Techniken der Täuschung - Katharina Rein - E-Book

Techniken der Täuschung E-Book

Katharina Rein

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Beschreibung

Katharina Reins preisgekrönte kulturwissenschaftliche Dissertation widmet sich der Bühnenzauberkunst in ihrem "Goldenen Zeitalter" (ca. 1860–1900), das von wissenschaftlicher und technischer Innovation ebenso geprägt war wie von einer florierenden Medienkultur, den Umbrüchen der Industrialisierung oder den Erfahrungen von Globalisierung und Kolonialismus. Moderne Bühnenzauberei beansprucht keine übernatürliche Wirkung, vielmehr präsentiert sie technisch erzeugte Illusionen, deren Funktionsweisen sie allerdings verbirgt. Sie stellt damit eine spezifische Form des Mediengebrauchs dar, die mediale Effekte exzessiv ausstellt, während sie das dahinterstehende technische Geschehen zum Verschwinden bringt. Die Analyse von vier paradigmatischen Großillusionen ("Pepper's Ghost", "Vanishing-Lady"-, Levitations- und Telepathie-Illusion) eröffnet nicht nur schlaglichtartige Einblicke in die bislang weitgehend ungeschriebene Zaubergeschichte des späten 19. Jahrhunderts. Sie geben zugleich die Sicht frei auf einschneidende kulturelle Veränderungen und Innovationen, die in diese moderne, hoch technisierte Form von Magie Eingang fanden.

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Dr. phil. Katharina Rein studierte Kulturwissenschaft, Alte Geschichte und Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2013 bis 2020 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) an der Bauhaus-Universität Weimar. In der Vergangenheit war sie Lehrbeauftragte am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, Mitglied im interna­tio­nalen, interdisziplinären Forschungsprojekt »Les Arts Trompeurs. Machines, Magie, Médias« (Paris, 2015–2018) sowie Redaktionsmitglied der Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (2014–2015). Im Rahmen ihres Promotionsprojekts absolvierte sie Forschungsaufenthalte in London, Paris, New York City und Washing­ton, DC, zum Teil als Stipendiatin der Max Weber Stiftung. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten sind in vier Sprachen erschienen.

Im Dezember 2018 wurde ihr von einer Jury der Büchner-Jubiläumspreis für Nachwuchswissenschaftler_innen verliehen.

Katharina Rein

Techniken der Täuschung

Eine Kultur- und Mediengeschichte der Bühnenzauberkunst im späten neunzehnten Jahrhundert

Besuchen Sie uns im Internet: www.buechner-verlag.de

ISBN (Print) 978-3-96317-204-5

ISBN (ePDF) 978-3-96317-727-9

ISBN (ePUB) 978-3-96317-728-6

Copyright © 2020 Büchner-Verlag eG, Marburg

Zugl.: Univ. Diss., Humboldt-Universität Berlin 2019

Umschlaggestaltung: DeinSatz Marburg | tn

Bildnachweis Umschlag: Historische Darstellung der Illusion »Pepper's Ghost«

Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Inhalt

Danksagung

Einleitung

Techniken der Täuschung

Magie

Illusionen, Tricks, Zauberei

Willing suspension of disbelief

Technisierte Bühnenzauberkunst

Eine Magie weißer Männer

Medieneffekte und Medienreflexion

Die Zauberbühne als Dispositiv – Untersuchungsgegenstand und -zeitraum

Inhalt und Gliederung

Quellen, Literatur und Archive

»Trick« und »Wahrheit«

1 Gespenster der Aufklärung. Phantasmagorie

1.1 »Je vous ai offert des spectres«

1.1.1 Georg Schröpfer (1738–1774)

1.1.2 Paul Philidor (17??–1829)

1.1.3 Robertson (1763–1837)

1.2 Jules Vernes Karpathenschloss

1.3 »Gespenster alias Medien«

1.4 Wissen und Illusion

1.4.1 »Je sais bien, mais quand même«

1.4.2 Zweite Welten und Illusionen der anderen

1.5 Aufgeklärte Geisterseherei

2 Erscheinen und Verschwinden. Spiegelillusionen

2.1 Wissenskulturen

2.2 »It’s all done with mirrors«

2.2.1 The Royal Polytechnic Institution

2.2.2 »Pepper’s Ghost«

2.2.3 Schwarzes Theater

2.2.4 »The Sphinx«

2.2.5 Verschwindekabinette

2.3 Virtuelle Gespenster

2.3.1 Glas

2.3.2 Photographie

2.3.3 Halluzinogene Medientechniken

2.4 Through the Looking Glass

3 Die Krümmung von Raum und Zeit. Verschwinden

3.1 Magisches Verschwinden

3.1.1 »Die Verschwindende Dame«

3.1.2 Wiedererscheinen

3.1.3 Das Verschwinden überschüssiger Frauen

3.2 Verschwindender Raum

3.2.1 Post

3.2.2 Transport

3.2.3 Topologie

3.3Teleportationen

Exkurs: Zauberkunst und früher Film

Georges Méliès (1861–1938)

Das Théâtre Robert-Houdin

Magie im bewegten Bild

Spezialeffekte

Méliès lässt verschwinden

Leinwandmagie

4 Techniken der Schwerelosigkeit. Levitation

4.1 Zauberkunst und Spiritismus

4.2 Schweben in der Bühnenzauberkunst

4.2.1 Robert-Houdins »Suspension éthéréenne«

4.2.2 Von der Suspension zur Levitation

4.2.3 »Technology turned into poetry« – Maskelynes Levitation

4.2.4 Kellars »Levitation of Princess Karnac«

4.3 Techniken der Schwerelosigkeit

5 Codes und Signale. Mentalmagie

5.1 Sprachliche Codes

5.1.1 Robert-Houdins »La seconde vue«

5.1.2 »Say what is this. Now quickly.« – Robert Heller (1826–1878)

5.2 Stumme Variationen

5.2.1 Telegraphie

5.2.2 Telefonie

5.3 Signale aus dem Äther

5.3.1 Funkübertragungen aus dem Jenseits

5.3.2 Drahtlose Gedankenübertragung

5.4 Magische Übertragungen

Exkurs: Magie und Medien um 1900. The Prestige

Übertragungen

Elektrifizierung von Leben und Tod

Tesla

Konservierungstechniken

Doppelgänger

Schlussbetrachtungen

Zauberkunst im späten 19. Jahrhundert

Ausblick: Zauberkunst im frühen 20. Jahrhundert

»Den Drang nach Wahrheit und die Lust am Trug«

Bibliographie

Filmographie

Personenregister

Stichwortregister

Ergänzende Quellenangaben

Bildteil

Anmerkungen

Für Peter Schuster

(31. Juli 1934 – 7. September 2018)

Danksagung

Every universe, our own included, begins in conversation.1

Mein herzlichster Dank geht an die Betreuer dieser Dissertation, Thomas Macho und Bernhard Siegert, für ihre ansteckende Begeisterungsfähigkeit, ihre jahrelange freundschaftliche und professionelle Unterstützung in allen Belangen, für intensive, ebenso anregende wie kritische Gespräche sowie für das große Vertrauen, das beide mir entgegengebracht haben. Konstruktive Kritik und wertvolle Empfehlungen verdanke ich auch den Mitgliedern von Thomas Machos und Iris Därmanns Forschungskolloquium an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie den Mitarbeiter_innen der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar, die meine Arbeit im Institutskolloquium diskutiert haben.

Eine Anzahl von Kolleg_innen aus diversen wissenschaftlichen Disziplinen in Europa und Nordamerika half mir über die Jahre, meine Gedankengänge zu prüfen, zu formen und zu schärfen. Dabei gilt mein Dank allen voran Frank Kessler, der sich großzügigerweise intensiv mit meiner Arbeit auseinandergesetzt hat und der neben Ermutigung auch wertvolle Herausforderungen und eine Vielzahl unschätzbarer Anmerkungen beisteuerte. Meiner langjährigen Freundin Yuliya Grin danke ich für ein qua Fachfremdheit umso passionierteres Eintauchen in meine Gedankenwelt und für unermüdliche Unterstützung in jeder erdenklichen Hinsicht. Für lange, intensive und kreative Gespräche zum Illusionismus auf beiden Seiten des Atlantiks danke ich herzlich Alice Christensen. Orientierungshilfe und konzeptionelle Hilfestellung, besonders in der Anfangsphase, verdanke ich Harun Maye. Luce Délire möchte ich von Herzen für diverse lange Diskussionen und gemeinsame Analysen danken. Für weitere Korrekturen, konstruktive Anmerkungen und ermunternde Worte sei besonders Moritz Hiller und Anna Grebe gedankt, deren Feedback mir in der Abschlussphase ein wichtiger Spiegel war. Für ihre ungebrochene professionelle und persönliche Unterstützung sowie für wertvolle fachliche Hinweise geht mein Dank außerdem an Erkki Huhtamo, Matthew Solomon, Eyal Weizman und Avital Ronell. Ich danke außerdem einer Reihe weiterer Impuls- und Ideengeber_innen, die mich im Laufe der letzten Jahre beraten, kritisiert und ermuntert und meinen Gedanken Anstöße gegeben haben: Christian Kassung, Iris Därmann, Petra Löffler, Brigitte Weingart, Gabriele Schabacher, Holger Brohm, Eva Krivanec, Mireille Berton, Giusy Pisano, Martin Laliberté, Orit Halpern, Noam Elcott, Jacques Malthête, Elie During und Tom Levin. Ob im Büro, bei einem Spaziergang, bei einer Tasse Kaffee, bei einem Abendessen oder bei einem Glas Wein – ohne den Austausch mit meinen akademischen Mitstreiter_innen wäre diese Arbeit um viele Ideen ärmer.

Sie wäre überhaupt nicht entstanden ohne den Zugang zu diversen Archiven, Bibliotheken und Forschungseinrichtungen in Europa und den USA, in denen ich im Laufe von fünf Forschungsaufenthalten eine Reihe von Primär- und Sekundärquellen konsultieren konnte. Mein Dank gilt dem Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie der Bauhaus-Universität Weimar, insbesondere den Direktoren Lorenz Engell und Bernhard Siegert, die meine Arbeit uneingeschränkt unterstützt haben. Für die Förderung meiner Forschungsreisen bin ich außerdem der Max Weber Stiftung und der Humboldt-Universität zu Berlin dankbar, ebenso dem Gleichstellungsbüro der Bauhaus-Universität Weimar.

