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Die 15-jährige Nelly ist glücklich, denn die ein Jahr ältere, charismatische Pina hat sie vor einem halben Jahr als ihre beste Freundin auserkoren. Seitdem sind die beiden unzertrennlich. Als sich in der Klasse mysteröse Unfälle häufen und der Verdacht ausgerechnet auf Nelly fällt, scheint bald nur noch Pina zu ihr zu halten. Nelly bekommt anonyme Drohungen und sie hat das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden. Langsam bekommt Nelly wirklich Angst: Wer will ihr schaden?
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Seitenzahl: 316
Heike Eva Schmidt wurde in Bamberg geboren. Nach einem Psychologiestudium arbeitete sie zunächst als Journalistin, ehe sie ein Stipendium an der Drehbuchwerkstatt München erhielt. Seitdem ist sie freie Drehbuchautorin. Im Jahr 2012 hat sie sich außerdem als Buchautorin etabliert, bereits zwei ihrer Jugendbücher wurden mit Preisen ausgezeichnet. Tausend Mal gedenk ich dein ist der erste Titel der Autorin im Boje Verlag.
Heike Eva Schmidt
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2014: Boje Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
Einbandmotiv: © Amy Weiss/Trevillion Images
E-Book-Produktion: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-838-75577-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
In Erinnerung an P. M. und G.
Wenn du dich umgebracht haben wirst …
… Dann werden sie traurig sein. Vielleicht erkennen sie danach, was sie dir angetan haben. Mit ihren Blicken, ihrem Flüstern, das immer erst verstummte, wenn du in ihre Nähe kamst. Ihr falsches Lächeln, das sie dann aufsetzten, weil sie glaubten, du würdest es nicht merken.
Manchmal gibt es Tage, die sind hell und leicht wie ein Sommermorgen. Du wachst auf, die Sonne malt zartgelbe Kringel auf die Tapete, und du weißt, das wird ein guter Tag. Aber dann, ganz plötzlich, verwandelt er sich in etwas Graues, Zähes, das an dir zieht wie ein schweres Gewicht und dich mit sich in die Tiefe reißt. Dann dröhnt das Ticken der Uhr in deinen Ohren und du fällst und fällst, bevor du im Spalt zwischen zwei schwarzen Stunden verschwindest. Da unten in der Dunkelheit, wohin Worte nicht reichen, ist dein Gefängnis. Und du kauerst dort und weißt, dass dich niemand liebt, nicht einmal du selbst.
Dann musst du den Schmerz betäuben, ehe er dich von innen auffrisst und du dich in einem Säurebad von Wut und Hass auflöst. Wenigstens hast du alles, was du brauchst: den Brieföffner. Die Schere. Die Nagelfeile. Oder das Teppichmesser, das seitdem in eurem Werkzeugkasten fehlt.
Du siehst, wie Metall weiche Haut durchschneidet, aber du spürst nichts. In diesem Augenblick bist du nur Beobachter, da ist es nicht deine Haut, in die eine silberne Klinge drückt. Erst wenn sich eine hellrote Linie bildet, sich der Schnitt langsam mit Blut füllt, bis es überläuft und du mit der Zunge die zähflüssigen Tropfen auffängst, erst dann fühlst du etwas: Erleichterung.
Du lässt deinen Hass zur Ader, bringst ein Blutopfer. Alles, damit es dir nur wieder besser geht. Damit der körperliche Schmerz den in deinem Kopf überdeckt. Der Eisengeschmack in deinem Mund holt dich aus der Schwärze zurück, und du bist in Sicherheit. Bis zum nächsten Mal, wenn du wieder diese Blicke spürst und das Echo ihres Kicherns, das noch in der Luft hängt, auch wenn sie sich schon abgewandt und eine gleichgültige Miene aufgesetzt haben. Aber du kannst es noch hören und ihre spöttisch nach oben gezogenen Mundwinkel sehen, auch wenn sie nur hinter vorgehaltener Hand über dich lachen.
