Teheran im Bauch - Mathias Kopetzki - E-Book

Teheran im Bauch E-Book

Mathias Kopetzki

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Beschreibung

Der Berliner Schauspieler Mathias Kopetzki, aufgewachsen bei deutschen Adoptiveltern, entschließt sich mit über dreißig Jahren, nach Teheran zu reisen, um seinen leiblichen Vater und dessen streng muslimische Großfamilie kennenzulernen. Durch deren leidvolle Vergangenheit auch mit der eigenen konfrontiert, erlebt er den islamischen Gottesstaat als ein faszinierendes Land voller Gegensätze und verliebt sich im Schatten iranischer Moscheen in eine Kusine, die trotz Todesgefahr ein Verhältnis mit ihm beginnt. Kopetzki zeichnet in seiner spannenden, humorvollen und berührenden Geschichte das ungewöhnliche Bild einer Metropole, in der Restriktionen Alltag sind, Familie sich stützt, Glauben Halt verspricht – aber auch das einer Gesellschaft, in der nichts so ist, wie es scheint. Und er entdeckt, dass diese Reise zu seiner Herkunft auch eine Reise zu ihm selbst bedeutet …

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gewidmet allen meinen Eltern

Struktur

Titelseite

Impressum

Widmung

Inhaltsverzeichnis

Textanfang

Seitenzahlen im gedruckten Buch

Inhalt

Juli 2007

Bescherung in Oldenburg

Boarding, zwölf Jahre später

Zweiter Weihnachtstag in Oldenburg

Abflug

Jahresbeginn in Oldenburg

Landung

Winter in Salzburg

Welcome to Iran

Frühling in Salzburg

Die erste Nacht

Sommerbeginn in Salzburg

Der erste Tag

Die zwölf Jahre davor

Der Brief meines Vaters

Ferien in Teheran

Der Brief meines Vaters

Der Beginn der letzten Tage

Der Brief meines Vaters

Vier Monate vor Teheran

Der letzte Donnerstag

Eine Woche vor Teheran

Der letzte Sonnabend

Abschied von Teheran

Die nächsten Jahre

Anmerkungen zum Schiismus und zur islamischen Revolution im Iran

Über den Autor

Impressum

Juli 2007

Hamburg ertrank im Schmuddelregen. Das störte mich nicht – die Zigarette, an der ich verbotenerweise auf der Flughafenterrasse zog, war die letzte unter abendländischem Himmel. Jeden Tropfen, der Stirn und Nacken kühlte, jeden Windhauch, der Wasser gegen die Wangen peitschte, kostete ich aus.

Ich hatte einen überteuerten Filterkaffee aus dem Automaten gedrückt, kauerte nun auf einem Holzstuhl und betrachtete einen Airbus, der sich zum Stehen quälte. Es roch nach Bratkartoffeln und Kerosin.

Ein alter Mann im Poncho trug ein Kleinkind auf dem Arm und erklärte ihm, was »Einflugschneise« heißt. An der Kunststoffscheibe klebten zwei Asiaten und schossen Fotos.

Ich selbst stieß Rauch aus der Nase und kämpfte mit meiner Unlust auf einen unsympathischen Gottesstaat: Im Iran würde ich meine Familie kennenlernen – und das mit Mitte 30. Allen voran meinen Vater. Aber das schob ich zur Seite.

Ich fragte mich, ob ich fähig wäre, mich zu entspannen im Meer von Fanatismus, Verboten und religiösen Tretminen, in die ich dort stapfen konnte: Der Präsident hielt den Planeten mit Hetzreden in Atem, Atomfragen waren ungeklärt, die der Menschenrechte auch, Sanktionen blieben verhängt und Deutschlands Botschafter hockte, wie oft in den letzten Jahren, auf gepackten Koffern.

Was mich ausgerechnet jetzt dahin trieb, nachdem ich so lange widerstanden und mir die Mullahmetropole erfolgreich madig gemacht hatte, konnte ich nicht sagen. Zwölf Jahre hatte ich sie ignoriert, die Annäherungsattacken meines Vaters, der das nur auf dem Papier war und der in einer Welt lebte, die ich vor allem aus Horrormeldungen in der Tagesschau kannte.