Zaubervereinigungen in vier Ländern empfingen mich in ihren Räumen und unterstützten mich großzügig bei meinen Recherchen. Dem Magic Circle bin ich zu Dank verpflichtet für den Zugang zur Bibliothek, zum Museum und zum Archiv in London. Insbesondere danke ich Peter Lane, Bob Loomis und David Hibbert für ihre Hilfsbereitschaft, für anregende Gespräche, unschätzbare weiterführende Hinweise sowie für ihre angenehme und aufmunternde Gesellschaft. Charles Harrowell und Richard Temple sei für ihren Enthusiasmus und ihre uneingeschränkte Unterstützung während meiner Arbeit in der Harry Price Library of Magical Literature in London gedankt. Ebenso dankbar bin ich für die Recherchemöglichkeit in der Theatersammlung des Victoria & Albert Museum. In Paris stellte mir dankenswerterweise die Fédération française des artistes prestidigitateurs Teile ihres Bibliotheksbestands zur Verfügung. Auch dem Conservatoire national des arts et métiers sei für die Unterstützung bei meinen Recherchen gedankt. Im New Yorker Conjuring Arts Research Center (CARC) war mir neben Bill Kalush besonders die damalige Hauptbibliothekarin Jennifer Spota eine große Hilfe. Mein besonderer Dank gilt zudem Dave Roth für seine Offenheit und umfassende Hilfsbereitschaft sowie diverse Hinweise zur New Yorker Zaubergeschichte während meiner Besuche im CARC. Eric Fraziers kompetenter Unterstützung verdanke ich die effiziente Arbeit am Nachlass Harry Houdinis während meines kurzen Aufenthalts in der Library of Congress in Washington, D.C. Nicht zuletzt danke ich Vyki Sparkes für eine Begegnung mit John Nevil Maskelynes »Psycho« im Depot des Museum of London sowie für ihre Aufgeschlossenheit gegenüber dem Auffinden der vormals vor der Egyptian Hall positionierten Statuen.

Peter Schuster (†), dem ehemaligen Vorsitzenden des Magischen Zirkels Berlin (MZB), verdanke ich eine Menge an Material, eine Anzahl inspirierender Gespräche, eine stets offene Tür im MZB sowie die Einführung in deutschsprachige magische Kreise. Einer Anzahl internationaler Zauberkünstler_innen und -historiker_innen verdanke ich unschätzbare Einblicke in die praktische Seite der Kunst und eine Teilhabe an ihrer Expertise in Form wertvoller Hinweise, die in meine Arbeit eingeflossen sind. Für die freundschaftliche Unterstützung, für magische Tage und Abende und ebenso konstruktive wie angenehme Konversationen innerhalb wie außerhalb professioneller Rahmen danke ich deshalb Markus Laymann, Joe Culpepper, Magic Christian, Will Houstoun, Thomas Fraps, Ulrich Rausch und Steffen Taut. Für ihre Gastfreundschaft in Peekskill, NY, einen angenehmen Abend und einen mitreißenden Einblick in ihr Schaffen danke ich Margaret Steele. Julia Henderson sei für die Vermittlung sowie für ihre Offenheit gegenüber einem spontanen »Blind Date« in Vancouver, BC, gedankt.

Gänzlich inexistent wäre diese Arbeit wohl ohne die Unterstützung meiner Freund_innen. Für Beiträge in unterschiedlichster Form danke ich deshalb von Herzen Karoline Hietzschold, Thomas Groh, Frank Cifarelli, Irene Wöstemeyer, Katerina Krtilova, Tarini Awatramani, Paul Burggraf, Mladen Gladić, Katharina Herbst, Sabrina Finger und Shana Ryan. Für inhaltliche Anregungen danke ich außerdem Susanne Jany und Stefan Lätzer.

Zwei unverhoffte Begegnungen mit Filmschaffenden, die sich für meine Arbeit begeisterten, führten zu ebenso erfreulichen wie anregenden Gesprächen zu Zauberkunst und zu Hinweisen, die sich in meiner Arbeit niedergeschlagen haben. Mein Dank gilt deshalb auch Christoph Waltz für eine angenehme Konversation zu Zauberkunst, Theater und Spezialeffekten bei einem Spaziergang sowie Jenny Quinn für ihren Input zu Magie.

Einleitung

›I have been making believe.‹

Lyman Frank Baums im Jahre 1900 veröffentlichtes Buch The Wonderful Wizard of Oz beschreibt die Reise Dorothys in ein fantastisches Land. Ein Wirbelsturm befördert sie und ihren Hund Toto aus dem, in Victor Flemings berühmter Filmadaption von 1939in Sepiatönen gehaltenen, ruralen Kansas in die in satten Technicolor-Farben erstrahlende Märchenwelt Oz. Ihr Bestreben, zu ihrer Familie zurückzukehren, führt Dorothy zum berühmten Zauberer von Oz, der ihr die Heimkehr ermöglichen soll. Unterwegs zu dessen viel gelobter Smaragdstadt findet sie Freunde, die ebenfalls mit ihren Wünschen an den Zauberer herantreten möchten: eine Vogelscheuche, deren Stroh im Kopf durch ein Gehirn ersetzt werden soll, ein Blechmann – eine Art Holzfällerroboter –, dem ein Herz in seiner Brust fehlt, und ein Löwe, der den Zauberer um mehr Mut bitten möchte.

Nach ihrer Ankunft in Oz entpuppt sich der berühmte wizard als Illusionist und sein Thronsaal als ein multimediales Theater. Den Bittstellenden erscheint er nacheinander in jeweils verschiedenen Gestalten: als übergroßer Kopf mit grollender Stimme, gesäumt von aufsteigenden Flammen und Rauch, als attraktive junge Frau, als monströses Untier und als schwebender Feuerball.2 Diese Erscheinungen, die ebenso gut aus Robertsons phantasmagorischem Repertoire von Laternbildern stammen könnten, beauftragen die Abenteurer jeweils mit der Beseitigung der bösen Hexe, bevor ihren Wünschen entsprochen werden soll. Als die vier Freunde nach getaner Arbeit zurückkehren, empfängt sie der Zauberer in Gestalt einer körperlosen Stimme, die sie qua ihrer akusmatischen Auto­rität zu vertrösten versucht.3 Die einzige Figur, die nicht unter den Bann dieser Stimme fällt, Dorothys Hund Toto, stößt etwas abseits eine Trennwand um – im englischen Original steht hier mit screen ein Wort, das ebenso eine (Film-)Leinwand bezeichnet und das im Oxford English Dictionary erstmals im Zusammenhang mit Phantasmagorien auftaucht.4 Hinter dieser kommt der wahre Zauberer von Oz zum Vorschein, ein Mann, der seine spektakuläre Illusion schließlich als ebensolche offenbart: »I have been making believe.»5 Der Zauberkünstler gerät sofort unter Betrugsverdacht und wird von Dorothy und ihren Freunden als Schwindler und sogar als »a very bad man«6 verurteilt, worauf er erwidert: »No, I’m a very good man, I’m just a very bad wizard.«7 In Oz, einem Land, in dem Hexen, fliegende Affen und blecherne Holzfäller verkehren, ist der Jahrmarktzauberer, als der sich der Herrscher von Oz entpuppt, nur ein zu demaskierender Schwindler, ein humbug, um den von P.T. Barnum popularisierten Begriff zu gebrauchen.8 Dessen Entlarvung kann hier nur durch Außenstehende erfolgen, nämlich Dorothy und Toto, die, wie der Zauberer selbst, aus einer Welt stammen, in der es keine fantastischen Wesen mit magischen Kräften gibt, dafür aber Jahrmarktzauberer.

Techniken der Täuschung

Diese Arbeit – eine Zaubergeschichte nicht aus Zaubererhand – offenbart Zauberkunst als ein selbstreferenzielles Spiel mit Entlarvungen. Ist die Geheimhaltung der Methoden und Funktionsweisen von Illusionen wesentlicher Bestandteil zauberkünstlerischer Praktiken, so stellt diese Untersuchung heraus, dass Zauberkunst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Verhältnis zwischen Zeigen und Verbergen selbstreferenziell zur Darstellung bringt. Das tut sie nicht nur durch Verweise auf Geheimwissen und Zaubermethoden, sondern auch indirekt, weil Bühnenillusionen im Wesentlichen auf das Verbergen der für sie verantwortlichen Techniken und Praktiken angewiesen sind. Beides hängt unmittelbar miteinander zusammen. Die größte und zugleich tabuisierte Waffe der Zauberkünstler ist daher die Offenlegung illusionistischer Methoden. Im späten 19. Jahrhundert wurde sie vor allem auch auf den modernen Spiritismus gerichtet, der sich ähnlicher Praktiken bediente wie die Zauberkunst. Auch wenn dieser Band das Verfahren der Aufdeckung als Strategie thematisiert, versucht er doch, konkrete Methoden nur insofern offenzulegen, als es dem Erkenntnisinteresse dient.9

Am Beginn dieser Untersuchung, die sich der Kultur- und Mediengeschichte der Bühnenzauberkunst widmet, stand die Beobachtung, dass deren Entstehung in eine Zeit fällt, in der sich in westlichen Kulturen die Moderne konstituierte, einschließlich ihrer Technik, Urbanisierung, Medien, Industrie, Globalisierung, Wissenschaft usw. Zwischen etwa 1850 und 1920 – und unter anderem deshalb wird diese Phase von Zauberhistoriker_innen als Blütezeit der Zauberei bezeichnet – entstanden nämlich alle Großillusionen (ihrem Prinzip nach), die wir heute noch in Variationen auf Zauberbühnen sehen können. Die auf den ersten Blick paradox scheinende Gleichzeitigkeit von Modernisierung und Zauberkunst wird in bereits vorhandenen Auseinandersetzungen unter anderem mit der Sehnsucht nach einer Wiederverzauberung der Welt erklärt. Säkularisierung und Wissenschaft, so lautet dieses Narrativ, verdrängten den Glauben und schufen eine Leerstelle, die durch illusionistische Unterhaltungskultur gefüllt worden sei. Andere Zugänge suchen nach psychologischen oder psychoanalytischen Erklärungen für die Attraktivität der Zauberkunst10 – sie werden hier referenziert, allerdings war eine psychologische Studie nicht mein Anliegen. Eine Reihe von Untersuchungen nähert sich der Zauberkunst aus einer filmhistorischen Perspektive, aus der sie in einer mehr oder minder teleologischen Darstellung als Vorgängerin der Kinematographie – und insbesondere filmischer Spezial­effekte – erscheint.11 Diese Geschichte konnte ich aus dem Blickwinkel der Zauberkunst modifizieren ebenso wie das Feld der bisher vorliegenden methodischen Zugänge um einen Ansatz ergänzen.

