Tatort Heidelberg - W. P. A. Schneider - E-Book

Tatort Heidelberg E-Book

W. P. A. Schneider

0,0

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

1921: Ein Doppelmord erschüttert ganz Deutschland. Zwei Bürgermeister kehren von einem Waldspaziergang nicht mehr zurück und noch ehe die Leichen gefunden sind, wird der vermeintliche Täter verhaftet. Der authentische Fall, den W. P. A. Schneider anhand von historischen Originalquellen detailgetreu nachgezeichnet hat, ist das spektakulärste Verbrechen in der Historie Heidelbergs. Das Gerichtsverfahren ging als einer der ersten Indizienprozesse in die Justizgeschichte ein und markiert eine Zeitenwende in der Verbrechensaufklärung.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 287

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


W. P. A. Schneider

Tatort Heidelberg

Die Bürgermeistermorde vom Pfalzgrafenstein

Zum Buch

Der spektakulärste Kriminalfall in der Geschichte Heidelbergs 1921: Die Bürgermeistermorde vom Pfalzgrafenstein haben zur damaligen Zeit die Gemüter der Menschen zutiefst bewegt. Und selbst 100 Jahre später kann man sich der Faszination dieses Kriminalfalls nicht entziehen. Das Gerichtsverfahren, das von W. P. A. Schneider anhand von historischen Originalquellen detailgetreu rekonstruiert worden ist, hat als einer der ersten Indizienprozesse in Deutschland Justizgeschichte geschrieben. Es markiert eine Zeitenwende in der Verbrechensaufklärung, bei der ausgeklügelte wissenschaftliche Methoden eingesetzt werden, aber auch noch immer Wahrsagerinnen zu Wort kommen. Gleichzeitig zeichnet dieser Kriminalfall ein eindrückliches Bild der Gesellschaft kurz nach dem Ersten Weltkrieg: Eliten, die sich vor einer revoltierenden Arbeiterschaft fürchten. Eine bürgerliche Mitte, die den Verfall der Sitten beklagt. Ehemalige Kriegsteilnehmer, die eine unbändige Lebenslust verspüren. Und nicht zuletzt junge Frauen, die auf der Suche nach heiratsfähigen Männern gegen vorherrschende Moralvorstellungen verstoßen.

W. P. A. Schneider wurde in Offenburg geboren. Nach seinem Abitur studierte er Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim, wo er auch zum Dr. rer. pol. promoviert wurde. Nach diversen Stationen in der Unternehmenspraxis wurde er als Professor an die Duale Hochschule Baden-Württemberg Mannheim berufen. Hier leitet er den Studiengang BWL-Handel. Daneben ist er Lehrbeauftragter an mehreren staatlichen und privaten Hochschulen, Verfasser zahlreicher (populär-)wissenschaftlicher Publikationen, Coach diverser Unternehmen sowie Autor von Romanen. W. P. A. Schneider ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Inzwischen pendelt er zwischen Heidelberg und dem Lago Maggiore/Italien, wohin er sich zum Schreiben zurückzieht.

Impressum

Da es sich bei dem vorliegenden Roman um eine True-Crime-Story und damit um einen realen Mordfall handelt, sind die Schilderungen nicht fiktiv. Dementsprechend sind die im Werk enthaltenen Darstellungen von Personen oder Ereignissen real und entsprechen den Tatsachen.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

     

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2022 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © Ulf Waldeck https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/deed.enhttps://commons.wikimedia.org/wiki/File:500px_photo_(68366359).jpeg

ISBN 978-3-8392-7404-0

Vorwort

Der hier geschilderte Kriminalfall hat zur damaligen Zeit die Gemüter der Menschen über die Grenzen Deutschlands hinaus zutiefst bewegt. Und selbst 100 Jahre später kann man sich der Faszination dieses Verbrechens nicht entziehen.

Der Prozess gilt als einer der ersten Indizienprozesse in Deutschland. Er markiert eine Zeitenwende in der Verbrechensbekämpfung, indem auf der einen Seite Wahrsagerinnen zu Wort kommen und zum anderen mit ausgeklügelten wissenschaftlichen Methoden versucht wird, dem Angeklagten die Tat nachzuweisen. Und nicht zuletzt zeichnet dieser Kriminalfall ein eindrückliches Bild der damaligen Gesellschaft: eine bürgerliche Mitte, die beklagt, dass der Erste Weltkrieg und die anschließende Revolution zu Sittenverwilderung und einem Verfall moralischer Werte geführt haben. Kriegsteilnehmer, die nach all den Entbehrungen und überstandenen Gefahren eine unbändige Lebenslust verspüren und sich das holen wollen, von dem sie glauben, dass es ihnen zusteht – falls notwendig auch mit Gewalt. Eliten, die sich vor einer revoltierenden, noch überwiegend kommunistischen Arbeiterschaft fürchten, auch wenn der Nationalsozialismus bereits erste Blüten treibt. Und schließlich junge Frauen, die sich auf der Suche nach ledigen Männern, von denen es nach dem Krieg zu wenige gibt, zu gewagten sexuellen Handlungen hinreißen lassen und aufgrund der vorherrschenden Moralvorstellungen letztlich als Verliererinnen zurückbleiben.

Ganz bewusst basiert diese Publikation auf Texten von damals. Die Journalisten der ortsansässigen Zeitungen, die Verfasser von Briefen, die an die Untersuchungsbehörden und Medien gerichtet wurden, sowie die Staatsorgane kommen weitgehend originalgetreu zu Wort. Dies erleichtert es dem Leser zum einen, in die damalige Zeit »einzutauchen«, zum anderen verdeutlichen die Originaldokumente die Widersprüchlichkeit dieses Kriminalfalls, da unterschiedliche Perspektiven geschildert werden.

Bereits die Berichterstattung der verschiedenen Zeitungen macht deutlich, dass einige Journalisten den Verhafteten bereits vorverurteilen (»Verhaftung des Mörders«, bevor überhaupt die Leichen gefunden wurden). Andere Medienvertreter hingegen versuchen, zumindest den Schein von Objektivität in ihrer Berichterstattung zu wahren.