Warum hatte ich vor Kurzem noch gemeint, diese Welt, die ich nicht mochte – weil sie alles, was ich mochte, nicht mochte – auf einmal kennenlernen zu wollen? Warum kehrte ich nicht einfach um, verplemperte ein paar Tage auf der Reeperbahn und rief Hamburger Kumpels an, die ich von früher kannte?

Ich seufzte hörbar und das Holz knirschte, als ich mich im Sitz zurücklehnte. Ich dachte an den Morgen jenes Heiligen Abends, an dem das alles begonnen hatte. Ich war Anfang 20 und erst wenige Monate zuvor hatte ich mein Elternhaus verlassen, um in Salzburg ein Studium anzufangen. Die Weihnachtsferien aber verbrachte ich daheim.

Bescherung in Oldenburg

Als das Telefon läutete, war ich allein im Haus. Ich hatte Spiegeleier aufgesetzt und hastete zum Hörer.

»Hier ist Saeed Moghaddam!«, rief eine Männerstimme mit Akzent. Den Namen hatte ich nie gehört. »Schöne Grüße von deinem Vater aus Iran!«

Mit einem Schlag waren die Spiegeleier vergessen. »Bist du noch da?«, wurde ich gefragt.

Ich musste mich setzen. »Jaja …«

»Ich bin ein Freund von Mohsen Lashgari.«

»Von … wem?«

»Von deinem leiblichen Vater. Er hat sein Leben lang nach dir gesucht, jetzt hat er dich mit meiner Hilfe gefunden.«

Was der Mann sagte, begriff ich nicht.

»Wäre es möglich, dass wir uns treffen?«, schlug er vor, als hätte er verstanden, dass es sinnlos war, das Gespräch in die Länge zu ziehen. Die Wörter rauschten an mir vorbei.

»Ja, natürlich … ähmm … aber nicht jetzt. Ich meine, nicht heute.«

»Übermorgen Mittag? Am Hauptbahnhof?«

»Na, gut …«

»Ich wünsche ein frohes Fest!«

Wir hatten an die 20 Sekunden geredet. Dann hörte ich nur Klicken und Tuten, und es dauerte eine Weile, bis ich es schaffte, den Hörer aus der Hand zu legen. Mir stockte der Atem und ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Doch etwas war klar: Die Spiegeleier verkohlten und Weihnachten war gelaufen.

Ich wusste bisher nichts von meinem leiblichen Vater, rein gar nichts. Ich erkannte nur beim Blick in den Spiegel, dass meine Vorfahren auf keinen Fall reinrassige Teutonen gewesen sein konnten. Auch meine Mutter war mir unbekannt. Sie war lediglich ein Name, der meine Geburtsurkunde zierte, die ich noch nie hervorgekramt hatte.

Meine Adoptiveltern hatten nie verheimlicht, dass ich nicht von ihnen stammte. Und für mich und alle anderen war das normal wie die Nutellaschnitte, die ich für den Kindergarten in die Brotdose bekam. Trotzdem gab es viele Fragezeichen in meinem Leben. Und je älter ich wurde, desto mehr traten sie in den Vordergrund.

Als Jugendlicher war ich mir sicher, an meiner Herstellerin regelmäßig vorbeizuwandern: einer Fischverkäuferin auf dem Wochenmarkt, mit der gleichen wulstigen Nase, den gleichen schwarzen Locken und meinen Katzenaugen. Doch als ich ihr Gesicht einmal von Nahem sah, entdeckte ich, dass sie kaum älter war als ich.

Darüber hinaus hatte mich die Suche nach meinen Verursachern nie gereizt – wer mich nicht wollte, war selbst schuld. Und es gab keinen ungünstigeren Zeitpunkt dafür, als nun, da ich mich voll und ganz dem Studium widmen wollte.