Insgesamt liegen zur Zauberkunst – trotz ihrer dominanten Rolle in der Unterhaltungskultur und im Unterschied zu anderen darstellenden Künsten in dieser Zeit – kaum wissenschaftliche Arbeiten vor. Das mag einerseits daran liegen, dass die Zauberei unter den Kunstformen kein besonders hohes Ansehen genießt; andererseits daran, dass Zauberkünstler ihre Methoden gern unter Verschluss halten. Besonders im deutschen Sprachraum ist Zauberkunst bislang kaum erforscht, obschon eine Reihe an Schriften zum 18. und frühen 19. Jahrhundert vorliegt.12 Dieser Band zielt auf die Schließung dieser Forschungslücke. Mir war es ein Anliegen, Zauberei als eigenständige Kunstform ernst zu nehmen und weiteres zum Gegenstand einer historischen Analyse zu machen. Ein ebensolches war, sie weder als Teil einer illusionistischen Vorgeschichte des Films zu lesen, noch als eine Art imaginierte Rückkehr zu einer vorwissenschaftlichen, magischen Welt. Vielmehr habe ich versucht, die Bühnenzauberkunst des späten 19. Jahrhunderts als integralen Bestandteil ihres kulturellen Kontexts zu begreifen. Aus dieser Perspektive zeigt sich, dass das hohe Ausmaß an Rationalisierung und Technisierung nicht in Opposition zur magischen Vorstellungswelt steht, die sie bedient, sondern sich im Gegenteil als Möglichkeitsbedingungder Bühnenzauberkunst erweist. Sie steht nicht im Konflikt mit den technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen ihrer Zeit, sondern ist deren Produkt und reflektiert das auch.

Dieser Band untersucht schlaglichtartig vier paradigmatische Großillusionen: »Pepper’s Ghost«, den ersten Bühneneffekt mit einer großen Glasplatte – den archetypischen Spiegeltrick; die »Verschwindende Dame«, die den Vorgang einer Teleportation inszeniert – sie fällt in eine Zeit, in der unter anderem durch die Mechanisierung des Transports neue und als desorientierend wahrgenommene Formen der Beschleunigung entstehen; die Levitation, die Schwerelosigkeit mithilfe einer ausgedehnten stählernen Bühnenmaschinerie nach neuestem Stand der Technik simuliert; und »Second Sight«, einer Telepathie-Illusion unter Einsatz hochmoderner Kommunikationstechnologien. Gerahmt und ergänzt werden die close readings dieser Illusionen (beziehungsweise in einigen Fällen mehrerer Variationen) durch drei Abschnitte zu visuellen Medien: Ein Kapitel zur Phantasmagorie um 1800, einer Vorgängerillusion der Bühnenzauberkunst, die mit Jules Vernes Roman Das Karpathenschloss (1892) kurzgeschlossen wird; ein Exkurs zu frühem Film als zauberkünstlerischem Betätigungsfeld, insbesondere zum Schaffen Georges Méliès’; und ein weiterer zu Christopher Nolans Spielfilm The Prestige (USA 2006), in dem diverse Motive und Topoi um die Zauberkunst des späten 19. Jahrhunderts zusammenlaufen. Anhand dieser Analysen offenbart sich Bühnenzauberkunst als eine ambitionierte, hochgradig technisierte Unterhaltungsform, die einen prominenten, aber in der Forschung bisher kaum beachteten Platz in der Unterhaltungskultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einnahm und die ebenso in Wechselwirkung mit Rationalismus, Wissenschaft und Industrialisierung steht wie mit Spiritismus und Magie.

Um Techniken der Täuschung handelt es sich dabei im mehrfachen Sinn, nämlich 1) um Techniken im Sinne von Technologien sowie Geräten, Werkzeugen oder Apparaten, mit deren Hilfe Menschen sich ihre Außenwelt erschließen und mit der sie selbstverständlich in einem Wechselwirkungsverhältnis stehen. Zugleich haben wir es 2) mit Körpertechniken im Sinne von Marcel Mauss zu tun. Mauss versteht darunter solche Techniken – nämlich »traditionelle, wirksame Handlung[en]«13 –, die durch Mimesis und Erziehung erlernt werden und dazu dienen, »den Körper seinem Gebrauch anzupassen.«14 Zauberkunst ist eine ebensolche tradierte Technik, die nicht nur entsprechende Handfertigkeit einschließt, sondern auch andere physische und mentale Fähigkeiten wie beispielsweise Mobilität (insbesondere für das Entkommen aus bzw. Hineinschlüpfen in Behältnisse – sprich: Eskapologie bzw. Enterologie) oder Gedächtnisleistungen (insbesondere im Mentalismus). Und 3) lässt sich hier zum Teil auch von Kultur­techniken reden, nämlich, nach der Definition Thomas Machos und Christian Kassungs, solchen Techniken, »mit deren Hilfe [...] symbolische Arbeit verrichtet wird«, die »der Möglichkeit nach selbstreferentiell« sowie kontextneutral sind und die »Medien brauchen und generieren«15. Zwar wird Zauberkunst nicht selbst als Kulturtechnik adressiert, allerdings ist sie auf diverse Kulturtechniken angewiesen. Angemerkt sei ferner, dass der Begriff Täuschung im Titel dieses Bandes nicht abwertend benutzt wird – haftet ihm doch häufig ein Beigeschmack des Betrugs an sowie der Zauberei die Assoziation krimineller Handlungen, insbesondere von Taschendiebstahl und Falschspielerei. Täuschung wird hier im positiven Sinn von Illusion gebraucht und bezieht sich u.a. auf die medieninhärente Produktion von Illusionen, Fiktionen und Simulationen.16

Magie

Die Verbindung der Magie zur Religion zeigt bereits die Etymologie: Der Begriff geht auf »imga«, die akkadische Bezeichnung für Angehörige der Priesterklasse, zurück. Diese wurde über die assyrische Umwandlung zu maga und zum griechischen magos (μάγος), beziehungsweise latinisiert zu magus.17 Zeitgleich zur Blüte moderner Zauberkunst haben Kulturanthro­pologen von Émile Durkheim über Bronisław Malinowski zu Marcel Mauss Magie als weltliches, sich in Geheimnis hüllendes Gegenstück zur Religion konstruiert.18 Die ältesten Belege für in religiösen Zusammenhängen dargebotene Vorführungen, die heute als Zauberkunststücke angesehen würden, stammen aus Ägypten und Mesopotamien. Antike Schriftquellen schildern optische, akustische und mechanische Apparate zur Herstellung von »wonders bordering the supernatural«19. Diese reichen von den von Heron von Alexandria beschriebenen Maschinen, pneumatischen Vorrichtungen zum automatischen Öffnen von Tempeltüren über Geistererscheinungen mithilfe von Spiegelprojektionen zu akustischen Effekten, die Götterstatuen lachen ließen.20 Solche Demonstrationen des Wunderbaren dienten nicht zuletzt der Etablierung und Konsolidierung von Macht, beispielsweise fungiert das Stabwunder im Alten Testament als Beweis der Authentizität Aarons als Prophet Gottes.21 Magie in diesem Sinne referenziert, im Unterschied zur Zauberkunst, ein Heiliges, ein abwesendes Anderes in Form einer oder mehrerer Gottheiten oder anderer übernatürlicher Wesen.22

Marcel Mauss versteht Magie als Zusammenspiel von Handelnden (Magier), Handlungen (Riten) und Vorstellungen (diesen zugrunde liegende Überzeugungen).23 Als kollektives Phänomen fußt sie auf einem konsensuellen Glauben, der aus einem gesellschaftlichen Bedürfnis entsteht.24 Der Magier25 betrügt, Mauss zufolge, sein Publikum nicht, sondern erfüllt dessen Erwartung: »Ein kollektiver seelischer Zustand bewirkt, daß die Magie sich behauptet und in ihren Folgen bewahrheitet, ohne daß sie aufhört, selbst für den Magier geheimnisvoll zu sein.«26 Indem er aufrichtig seine Rolle als Magier einnimmt, »düpiert« er »sich selbst, wie der Schauspieler, der vergißt, daß er eine Rolle spielt.«27 Er ist deshalb »nicht als Individuum [zu] begreifen, das aus Interesse handelt, […], sondern als eine Art Funktionär, der von der Gesellschaft mit einer Autorität ausgestattet ist, an die er selbst zu glauben gebunden ist«.28 Der Magier ist also qua seiner gesellschaftlichen Rolle gezwungen, in dem Maß an die eigene Magie zu glauben, wie die Gemeinschaft an sie glaubt. Sein Glaube reflektiert den Glauben seines Publikums. Seine Performance ist der magische Ritus, dessen Form tradiert und »durch die allgemeine Meinung sanktioniert«29 wird. Rituale versteht Mauss als »traditionelle Handlungen von einer Wirksamkeit sui generis.«30 Sie sind zeitlich begrenzte Unterbrechungen des Gewohnten, zu dem sie eine Differenz erzeugen.31 Deshalb finden Rituale nicht nur an besonderen (vorzugsweise Schwellen-)Orten statt, sondern auch zu besonderen Zeiten: Sie beziehen sich auf die symbolische Zeit und unterliegen einer Zeitlichkeit der Wiederholung.32 Als nicht nur symbolische, sondern auch materielle Praktiken gebrauchen sie »Requisiten, Instrumente und Körper«.33 Rituale seien darin begründet, schreibt Robert Pfaller unter Rückgriff auf James Frazer, dass »die Magie – genau wie die Wissenschaft« davon ausgehe, »dass gleiche Ursachen immer gleiche Wirkungen hervorbringen werden.«34 Sie bedürften zumeist auch der Partizipation des Publikums, das wiederum bestimmte Vorstellungen und Ideen an das Ritual koppelt, deren Minimum »die Vorstellung seiner Wirkung« ist.35

Zu Unterhaltungszwecken vorgeführte Zauberkunst, wie sie in diesem Band untersucht wird, versteht sich generell als frei vom Anspruch auf eine übernatürliche Wirkung, wie ihn magische Rituale erheben. Sie ist allerdings auch nicht gänzlich von ritueller Magie verschieden. In Mauss’ Vorstellung vom Magier als »Schauspieler, der vergißt, daß er eine Rolle spielt«,36 hallt das viel zitierte Diktum des Modernisierers der Zauberkunst Jean Eugène Robert-Houdin (1805–1871)37 nach, ein Zauberer sei ein Schauspieler, der die Rolle eines Zauberers spiele.38 Während der Mauss’sche Schauspieler, der zum Zauberer wird, nichtsdestotrotz die soziale Funktion des Magiers erfüllt, spielt Robert-Houdins Schauspieler, der sich seines Schauspielens bewusst bleibt, diesen Magier im Rahmen einer Unterhaltungskultur. Seine Performance kann deshalb ironisch gebrochen sein, weil er vor einem Publikum auftritt, von dem generell anzunehmen ist, dass es ihm keine übernatürlichen Kräfte unterstellt. In diesem Sinne lässt sich Zauberkunst als Unterhaltungsform auffassen, die sich als Ritual verkleidet.39