Es wird ihnen noch leidtun, irgendwann, wenn du dich getötet haben wirst. »Warum?«, werden sie mit geheuchelter Trauer fragen und gespielt ratlos den Kopf schütteln.
Und auf einmal fragst du dich das auch. Warum solltest du so etwas tun? Wieso sollst du für ihre Vergehen büßen? Und dir kommt ein ganz neuer Gedanke: Vielleicht tötest du ja gar nicht dich – sondern einen von ihnen?
»Der Grill brennt!« Der Schrei stieg in den Frühsommernachthimmel wie ein Feuerwerkskörper und übertönte sogar die laute Musik. Ich drehte mich um und sah Chris, Erik und Flo losrennen, während Alex, der heute Abend den Grillmeister markierte, mit hektischen Wedelbewegungen versuchte, den Qualm zu vertreiben, der nun langsam über die Wiese zog. Es fing an, beißend nach verbrannten Würstchen zu riechen, und Alex glich mit seinen wild rudernden Armen einer Windmühle im Sturm.
Leonie, Bille, meine Banknachbarin Ina und Siska sahen rüber zu dem hektischen Treiben. »Ach Mensch«, motzte Bille, »dabei hatte ich solchen Hunger!«
Neben mir begann Pina zu kichern. »Das nennt man Fettverbrennung«, kommentierte sie. »Fragt sich nur, wer hier die armen Würstchen sind – die auf oder die neben dem Grill.«
Ich musste nun auch lachen und wir schauten zu, wie Alex kurzerhand eine volle Flasche Wasser, die im Gras stand, über das rauchende Inferno goss, um die Glut zu löschen.
»Welcher Vollidiot hat mit der Grillkohle herumgezündelt?«, rief er erbost in die allgemeinen Buhrufe und das Klatschen hinein und kickte mit dem Fuß gegen die milchige Plastikflasche mit der blauen Kappe, auf der ein gelber Aufkleber mit schwarzen Flammen und der Aufschrift »Spiritus – brennbar!« klebte. Aber natürlich war es mal wieder keiner gewesen. Wie immer, wenn in unserer Klasse was schieflief.
Ich amüsierte mich noch über Pinas Spruch, als Alex vorbeilief und sauer »Jetzt können wir mit der Grillerei von vorne anfangen« murmelte, während Flo und Chris die patschnasse Grillkohle auskippten und frische in das Kohlebecken schütteten. Erik hatte sich schon vorher verzogen.
»Was grinst du so?«, fuhr Alex mich gereizt an, als er meinen Gesichtsausdruck sah. »Hast du am Grill rumgefummelt, oder was?«
Es war nichts Neues, Alex ging immer gleich hoch, wenn ihm etwas nicht passte, aber heute Abend verdarb mir sein fieser Ton schlagartig die Laune.
»Mann, mach dich mal locker! Geh zu deinen Kumpels und arbeite mit ihnen ein bisschen am Weltfrieden!«, schaltete sich Pina ein und wies mit einer Kopfbewegung auf ein paar Jungs, die sich in diesem Moment mit Bierflaschen aus dem nächsten Sixpack zuprosteten.
Alex verschlug es ausnahmsweise die Sprache. Er schien etwas sagen zu wollen, aber Pina sah ihn nur mit vorgerecktem Kinn von oben herab an. Schließlich wandte er sich kopfschüttelnd ab, wobei er noch etwas murmelte wie »Nix als schwache Sprüche auf Lager«, ehe er zum Lagerfeuer stapfte und zischend eine neue Flasche öffnete.
»Tja, so sind wir Mädchen eben«, sagte Pina, aber die Antwort war nicht an Alex, sondern an mich gerichtet. Sie legte mir den Arm um die Schulter und drückte mich kurz an sich.
Sofort ging es mir besser. Trotzdem blickte ich jammervoll zu Pina auf. »Jetzt müssen wir trockenes Brot essen. Oder verhungern«, stellte ich mit dumpfer Stimme fest.