Noch eine letzte Vorbemerkung: Trotz der Abscheulichkeit und Brutalität dieses Verbrechens kann der Verfasser nicht verleugnen, dass bei ihm in der einen oder anderen Szene des Kriminalfalls Mitleid und eine gewisse Sympathie für den (vermeintlichen?) Täter aufkeimen.

Heidelberg, im Frühjahr 2021

W. P. A. Schneider

Namensregister

Breitenstein, Johann und Wilhelm: Brüder, beide in den Meineid um den Fahrraddiebstahl Sieferts verwickelt

Busse: Bürgermeister von Herford

Englert, Johanna: Freundin des Angeklagten Siefert

Farrenkopf: Kriminalkommissar

Gruhle, Doktor: Professor, Sachverständiger

Haas, Doktor: Staatsanwaltschaftsrat

Heindl, Professor Doktor: Geheimer Rat, Sachverständiger

Holl, Professor Doktor: Medizinalrat, Sachverständiger

Hönl: Landgerichtsrat, Untersuchungsrichter

John: Waffenmeister, Sachverständiger

Jolln, Doktor: Oberamtsrichter, beisitzender Richter

Karg: Rechtsanwalt, Verteidiger Sieferts

Kniffel: Kriminalwachtmeister

Kratzmüller: Witwe, Vermieterin des Siefert

Kratzmüller, Berta: Tochter der Vermieterin des Siefert

Kratzmüller, Konrad: Sohn der Vermieterin des Siefert

Link: Ingenieur, Opfer eines Mordanschlags

Mappes: Kraftwagenhändler, Sachverständiger

Mickel, Doktor: Staatsanwalt

Popp, Doktor: Gerichtschemiker, Sachverständiger

Rupp, Doktor: Landgerichtsrat, beisitzender Richter

Sebold, Doktor: Oberstaatsanwalt

Siefert, Jakob: Bildhauer, Bruder des Angeklagten

Siefert, Leonhard: Eisenbahnschlosser, Angeklagter

Steinle: Polizeiwachtmeister

Weindel, Doktor: Landgerichtsrat, Vorsitzender Richter

Werner: Bürgermeister a. D. von Herford

Freitag, 29. April 1921, kurz vor 20 Uhr abends

Motorradfahrt durchs Neckartal

Die Nacht hat sich bereits wie ein dunkles Tuch über das Tal gelegt. Nebelschleier breiten sich über dem Neckar aus. Nur schemenhaft lassen sich die dicht bewaldeten Hänge erkennen, die das Tal an dieser Stelle eng begrenzen. Ab und zu durchbricht der Mond die niedrig hängende Wolkendecke und flutet das ganze Tal mit silbernem Licht. Doch nach nur kurzem Zwischenspiel zieht er sich hinter die Wolken zurück, und die romantische Szenerie umhüllt sich wieder mit einem dunklen Mantel.

Auf der Ziegelhäuser Landstraße von Kleingemünd her fährt ein Motorradfahrer mit hoher Geschwindigkeit und eingeschaltetem Scheinwerfer. Die Baumreihen entlang der Straße werfen unruhige Schatten, die sich im Scheinwerferkegel des Motorrades hin und her wiegen.

Der Fahrer, der Ingenieur Franz Link aus Weinheim, hat es offensichtlich eilig. Er war vormittags zu einer Geschäftsreise in den Odenwald nach Buchen, Miltenberg und Hardheim aufgebrochen. Um noch rechtzeitig vor Anbruch der Dunkelheit nach Hause zu kommen, hatte er sich von Hardheim aus schon am späten Nachmittag gegen 17.30 Uhr wieder auf den Rückweg gemacht.

Eine unheimliche Begegnung

Jetzt legt sich Link auf seinem Motorrad in eine lang gezogene Rechtskurve, die dem Flusslauf des Neckars folgt. Er muss sein Tempo drosseln. In einiger Entfernung erkennt er eine Gestalt, die aus dem Schutz der Baumreihe auf der linken Straßenseite tritt. Der Mann blickt in seine Richtung. Er hat den Hut tief ins Gesicht gezogen und hält seine rechte Hand schützend vor die Augen, sodass Link dessen Gesicht nicht erkennen kann. Sein heller Mantel sticht jedoch deutlich von dem dunklen Hintergrund ab. Die große, schlanke Gestalt wirft im Scheinwerferlicht des Motorrades einen unruhigen Schatten, der sich in der Ferne irgendwo in den Wäldern verliert.

Der Unbekannte wendet sein Gesicht ab und überquert in langen, aber langsamen Schritten die Landstraße, und zwar von der Neckar- zur Bergseite. Dann verschwindet er hinter einem an der Straße liegenden Geräteschuppen und damit aus dem Scheinwerferkegel des Motorrades.

Link wird es schlagartig mulmig zumute. Ihm ist klar, dass hier etwas nicht stimmen kann. Um diese späte Tageszeit und in dieser einsamen Gegend verhält sich dieser Unbekannte recht eigenartig. Link beschleunigt und macht sich auf seinem Motorrad ganz flach, um keine Angriffsfläche zu bieten. Im Licht des Scheinwerfers blitzt rechts von der Straße für Sekunden ein metallischer länglicher Gegenstand auf. Im Vorbeirasen wirft Link einen Blick auf den Geräteschuppen. Er erkennt schemenhaft eine Gestalt, die nahe an der Wand kauert.

Link drückt noch mehr aufs Tempo. Die nächsten Sekunden kommen ihm wie eine halbe Ewigkeit vor. Er rechnet damit, dass jeden Moment in seinem Rücken etwas Schreckliches passieren wird. Nachdem er aber den Geräteschuppen rund 80 Meter hinter sich gelassen hat, ist er überzeugt, dass ihm seine Nerven nur einen Streich gespielt haben. Seine Befürchtungen waren ganz offensichtlich unbegründet. Erleichtert richtet er sich auf seiner Maschine auf und versucht, wieder entspannt zu sitzen.

Anschlag aus dem Hinterhalt

Noch bevor er den Schuss hört, trifft ihn ein furchtbarer Schlag an der rechten Schulter und wirft ihn fast vom Motorrad. Er stöhnt auf, unterdrückt einen Schrei und versucht mit aller Kraft, nicht zu stürzen. Später wird man feststellen, dass eine Kugel unter seinem rechten Schulterblatt eingedrungen und über dem Schlüsselbein wieder ausgetreten ist.