Natürlich hatte ich mir manchmal ausgemalt, von einem Torero abzustammen, einem Italo-Lebemann oder griechischen Reeder, aus Ländern mit Flair, Sexappeal und Erholungsfaktor. Ein fundamentalistischer Glaubensstaat stand dagegen nie auf meiner Wunschliste.

Schließlich war ich mit TV-Bildern groß geworden, die den so fernen Nahen Osten ins Wohnzimmer gebracht und mir als Kind Alpträume verschafft hatten: Bilder von finsteren Männern mit schwarzen Bärten, die vor Männern mit weißen Bärten auf Läufern knieten, Mädchen steinigten oder sich selbst in die Luft sprengten. Bilder, auf denen man keine Frauen erblickte, sie unter Tuchbergen nur erahnen konnte, aus Regionen, die von Krieg und Aufruhr geprägt waren und wo Leute selbst in Friedenszeiten immer mit dem Schlimmsten rechnen mussten.

Wenn ich an den Iran dachte, lachte dort niemand. Mit einer Hand schulterte jeder Mann eine Kalaschnikow, ließ in der anderen seine Gebetskette baumeln. Alle brüllten, die Hemden schmutzig, die Züge verzerrt. Über dem Menschenteppich ragte meist ein schlaksiger Greis, wie der Weihnachtsmann mit Kopfverband, auf dem Balkon einer Moschee, mit dunkler Kutte und bösem Blick, und segnete das aufgebrachte Volk. Oder er rief es zum heiligen Krieg auf, gegen Schnurrbartdespoten im Nachbarland oder satanische Verseschmieder. Das alles hatte mich immer abgestoßen. Und nun pochte es plötzlich in meinem Blut?

Ich berichtete meinen Eltern nach der Bescherung, was am Morgen geschehen war. Außer ihnen war nur Steffen anwesend, der jüngere meiner großen Adoptivbrüder. Axel, der ältere, hockte mal wieder im Knast, wegen Hehlerei, Dealerei oder Rasen ohne Führerschein. So genau wussten wir das nie.

»Und was wirst du jetzt tun?«, fragte Steffen, der als erster Worte fand.

Ich blickte auf den Boden. »Ich werde den Typen treffen.«

Mama verließ schweigend den Raum. Papa werkelte am Christbaum. Es ließ sich nie durchschauen, was er von den Dingen dachte. Am liebsten hätte ich die Zeit zurückgedreht und Heiligabend von vorn angefangen.

Bevor ich hinter Mama herlaufen konnte, packte mich mein Bruder am Arm: »Ich hoffe, du weißt, was du ihnen schuldig bist …«

Ich schlug mich frei. »Was denn?«

»Dass du ihr Sohn bist. Und, dass du es bleibst!«

Boarding, zwölf Jahre später

»Fliegen Sie allein?«

Eine Rothaarige mit dunklem Teint riss mich in bemühtem Deutsch aus den Gedanken. Wie wir anderen in der Schlange wartete sie seit einer Stunde darauf, in die Maschine gelassen zu werden.

20 Meter vor uns flüsterte die Stewardess in ein Walkie-Talkie, doch der Einlass war noch nicht freigegeben. Einige Passagiere trippelten auf der Stelle. Babys schrien, größere Kinder liefen Slalom durch die Beine der Erwachsenen.

Ich lächelte und setzte an, der Dame zu antworten. Im selben Augenblick wandte sich ein Pagenkopf mit Sonnenbrille zu mir und wollte etwas auf persisch wissen. Ehe ich reagieren konnte, wurde ihm klar, dass er an den Falschen geraten war – mein iranischer Wortschatz beschränkte sich auf eine Vokabel: »Salemaleikum«. Stattdessen half ihm ein Managertyp, der viel zu süßes Parfüm verströmte. Was er sagte, klang weich und melodiös, mit viel Rachen und langen Vokalen.