»Oooh, armer schwarzer Kater!« Pinas Stimme triefte vor Mitleid, aber ich sah ihr breites Grinsen. Sie kramte in ihrer schicken Tasche aus dunkelviolettem Schlangenlederimitat und zauberte schließlich mit einem triumphierenden »Yep!« einen etwas zerknautschten Müsliriegel hervor. »Damit du nicht vor Hunger umfällst«, sagte sie und streckte mir den Riegel hin. Ich riss die Verpackung auf und brach ihn in zwei Hälften, um Pina auch was abzugeben. Doch sie schüttelte nur den Kopf, und ich verschlang mit zwei Happen den gesamten Riegel.
»Danke«, mümmelte ich mit vollem Mund. Ich ließ gerne zu, dass sie mich manchmal etwas bemutterte, immerhin ging sie in die Klasse über mir und war ein Jahr älter. Trotzdem hatte sie sofort gespürt, wie mich Alex’ unfreundlicher Spruch getroffen hatte. Nun war ich doppelt froh, dass Pina mitgekommen war, auch wenn die Einladung zur Grillfete eigentlich nur für unsere Klasse gegolten hatte. Genau das sagte ich ihr auch.
»Hey, wozu hat man eine beste Freundin?«, gab Pina zurück und zog mich ans Seeufer, wo ein paar meiner Mitschülerinnen ausgelassen zu dem Song »36 Grad« tanzten, der aus den aufgestellten Lautsprechern dröhnte. Unerbittlich zerrte sie mich auf die improvisierte Tanzfläche, und nach ein paar Takten machte es mir plötzlich richtig Spaß, mich zur Musik zu bewegen. Trotzdem steckte ein winziger Splitter in meinem Herzen. Warum konnte ich nicht so locker und schlagfertig sein wie Pina?, dachte ich, während die kubanischen Rhythmen und die Stimme von Inga Humpe über den See wehten. Ich sah an mir herunter, und mein Blick blieb an meinen heißgeliebten, aber schon ziemlich ausgelatschten grauen Chucks hängen. Dann schielte ich zu meiner Freundin herüber, die ein Stück entfernt stand und nur leicht mit einem Fuß zur Musik wippte. Sie trug dunkelblaue Leinenschuhe mit Keilabsatz, die ihre Beine noch länger erscheinen ließen, als sie sowieso schon waren. Plötzlich fühlte ich mich wie eine Ente, die versehentlich neben einer Ballerina gelandet war. Die Lust am Tanzen war mir vergangen, also hockte ich mich ins Gras und zupfte an einem losen Faden, der vom Saum eines meiner Hosenbeine hing.
Im Gegensatz zu mir schien Pina immer zu wissen, was sie anziehen sollte. Während ich fast jeden Morgen vor meinem Kleiderschrank stand und mich nicht zwischen Jeans und Sneakers oder Rock und Flip-Flops entscheiden konnte, griff sie mit schlafwandlerischer Sicherheit die Sachen heraus, in denen sie einfach cool aussah. Ihr Schrank beinhaltete mindestens doppelt so viele Klamotten wie meiner, denn Pinas Mutter war immer für eine Shoppingtour zu haben und zeigte sich jedes Mal großzügig. Und seit Pinas Vater vor einem Jahr seine Familie verlassen hatte, versorgte er seine Tochter zudem mit reichlich Taschengeld – wahrscheinlich aus schlechtem Gewissen.
Aber es lag nicht nur an der Menge der Anziehsachen, die sie besaß. Mit ihren großen, dunklen Augen, ihrer zarten Haut, auf der sich nicht mal der kleinste Pickel verirrte, und den halblangen Haaren, deren Spitzen sich immer ein wenig nach außen bogen, fiel Pina einfach auf. Vielleicht lag es auch an ihrem Mund, bei dem die geschwungene, aber schmale Oberlippe einen auffälligen Gegensatz zur vollen Unterlippe darstellte und es daher immer so wirkte, als würde sie ein wenig schmollen. Nicht trotzig oder schlecht gelaunt, sondern eher herausfordernd. Die meisten Jungs fanden Pina wahrscheinlich toll, aber keiner traute sich, sie anzusprechen.