Einem ersten Impuls folgend, will Link anhalten und absteigen. Der durch den Schock ausgelöste Adrenalinstoß lindert das Schmerzgefühl. Er ist wutentbrannt und will den Schützen stellen. Doch schlagartig verschlechtert sich sein Zustand. Eine Welle des Schmerzes schießt durch seinen Körper. Ihm wird übel, er muss sich übergeben. Er zwingt sich weiterzufahren und spürt, wie Blut den Rücken herunterrinnt und sein Hemd durchtränkt.

Link kann sich kaum noch auf seinem Motorrad halten und hat Schwierigkeiten, der Straße zu folgen. Endlich tauchen in einiger Entfernung die ersten Lichter von Häusern auf. Sie tanzen vor seinen Augen hin und her, auf und ab. Mit letzter Kraft erreicht er die Arbeitersiedlung, die zur Gelatinefabrik von Ziegelhausen gehört und außerhalb des Dorfes liegt.

 

Villa des Heidelberger Gelatinefabrikbesitzers Stoess, in die der verletzte Ingenieur Link gebracht wurde1

Rettung in letzter Minute

Mit letzter Kraft steigt Link ab und lässt sein Motorrad gegen eine Hauswand fallen. Dann sinkt er völlig entkräftet zu Boden. Eine Frau schaut aus dem Fenster. Link stöhnt: »Helfen Sie mir, ich bin angeschossen worden.«

Die Wunde in seinem Rücken pocht immer stärker, der Blutstrom in seinem Rücken schwillt an. Ihm wird schwindelig. Er schließt seine Augen und zwingt sich, ruhig zu atmen. Dann hört er die Stimme eines Mannes, der sich über ihn beugt. Später wird er erfahren, dass es sich um den Gärtner der Fabrik handelt. Link kann gerade noch hervorbringen, dass ihn ein großer, schlanker Mann mit Mantel und Hut in den Rücken geschossen hat. Dann verliert er das Bewusstsein.

Arbeiter tragen den Ohnmächtigen in die Villa des Fabrikbesitzers Stoess, die unmittelbar an den Neckar grenzt. Dieser reagiert umgehend und veranlasst, dass Link sofort ins Universitätsklinikum Heidelberg gebracht wird.

Vier Mann tragen den Verletzten auf einer Bahre zu einem bereitgestellten Fahrzeug, zwei gehen mit Laternen voran. Dahinter eine Gruppe von Neugierigen. Die Lichter flackern über das Neckarufer und verleihen der Szenerie etwas Gespenstisches.

Rasend geht die Fahrt entlang des Neckars. Die Klinik ist bereits telefonisch verständigt. Am Krankenhauseingang warten zwei Pfleger, die die Bahre mit dem Verletzten in Empfang nehmen.

Link wird den Anschlag überleben, aber noch einige Zeit unter den Folgen leiden. Später wird er noch eine wichtige Rolle bei der Aufklärung eines anderen schweren Verbrechens spielen.

Samstag, 30. April 1921, gegen 9 Uhr vormittags:

Tatortbesichtigung und Spurensicherung

Die Sonne strahlt über dem Neckartal. Auf den Wiesen glitzert noch der Morgentau, und der Neckar gleitet friedlich dahin. Die ganze Szenerie strahlt eine solche Harmonie aus, dass die schrecklichen Ereignisse des Vorabends wie weggewischt sind.

Wachtmeister Steinle vom Polizeiaußenposten Neckargemünd ist mit seinem Dienstfahrrad unterwegs zum Tatort. Sein Vorgesetzter aus Heidelberg hat ihn telefonisch beauftragt, nach Spuren des gestrigen Anschlags auf den Ingenieur Link zu suchen.

Steinle kommt am Tatort an und legt sein Fahrrad an den Straßenrand. Er stopft bedächtig seine Pfeife, zündet sie an und macht sich auf Spurensuche. Der Geräteschuppen, hinter dem sich der Täter versteckt haben soll, liegt direkt an der Landstraße. Die Tür ist abgeschlossen, das Schloss ist unbeschädigt. Der Täter hat den Schuppen offenkundig nicht betreten.

An der rechten Seitenwand des Schuppens ist das Gras an einigen Stellen niedergetrampelt. Schuhabdrücke, die auf den Täter hinweisen könnten, lassen sich nicht ausmachen. Wachtmeister Steinle zieht bei seiner Suche nach Tatspuren immer größere Halbkreise um den Schuppen, so hat er es auf der Polizeischule gelernt.

Fund einer Patronenhülse

Endlich findet er eine Infanteriepatronenhülse. Er klappt sein Notizbuch auf und fertigt eine grobe Skizze der Fundstelle an. Daneben notiert er: »3 Meter westlich (Richtung Ziegelhausen) vom Geräteschuppen, 4 Meter abseits der Straße (Richtung Wald).« Er schnuppert an der Patrone und nimmt noch Gase des verdampften Pulvers wahr. Außerdem ist das Äußere der Hülse eingefettet. Beides spricht dafür, dass die Patrone erst vor Kurzem abgefeuert wurde. Die Lage der Hülse lässt jedoch keine Rückschlüsse zu, wo der Schütze beim Abschuss gestanden hat.

Steinle macht sich weitere Notizen und wickelt die Patrone in einen Stofflappen ein. Nachdem er das Beweisstück in der Brusttasche seiner Uniform verstaut hat, inspiziert er noch die andere Straßenseite. Dort sucht er noch rund eine Stunde vergeblich nach weiteren Hinweisen der Tat.

Zurück in der Dienststelle

Dann besteigt er sein Fahrrad und macht sich auf den Weg zurück zur Dienststelle nach Neckargemünd. Jetzt scheint ihm die Morgensonne voll ins Gesicht, und er muss seine Augen zusammenkneifen.

Zurück in der Dienststelle in Neckargemünd verfasst Steinle ein ausführliches Protokoll. Er legt die eingewickelte Patronenhülse zu den Unterlagen und schickt das Ganze per Motorradkurier ins Polizeipräsidium nach Heidelberg.

Die Fahndung nach dem Täter verläuft zunächst ergebnislos. Doch drei Monate später rückt der Fall erneut ins Rampenlicht der Öffentlichkeit.

