darin stecken zu bleiben war für ihn noch beängstigender, als mit der Kabine in die Tiefe zu stürzen.
Das laute Hallen der Schritte der Uniformierten und Büroboten auf den marmornen Stufen, das leise Stimmengewirr, das die Luft erfüllte und manchmal von einem leisen Klirren unterbrochen wurde, wenn ein Säbel am Boden oder an der Wand scharrte, wie sehr würde er diese ehrfurchtgebietende Atmosphäre vermissen!
In der ersten Etage mit dem Polizeikommissariat Innere Stadt und dem Administrationsbüro war es dann mit der elitären Stille vorbei. Es war der morgendliche Höhepunkt der Amtsstunden, die von acht bis vierzehn Uhr dauerten. In dieser Zeit wurden Parteienverkehr und Amtsgeschäfte abgewickelt, Arrestanten verhört oder Zeugen einvernommen. Da man beim Umbau des Hotels Parteienwartezimmer vergessen hatte, wimmelte der Korridor vor Menschen.
Kern wollte das ruppige Gedränge möglichst schnell hinter sich bringen. Der Marsch über eine der beiden prachtvollen Festtreppen glich einem Spießrutenlauf. Wachmänner, Beamte, Gauner, Prostituierte, Fiaker, Parteien jeglicher Art drängten in einer schweren Wolke aus Schweiß-, Tabak- und billigem Parfümgeruch aneinander vorbei. Es wurde gelacht, geschimpft, geflucht und mitunter recht stark gerempelt. Ohne seine kampferprobten Ellbogen wäre Kern verloren gewesen. Seiner schlechten Laune wegen setzte er sie gerne und mit unerbittlicher Härte ein. Er war gerade im Begriff, sich durch die überfüllte Eingangshalle zum Ausgang zu boxen, als ihm jemand von hinten auf die Schulter tippte.
»Leo, bist du es?«, vernahm er eine männliche Stimme.
Die Aussicht, länger als unbedingt notwendig unter diesen Menschenmassen am Ort seiner Niederlage verweilen zu müssen, trübte Kerns miserable Stimmung nur noch mehr. Die heftige Tirade, die er auf den Lippen hatte, wich einem kurzen, erfreuten Lächeln, als er Ludwig Pospischil erkannte, einen seiner besten Kameraden aus der alten Brigade.
»Ja, da schau her, der Pospi!«, rief er zutiefst ergriffen, denn Pospischil war einer der wenigen Freunde, die ihm im Agenteninstitut geblieben waren. »Wie kommt die Dritte Brigade ohne mich zurecht? Weint der Brachmann viel?«
Auf Pospischils spiegelglatt rasiertem Kopf schimmerte ein feiner Schweißfilm. In dem abgezehrten Gesicht leuchteten zwei riesige dunkle Augen. »Ohne dich ist es nur halb so lustig. So eine Sauerei, dass sie dich rausgeschmissen haben.« Ein starker Hustenanfall ließ ihn zusammenzucken und schüttelte seinen Körper heftig.
»Pospi, du gefällst mir gar nicht.« Besorgt klopfte Kern seinem Freund auf den Rücken, bis der Anfall vorüber war.
Der Husten quälte diesen bereits seit einem Jahr. Damals hatte er seinen Sohn aufopfernd gepflegt, als er von einer Lungenentzündung dahingerafft wurde. Ihr ähnliches Schicksal hatte zwischen den Männern eine tiefe Verbundenheit geschaffen, auch wenn Pospischil im Gegensatz zu Kern noch vier weitere Kinder und eine gesunde Frau hatte.
Der Polizeiagent wischte ein wenig Blut von seinen Lippen und richtete sich wieder auf. »Danke, Poidel, geht schon wieder. Ich bin halt ein bisserl ausgezuzelt. Du schaust auch nicht gerade wie das blühende Leben aus. Was machst du jetzt?«
Es kostete Kern viel Selbstbeherrschung, seine Kränkung zu überspielen und seiner Stimme einen beiläufigen Klang zu verleihen. »Der Form halber Lohnwagenamt, aber in Wirklichkeit z. b. V. im Präsidialbüro.«
»Jessas Maria, Kaffeekochen und Aktentragen. Mein aufrichtiges Beileid, das Abstellgleis. Das steht keiner lang durch.«
»Was ich am meisten fürchte, ist das nutzlose Herumsitzen. Ich muss raus auf die Straße.«
Pospischil grinste. »Der Tiger will jagen. Lust auf ein Verhör? Ich hab grad einen im Interimsarrest.«
»Aber immer! Um mich ist eh kein G’riß!«, erwiderte Kern, dankbar für die Ablenkung.
Die beiden Männer kämpften sich durch die Warteschlangen vor Registratur und Depositenamt. Dahinter machte der Gang einen Knick nach rechts zu den einstigen Hotelspeisesälen, wo jetzt das Passamt untergebracht war.
Zu ihrer Rechten lagen die hofseitigen Amtsstuben und der Interimsarrest, wo frisch Verhaftete ihr Verhör erwarteten. Für die nächste Stunde gehörte der Raum den Polizeiagenten. Als sie eintraten, fiel ihr Blick durch die Fenster in den Hof, wo sich eine in Lumpen gekleidete Menschenmenge um die riesenhafte Gestalt des Herrn Stastny drängte, der Essensmarken für Suppen- und Teeanstalten verteilte. Marx hatte diese Armenspeisung eingeführt, die jeden Tag um zehn Uhr vormittags stattfand.
Welch bittere Ironie, dachte Kern. Wo jetzt halb verhungerte Bedürftige ihre Arme dem Beamten Stastny entgegenstreckten, pflegten einst wohlhabende Industrielle und Adelige ihr Luxusmenü einzunehmen. Vor Marx’ Engagement empfand er große Hochachtung.
»Arme Schweine«, seufzte Pospischil. »Jeden Tag werden es mehr.« Er setzte sich an einen der Schreibtische und breitete seine Papiere vor sich aus.
»Na, hier drin, ist es auch nicht viel schöner«, bemerkte Kern. »Für unsereins gibt man halt kein Geld aus.« Die Räumlichkeiten waren erst nach der Übernahme des Hotels »Austria« eingebaut worden und ließen jeglichen Komfort vermissen – düstere, schmucklose Zimmer mit niedrigen Decken, alle gleich ausgeführt: zwei Schreibtische Rücken an Rücken vor den Hoffenstern, ein Lederdiwan und ein massives Büchergestell mit in blauen Umschlägen gebundenen Protokollen. »Da fragt man sich, ob’s im Arrest nicht bequemer ist.«
Er nahm gegenüber von Pospischil Platz. »Darf ich den Tagesbericht von gestern sehen?« Er konnte es einfach nicht lassen.
Ohne Zögern schob Pospischil das Dokument zu ihm. Kern studierte es, als wäre es der packendste Roman der Welt. Es gab darin nichts Besonderes. Ein einjähriges Kind war in eine mit Wasser gefüllte Grube gestürzt und ertrunken, ein Maurer beim Einbruchdiebstahl auf frischer Tat ertappt, der Selbstmordversuch eines Unterstandslosen am Donaukanal von Umstehenden verhindert worden. Eine Magd wurde wegen Kindesmord angezeigt, ein Heiratsschwindler verhaftet, zwei kleine Kinder aufgegriffen, die ihre Mutter aus Not ausgesetzt hatte – grausamer Alltag einer Großstadt am Ende des neunzehnten Jahrhunderts.