Illusionen, Tricks, Zauberei

Auf die Problematik des Wortes Trick haben bereits Nevil Maskelyne und David Devant 1911 hingewiesen. In Our Magic schreiben sie, der Begriff sei nicht nur zu weit gefasst, »applicable to almost anything related to magic, apart from either rhyme or reason«40, er stütze zudem eine Misskonzeption der Zauberkunst: »The public has become educated in the belief that magic consists in the doing of ›tricks‹, and in nothing beyond that (presumably) trivial end.«41 Stattdessen schlagen sie die Bezeichnung experiment vor, während trick in Bezug auf »the means whereby a certain end is attained or promoted«42, zu verwenden sei – eine für den Legitimationsanspruch der Autoren bezeichnende Terminologie. Sie positionieren sich damit nicht nur in der Tradition Robert-Houdins, der in seinen Schriften ebenfalls von Experimenten spricht, sondern (wie dieser) auch in der Tradition öffentlicher Experimentatoren des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Zugleich suggeriert die Bezeichnung dezidiert keine Täuschung, sondern eine wissenschaftlich fundierte Operation mit objektivierendem Beweischarakter, dienen Experimente doch der empirischen Generierung von Wissen.

Geläufiger ist der Begriff Illusion, für den Bart Whaley in seinem Encyclopedic Dictionary of Magic drei mögliche, unterschiedlich weit gefasste Bedeutungen benennt: Im weitesten Sinne bezeichnet illusion »any effect perceived deceptively by the audience; a trick; a delusion.«43 Im engeren Sinn sei damit jeder Bühneneffekt gemeint, der mit dem Betrachtungsabstand in einem Theatersaal gut sichtbar sei, was maßgeblich durch die Größe der verwendeten Requisiten sichergestellt werde. Die meisten Effekte mit kleinen, schlecht sichtbaren Apparaten und Requisiten wie Spielkarten, Münzen, Zigaretten oder Fingerhüten fallen aus dieser Kategorie heraus – und stattdessen in diejenige der Close-up-Zauberkunst. Die dritte und engste Bedeutung des Begriffs bezeichnet Großillusionen (grand illusions), womit im Besonderen solche Effekte gemeint sind, die Menschen oder (andere) große Lebewesen mit umfänglichen Apparaten verbinden. So verwenden ihn beispielsweise auch zwei der einflussreichsten Zauberkünstler des 20. Jahrhunderts: David Devant schreibt in My Magic Life: »When a conjurer talks about an illusion he means a magical effect produced with a human being, or an animal, or some large object«44 und Milbourne Christopher in The Illustrated History of Magic: »All magic is illusion, but illusion among conjurers is a term applied to feats with human beings, large animals, or sizable pieces of apparatus.«45 Großillusio­nen erweisen sich als paradigmatisches Format der technisierten Zauberkunst der Moderne – sie werden den Sichtbedigungen von Theatersälen gerecht und nutzen die Möglichkeiten, die Letztere bieten, einschließlich künstlichen Lichts, mechanischer Bühnenarrangements usw.

Eine Definition von Illusion im allgemeineren Verständnis dieses Begriffs (auch außerhalb von Bühnendarbietungen) zu formulieren, ist eine Schwierigkeit, die bereits andere beobachtet haben. So weist der Psychologe und Neurowissenschaftler Richard Gregory auf die Problematik hin, die auftritt, wenn Illusion in Abgrenzung von Realität definiert wird:

The word ›illusion‹ is hard to define. Any suggested definition is likely too specific or too general. But a general definition is not necessary. [...] We cannot define illusions for example as ›departures from reality‹ without agreement on the far-too-general question: What is reality? It is fortunate that agreement over such very general questions is not needed for classifications to be useful for the Natural Sciences, or for the Unnatural Science of illusions.46

Eine etwas andere Begründung für dieses Definitionsproblem adressiert Ernst Gombrich in Art and Illusion, wenn er schreibt: »Illusion, we will find, is hard to describe or analyze, for though we may be intellectually aware of the fact that any given experience must be an illusion, we cannot, strictly speaking, watch ourselves having an illusion.«47 Gombrich schlägt, unter Rückgriff auf Karl Popper, sogar vor, gänzlich auf die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Illusion zu verzichten, da sich zwischen ihnen keine klare Grenze ziehen lasse. Zwar versuche Wahrnehmung, schädigende Illusionen auszuschließen, ihr häufiges Scheitern offenbare sich aber beispielsweise an illusionistischen Kunstwerken.48 Eine wahrnehmungsphilosophische Diskussion von Realität, Wahrnehmung und Illusion ist nicht das Anliegen dieses Bandes. Ein konkreteres Konzept der Art von Illusion, die im Zusammenhang mit Zauberkunst relevant ist, entfaltet sich in den folgenden Kapiteln.

In Modern Enchantments definiert Simon During secular magic als »the technically produced magic of conjuring shows and special effects […], which stakes no serious claim to contact with the supernatural«49. Diese Form von Zauberkunst prägte die Kultur der Moderne ab dem Zeitpunkt ihrer Kommerzialisierung in vielerlei Hinsicht, unter anderem im Hinblick auf ihre Wahrnehmung von Illusionen als Illusionen.50 During beobachtet ab etwa 1850 das Aufkommen einer Form von Magie, die er von supernatural oder real magic unterscheidet, also solcher Magie, die in religiösen und rituellen Kontexten und überall da praktiziert wird, wo an ihre Wirksamkeit geglaubt wird. Die moderne, säkulare Magie sei dagegen eine »self-consciously illusory magic, carrying a long history, organized around a still-beleaguered lightness or triviality, which it also massively exceeds.«51

Es wäre ein Leichtes, Durings Begriff zu übernehmen und die zu Unterhaltungszwecken praktizierte Zauberkunst ab 1850 ohne Anspruch auf magische Wirkung, wie ihn beispielsweise Rituale, Heilzauber oder schamanistische Praktiken erheben, zum Gegenstand dieser Untersuchung zu erklären. Zwar identifizieren sich ihre Protagonisten – insbesondere in ihrer Opposition zum modernen Spiritismus – als rationale Aufklärer, Wissenschaftler oder Ingenieure, aber es darf nicht vergessen werden, dass es sich bei solchen Selbstzuschreibungen vorranging um Marketingstrategien handelt. Bei näherem Blick auf das tatsächliche Bühnengeschehen zeigt sich, dass säkulare Magie mit der Möglichkeit realer Magie kokettiert, indem sie ihre Praktiken auf okkultistische und spiritistische Rituale referieren oder gar diese imitieren lässt. Das betont auch During, allerdings bringt ihn das nicht von der begrifflichen Unterscheidung zwischen »säkular« und »übernatürlich« ab, die doch eine an die Säkularisierung der westlichen Welt im 19. Jahrhundert gekoppelte Grenze zwischen beiden Formen von Magie ziehen möchte. Das, was er secular magic nennt, spielt tatsächlich allerdings mit dem Ineinandergleiten dieser beiden Magiekonzepte, insofern diese – spätestens seit der Phantasmagorie um 1800 – eine Ambiguität aufbaut, die sich als Oszillation zwischen Konstruktivismus und Realismus der Magie begreifen lässt.

Auch die geläufige Wendung »moderne Zauberkunst« ist nicht gänzlich unproblematisch. In seinem Aufsatz »Modern Magic, the Illusion of Transformation, and How It Was Done« legt Peter Lamont überzeugend dar, dass unter anderem Durings Prämisse, Zauberkunst werde erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als Illusionismus zu Unterhaltungszwecken ohne Anspruch auf übernatürliche Wirkungen aufgefasst, historisch nicht haltbar ist. Die Darstellung früherer Publika als leichtgläubig und unreflektiert identifiziert er als Konstrukt viktorianischer Psychologen und Anthropologen, das von Zauberkünstlern jener Zeit verstärkt wurde und sich in Amateurzauberhistoriographien perpetuierte, um von da aus in jüngere kulturhistorische Betrachtungen zur Zauberkunst einzugehen.52 Wiederholt finden sich in der Literatur Berichte zur rezeptionsseitigen Verwechslung säkularer mit realer Magie, denen zufolge Illusionisten sich zumindest bis ins späte 18. Jahrhundert hinein gegen Vorwürfe der Häresie verteidigen mussten. Lamont verfolgt diese zu Reginald Scots TheDiscoverie of Witchcraft zurück, einem der frühesten englischen Zauberbücher, das sich 1584 anschickte, Zaubervorstellungen als Illusionen aufzudecken, um Vorwürfe der Hexerei und Teufelsbündnerei zu entkräften. Lamont geht den hier und anderswo genannten Beispielen auf den Grund und kommt zu dem Schluss, die sogenannte »moderne Zauberkunst«, also eine illusionistische Unterhaltungsform, tauche nicht erst in der Moderne auf. Vielmehr ließe sich ein Bewusstsein von zwei verschiedenen Arten von Magie schon im 16. Jahrhundert nachweisen. Nicht zuletzt liegt diese Unterscheidun  Scots TheDiscoverie of Witchcraft zugrunde, das sich mit pä­dagogischem Anspruch für deren Verbreitung einsetzt. Scot differenziert zwischen derjenigen Magie, die mit übernatürlicher Hilfe von Dämonen und Teufeln entstehe und als Häresie zu verfolgen sei, und derjenigen, die auf eine Sinnestäuschung mithilfe von Handfertigkeit und Aufmerksamkeitslenkung zurückzuführen sei und der Unterhaltung diene. Selbst der berüchtigte Hexenhammer unterscheidet zwischen Hexerei und der »menschlichen Gaukelkunst […]: Eine ohne Kraft der Dämonen, und die heißt besser Täuschung, […] wie es bei den Kunststücken der Spaßmacher und Mimen geschieht.«53 Während Lamont eine diskursive Verschränkung beider ab der frühen Neuzeit aufzeigt, findet er keine Belege für deren Verwechselbarkeit. Er konstatiert deshalb abschließend:

[…] centuries before the rise of »modern magic,« whatever other magical beliefs might have been in play, our ancestors were able to recognize magic tricks as a form of entertainment, understand that they were illusions, and wonder how they were done. […] The historical narratives of past credulity […], far from being a reflection of early modern gullibility, were actually part of a modern struggle to distinguish between different kinds of magic.54