Montag, 27. Juni 1921:

Ankunft eines »Alten Herrn« in Heidelberg

Der 50 Jahre alte verheiratete Wilhelm Busse, Oberbürgermeister in Herford, trifft am Nachmittag, vom Deutschen Städtetag in Stuttgart kommend, in Heidelberg ein. Bussehatte knapp 30 Jahre zuvor Rechtswissenschaften in Heidelberg und Berlin studiert. Er bestand 1892 sein Referendarexamen und wurde 1898 Gerichtsassessor. 1900 wurde er Zweiter Bürgermeister, 1908 Erster Bürgermeister und 1917 Oberbürgermeister von Herford, einer Stadt in Ostwestfalen mit rund 35.000 Einwohnern.

Bussesteigt im renommierten Hotel zum Ritter ab. Es liegt mitten in der Heidelberger Altstadt, direkt gegenüber der Heiliggeistkirche.

 

Das Hotel zum Ritter – das bis heute älteste erhaltene Haus Heidelbergs2

 

Das Wohnhaus des Bürgermeisters a. D. Werner in Heidelberg-Neuenheim3

Für den folgenden Tag hat sich Bussemit seinem Verbindungsbruder Wernerin dessen Wohnung zum Mittagessen verabredet. Der 41 Jahre alte ledige Bürgermeister a. D. Leopold Werner, der früher im Dienst der Stadt Herford gestanden hatte, wohnt seit 28. August 1919 in Heidelberg-Neuenheim.

Dienstag, 28. Juni 1921

 

Das Vandalenhaus zu Heidelberg4

Besuch des Stiftungsfests einer Burschenschaft

Am Abend besuchen die beiden Alten Herren Busse und Werner (Ein »Alter Herr« oder Philister ist ein Mitglied einer Studentenverbindung nach Beendigung seiner Studien- und Aktivenzeit.) das Stiftungsfest ihrer gemeinsamen Studentenverbindung Corps Vandalia Heidelberg, eine 1848 gegründete Studentenverbindung an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Das Verbindungshaus liegt am Schlossberg, unterhalb des Heidelberger Schlosses.

Anmerkungen zur »schlagenden« Studentenverbindung

Corps Vandalia Heidelberg

Die meisten Mitglieder der Verbindung stammen aus dem Mecklenburger Adel sowie dem Lübecker und Hamburger Großbürgertum. Die Vandalia ist eine schlagende Verbindung, die Mensuren ausficht. In dem streng reglementierten Fechtkampf zwischen zwei männlichen Mitgliedern unterschiedlicher Studentenverbindungen mit geschärften Klingenwaffen geht es nicht um Sieg oder Niederlage. Ziel ist es, nicht zurückzuweichen und die Kampfsituation trotz möglicher Verwundung diszipliniert und ohne äußere Anzeichen von Furcht durchzustehen. Das Einüben von »Tapferkeit« durch Überwinden der eigenen Furcht steht im Mittelpunkt, sodass ein Zurückweichen als Niederlage empfunden und gewertet wird, nicht jedoch eine erlittene Verletzung.

Ein Schmiss, also eine in der Mensur davongetragene Schnittverletzung sowie die daraus entstandene Narbe, gilt sogar als Männlichkeitssymbol.5

Gaudeamus igitur, juvenis dum sumus

Das Stiftungsfest findet wie immer in der zweiten Hälfte des Sommersemesters statt, wenn schönes Wetter zu erwarten ist, aber die Ferien noch nicht begonnen haben. Busseund Wernertreffen auf dem Fest zahlreiche ihrer ehemaligen Kommilitonen und schwelgen in Erinnerungen. Dabei fließt das Bier in Strömen. Um Mitternacht stimmt die Corona noch einmal das beliebte Studentenlied »Gaudeamus igitur, juvenis dum sumus.« (»Lasst uns fröhlich sein, weil wir noch so jung sind«) an. Dann treten Busseund Werner, nicht mehr ganz nüchtern, den Heimweg an. Sie verabreden sich für den nächsten Tag.

Mittwoch, 29. Juni 1921

Waldspaziergang am Peter- und Paulstag

Heute speisen Busseund Wernerzusammen zu Mittag. Gegen 15.30 Uhr nachmittags verlassen beide die Wohnung Werners in der Bergstraße 27a im renommierten Stadtteil Neuenheim. Seiner Haushälterin sagt Wernernoch beim Weggehen, sie solle das Abendessen auf 19 Uhr richten.

Etwa um 16 Uhr sucht Oberbürgermeister Bussenoch einmal sein Zimmer im Hotel zum Ritter in der Innenstadt auf. Er verlässt es nach kurzer Zeit und macht sich von da aus auf einen Spaziergang mit Werner. Ab hier verliert sich die Spur der beiden Freunde.

Von diesem Zeitpunkt an erscheint es angebracht, den Chronisten der damaligen Ereignisse, nämlich den Journalisten der ortsansässigen Zeitungen6, den Verfassern von Briefen, die an die Untersuchungsbehörden gerichtet wurden, sowie den staatlichen Behörden das Wort zu übergeben. Um die Lesefreundlichkeit zu erhöhen, wurden die herangezogenen Originalquellen an die heutige Rechtschreibung angepasst. Logische Ungereimtheiten werden originalgetreu wiedergegeben und gegebenenfalls durch Anmerkungen des Verfassers kommentiert.

Donnerstag, 7. Juli 1921 

Suche nach den verschollenen Bürgermeistern

Drei Hundertschaften der Heidelberger Sicherheitspolizei sind in aller Frühe zusammengezogen worden und haben heute früh um 5 Uhr eine großangelegte und gut vorbereitete Streife über den Königstuhl angetreten, den sie in breiter Schützenlinie überquerten. Noch niemals ist bei einem Verbrechen in unserer Gegend ein so gewaltiger Polizeiapparat aufgeboten worden, noch niemals waren die Umstände so geheimnisvoll als bei diesem Drama, dessen Abschluss bis zur Stunde noch niemand zu erraten vermag.

Berittene Sicherheitspolizei versammelte sich frühmorgens am Neckar, um das Gebiet auf der Neuenheimer Seite zu durchstreifen.