Wenn Pina morgens mit geradeaus gerichtetem Blick und langen Schritten über den Schulhof ging, wirkte sie immer so, als würde sie niemanden brauchen. Nie sagte sie »Hallo«, und dennoch folgten ihr alle Blicke. Mir war sie natürlich auch schon auf dem Schulhof aufgefallen, aber wahrscheinlich wären wir aneinander vorbeigelaufen, bis Pina Abitur gemacht hätte, wenn nicht eines Nachmittags ihre Fahrradkette herausgesprungen wäre und damit ihre Heimfahrt sabotiert hätte. Ich war dazugekommen, als Pina fluchend und mit ölverschmierten Händen an ihrem Fahrrad herumfummelte. Nach einer halben Stunde sahen meine Hände genauso schwarz aus, meine Locken waren zerzaust und standen wahrscheinlich wie Korkenzieher von meinem Kopf ab, und meine Jeans zierte ein dicker, glänzender Schmierfleck. Dafür hatten Pina und ich aber festgestellt, dass sie mit Nachnamen »Sommer« und ich »Winter« hieß, worüber wir lachen mussten. Außerdem mochten wir beide Milchkaffee mit einer Menge Schaum und Krimis mit viel schwarzem Humor. Nur unser Musikgeschmack ging beträchtlich auseinander.
Prompt verzog Pina auch jetzt das Gesicht, weil gerade ein Song von Pink lief.
»Leider steht in unserer Klasse keiner auf Elvis oder Buddy Holly«, zog ich sie auf. Ich musste grinsen, als ich mir vorstellte, ich würde Daniel, der heute den DJ spielte, eine CD mit den Hits der frühen 60er-Jahre in die Hand drücken, mit der Bitte, diese für meine Freundin zu spielen. Was würde der wohl allein bei den Texten für ein Gesicht ziehen! Echte Kerle, die sich in ein Mädchen verlieben und alles für sie tun würden, versammelten sich in Titeln wie Devil in Disguise,That’ll be the day, Runaround Sue und wie die Dinger alle hießen. Ich fand die Songs ganz gut – allerdings nur für eine 60er-Jahre-Mottoparty. Aber Pina fuhr voll darauf ab. Sie hörte praktisch nichts anderes und konnte jede Zeile auswendig mitsingen. »Ich bin zu spät geboren. Eigentlich hätte ich in den Zeiten von Petticoat und Rock ’n’ Roll leben sollen«, sagte sie immer, wenn ich sie deswegen aufzog.
Ehe wir uns aber erneut kabbeln konnten, ertönte auf einmal Geknatter, und gelbe Scheinwerferkreise von drei Motorrollern durchschnitten die aufziehende Dämmerung. Beim Näherkommen sah ich, dass eines der Fahrzeuge eine alte Vespa aus den 70er-Jahren war. Mein Vater schwärmte noch heute von seinem ersten Motorroller, den er mit sechzehn endlich fahren durfte. »Eine Piaggio, Baujahr ’73 in Blaugrau. Da gab es extra Zapfsäulen an der Tanke, aber so was kennt ihr Kids ja heutzutage gar nicht mehr«, war sein Standardsatz, wenn er in seine nostalgischen Erinnerungen abtauchte. Meine Mutter hatte seinen verträumten Blick »Papas Plüschaugen« getauft, aber als ich jetzt die alte Vespa sah, konnte ich plötzlich verstehen, warum sie ihm so gefallen hatte.
Schweigend beobachteten Pina und ich, wie die Fahrer die Motoren abstellten. Es konnte niemand aus unserer Klasse sein, denn keiner meiner Mitschüler fuhr so ein Ding. Die meisten waren noch keine sechzehn und durften somit höchstens ein Mofa fahren. Und auch an unserer Schule hatte ich die Vespa noch nie gesehen.