Dem Reiz solcher Unterscheidungsbemühungen sitzt auch During auf, wenn er säkulare und reale Magie voneinander trennen möchte. Allerdings betont er zugleich immer wieder deren Verschränkung und Verwandtschaft miteinander. So schreibt er, der Wahrheitsgehalt säkularer Magie sei demjenigen der übernatürlichen gleich, beide seien also in gleichem Maße illusorisch und stets miteinander verwoben.55 Die Logik säkularer Magie versteht er als nur im Verhältnis zu ritueller Magie beschreibbar, allerdings erkläre sich ihre Bedeutung nicht aus derjenigen der Letzteren.56 Ähnlich schreibt Graham M. Jones: »Modern conjurors, while often dabbling in occult iconography, generally do not intend audiences to perceive supernatural forces at work in their performances. Far from it; they want individual credit for their technical prowess.«57 Jones fasst moderne Magie als paradoxe Unterhaltungsform auf, die zugleich als performatives Gegenstück zu einer rationalen, entzauberten Weltsicht fungiere und als Überrest oder Kompensationsort der Irrationalität und Verzauberung.58 Beide Autoren konzipieren die Unterscheidung zwischen dem Rationalen und dem Übernatürlichen zumindest implizit nicht nur intellektuell-rezeptiv, sondern auch historisch, wobei reale Magie der säkularen vorangeht. Das wiederum führt zu dem von Lamont aufgezeigten Problem einer Grenzziehung zwischen einer modernen, »aufgeklärten« Magie und einer vormodernen, »primitiven«, auf die diese referenziell zurückblickt.

Willing suspension of disbelief

Zumindest in Durings Fall führt Lamont die Auffassung säkularer Magie als spezifisch modern auf einen literaturtheoretischen Blickwinkel zurück:

In this case, the confusion has come from drawing on literary theory, rather than on evidence, particularly the assumption that a »willing suspension of disbelief« is a useful lens through which one can understand how magic is viewed. Magic, however, does not rely on a willing suspension of disbelief. Rather, it depends on audiences believing one aspect of it while disbelieving another.59

Die Wendung willing suspension of disbelief, die sich häufig auf die Rezeptionshaltung der Zauberkunst bezogen findet, geht auf Samuel Taylor Coleridge zurück. Die berühmte Formulierung taucht 1817 in seiner Biographia Literaria auf, im Zusammenhang mit dem Gedichtband Lyrical Ballads, den Coleridge und William Wordsworth als Sammlung von zweierlei Arten von Gedichten konzipierten: Solche, die realistische Themen, Figuren und Ereignisse verhandeln und dadurch eine Verzauberung der Welt im Alltäglichen erreichen, und solche, die zumindest teilweise übernatürliche Ereignisse und Handelnde beschreiben und die Lesenden durch realitätsnah beschriebene Emotionen fesseln. Coleridge schreibt:

In this idea originated the plan of the Lyrical Ballads; in which it was agreed, that my endeavours should be directed to persons and characters supernatural, or at least romantic; yet so as to transfer from our inward nature a human interest and a semblance of truth sufficient to procure for these shadows of imagination that willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic faith. Mr. Wordsworth, on the other hand, was to propose to himself as his object, to give the charm of novelty to things of every day, and to excite a feeling analogous to the supernatural, by awakening the mind’s attention to the lethargy of custom, and directing it to the loveliness and the wonders of the world before us […].60

In diesem Kontext wird deutlich, dass Coleridges Interesse über die generelle Fiktionalität von Literatur hinausging. Die Pointe ist nicht, dass fiktionale Welten auf die Bereitschaft Rezipierender angewiesen sind, sich trotz eines mehr oder weniger eklatanten Mangels an Realitätsnähe auf deren Prämissen einzulassen. Vielmehr geht es um die Wirksamkeit verschiedener Genres: Coleridge geht davon aus, Fantastik (beziehungsweise Romantik) verlange Lesenden, im Unterschied zum Naturalismus, eine willing suspension of disbelief ab. Die geringere Realitätsnähe der beschriebenen, fiktionalen Lebenswelt bedinge, so Coleridges Vorstellung, dass diese schwerer zu akzeptieren sei als eine, die derjenigen der Lesenden gleicht. Diese Ungläubigkeit kompensiere fantastische Poesie durch ihr Vermögen, stärkere emotionale Reaktionen zu provozieren, welche wiederum auf einer anderen Ebene mit der Lebenswelt der Rezipierenden resonierten. Es gelte hier, ein menschliches Interesse und den Anschein von Wahrheit aus unserer inneren Natur zu übertragen, schreibt Coleridge im oben genannten Zitat. Diese brächten Lesende dazu, realitätsferne Ereignisse, Figuren oder Handlungen zu akzeptieren – das ist es, was Coleridge als willing suspension of disbelief bezeichnet. Übertragen auf beispielsweise Die Muppet Show würde das die Bereitschaft der Zuschauenden bezeichnen, darüber hinwegzusehen, dass die Protagonistinnen und Protagonisten eindeutig als solche erkennbare, unbelebte Puppen sind, weil der Unterhaltungswert sowie das Vermögen der Sendung, Wahrheiten über die Lebenswelt der Zuschauenden auszudrücken, nicht von deren Mangel an Realitätsnähe beeinträchtigt werden.

Während Brigitte Felderer und Ernst Strouhal ebenso wie Michael Mangan die Formel willing suspension of disbelief auf Zauberkunst applizieren,61 argumentiert beispielsweise Peter Lamont, das Konzept sei dafür ungeeignet:

This is the primary aim of magic as a performing art: the creation of a dilemma between the conviction that something cannot happen and the observation that it happens. It requires disbelief (it cannot happen) based on real-time conviction (in these conditions, it is impossible) in order for the effect (it happens) to produce the experience. In short, if you suspend disbelief, willingly or otherwise, the magic disappears.62

Der für die Wahrnehmung des Illusionismus als Illusionismus notwendige Widerspruch zwischen Glaube und Wahrnehmung würde also verschwinden, setzten Zuschauende ihre Ungläubigkeit aus. Glaubten sie nämlich an das, was Zauberkunst vorführt, würden sie, in Durings Terminologie, zu Rezipierenden ritueller und nicht säkularer Magie. Letztere hingegen erfordert das Sich-Einlassen auf die Illusion bei gleichzeitig bestehendem Bewusstsein ihres illusionistischen Charakters. Dies würde aber von der suspension of disbelief ausgehebelt, was die Rezeptionshaltung verändern würde.

Auf andere Weise, aber nicht weniger überzeugend begründet Zauberhistoriker und Illusionsdesigner Jim Steinmeyer die Unbrauchbarkeit des Konzepts in Bezug auf die Zauberkunst. Er differenziert zwischen Spezialeffekten in Theatervorstellungen und solchen in Zaubervorführungen:

In the theatre, a special effect often is designed to be subsumed within the fantasy of the production. To ignore its presence, to fall under the spell and accept an effect without question or wonder is the highest compliment, Coleridge’s »willing suspension of disbelief.« An illusion seeks the opposite. It starts with a basic reality and attempts to make it deliberately special or surprising. In a magic show, there is no willing suspension. The magician cannot risk the audience ignoring his illusions or accepting them as part of a larger context; they must be held apart and treated as unique.63

Sind Spezialeffekte im Theater in eine Handlung eingebettet, in der sie einem Zweck dienen und dabei als Effekt möglichst unbemerkt bleiben sollen, so zielen Illusionen in einer Zaubervorstellung auf das Gegenteil: Ein Effekt soll hier nicht unbemerkt vorübergehen, sondern als solcher wahrgenommen werden, weswegen er dezidiert als Effekt ausgestellt wird. Während Theaterstücke eine künstliche Welt präsentieren, die sie – unter anderem mithilfe von Spezialeffekten – glaubwürdig gestalten möchten, lässt Zauberkunst scheinbar in der Lebenswelt der Zuschauenden etwas geschehen, was darin unmöglich ist. Darin liegt also ein wichtiger Unterschied zwischen Bühnenillusionen in der Zauberkunst und Spezialeffekten im Theater. Auch im Film soll beispielsweise ein matte painting möglichst nahtlos mit dem realen Set und der Landschaft verschmelzen, ohne als Effekt hervorzustechen. Zauberkunst lenkt im Gegenteil die Aufmerksamkeit auf den Effekt als solchen. Maskelynes und Cookes magische Stücke ordnen ihre Illusionen deshalb – ebenso wie Georges Méliès’ fantastische Filme, die nach der Logik der Zauberkunst funktionieren – nicht der Handlung oder Ästhetik unter, sondern machen sie zur Hauptattraktion, um die herum ein verbindendes Narrativ konstruiert wird.

Die Unterscheidung zwischen Theater- und Zaubervorführungen zieht auch das Zauberkünstler-Duo Penn & Teller: »In typical theater, an actor holds up a stick, and you make believe it’s a sword«, sagt Teller in einem im Smithsonian Magazine abgedruckten Interview: »In magic, that sword has to seem absolutely 100 percent real, even when it’s 100 percent fake. It has to draw blood. Theater is ›willing suspension of disbelief.‹ Magic is unwilling suspension of disbelief.«64 Ungewollt erfolgt das Aussetzen der Ungläubigkeit hier deshalb, weil in der Zaubervorstellung demonstriert wird, dass keine Täuschung im Spiel ist: Die Spielkarte wird von einer Freiwilligen aus dem Publikum ausgewählt, der Ring einer anderen zur Untersuchung gereicht, das Behältnis, in dem einige Augenblicke später etwas erscheint, wird als leer präsentiert. Erst nachdem Zuschauende von der Intaktheit rationaler Parameter überzeugt wurden, werden diese scheinbar gebrochen. Während das Schwert im Theater die willing suspension of disbelief erfordert, die Coleridge beschreibe – nämlich ein Hinnehmen des Mangels an Realitätsnähe zugunsten einer emotionalen Reaktion –, zeige Zauberkunst im Rahmen der Wirklichkeit etwas Unmögliches. Sie rufe deshalb, fährt Teller fort, im Unterschied zu Musik, Film oder einem Roman, keine emotionale, sondern in erster Linie eine intellektuelle Reaktion hervor, nämlich die Auseinandersetzung mit der Unterscheidung zwischen Einbildung und Wirklichkeit. Damit wiederum ist ein für unsere Orientierung in der Welt essenzielles Urteilsvermögen angesprochen: »The most important decision anyone makes in any situation is ›Where do I put the dividing line between what’s in my head and what’s out there? Where does make-believe leave off and reality begin?‹«, sagt Teller, »That’s the first job your intellect needs to do before you can act in the real world.«65 Zauberkunst bringe diese Entscheidung unter kontrollierten Bedingungen zeitweise ins Wanken. Sie sei ein experimenteller Spielplatz, auf dem der Konflikt zwischen Wissen und Wahrnehmung ausgelotet und genossen werden könne – ein Zustand, den Tellers Partner Penn Jillette in einer Vorstellung als »rolling around in cognitive dissonance« bezeichnete.66