»Ja, ich bin allein«, lächelte ich endlich der Rothaarigen zu, und das stimmte auch. Wohl oder übel. Mein biologischer Vater hatte mir am Telefon zwar vorgeschlagen, jemanden mitzubringen, doch ich war nicht in der Lage gewesen, jemanden zu finden. Meine Freunde hatten Freundinnen oder Frauen und die meisten Nachwuchs. Es war aussichtslos gewesen, sie vom Ausflug in einen Terroristenstaat zu überzeugen. Und eine Freundin gab es bei mir nicht. In meinem Terminkalender standen nur die Nummern von zwei Affären, die eine noch nicht lange und die andere nicht mehr lange, wie ich prophezeite. Beiden Mädchen schien bewusst zu sein, dass ich nicht der Mann ihrer Träume war. Ich sah sie einmal wöchentlich, abwechselnd am Wochenende – sie erwarteten so wenig von mir wie ich von ihnen. Wir boten uns gute Laune, Sex und Alkohol, manchmal Party, Kino, seltener ein Picknick. Das war schön, doch mal ehrlich: Klang das stabil genug für sechs Wochen Islamische Republik?

Ich hatte Angst vor dieser Reise, es war sinnlos, das nicht vor mir zuzugeben. Aber diese Angst wollte ich mit meinen Affären nicht teilen. Ich nahm mir vor, wenn ich wieder zu Hause wäre, ihnen ausgesuchte Fotos auf einem Goldtablett zu servieren.

»Wir zwei sind auch allein«, lächelte die Dame zurück. Erst jetzt entdeckte ich den kleinen Blondschopf an ihrer Hand, der mich mit braunen Kulleraugen musterte. Sofort reagierte sie auf meinen verwunderten Blick.

»Ihr Vater ist Deutscher«, sagte sie und strich sich mit den Fingern durchs Haar. »Maja ist naturblond, nur ich habe die Haare gefärbt. Erst gestern. Schade, dass sie gleich unterm Kopftuch verschwinden müssen.«

Mir fiel auf, dass sie nicht die einzige war, die barhäuptig herumstand, und das erstaunte mich: Die wenigsten Frauen trugen Kopfbedeckung. Dort, wo wir hinfliegen würden, war das aber Pflicht. Doch wieso hatte ich mir eigentlich jede Perserin schon in Deutschland verschleiert vorgestellt?

Sie schmunzelte. Ich spürte, dass sie mir gefallen wollte. Auch die Kleine schien mich zu mögen.

»Kann schon allein aufs Klo«, berichtete Maja und grinste mir ins Gesicht.

»So? Wie alt bist du denn?«

»Drei im September.«

Endlich kam Bewegung in die Schlange und ich schob mein Handgepäck einen Schritt nach vorn. Von allen Seiten vernahm ich unverständliches Gemurmel, und als mein Blick über die Menge schweifte, hatte ich das Gefühl, der einzige Nicht-Iraner zu sein, der heute nach Teheran flog. Ich musste grinsen. Auch bei mir konnte schließlich niemand auf einen Nachfahren Barbarossas wetten. Nahöstlich, wie ich nun mal wirkte, unterschied ich mich überhaupt nicht von der Reisemasse. Umso mehr war ich überrascht, dass mich die Rothaarige nicht auf persisch angesprochen hatte.

»Warum fliegt Ihr Mann nicht mit?«, fragte ich sie, um irgendwas zu fragen, während ihre Tochter mich nicht aus den Augen ließ.

»Sie meinen den Vater von Maja? Er ist nicht mein Mann. Ich war nur kurz mit ihm zusammen. Maja hat ihn nie gesehen. Eric hat nichts übrig für seine Tochter.«

»Das tut mir leid«, antwortete ich.

»Das muss es nicht. So sind deutsche Männer.«

Sie schaute mir in die Augen, als wollte sie das Gegenteil hören.

Die Melancholie in ihrem Blick machte mich verlegen. Sie war nicht besonders hübsch, aber ihre Pupillen hatten eine Tiefe, in der ich fähig gewesen wäre einzutauchen. Wenn ich es zugelassen hätte.

»Sind iranische denn besser?«, fragte ich.