Einer der Fahrer, ein schlanker, hochgewachsener Typ in Jeans und einer abgeschabten schwarzen Lederjacke, schwang sich mit einer fließenden Bewegung von seinem Roller und nahm den Helm ab. Einen dunklen Wuschelkopf, weiße Zähne, die bei einem Lächeln aufblitzten, und eine gerade Nase, mehr konnte ich nicht erkennen. Aber etwas an seiner Haltung faszinierte mich. Wie er so dastand, wirkte er gleichzeitig lässig und elegant. Ich reckte neugierig den Hals, doch die hereinbrechende Nacht breitete sich wie schwarze Tinte aus und ich konnte keine Einzelheiten erkennen. Die drei Musketiere, schoss es mir durch den Kopf. Mit Pferdestärken statt Pferden, dachte ich und musste kurz über meine eigene Albernheit grinsen. Plötzlich drehte der Wuschelhaarige den Kopf und sah sekundenlang zu uns herüber. Undeutlich nahm ich das Aufblitzen von hellen Augen wahr, die uns anstarrten. Beziehungsweise Pina. War ja klar, dachte ich verzagt. In diesem Augenblick traten Alex und Erik zu den dreien. Ich hörte nur dumpfes Gemurmel, konnte jedoch nicht verstehen, was sie sagten. Aber gleich darauf nickte der Wuschelhaarige und die zwei anderen Fahrer zuckten die Schultern. Alex und Erik gingen wieder zu den anderen aus der Schule.
Als der Dunkelhaarige etwas zu seinen Freunden sagte, wehten nur undeutliche Wortfetzen zu uns hinüber. Bestimmt kam er gleich rüber, um Pina mit einem Spruch zu beeindrucken. Stattdessen stülpte er sich jedoch seinen Helm wieder auf, und kurz darauf sprangen die Vespas knatternd an. In geschlossener Formation kurvten die Fahrer davon. Pina folgte dem Trio mit den Blicken, bis die Maschinen in der Ferne verschwunden waren.
»Hat dir einer von den Typen gefallen?«, fragte sie und sah mich prüfend an. Ich spürte, dass ich rot wurde, daher zuckte ich nur die Schultern. »Nö, wieso?«
»Na ja, ich dachte nur …« Sie zog eine Augenbraue hoch.
»Ich glaube, ich hab jetzt doch Bock auf Würstchen«, entschied ich und schüttelte meine Beine aus, die vom Sitzen etwas kribbelten.
»Ich auch«, sagte Pina und sah zum Grill. »Gehst du?«
»Hey, gerade wolltest du mir noch was mitbringen, vergessen?«
Pina grinste mit funkelnden Augen und ich ahnte, was jetzt kam. Prompt streckte sie mir ihre rechte, aufgestellte Faust hin und ich tat es ihr gleich.
»Schnick, schnack, schnuck«, sagten wir unisono und öffneten die Hände. Pina hielt den kleinen Finger ausgestreckt nach oben, während mein Zeigefinger gekrümmt war. »Ha! Du hast verloren: Stock erschlägt Schlange!«, rief Pina triumphierend.
»Mist!«, grummelte ich. »Noch mal!«
Beim zweiten Mal machte Pina das Zeichen für »Schlange«, während ich diesmal Zeigefinger und kleinen Finger gestreckt hielt, während die zwei mittleren Finger abgeknickt waren und auf dem Daumen auflagen, sodass es wie ein Hundekopf aussah. »Schlange beißt Hund«, stellte Pina trocken fest, »du hast zwei Mal hintereinander abgelost und musst Essen holen!«
»Immer ich«, murrte ich, aber in Wahrheit machte es mir nichts aus. Ich verlor regelmäßig gegen Pina bei unserem Schniekern mit selbsterfundenen Begriffen und Zeichen. »Schere, Stein, Papier kann jeder«, hatte Pina herablassend gesagt, als wir das erste Mal etwas ausknobeln wollten. Unter viel Gekicher und Diskussionen hatten wir uns schließlich auf Stock, Schlange, Hund geeinigt. »Es ist ganz einfach! Stock erschlägt Schlange. Schlange beißt Hund. Hund apportiert Stock«, hatte ich einmal in der Küche versucht, meiner Mutter unser System zu erklären. »Hauptsache, ihr zwei versteht es, mein Schatz«, hatte sie etwas zerstreut gelächelt und sich dann abgewandt. Aber ich war stolz gewesen, dass Pina sich ausgerechnet mich als Freundin ausgesucht hatte.