Zauberkunst zeigt also ein scheinbar unmögliches Ereignis, für das sie keine mit einem wissenschaftlichen Weltbild konform gehende Erklärung anbietet und womit sie Zuschauenden den rationalen Boden unter den Füßen wegzieht. Diese wissen, dass sie eine Illusion sehen, wissen aber nicht, wie sie entsteht. Dazu, die Funktionsweise zu ergründen, fordert die Zaubervorführung auf. Sie stellt aber nicht genügend Teile zur Verfügung, um das Puzzle zusammenzusetzen, so dass das Geschehen ungeklärt bleibt. Zuschauende finden sich also im Limbus der Ambiguität wieder, in dem sie wissen, dass sie etwas nicht wissen. Die beiden Auswege daraus scheinen gleichermaßen unbefriedigend: Es handelt sich entweder um eine Sinnestäuschung, die in der Konsequenz die eigene kognitive Wahrnehmung als Grundlage der täglichen Orientierung in der Welt als unzuverlässig entlarvt. Da wir uns im täglichen Leben maßgeblich auf unsere Sinneswahrnehmung verlassen, ist die Möglichkeit ihrer Unzuverlässigkeit zumindest beunruhigend. Alternativ gestalten sich die vermeintlich bekannten Naturgesetze, sofern die Zaubervorführung diesen unterliegen muss, anders als angenommen. Diese Annahme führte wiederum zu der nicht weniger verstörenden Möglichkeit, die Gesetze der eigenen Lebenswelt wären unklar.

Trotzdem wird Zauberkunst in der Regel nicht als bedrückend, sondern als unterhaltsam empfunden. Ein möglicher Grund dafür könnte sein, dass sie die Ordnung, die sie zu zersetzen scheint, zum Ende der Illusion wiederherstellt. Das zeigt sich in den folgenden Kapiteln unter anderem an der Notwendigkeit des Wiedererscheinens bei Verschwinde­illusionen mit Personen. Beschworene Gespenster müssen umgekehrt wieder verschwinden, der Schwebende unterliegt wieder der Gravitation, die Vorstellung stummer Gedankenübertragung wird beendet, indem die Performenden zu konventioneller, verbaler Kommunikation zurückkehren. Begegnet ein Publikumsmitglied einem Magier im Anschluss an der Theaterbar, fürchtet es sicher nicht, dass dieser in diesem Augenblick seine Gedanken lesen können. Die Zaubervorführung wird also deshalb nicht zur Horrorshow, weil sie die Rückkehr zum Gewohnten etabliert. Festhalten lässt sich, dass Zauberkunst also Epistemologie und Ontologie zugleich tangiert, da sie nicht nur (temporär) den ontologischen Status der auf der Bühne gezeigten Ereignisse infrage stellt, sondern auch die Befähigung der Rezipierenden, diesen überhaupt zu bestimmen. Wie sich diese Mechanismen konkret entfalten, zeigt sich im Folgenden beispielhaft anhand konkreter Illusionen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Technisierte Bühnenzauberkunst

Die von Penn so bezeichnete, bewusst eingegangene kognitive Dissonanz in Verbindung mit einem technisierten illusionistischen Spektakel wird, so lautet eine der Thesen, um 1800 in der Phantasmagorie etabliert, weshalb ihr die Aufmerksamkeit des ersten Kapitels gilt. Wenn solche Rezeptionsmuster, wie auch Lamont sie in seiner Kritik des Begriffs »moderne Zauberkunst« dargelegt hat, bereits vor der Moderne existierten, was unterscheidet die hier untersuchte Form von Illusionismus dann von ihren Vorgängern? Zunächst sei gesagt, dass, wann immer in diesem Band der Begriff »moderne Zauberkunst« fällt, er den Illusionismus nicht als »aufgeklärte« Technik von einem vormodernen Magieglauben abgrenzt. Im ersten Kapitel zeigt sich, dass die phantasmagorische Vorstellung selbst die mit diesem Konstrukt zusammenhängende, problematische Unterscheidung zwischen »Aufklärung« und »Aberglaube« und ähnlichen dualistischen Konzepten verwischt. Gemeint ist vielmehr eine spezifische Ausprägung der Zauberkunst, die ab etwa 1850 entstand und die sich von ihren Vorgängern durch Ort, Dimension und Art der Inszenierung unterscheidet sowie durch ein hohes Ausmaß an Technisierung und Selbstreflexion.

Konstruierte die philosophische Anthropologie, insbesondere diejenige Arnold Gehlens, den Menschen als Mängelwesen, das sich unter anderem mithilfe von Technik und Techniken, also entsprechenden Artefakten ebenso wie Operationen, an die Umweltbedingungen anpasst, so lässt sich kein der Technik vorgängiger Mensch denken. Und insofern Magie eine Form des handlungsorientierten Werkzeuggebrauchs ist,67 handelt es sich bei ihr schon immer um eine technische Form der Welterschließung. Der Begriff Technisierung aber, wie er hier gebraucht wird, setzt zum einen voraus, dass die spezifische Leistung der Technik reflektiert wird, zum anderen, wie Peter Fischer in seiner Philosophie der Technik schreibt, »dass sich die Technik […] als eigenständiges und anerkanntes Kulturgebiet von Mythos und Religion emanzipiert hat«68. Er bezieht sich deshalb auf gesellschaftliche Prozesse, die im 16. Jahrhundert in Europa begannen und im späten 18. Jahrhundert besonders virulent wurden. Diese schließen eine Rationalisierung der Lebensweise ein, im Zuge derer »die Innenwelt und die Mitwelt nach dem technisch erschlossenen Prinzip der Außenwelt, dem Kausalitätsprinzip, aufgebaut, konstruiert werden, nämlich sowohl gedanklich wie auch als Gegenstände technischer Manipulation.«69 Technik kompensiert hier nicht mehr nur Mängel zur Sicherung des Überlebens, sondern wird gezielt als Mittel zur Verbesserung ökonomischer Produktivität und des Wohlstands vorangetrieben. »Die moderne technische Entwicklung des Abendlandes,« schreiben die Soziologen Reinhold Sackmann und Ansgar Weymann, »ist also das Ergebnis eines einzigartigen historisch-gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesses, der Wirtschaft, Recht, Kultur, Lebensführung, Religion und nicht zuletzt Ökonomie einschließt«.70 Unter Bezug auf Max Weber fügen sie hinzu, dass hierbei auch ideologische Kriterien sowie künstlerische Motivation oder auch »jenseitige oder phantastische Interessen«71 eine Rolle spielen.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war, besonders in Westeuropa, eine Hochphase der Technisierung. Zu dieser Zeit vollzog sich auch, was James W. Cook als »a major historical redefinition of magic in Western culture«72 bezeichnet: Der Wandel zu einer gesellschaftlich angeseheneren, künstlerisch ambitionierten Unterhaltungsform, die ab etwa 1830 zunehmend auf festen Bühnen dargeboten wurde.73 Michael Symes zufolge beförderte insbesondere die Erschließung der Bühne und des viktorianischen Salons als neue Aufführungsräume sowie die Etablierung von Zauberkunst als Hobby ihre Popularität.74 Mit der Migration auf die Bühne entstanden unter anderem Großillusionen als spezifisches Format. Eingebettet in einen breiten Kontext moderner, urbaner Unterhaltungskultur sprach diese neue Bühnenzauberkunst ein bürgerliches Publikum an, das sich ebenfalls im 19. Jahrhundert herausbildete. Dieses verfügte über ein entsprechendes Kontingent an Freizeit bei gleichzeitigem relativem Wohlstand, der es erlaubte, das neue kulturelle Angebot in Anspruch zu nehmen. Durch den Konsum technisch aufgerüsteter Unterhaltungskultur war es zudem – das hat Jonathan Crary ausführlich untersucht – mit der Rezeption medialer Illusionstechniken vertraut. Diese gehören, ebenso wie Zauberkunst, Kuriositätenausstellungen, Ventriloquismus, Artistik, Hypnose, Mesmerismus, Schauexperimente, Medizin- und Freakshows sowie Schaustellerei, einem Cluster performativer Künste an, das Simon During magic assemblage nennt. Damit bezeichnet er »a historically developing sector of leisure enterprises which began to consolidate during the seventeenth century, at first alongside traditional ritual festivals and revelries« – von Achterbahnen, Bauchrednern und »klugen Tieren« über Geistererscheinungen und Mentalismus zu (elektrischen) Schauexperimenten und Bewegtbildvorführungen.75 Die Betrachtung dieser verwandten Künste würde hier den Rahmen sprengen und ist zudem bereits andernorts erfolgt.76

In diesem heterogenen Feld der Unterhaltungskultur vereinte Bühnenzauberkunst technisches und physikalisches Wissen mit mechanischem Handwerk, Handfertigkeit und performativer Praxis. Als Anleihe wissenschaftlicher Praktiken inszenierte sie im 19. Jahrhundert außerdem zunehmend ihre eigene Transparenz, wenn Zauberkünstler_innen sich bemühten, das zwielichtige Ansehen ihres Berufsstands abzuschütteln, indem sie ihre Vorstellungen ästhetisch und ideologisch aufwerteten. Der Modernisierer der Zauberkunst Jean Eugène Robert-Houdin wandte sich beispielsweise programmatisch gegen plumpe Kaschierungen wie lange Tischdecken, unter denen sich Gehilfinnen und Gehilfen verbargen. Deren Funktion übernahmen und erweiterten in seinem Zaubertisch diverse Mechanismen wie Falltüren, Pedale, Federzüge, schräge Böden und verborgene Fächer.77 Das Ersetzen des Menschen durch Technik sparte Platz und Kosten, die Apparate waren zudem belastbarer als Lebewesen – eine Entwicklung, die sich in der Industrialisierung gesamtgesellschaftlich in großem Stil vollzog.