 

Blick auf Neuenheim und den Heiligenberg7

Führt die Spur zum Heiligenberg?

Aufgrund einer Anzeige des Gärtners des Heidelberger Oberbürgermeisters, dass er den Herforder Oberbürgermeister Busse und den Bürgermeister a. D. Werner, die er nach den Fotografien wieder zu erkennen glaubt, an dem fraglichen Mittwochnachmittag den Schlangenweg hinter der alten Brücke hinaufgehen sah, hat die Vermutung an Boden gewonnen, dass vielleicht das Heiligenberggebiet der Schauplatz der vermuteten Tragödie war.

Ferner liegt eine Zeugenangabe vor, dass im Walde gegenüber der Villa Krehl, Bergstraße 108, in Neuenheim am Mittwoch vor acht Tagen abends zwischen 6 und 7 Uhr drei hintereinander fallende Schüsse und nach einer halben Minute ein vierter Schuss gehört worden sind. Wenn auch dieser Zeugenangabe kein unbedingter Wert beizumessen ist (es wäre zu untersuchen, ob nicht zu dieser Zeit verspätete Steinbruchschüsse gefallen sind), so gibt sie doch einstweilen, wo man noch in völliger Dunkelheit tappt, im Zusammenhang mit der Gärtneraussage einen wichtigen Fingerzeig. Hierauf baute die Staatsanwaltschaft ihren Plan auf, die Kriminalbeamten und Fahnder auf die Heiligenbergfährte zu setzen. Die Leute waren zum Teil mit hervorragenden Spürhunden, darunter den besten Hunden der Karlsruher Dressurschule, ausgerüstet.

Mahnungen der Staatsanwaltschaft

Um 7.30 Uhr versammelten sich die Kriminalbeamten und Fahnder sowie Waldaufsichtspersonal vor dem Gebäude der Staatsanwaltschaft, wo Staatsanwaltschaftsrat Haas, der die Verfolgung der Angelegenheit mit großer Umsicht und Tatkraft in die Hand genommen hat, eingehende Belehrungen erteilte und vor allen Dingen ermahnte, einen möglichen Tatort möglichst unberührt zu lassen und sofort die Staatsanwaltschaft zu benachrichtigen, damit nicht eventuell wichtige Erkennungszeichen verlorengehen. Wir, die Redaktion dieser Zeitung, bringen dies mit besonderem Nachdruck deshalb zur Kenntnis, weil sich auch viele polizeilich ungeschulte Privatleute an der Suche auf eigene Faust beteiligen. Das Korps Vandalia hatte sich gleichfalls bei der Staatsanwaltschaft vollständig versammelt, um sich auch an der Streife der Kriminalbeamten zu beteiligen.

Wir möchten noch die Staatsanwaltschaft auf das unaufgeklärte Verbrechen aufmerksam machen, das sich vor einigen Wochen an der Ziegelhäuser Landstraße in der Nähe der Gelatinefabrik ereignete, wo ein Unbekannter mit einem Infanteriegewehr aus verstecktem Gebüsch heraus den Weinheimer Ingenieur Link vom Motorrad herunterzuschießen versuchte. Link konnte damals mit großer Geistesgegenwart noch eine gute Strecke weiterfahren, ehe er blutüberströmt zusammenbrach, sonst wäre er zweifellos das Opfer eines Räubers geworden. Es mag möglich sein, dass jener bis heute noch nicht ermittelte Wegelagerer auch für die nun vermuteten Verbrechen in Frage kommt.

Wachsende Unruhe unter Gästen und Einheimischen

Mitten in die Hauptreisezeit, wo Heidelberg das Ziel Tausender von Menschen ist, die hier Ausspannung und Erholung suchen wollen, fällt das rätselhafte Verschwinden der drei Fremden. Am Mittwoch vor 14 Tagen kehrte hier bekanntlich der junge Berliner Kaufmann Horst Horn von einem Spaziergang nicht zurück. Am Mittwoch vor acht Tagen gingen die Bürgermeister Busse und Wernerverschollen. Der Bevölkerung Heidelbergs hat sich eine tiefgehende und wachsende Erregung bemächtigt, eine dumpfe Spannung liegt über unserer Stadt, galt doch bisher unser schöner Odenwald mit Recht als das sicherste Gebiet. Es ist furchtbar, denn nirgendwo anders waren Verbrechen so selten als in den Wäldern unserer Gegend, selbst die Revolution und die allgemeine Sittenverwilderung haben daran nichts geändert. Man muss schon auf Jahrzehnte zurückgreifen, um auf Verbrechen zu stoßen von der Schwere, wie man sie im vorliegenden Falle einstweilen nur vermutet. Bei der ganz außerordentlichen Seltenheit von Verbrechen ist es kein Wunder, dass sie jahrelang in der Erinnerung der Bevölkerung nachzittern. Der Raubmord an dem Heidelberger Studenten Grieß auf dem Katzenbuckel bei Eberbach ist im ganzen Odenwaldgebiet noch unvergessen, obwohl fast ein Jahrzehnt darüber hinweggegangen ist.

Zwei andere Fälle, ein Mord am Philosophenweg und die Ermordung und Beraubung eines Engländers im Zollstockgebiet, liegen noch weitere Jahre zurück, und doch erinnert sich die Stadt in diesen Tagen wieder mit aller Lebendigkeit jener fernliegenden Ereignisse. Ein paar Liebesdramen oder Selbstmorde sind selbstverständlich keine Beweisgründe für die Unsicherheit unserer Umgebung. Viele Millionen Wanderer haben unsere Wälder durchzogen, und zwei oder drei Verbrechen in anderthalb Jahrzenten bilden keinen Gegenbeweis. Das soll man bei aller Nervosität, die in diesen Tagen unsere Stadt in Hochspannung hält, nicht vergessen! Gerade bei dem ungeheuren Sicherheitsgefühl, das wir in unseren Wäldern empfinden, ist aber der Gedanke doppelt furchtbar, dass irgendwo ein Bandit, ein Wegelagerer, ein vertiertes Scheusal, ein Halunke, vielleicht gar ein Irrsinniger auf Blut und Beute lauert. Schauerlich ist der Gedanke, dass solch ein Baumschütze irgendwo aus dem Versteck heraus ahnungslose Wanderer niederknallt und ausplündert.