Daher trabte ich jetzt auch ohne Widerrede los. Bille, Leonie, Ina und die anderen lümmelten immer noch im Gras und Satzfetzen drangen zu mir herüber: »… finde ihn in dem Film einfach Wahnsinn. Hast du seine neue Frisur gesehen? Damit sieht er noch besser aus.«
»Ja, aber die Story ist scheiße. Und diese Dings, wie heißt die Schauspielerin noch mal, die mitspielt? Also die sieht inzwischen ja wohl voll fertig aus!«
»Angelina Jolie?«
»Nee! Mann, Bille, die hat doch dunkle Haare! Ich meine die Blonde …«
»Carey Mulligan?«, schlug ich im Näherkommen vor, weil gerade ein aktueller Film mit ihr im Kino lief.
Sechs erstaunte Augenpaare wandten sich mir zu. Schlagartig kam ich mir vor wie ein Eisbär in der Sahara – total fehl am Platz. Mir fiel nichts anderes ein, als noch hinzuzufügen: »Ich glaube, die zweite Runde am Grill ist fertig.«
Bille, die nach eigener Aussage vorhin kurz vorm Hungertod gestanden hatte, ließ nur kurz ein uninteressiertes »Hmm« ab und drehte sich weg. Ina ließ sich immerhin zu einem kurzen Lächeln in meine Richtung hinreißen, ehe Leonie ihr Gespräch nahtlos fortsetzte. »Also, ich will den Film auf alle Fälle bald sehen …«
Ich machte, dass ich zum Grill kam, auf dem Würstchen und Putenschnitzel brutzelten. Daneben stand ein Korb mit mehreren Baguettestangen. Jeder aus der Klasse hatte ein paar Euro in eine Sammelbüchse geworfen und dafür durften wir jetzt zugreifen. Diesmal war nichts verbrannt, aber Alex konnte sich einen blöden Spruch mal wieder nicht verkneifen. »Na, machst du eine Zucht für Hüftgold auf?«, fragte er und deutete auf den zweiten Teller, den ich für Pina in der Hand hielt. Flo und ein paar Jungs, die das mitbekamen, prusteten los. Ich beschloss, sie zu ignorieren, obwohl Alex’ Stichelei bei mir sehr wohl einen Nerv traf. Ich war nicht immer glücklich mit meiner Figur und beneidete Pina um ihre schlanke Taille und die langen Beine. Aber Alex haute nicht nur immer wieder fiese Sprüche raus, er war auch einer der besten Sportler an der Schule und außerdem unser Klassensprecher. Ich traute mich einfach nicht, ihm mal richtig die Meinung zu sagen. Damit stand ich allerdings nicht alleine, sogar die drei fremden Motorrollerfahrer waren ja vorhin ohne Widerrede abgehauen.
»Vergiss doch den Typen, der hat eine große Klappe, aber keinen Arsch in der Hose«, sagte Pina, als wir kurz darauf zusammen im Gras saßen und ich ihr von Alex’ dummem Spruch erzählte. Trotzdem hinterließen seine Worte einen bitteren Nachgeschmack. Ich umschlang meine Knie mit beiden Armen und starrte auf die schwarze, glatte Fläche des Sees. Unter meinen nackten Fußsohlen spürte ich kühl die kitzelnden Grashalme. »Hey, du lässt dir doch von so einem Idioten nicht die Laune verhageln, oder?«, fragte Pina und sah mich prüfend an. Ich schüttelte den Kopf und bemühte mich um ein Grinsen. »Ach was, sollen sie doch alle in der Hölle schmoren.«
Ich konnte ja nicht ahnen, auf welch schreckliche Weise meine Worte noch am gleichen Abend wahr werden sollten.