Bereits an diesem Beispiel zeigt sich, dass dieses hohe Ausmaß an Technisierung und Mechanisierung weder als Rückfall vor die Epoche der Aufklärung noch als Antwort darauf im Sinne einer Kompensationsleistung zu verstehen ist. Zauberkunst war hier keine Gegenbewegung zur Industrialisierung, angeregt durch eine nostalgische Sehnsucht nach einem als magisch konnotierten, vorwissenschaftlichen Weltbild. So schreibt beispielsweise Joshua Landy, im 19. Jahrhundert habe Wissenschaft den Ort eingenommen, den zuvor Religion und Mythos okkupiert hatten. Hier habe sie allerdings – da sie nichts jenseits dessen verspreche, was unsere Sinne wahrnehmen – das Geheimnis, die Ordnung und den Zweck (»mystery, order, and purpose«) ausgelöscht und an ihrer statt eine Lücke hinterlassen. Diese fülle Zauberkunst. Sie leiste hier allerdings nichts anderes als eine Wiederverzauberung der Welt.78 Max Milner interpretiert die Unterhaltungskultur der Moderne als Ersatz für den infolge der Säkularisierung verloren gegangenen Kontakt mit dem Übernatürlichen. In dem Moment, in dem der Glaube zu verschwinden drohe, entstehe eine affektive Leere (»vide affectif«), die von fantastischer Unterhaltungskultur gefüllt werde.79

Meine These lautet, dass, im Gegenteil, die Technisierung des 19. Jahr­hunderts conditio sine qua non der Art von Zauberkunst war, wie sie in diesem Band untersucht wird. Sie trat zu ihr nicht in Opposition, sondern ging mit ihr eine Partnerschaft ein. Unter Einsatz von Maschinerie und unter Mitwirkung von Personen, Tieren oder großen Objekten wurden in der Zeit Bühneneffekte als Teil aufwendiger, abendfüllender Vorführungen inszeniert. Besonders in den USA basierte deren finanzieller Erfolg größtenteils auf den ökonomischen Vorteilen umfangreicher Touren, deren Möglichkeitsbedingung moderne Verkehrsmittel wie Eisenbahn und Dampfschiff waren. Robert-Houdin war ein Pionier in der Anwendung von Elektrotechnik: Mehrere seiner Bühnenillusionen verwendeten Elektromagnete, beispielsweise die berühmte »Le Coffre lourd et léger«80; sein Wohnhaus war mit elektrischen Türöffnern, einer automatischen Futteranlage für Pferde und anderen Gadgets ausgestattet.81 John Nevil Maskelyne (1839–1917), Betreiber des Zaubertheaters in der Egyptian Hall in London, war nicht nur einer der einflussreichsten Zauberkünstler des späten 19. Jahrhunderts, sondern auch ein versierter Mechaniker und Erfinder auf der Bühne wie außerhalb. Unter anderem erfand er eine eigene Schreibmaschine, den »Maskelyne Type-Writer«, beworben als «[t]he most perfect writing machine yet produced« und eine Registrierkasse, die laut Werbeanzeige Zwölfjährige nach zehnminütiger Einarbeitung befähigte, die Arbeit mehrerer Buchhalter zu erledigen.82 Eine weitere seiner Erfindungen war das erste Türenschließsystem mit Münzeinwurf, das noch bis in die 1950er Jahre in Londons öffentlichen Toiletten installiert war.83 Sein Sohn Nevil Maskelyne (1863–1924) war ein Pionier der Drahtlosübertragung und Inhaber mehrerer elektrotechnischer Patente. Paradigmatische Großillusionen jener Zeit griffen auf moderne Werkstoffe wie Glas und Stahl oder auf damals kürzlich verfügbar gewordene Chemikalien zurück. Die Beschäftigung mit Zauberkunst führt deshalb in diverse kulturhistorische Bereiche, aus denen sie Inspirationen unterschiedlicher Art schöpfte und mit denen sie in Wechselwirkung trat.

Eine Magie weißer Männer

Am auffälligsten arbeitete sich Zauberkunst ab 1850 am modernen Spiritismus ab, der zu einer Art identitätsstiftendem Gegenspieler wurde. In Auseinandersetzung mit dem Spiritismus traten Zauberkünstler als Fachmänner für Täuschung auf, deren Expertise, wie Graham Jones schreibt, »comparative with a scientific worldview and opposed to unscientific forms of knowledge« war.84 Nicht nur in Wechselwirkung und Ausei­nandersetzung mit spiritistischen Praktiken, sondern auch in ihrer Opposition zu Mystizismus oder Okkultismus konstruierte sich westliche Zauberkunst als, wie Graham Jones schreibt, »a potent signifier of modernity«, die vermeintlich kognitive Defizienzen vormoderner Subjekte herausstellte und Fähigkeiten moderner Subjekte bestätigte.85 Diese Selbstkonzeptua­lisierung ist kritisch zu sehen, nicht zuletzt deshalb, weil die in weiten Teilen der Welt tonangebende Form der Zauberkunst zu jener Zeit eine westliche, von weißen Männern dominierte war. Zauberkunst ist bis heute ein männlich geprägtes Feld. So war die Mitgliedschaft in Zaubervereinen, in der Tradition von Geheimgesellschaften, lange Zeit ausschließlich Männern vorbehalten. Einer der prestigereichsten, der britische Magic Circle, sieht erst seit 1991 die reguläre Mitgliedschaft von Frauen vor – in den 86 Jahren seines Bestehens zuvor erhielten Frauen nur per Verleihung einer Ehrenmitgliedschaft Zutritt. 2010 zählte der Magic Circle etwa 80 weibliche Mitglieder, gegenüber etwa 1500 männlichen.86

Im Schatten der Zauberei liegt zudem die Geschichte der Hexenverfolgung. Reginald Scot hatte bereits 1584 darauf hingewiesen, dass Hexereivorwürfe überwiegend Frauen betrafen: Er beschreibt eine Vorstellung vor dem König, bei der der Zauberer Brandon die Zeichnung einer Taube erstach, woraufhin eine durch das Fenster sichtbare Taube auf dem Dach eines gegenüberliegenden Hauses tot herunterfiel. Scot liefert sogleich eine mögliche Erklärung dieses Kunststücks und schließt mit der Bemerkung: »If this or the like feat should be done by an old woman, every body [sic] would cry out for fire and faggot to burn the witch.«87 Unter anderem die latente Assoziation mit historischen Hexereivorwürfen zieht During zur Begründung des vergleichsweise geringen Erfolgs von Zauberkünstlerinnen im 19. Jahrhundert heran: »The unforgotten history of early modern witchcraft panics perpetuated the fear that females who practiced magic would enter into dangerous alliances and acquire powers that might upset gender hierarchy.«88 Wie in der frühen Neuzeit drehte sich die Ungleichheit der Geschlechter also um die Behauptung und Perpetuierung patriarchaler Macht. Während männliche Zauberkünstler sich als Aufklärer im Feldzug gegen den als betrügerisch identifizierten modernen Spiritismus inszenierten, waren es hier hauptsächlich Frauen, die besonders erfolgreich als Medien auftraten. Zwar wurden auch spiritistische Séancen als Unterhaltung und Zeitvertreib angesehen,89 sie wurden aber stärker übernatürlich konnotiert als Zauberkunst. Die Bemühungen Letzterer um die Respektabilität als säkulare, rationalisierte Kunstform scheinen ebenso mit einer Maskulinisierung einhergegangen zu sein wie mit einer modernen Variante der Hexenverfolgung, im Zuge derer überwiegend weibliche spiritistische Medien als moralisch verkommen, korrupt und gierig konnotiert sowie sexualisiert wurden. Auch wenn diese eine Form von Illusionismus praktizierten, für die auf der »säkularisierten« Zauberbühne kein Platz war, nutzten Zauberkünstler den Spiritismus durchaus als Inspirationsquelle für ihre eigenen Vorstellungen. Das Verhältnis zwischen beiden war allerdings keine Kooperation, sondern nahm die Form einer kompetitiven Aneignung vonseiten der Zauberkünstler an.

Figuren wie Adelaide Herrmann (1853–1932), die erfolgreichste Zauberkünstlerin um 1900, blieben eine Ausnahme.90 Ihrerseits eine erfahrene Performerin, trat sie (auch solo) zunächst in der Show ihres Ehemanns Alexander Herrmann (Herrmann the Great) auf, die sie nach dessen plötzlichem Tod weiterführte. Zunächst versuchte Adelaide, die Vorstellung unverändert zu lassen und engagierte Alexanders Neffen Léon als dessen Nachfolger. Nach persönlichen Differenzen löste sie das Geschäftsverhältnis jedoch auf und begann eine eigene, sehr erfolgreiche Solokarriere.91 Wie Adelaide Herrmann wirkten Ehefrauen von Zauberkünstlern häufig in deren Shows mit, als Managerinnen ebenso wie als Performerinnen. Olive »Dot« Robinson (1863–1934), William E. Robinsons Lebensgefährtin, galt als beste Zauberassistentin ihrer Zeit.92 Wie Adelaide Herrmann versuchte sie, nach dem Tod ihres Partners in Anlehnung an dessen Show eine eigene zu lancieren, allerdings gelang es ihr nicht, eine eigenständige Karriere aufzubauen.93 Georges Méliès’ langjährige Bühnenpartnerin, Geliebte und spätere Ehefrau Jehanne d’Alcy (1865–1956) behielt ihre Rolle auch in seiner Filmproduktion bei. Im Unterschied zu ihr nahmen andere Frauen häufig nur bis zu einem gewissen Alter an den Vorstellungen ihrer Ehemänner teil und zogen sich später aus dem Unterhaltungsgeschäft zurück wie beispielsweise Beatrice Houdini.

Die heute stereotype Rolle von Zauberassistentinnen als leicht bekleidete, über die Bühne tänzelnde Showgirls festigte sich erst im 20. Jahrhundert. Vor dieser Zeit waren Co-Performende ebenso häufig männlich wie weiblich, so wurden beispielsweise einige der ikonischen Illusionen ursprünglich mit Männern aufgeführt: In Maskelynes berühmter Levitation schwebte keine in weiße, semitransparente Gewänder gehüllte junge Frau, sondern sein Geschäfts- und Bühnenpartner George Cooke (1843–1926).94 Selbst in der berüchtigtsten aller misogynen Illusionen, der auf Deutsch sogenannten »Zersägten Jungfrau« (oder »Zersägten Dame«), zersägte Horace Goldin (1873–1939) in seiner ersten Fassung einen Jungen, bevor er ihn durch eine Frau ersetzte. Lässt sich das 1921 erfundene Zersägen einerseits als gewaltsame Wiederunterordnung der kürzlich wahlberechtigten Frau unter patriarchale Machtstrukturen interpretieren, so hängt dessen Gelingen andererseits primär von den Fähigkeiten ebendieser Frau ab, während der Zauberkünstler in dieser Illusion eine hauptsächlich dekorative Rolle einnimmt.95 War die Frau als Objekt des Zersägens etabliert, dauerte es sehr lange, bis dieses Muster durchbrochen wurde – selbst Adelaide Herrmann zersägte eine Frau.96 David Copperfield (*1956) drehte in den 1970er Jahren die Geschlechterrollen um und stieg selbst in die Kiste, um sich von einer Frau mit einer Kettensäge zerteilen zu lassen.97 Das lässt sich allerdings durchaus als Verweigerung der Macht­abgabe lesen, denn in seiner späteren Illusion »Death Saw« eliminierte Copperfield schließlich auch diese Frau, indem er die Säge automatisierte. Die französische Zauberkünstlerin Sophie Edelstein zersägt in ihrer Vorstellung nicht nur Männer, sie platziert sie konsequent in der stereotypischen Frauenrolle auf der Zauberbühne, indem sie sie als personifizierte, leichtbekleidete, tanzende Ablenkungsmanöver auftreten lässt. Einerseits eine interessante Umkehrung der Geschlechterverhältnisse, bleibt eine solche Form der Sexualisierung und Objektivierung unabhängig von der Geschlechteridentität der Betroffenen fragwürdig.