Sie wurde ernst. »Anders. Das Gegenteil. Sie können nicht loslassen. Besonders nicht, wenn es um Kinder geht. Ich will keinen Iraner mehr als Mann. Aber die Deutschen haben es mir auch nicht leicht gemacht.«

»Hab Hunger!«, rief die Kleine und zupfte mich am Ärmel. Ich kramte in meiner Hosentasche, wo noch ein paar Hustenbonbons lagen. Ich fischte eins hervor und packte es ihr aus. Majas Mundwinkel wanderten nach oben.

»Sie fliegt das erste Mal in den Iran. Mein Vater wollte nicht, dass ich sie mitnehme. Eigentlich wollte er überhaupt nicht, dass ich komme.«

»Warum nicht?«

»Ich bin geschieden. Neun Jahre ist es her, da bin ich meinem Mann gefolgt. Von Tabriz nach Deutschland. Er bekam eine Arbeit in Hamburg, an der Universität. Farsad ist Physiker. Vor fünf Jahren hat er sich dann in eine Deutsche verliebt. Er hat sich von mir scheiden lassen.«

»So ein Mistkerl«, sagte ich. »Er hat Sie einfach im Stich gelassen. Warum sind Sie nicht zurückgegangen in den Iran?«

»Wissen Sie nicht, was Scheidung dort bedeutet? Du bist geächtet in der Gesellschaft. Kein rechtschaffener Mann wird dich auch nur anschauen. Ich habe mich in Deutschland durchgeschlagen. Das ist das Ergebnis.« Sie lächelte und zeigte auf ihren Spross. »Ein bezauberndes Ergebnis«, ergänzte sie und hob Maja auf ihren Arm.

Die schmatzte und hörte nicht auf, mich zu betrachten.

»Hast du noch einen Bonbon?«, fragte die Kleine.

»Erst, wenn das andere weg ist«, antwortete ich.

Sie kaute nicht mehr und schluckte den Rest hinunter. Dann öffnete sie den leeren Mund und streckte ihre Hand in meine Richtung. Ich musste lachen und wühlte erneut in der Tasche.

Die Rothaarige streichelte über den blonden Lockenkopf und sah mich dankbar an. »Fliegen Sie das erste Mal in den Iran?«

Ich nickte. »Und Sie? Wann waren Sie das letzte Mal dort?«

»Das ist lange her. Ich war noch verheiratet. Farsad und ich waren jedes Jahr bei unserer Familie. Wir haben zusammen einen Sohn. Farsad hat ihn mit in den Iran genommen, zusammen mit seiner deutschen Frau. Er wollte hier nicht bleiben. Er hatte Heimweh. Und Madjid, der damals vier war, hat er mitgenommen. Ich konnte nichts dagegen tun. Es war sein Recht. Im Islam darf eine geschiedene Frau ihr Kind nur behalten bis es zwei Jahre alt ist. Ab dann gehört es dem Mann. Er darf der Frau verbieten, es zu sehen und mit ihm zu reden. Genau das ist geschehen.«

Ich hatte von solchen Geschichten gehört, doch niemanden gekannt, dem sie widerfahren waren. Dafür hatte ich einfach zu wenig mit Muslimen zu tun.

Als ich sie fragte, ob sie ihren Sohn nun wiedersehen würde, schüttelte sie den Kopf. »Ich bin nicht lebensmüde. Ich möchte keinen Ärger. Und ich möchte vergessen. Ich hoffe, dass es Madjid gut geht. Er hing an seinem Vater immer mehr als an mir, und war noch so klein, als er in den Iran ging. Es hat sicher nicht lang gedauert, bis er sich eingelebt hat. Bei seiner neuen Mutter und bei der Familie meines Mannes, die eine gute Familie ist. Und auch Farsad ist ein guter Mann. Ich war nicht richtig für ihn. Ich hoffe, dass er sein Glück gefunden hat.« Ihr Mund lächelte, aber die Augen nicht.

Ich blickte weg und merkte, dass ich wütend wurde. Ich wollte nicht in ein Land reisen, wo solche Dinge geschahen. So kurz vor diesem Urlaub mochte ich hören, wie großartig die persische Kultur war, wie faszinierend die Landschaft und freundlich die Menschen. Ich wollte, dass verdammt noch mal jemand sagte, wie schön es sich dort leben ließ.