***
Als ich am nächsten Morgen das Klassenzimmer betrat, standen Bille, Leonie, Ina und noch ein paar andere dicht gedrängt um Erik. Leonie wischte sich über die Augen. Heulte sie etwa? Auch die Mienen der anderen verrieten, dass es um ein ernstes Thema ging. Ich überlegte eben, ob ich mich dazustellen sollte, als Siska reinkam und sich ohne Umstände zu den anderen gesellte. »Was ist denn los? Schreiben wir eine Ex oder warum guckt ihr so trübetümpelig?«, fragte sie munter. Schweigen breitete sich aus wie verlaufende, schwarze Tinte. Blicke wurden gewechselt, Füße scharrten über den Boden. »Hast du das mit Flo noch nicht gehört?«, fragte Ina schließlich dumpf.
»Was denn?«
»Gestern waren Alex, Flo und ich als Letzte am See und wollten noch ein bisschen aufräumen«, erzählte Erik. »Flo hat gesagt, er löscht den Grill. Wir hatten extra eine Flasche Wasser danebengestellt, aber in der Dunkelheit hat er wohl nicht richtig hingesehen …« Erik schluckte.
Mir war klar, dass etwas passiert sein musste, denn seine Stimme ließ etwas Dunkles, Schreckliches erahnen, das sich zäh und klebrig zwischen uns ausbreitete.
»Was ist passiert?«, fragte Siska beinahe flüsternd.
»Flo hat die Flasche mit dem Spiritus erwischt und das Zeug in die Glut geschüttet. Es … gab eine Stichflamme und … oh fuck!« Mit weit aufgerissenen Augen starrte Erik uns an. Bei der Erinnerung an das Bild konnte er nicht weitersprechen.
»Er hat im Reflex die Arme vors Gesicht gerissen«, ergänzte Leonie mit monotoner Stimme. »Das war sein Glück, aber seinen rechten Unterarm hat es wohl ziemlich übel erwischt.«
»Wir haben sofort den Notarzt gerufen, und die sind gleich mitsamt Polizei angerückt«, berichtete Chris.
»Wieso das denn?«, platzte ich heraus.
»Das ist bei Unfällen wohl Routine«, murmelte Alex. »Blöderweise haben die unseren Joint gefunden, und jetzt heißt es natürlich, der Unfall wäre aus Leichtsinn passiert.«
»Na ja, vielleicht war Flo tatsächlich bekifft und wollte einen Witz machen«, wagte ich einzuwerfen.
»Pfff, so ein Quatsch!«, fuhr Alex mich unfreundlich an. »Jeder von uns hat mal dran gezogen, aber Flo war doch nicht so weggetreten, dass er aus Jux Spiritus statt Wasser genommen und sich selber angezündet hat!«
»Es war einfach zu dunkel«, sagte Chris bestimmt. »Das hätte jedem von uns passieren können!«
Alle nickten, und dann gab es nichts weiter zu sagen. Ich dachte an Flo, der mit dick verbundenem Arm im Krankenhaus lag. Ob er wohl mit Medikamenten ruhiggestellt wurde, sodass er in einer Welt ohne Schmerzen, aber auch zeitlos ohne Tag und Nacht dahindämmerte, bis die Verbrennung einigermaßen verheilt war?
Stumm und bedrückt schlichen wir auf unsere Plätze und ich schlug mein Mathebuch auf. »Kausalzusammenhänge« las ich zerstreut. Unvermittelt musste ich an meinen Satz denken, Alex und die anderen sollten in der Hölle schmoren. Nun hatte es Florian erwischt. Wäre ich abergläubisch gewesen, dann hätte ich vielleicht geglaubt, mit meinen Worten wäre etwas Böses heraufbeschworen worden. Etwas, das sich auf Flo gestürzt hatte und schuld war an der tragischen Verwechslung von Wasser mit Spiritus, für die er nun mit einer Verbrennung zweiten Grades büßen musste. Aber vielleicht hätte ich doch eher dem Satz Glauben geschenkt, dass ein Unglück selten alleine kommt.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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