Auch in Herford hat sich der eingeweihten Kreise wegen des Verschwindens des dort allseitig beliebten Oberbürgermeisters große Besorgnis bemächtigt. Wie wir von dort hören, ist Busse, auf dessen Auffindung – wie wir schon mitteilten – der Herforder Stadtrat 10.000 Mark Belohnung aussetzte, weit über die schöne nordwestfälische Leinen- und Wäsche-Stadt hinaus als Mensch und tüchtiger Kommunalbeamter angesehen und geschätzt. Nur seine Frau scheint von allem noch nichts zu wissen, schrieb sie doch noch vorgestern heiter und ahnungslos ihrem Manne, dass sie ihn heute in Heidelberg besuchen wolle.

Suche nach den Verschollenen in den Wäldern um Heidelberg

Viele Wanderer, Turner und Sportfreunde sind, der Polizei vorausgreifend, in den letzten Tagen schon auf eigene Faust in den Wald gegangen, um die Vermissten zu suchen. Fahnder streiften gestern das Hainsbachweg-Gebiet (auf der rechten Seite des Neckartals) ab. Da niemand sicher weiß, wo die Fremden hingegangen sind, ob sie den Heiligenberg (auf der rechten Neckartalseite) oder den Königstuhl (auf der linken Neckartalseite) als Ziel erkoren haben, ist bei der Größe des in Frage kommenden Gebietes die Suche außerordentlich erschwert, zumal anzunehmen ist, dass die Verschollenen, falls sie wirklich ermordet worden sind, wohl abseits der Wege unter Laub und Reisig versteckt liegen. So teilte uns heute Morgen ein Wanderer mit, dass er gestern Nachmittag auf einem Spaziergang an der Neuenheimer Seite des Heiligenbergs im Gebüsch einen Reisighaufen sah, der einen merkwürdigen, zusammengetrampelten Eindruck machte. Erst hinterher kam ihm der Gedanke, diese Wahrnehmung mit dem Verschwinden der Herren Busse, Werner und Horn in Verbindung zu bringen, und er hat sich heute Morgen aufs Neue aufgemacht, um die Spur eingehend zu verfolgen. Die Kriminalbeamten, Fahnder, Forstleute und Vandalen (die verschollenen Bürgermeister waren bekanntlich Alte Herren der Vandalia) begaben sich heute Morgen um 8 Uhr den Schlangenweg hinauf zur Philosophenhöhe, wo sie in Postenlinie mit 15 bis 20 Meter Abstand das Gebirge erkletterten.

Vom Königstuhl wird uns gemeldet, dass gegen 7 Uhr die lange Postenkette der badischen Polizei unter Leitung von drei Hauptleuten mit Hauptmann Sickinger als Führer die Höhe erreichte und die Forschungen im Walde eifrig fortsetzte. Die Polizei führt Feldtelefon nach der Stadt mit. Hoffentlich gelingt es mit Bemühungen aller vereinigten Kräfte, bald den Schleier des furchtbaren Geheimnisses zu lüften und ein Verbrechen aufzuklären, das an Größe vielleicht das schwerste ist, was sich in der Umgebung Heidelbergs seit Menschengedenken zugetragen hat.

Heidelberg, 8. Juli 1921

Verhaftung eines Verdächtigen

Die Leichen der beiden seit Mittwoch voriger Woche verschwundenen Bürgermeister, des Oberbürgermeisters Busse aus Herford und des seit einigen Jahren hier wohnenden Bürgermeisters Werner, sind auch jetzt noch nicht gefunden. Dagegen ist die Aufklärung dahin gelungen, dass mit Sicherheit ein Raubmord an den beiden Herren anzunehmen ist. In Ziegelhausen (einem Vorort von Heidelberg) wurde gestern Nachmittag der 23-jährige SchlosserLeonhard Siefert verhaftet, der aus Olfen bei Beerfelden gebürtig ist und seit etwa eineinhalb Jahren in Ziegelhausen in einer Gastwirtschaft wohnt. Er ist dringend verdächtig, allein oder mit Hilfe anderer die beiden Bürgermeister getötet, beraubt und die Leichen versteckt zu haben.

Erste Indizien

Die Vorgeschichte dieser Verhaftung entwickelte sich wie folgt: Siefert wohnt in Ziegelhausen bei der Gastwirtswitwe Kratzmüller. Als vorgestern die Tochter der Frau Kratzmüller das Zimmer des Siefert sauber machte, sah sie dort unter anderen Briefen auch einen Brief mit dem Poststempel Herford liegen, der an den Oberbürgermeister Busse gerichtet war und dessen Frau als Absender hatte. Sie wusste natürlich von dem Verschwinden der beiden Herren aus der Zeitung und benachrichtigte sogleich ihre Mutter. Der Brief wurde nun einem Verwandten der beiden, einem Ziegelhäuser Schuhmachermeister, übergeben, damit er ihn der Polizei überbringe oder andere Schritte in der Sache unternehme.

Siefert gegenüber ließen die beiden Frauen nichts verlauten. Der Schuhmachermeister ging allerdings nicht sogleich zur Polizei oder Gendarmerie, sondern fragte erst den Pfarrer um Rat. So kam es, dass die Sache nicht mehr am selben Tage, sondern erst gestern der Polizei mitgeteilt wurde. Hätte inzwischen Siefert den Brief vermisst, so wäre er sicherlich geflohen, und die Verzögerung würde vielleicht veranlasst haben, dass man seiner nicht habhaft geworden wäre.

Wertgegenstände der beiden Bürgermeister sichergestellt

Nun wurde von Ziegelhausen aus die Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft in Heidelberg benachrichtigt, die sofort Beamte dorthin sandte. Diese fanden außer dem Brief in den Kleidern des Siefert auch eine goldene Uhrkette und ein Paar goldene Manschettenknöpfe. Diese hat dem Bürgermeister Werner gehört. Ferner entdeckte man, dass sich an Kleidungs- und Wäschestücken Blutflecke befanden. Siefert war noch in seiner Heidelberger Arbeitsstätte, der Eisenbahnwerkstatt. Als er um 5 Uhr nachmittags mit der Eisenbahn nichtsahnend zurückkam, wurde er sogleich am Bahnhof von Kriminalbeamten verhaftet und in seine Wohnung geführt. Gegen halb 7 Uhr wurde er ins Heidelberger Amtsgefängnis eingeliefert. Inzwischen haben Kriminalbeamte auch noch festgestellt, dass Siefert noch einen Brillantring im Besitz hatte, dessen Brillanten er an einen in der Bahnhofsstraße wohnenden Goldarbeiter für 2.300 Mark verkauft hat, während er den Ring selbst für ein Mädchen, zu dem er in Beziehungen steht, umarbeiten lassen wollte und deshalb gleich bei dem Goldarbeiter ließ.