»Warum fliegen Sie dann überhaupt?«, erkundigte ich mich.

Den gereizten Ton in meiner Stimme versuchte ich zu verbergen. Sie fuhr der Kleinen mit der Hand über den Rücken. »Wegen Maja. Nur wegen Maja. Meine Familie verachtet mich. Sie glauben, dass ich an der Scheidung schuld sei. Sie haben mir nie verziehen, dass ich in Deutschland geblieben bin. Und schon gar nicht, dass ich ein Kind von einem deutschen Mann habe – dazu noch eine Tochter. Maja ist das Produkt einer Zina, einer Schändung.«

Ich verstand nicht.

»Jeder Geschlechtsverkehr mit einem nichtmuslimischen Mann gilt im Iran als Schändung«, erklärte sie. »Wäre das in Tabriz passiert, wäre ich jetzt tot. Bei Farsad ist das anders. Von einem Mann wird erwartet, dass er die Frau zu seinem Glauben bekehrt. Und das ist auch passiert: Monika ist zum Islam konvertiert, und sie wird von seiner Familie vollständig anerkannt. Genauso wie Madjid. Aber Maja ist für meine Familie ein Bastard.«

»Ich verstehe«, stammelte ich und dachte darüber nach. »Aber – ich begreife nicht, warum Sie sich so etwas antun! Warum Sie trotzdem fliegen!«

Sie stieß Luft aus der Nase und betrachtete mich. Eine Weile sagte sie nichts, und ihr Blick machte mich nervös. Dann flüsterte sie. »Wissen Sie, wie das ist, wenn man Angst hat? Ich meine, nicht ein bisschen Angst, sondern ständig. In der Nacht, bei Tage, ganz plötzlich. Wenn ich nicht gegen sie kämpfe, sterbe ich an ihr, verrecke. Als feiges Stück Fleisch, nicht als Mensch. Die Angst vor meiner Familie macht mich kaputt. Aber sie ist meine Familie, die werde ich nicht los. Ich habe ja schon gesagt, ich bin nicht lebensmüde. Ich werde die Menschen und die Verhältnisse dort nicht ändern. Aber ich werde meinem Vater zeigen, was für ein wunderbares Mädchen die kleine Maja ist. Und Maja werde ich zeigen, wo sie herkommt. Sie ist Iranerin, so deutsch sie auch aufwächst. Ich werde furchtbare Wochen haben. Aber ich habe mir vorgenommen, sie durchzustehen. Für Maja. Und ein bisschen für mich.«

Endlich waren wir am Pult angelangt und ich reichte der Stewardess mein Ticket. Es war vom Schweiß an den Fingern ganz feucht geworden und begann sich zu wellen.

Während ich die Durchgangstür passierte, drehte ich mich noch einmal um. Die Rothaarige war in eine Diskussion mit der Stewardess verstrickt. Ich hatte keine Ahnung, was los war, denn sie sprachen persisch. Vermutlich ging es um Maja. Sie war noch nicht einmal im Flugzeug, und schon gab es Probleme. Wie sollte das erst im Iran aussehen? Die Kleine tat mir leid. Sie blickte mir hinterher, winkte, und ich lächelte und winkte zurück.

Ich wartete nicht auf die beiden, auch hoffte ich, nicht neben ihnen sitzen zu müssen. Ihre Geschichte würde mir sechs Stunden Magenschmerzen bereiten.

Gleich würde ich meinen Schwedenkrimi zur Hand nehmen, der mich in eiskalte Fjorde entführte. Dort mordeten zwar die Menschen oder wurden ermordet, aber es gab sie nicht wirklich. Die moralinsauren Muslime, deren Gedankenwelt in mir Brechgefühle auslöste, waren dagegen real und die nächsten Wochen würden sie mein Leben bestimmen.

Mein Magen zog sich zusammen, als ich den Flieger betrat und eine Stewardess, der Kapuze und Hütchen die Haare verdeckten, zur Kabine zeigte.