Sind Zauberkünstlerinnen im späten 19. Jahrhundert rar, so gestaltet sich die Suche nach nicht-weißen Zauberkünstlerinnen oder Zauberkünstlern noch schwieriger. Afroamerikanische Performer nahmen mitunter komödiantische Nebenrollen auf der Bühne ein, so beispielsweise »Boomsky« in Alexander (und später Léon) Herrmanns Show, der im Laufe der Jahre von verschiedenen Personen verkörpert wurde. In Anlehnung daran engagierte Howard Thurston den Afroamerikaner George Davis White (1887–1962) als Gehilfen auf wie hinter der Bühne.98 Der erste in Amerika geborene erfolgreiche Zauberkünstler war, laut David Price, der im frühen 19. Jahrhundert aktive Richard Potter (1783–1835), Sohn einer afrikanischen Sklavin.99 Die Karriere Black Hermans (1889–1934), des bekanntesten afroamerikanischen Zauberkünstlers des späten 19. Jahrhunderts, war von seiner Arbeit in Minstrel Shows gerahmt, in denen unter anderem rassistische Praktiken wie Blackfacing verbreitet waren.100 Die Anlehnung seines Künstlernamens an Herrmann the Great, in dessen Show zudem der als Karikatur anmutende Boomsky auftrat, und den nach ihm mindestens zwei weitere afroamerikanische Zauberkünstler übernahmen, zeugt wiederum vom Primat weißer europäischer Zauberkünstler.

Exotismus und Orientalismus waren in jener Zeit in der Zauberkunst ebenso virulent wie in anderen Bereichen der Kultur. Der Einfluss insbesondere asiatischer Zaubertraditionen im Westen ging mit fragwürdigen Formen kultureller Aneignung einher. Dazu zählen beispielsweise John Nevil Maskelynes berühmte Tellerjonglage oder das bis heute ubiquitäre Ringspiel – Importe von chinesischen Schaustellenden, die im 19. Jahrhundert in Europa auftraten.101 Einige asiatische Zauberkünstler waren in Westeuropa und den USA sehr erfolgreich, so beispielsweise der chinesische Performer Ching Ling Foo (1854–1922) oder der Japaner Ten Ichi (1852–1912), der im frühen 20. Jahrhundert zwei bis dahin unbekannte Illusionen in den USA einführte.102 Unter dem Label »orientalisch« traten auch Performer wie Ramo Samee (?–1849) auf, ein indischer Schwertschlucker und Zauberkünstler, der ab 1815 in Europa aktiv war.103 Ging bereits die homogenisierende Inte­gration asiatischer Illusionen in westliche Vorstellungen zumeist mit einer aus kolonialer Sicht selbstverständlichen Haltung exotistischer Appropriation einher, galt dies in anderer, aber ähnlicher Weise auch, wenn sich Europäer oder US-Amerikaner als »orientalische« Zauberkünstler ausgaben. Der Engländer William Peppercorn trat als erster »japanischer« Zauberkünstler in England auf.104 William E. Robinson nahm im Laufe seiner Karriere unter anderem die Rollen des Pseudoägypters Achmed Ben Ali und des Pseudoinders Nana Sahib an, bevor er als Pseudochinese Chung Ling Soo große Berühmtheit erlangte. Die von Robinson verkörperten Figuren repräsentierten dabei weniger die asiatische Zauberkunst als westliche exotistische Klischees. So beschreibt Christopher Stahl Chung Ling Soos öffentliche Selbstdarstellung als »a catalogue of early-twentieth-century England’s fraught obsession with chinoiserie.«105 Diese Aneignung war sehr erfolgreich – auf Soo folgte eine Reihe von Imitatoren, wie der pseudojapanische Zauberkünstler Okito, hinter dem sich der aus einer niederländischen Zaubererfamilie stammende Tobias Leendert Bamberg verbarg. Dessen Sohn David trat im 20. Jahrhundert als karikaturistisch-komödiantische Figur Fu Manchu in Filmen und auf der Bühne auf, überwiegend in Zentral- und Südamerika.106

Im Kern solcher exotistischen Rezeptions- und Imitationspraktiken liegt ein Hierarchiebewusstsein, das fremde Kulturen als unterlegen erachtet. During interpretiert die Schlagkraft von People of Colourimitierenden weißen Zauberkünstlern bei gleichzeitigem vergleichsweise geringem Erfolg tatsächlicher People of Colour im Westen als Ausdruck dessen, dass randständige Kulturen und Bevölkerungsgruppen selbst zu jener Zeit noch mit dem Glauben an Magie in Verbindung gebracht wurden.107 Nicht-weiße Zauberkünstler liefen also einerseits Gefahr, mit dunklen Mächten assoziiert zu werden, andererseits wurde ihnen – als Repräsentierenden von als minderwertig wahrgenommenen Kulturen – mit zunehmender Respektabilität der Zauberkunst die Fähigkeit abgesprochen, westliche Publika zu unterhalten. Europäische oder US-amerikanische Performende hingegen, schreibt Christopher Stahl in Anlehnung an During, konnten die Assoziationen solcher Minoritäten mit Magie ebenso für sich nutzen wie den Exotismus jener Zeit.108 Chung Ling Soo beispielsweise stülpte einem hauptsächlich aus westlichen Illusionen bestehenden Repertoire eine Reihe exotistischer Stereotypen und Fantasien über.109 Im Unterschied zu seiner Tätigkeit vor der Annahme der pseudochinesischen Bühnenfigur feierte er damit enorme Erfolge – seine exotistische Vorstellung befriedigte also ein Bedürfnis westlicher Publika. Diese Inszenierung reichte so weit, dass Soo einen Authentizitätsstreit mit Ching Ling Foo begann, einem tatsächlich chinesischen Zauberkünstler, den er ursprünglich kopiert hatte – und diesen gewann.110 Stahl bezeichnet Soo deshalb als ein Simulakrum im Sinne Jean Baudrillards – eine Ersetzung des Realen durch Zeichen des Realen, die realer scheinen als das Reale selbst.111

Die koloniale Vorstellung der intellektuell und kulturell unterlegenen, magiegläubigen Nicht-Weißen findet sich bereits bei Robert-Houdin. Dessen programmatische Konzeptualisierung der modernen Zauberkunst als gehobene Unterhaltungsform visierte ausschließlich westliche Publika an. Robert-Houdins Auftritt im Auftrag von Napoleon III. in Algerien 1856 zeigt seine Bereitschaft, ein aus westlicher Sicht »primitives« Konzept von Magie im Dienst des Kolonialismus zu instrumentalisieren: Mithilfe seiner Zauberkunststücke, so das Narrativ Robert-Houdins, sollte er den von Marabouts, islamischer Religionsführer und -lehrer, angeführten Aufstand gegen die französische Kolonialmacht ersticken. Robert-Houdin, der für diesen diplomatischen Einsatz seinen Ruhestand unterbrach, will mithilfe seiner Zaubervorführungen demonstriert haben, dass Franzosen »ihnen in allem überlegen sind und daß es unter den Zauberern niemanden gibt, der sich mit den Franzosen vergleichen ließe.«112 Seine Kunst steht hier stellvertretend für die Überlegenheit der westlichen Weltsicht gegenüber derjenigen der kolonisierten Bevölkerung ein. Ähnliche Mis­sionen traten auch andere Zauberkünstler an. Beispielsweise reiste Douglas Beaufort, der unter anderem in der Egyptian Hall arbeitete, 1892 im Auftrag des britischen Foreign Office nach Fez, um die Freundschaft des Sultans von Marokko zu sichern.113 Als koloniale Strategien konstru­ieren diese Einsätze nicht nur eine Differenz zwischen Rationalismus und »Aberglauben«, sondern demonstrieren zugleich die Überlegenheit des Ersteren, der selbstverständlich aufseiten der Kolonialmacht verortet wurde. Nicht überraschend ist dabei, dass beispielsweise Robert-Houdins Selbstdarstellung keineswegs der Wahrnehmung des algerischen Publikums entsprach: »Robert-Houdin’s act«, schreibt Graham Jones dazu, »was seen as a prodigiously amusing curiosity of knowledgeable performance – not terrifying sorcery as the magician’s narration implies.«114 Jones beobachtet eine kuriose Umkehrung des kolonialen Narrativs, denn während die Trope der magiegläubigen »Primitiven« im kolonialen Europa geläufig war, blühten in westlichen Kulturen okkultistische und esoterische Glaubenskonzepte auf. Zugleich traten unter anderem algerische Ritualmagier auf westlichen Bühnen in Paris oder in der Egyptian Hall in London auf, wo sie mühelos – sich der europäischen Tradition anpassend – die Rolle aufgeklärter Entertainer annahmen.115 Auch hier erweist sich also die Grenze zwischen »Aufklärung« und »Aberglaube« als westliches Konstrukt, das unter anderem der Selbstlegitimierung durch Abgrenzung gegenüber einer als »primitiv« konnotierten Kultur diente.

Medieneffekte und Medienreflexion

Zauberkunst als Teil einer technisierten, illusionistischen Unterhaltungskultur des 19. Jahrhunderts, die sie vor dem Primat des Kinos dominierte, pflegte nicht nur einen spezifischen Technikgebrauch, sondern reflektierte diesen auch. Das erfolgte zum einen in einer ab etwa 1850 zunehmenden Textproduktion – die Veröffentlichung einer Autobiographie gehörte unter Zauberkünstlern spätestens seit Robert-Houdin zum guten Ton116