Er gab sich diesem gegenüber als Werner aus und erklärte, den Ring von einem »Onkel aus Amerika« erhalten zu haben. In Ziegelhausen war aufgefallen, dass Siefert, der allerlei Schulden hatte, diese Schulden in den letzten Tagen bezahlt und außerdem allerlei Anschaffungen in Kleidungsstücken, Wäsche, Hut, und so weiter gemacht hatte. Außerdem hat er seinem Mädchen Geschenke gemacht. Allein bei der Wirtin hatte er 1.700 Mark Schulden, weil er sich erst in letzter Zeit einen größeren Betrag von ihr geliehen hatte. Er war deshalb mehrfach von der Frau um Rückgabe des Geldes gedrängt worden. Ferner hat er einem Freund, von dem er Geld geliehen hatte, 500 Mark zurückgegeben. Es ist natürlich anzunehmen, dass er dieses Geld den beiden Bürgermeistern oder einem von ihnen geraubt hat.

Verhafteter leugnet.

Siefert trat immer für seinen Stand ziemlich nobel auf. Auch an der Arbeitsstätte war es schon wiederholt aufgefallen, dass er so gut angezogen ging. Um dies tun zu können, hat er eben Schulden machen müssen.

Sowohl bei der ersten Vernehmung durch die Kriminalbeamten wie später bei der Vernehmung durch den Untersuchungsrichter leugnete Siefert die Tat. Er bestreitet nicht nur, die Bürgermeister umgebracht zu haben, sondern erklärte auch mit dreister Stirn, die aufgefundenen Sachen habe er überhaupt nicht gesehen und daher könnten sie auch nicht in seinem Besitz gefunden worden sein. Alle Tatsachen sprechen aber dafür, dass er nur leugnet und doch der Täter ist. Es steht nur noch nicht fest, ob er der alleinige Täter ist oder ob er noch Helfer hatte. Über den Ort der Tat hat man bisher keine Anhaltspunkte, doch glaubt man annehmen zu können, dass er auf dem rechten Neckarufer, also auf der Heiligenbergseite, zu finden ist.

Weitere Verhaftungen

Im Zusammenhang mit dieser Sache wurden gestern Abend und heute Nacht in Ziegelhausen drei weitere Verhaftungen vorgenommen. Im Besitz des 17-jährigen Taglöhners August Sauer wurde nämlich eine goldene Uhr gesehen. Die Polizei stellte fest, dass es sich um die goldene Uhr des Bürgermeisters Wernerhandelt. Sauer behauptet, die Uhr von Siefert gekauft zu haben. Es wurden der Sicherheit halber auch die Mutter Sauers, die Ehefrau Werner, verwitwete Sauer, und sein Stiefvater, der Taglöhner Georg Werner, verhaftet. Der junge Sauer stellt jede Beteiligung an der Tat oder eine Mitwisserschaft in Abrede. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass hier höchstens Hehlerei vorliegt, doch war es nötig, vorsichtshalber alle drei vorläufig festzunehmen.

Suche bislang ohne Erfolg

Die Streifen zur Auffindung der beiden Leichen hatten gestern keinen Erfolg. Sie wurden aber heute Morgen von Neuem aufgenommen. Man richtet jetzt das Hauptaugenmerk auf die Heiligenbergseite, nachdem ein Mann erklärt hat, er habe an dem in Betracht kommenden Tage zwei Männer, die den beschriebenen Bürgermeistern ähnlich sahen, den Schlangenweg hinaufgehen sehen, und da gegen Abend an der Handschuhsheim-Neuenheimer Seite des Heiligenbergs scharfe Schüsse gehört worden sind. Eine Waffe ist bei Siefert nicht gefunden worden, doch wird er sie vorsichtshalber nicht mitgenommen, sondern irgendwo versteckt haben.

Zusammenhang zum Anschlag auf Ingenieur Link?

Kriminalpolizei und Untersuchungsrichter halten es für nicht ausgeschlossen, dass Siefert seinerzeit auch auf den Weinheimer Ingenieur Link in der Nähe der Gelatinefabrik geschossen hat. Es dürfte deshalb eine Gegenüberstellung der beiden erfolgen. Wenn die Schüsse am Heiligenberg mit der Tat in Zusammenhang stehen, dann kann man annehmen, dass es sich entweder um ein Militärgewehr oder um eine Pistole größeren Kalibers gehandelt hat, denn der Knall war außerordentlich scharf und stark. Vielleicht bringt bald ein Geständnis Sieferts Aufklärung über die Tat und den Ort, an dem die Leichen liegen.

Betroffenheit in ganz Deutschland

Es ist selbstverständlich, dass die Angelegenheit in Heidelberg große Aufregung hervorgerufen hat. Besonders gestern Abend, nachdem die Verhaftung Sieferts und seine Einlieferung bekannt geworden waren, bildeten sich größere Ansammlungen und kleinere Gruppen auf den Straßen. Dabei ist auch sehr viel geschwätzt worden, was die Schwätzer nicht verantworten konnten. Die Leichen sollten nicht nur an drei oder vier verschiedenen Stellen gefunden worden sein, sondern es wurden auch genaue Einzelheiten über die Tat und den Auffindungsort erzählt. Auch im übrigen Deutschland hat das Verbrechen große Aufmerksamkeit gefunden. Telefonische Anfragen kommen von allen Seiten und wollen wissen, ob man die Leichen gefunden, die Täter entdeckt hat.

Die grauenhafte Tat, die überall die lebhafteste Teilnahme erweckt hat, hat, wie man anerkennen muss, ziemlich rasch ihre Aufklärung gefunden. Dieser Umstand wird überall lebhafte Genugtuung hervorrufen und es ist nicht daran zu zweifeln, dass die Justiz, die nun das Wort hat, das richtige Urteil fällen wird.

Anmerkungen zum Bezirksstrafgefängnis Fauler Pelz

Siefert wurde im Bezirksstrafgefängnis Fauler Pelz inhaftiert, das 1847/48 aus rotem Sandstein erbaut worden war. Der östliche Parallelbau kam 1911 dazu. Das Gefängnis zählte damals – nach Bruchsal – zu den fortschrittlichen Anstalten in Baden. Die ersten Insassen der Anstalt waren einige Pfarrer gewesen, die gegen die Revolution von 1848 gepredigt hatten. Deshalb wurde das Gefängnis im Volksmund zunächst »Pfarrhaus« und »Pfaffenburg« genannt.

Das Gebäude befindet sich in Hanglage am Fuße des Schlossbergs im Süden der Heidelberger Altstadt. Aufgrund der Adresse Oberer Fauler Pelz 1 setzte sich im Volksmund im Laufe der Zeit der Name »Fauler Pelz« durch. Der Ausdruck ist also nicht auf die möglichen Charaktereigenschaften der Häftlinge zurückzuführen. Er stammt vielmehr aus dem 16. Jahrhundert. Bis dahin befand sich an dieser Stelle der Altstadt das Gerberviertel. Die Handwerker bearbeiteten die tierischen Häute mit einer braunen Brühe aus der Rinde junger Eichen, um kräftiges und wetterfestes Leder herzustellen. Als die Gerber in den Bereich der Layergasse umgesiedelt wurden, so der Heimatkundler Ludwig Merz, blieb der Graben mit der übelriechenden braunen Brühe zurück, auf der sich bald eine dicke Schimmelschicht wie ein »Pelz« bildete.

Hans-Martin Mumm, ehemaliger Leiter des Heidelberger Kulturamts, nimmt hingegen an, dass der Name eher auf den ehemaligen Obstgarten des Schlossvogts zurückgeht, den »Faut«. »Das Pelzen ist ein alter Ausdruck für das Veredeln von Obst«, erklärt er.8

 

Gefängnis Fauler Pelz9

Freitag, 8. Juli 1921

Suchtrupps in den Wäldern um Heidelberg

Die Streife nach den beiden vermissten Bürgermeistern, die gestern unternommen wurde, erstreckte sich vom Schlangenweg aus nach dem Siebenmühlental über das ganze Heiligenberg-Waldgebiet (rechte Neckartalseite). Sie war trotz äußerster Anstrengung bis zur Stunde ergebnislos und wird heute Morgen nach dem Mausbachtal hin fortgesetzt.

Inzwischen ist man aber doch der Aufklärung der mysteriösen und allmählich nicht nur Heidelberg, sondern ganz Deutschland in Erregung versetzenden Sache ein bedeutendes Stück nähergekommen. Darnach bestätigt sich die Vermutung, dass die beiden unglücklichen Spaziergänger einem schauerlichen Verbrechen zum Opfer gefallen sind.

Weitere Indizien

Der der Täterschaft verdächtigte und verhaftete Eisenbahnarbeiter Leonhard Siefert befand sich in letzter Zeit wiederholt in Geldnöten. Die Begleichung größerer Beträge kam nun den betroffenen Gläubigern verdächtig vor.

Sofort eingeleitete Untersuchungen ergaben weiteres Beweismaterial: Es wurden bei dem Verdächtigen die Manschettenknöpfe, Uhrkette und der Brillantring des Oberbürgermeisters Busse gefunden. Den Brillantring hatte der Täter bereits seiner Bekanntschaft »als Erbschaft aus Amerika« versprochen und war zu einem Uhrmacher in der Bahnhofstraße gekommen, um dort den Ring kleiner machen und den Brillanten im Wert von über 20.000 Mark herausnehmen und durch einen minderen ersetzen zu lassen.

Über einen zweiten Goldring, den der Verdächtige trägt, gibt es bis jetzt keine Auskunft, wie er auch beharrlich leugnet, dass Kleidungsstücke und blutbefleckte Wäsche von einem Ermordeten stammen. Mit der Tat will er durchaus nichts zu tun haben, obwohl einige inzwischen gleichfalls Festgenommene behaupten, eine goldene Uhr, es handelt sich um diejenige des vermissten Bürgermeisters a. D. Wernervon hier, von Siefert gekauft zu haben. Die vorläufig wegen Hehlerei Festgenommenen sind der 17-jährige Taglöhner August Sauer sowie dessen Stiefmutter und Stiefvater Werner, von Neckargemünd, wohnhaft in Ziegelhausen; sie stellen eine Mitwisserschaft am Verbrechen in Abrede.

Gerüchteküche brodelt

Die triftigen bis jetzt vorliegende Verdachtsmomente werden zweifellos binnen kurzer Zeit die volle Aufklärung bringen. Es ist auch höchste Zeit; denn die Beunruhigung der Bevölkerung wächst mit jeder Stunde und gab, zumal bis gestern Abend die ersten sicheren Ergebnisse bekannt wurden, den wildesten Gerüchten Nahrung. Man konnte gestern stundenlang durch unsere Stadt gehen: Überall hörte man Fragmente von Tatsachen, neue Vermutungen; die Mörder und der Tatort wären bereits gefunden und hunderterlei, an jeder Straßenecke in anderer Version.

Hoffentlich macht eine baldige Aufklärung dieser ungesunden Aufregung bald ein Ende.

Samstag, 9. Juli 1921

Suche nach den Mordopfern weiterhin erfolglos

Die Leichen der beiden ermordeten Bürgermeister wurden bis zur Stunde noch nicht gefunden, obwohl andauernd Streifen von der Kriminal- und Fahndungspolizei unternommen werden. So wurde heute Morgen das Terrain Küblerswiese – Moltkehütte (rechte Neckartalseite) abgesucht. Dort wollen zwei Arbeiter die beiden Herren an dem fraglichen Tage bestimmt gesehen haben und gleich darauf zwei Schüsse gehört haben. Sie hätten denselben aber keine Beachtung geschenkt.

Tatverdächtiger leugnet hartnäckig