»Salaam«, lächelte sie und ich nickte verkniffen.

War es nicht ein Fehler, diesen Flug anzutreten? Ich hatte meine Ersparnisse zusammengekratzt, ein Visum beantragt, mich gegen Hepatitis, Diphtherie und Typhus impfen lassen. Und das alles nur, um einer Sache hinterher zu reisen, die vor über zehn Jahren ihren Anfang genommen hatte und mit der ich bis heute eigentlich nichts zu tun haben wollte.

Reine Neugier war es, die mich damals zu dem Treffen mit Saeed Moghaddam bewogen hatte. Ich glaubte, ich hätte nichts zu verlieren.

Mit welcher Wucht mich diese Begegnung aber treffen sollte, hatte ich nicht erwartet.

Zweiter Weihnachtstag in Oldenburg

Der Wind blies mir in den Mantel und auf dem Bahnhofsvorplatz roch es nach Schnee.

Saeed trug einen Parker, hatte einen buschigen Schnurrbart. Seine Halbglatze glänzte mir entgegen, da er die Mütze abnahm, um mich zu begrüßen. Offensichtlich wusste er, wie ich aussah. Am liebsten wäre ich umgekehrt.

»Salaam, Mathias!«, rief er und drückte mich an sich.

Er stank nach Rauch und kaltem Schweiß. Mehr aus Höflichkeit erwiderte ich seine Umarmung.

Er starrte mich an. »Ich habe dich sofort erkannt, du siehst deinem Vater sehr ähnlich – wie bei ihm wachsen deine Augenbrauen zusammen! Im Iran ein Zeichen männlicher Schönheit!«

Saeed Moghaddam sprach freundlich, aber zurückhaltend, während ich plante, mich bei nächster Gelegenheit zwischen den Brauen gründlich zu rasieren. Auch dass er mich duzte, befremdete mich. Auf einmal entdeckte ich Tränen in seinen Augen, und wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Zögernd klopfte ich ihm auf die Schulter. »Schön, dich kennen zu lernen …«, stieß ich hervor und glaubte es mir selbst nicht.

Saeed war an die 50 Jahre alt, etwas füllig und grau. Scheinbar freute er sich, mich zu sehen, doch sein Blick wirkte skeptisch. »Ich habe da vorne geparkt«, winkte er mich zu einem Fiat Uno, der an der Bäckerei stand.

»Wohin fahren wir?«, rief ich, bevor ich seine Beifahrertür öffnete.

»Wir trinken einen Tee, und dann erzähle ich dir alles«, sagte er und ließ den Motor an.

Wir bogen in die Staustraße, brausten am kleinen Rotlichtviertel und dem Minihafen vorbei in Richtung alte Post. Diese Gegend war mir zu Fuß so vertraut, dass mir die Fahrt wie ein Video vorkam, das man sichtbar vorspult.

In der Innenstadt war ich zur Schule gegangen. Vor zwei Jahren noch hatte ich mich jeden Morgen in den Bus gequält, um vom Bahnhof aus den Gang zum Gymnasium anzutreten. Ich lächelte. Gott sei Dank war diese Zeit vorbei. In der Oberstufe hatte ich die Schule nur noch als Hemmschuh empfunden, auf meinem Weg zu dem, was ich wirklich wollte: spielen.

Saeed parkte vor der Lamberti-Kirche und wir liefen in eine Seitengasse. Vor der Pizzeria »San Remo« stoppte er und öffnete die Glastür.

Ich war oft an diesem Restaurant vorbeiflaniert, hatte es aber nie betreten. Drinnen muffte es und kein Gast war zu sehen. Das erstaunte mich, die Wanduhr zeigte kurz nach Mittag. An der Vertäfelung hingen Teppiche, ein goldener Lüster prangte von der Decke. Ich überlegte, wie ungewöhnlich das alles für einen Italiener war.

An der Theke stand ein schwarz gelockter Mann, groß und hager. Er schritt mit ausgebreiteten Armen auf uns zu.

»Da haben wir ihn ja endlich!«, rief er und drückte mich an seine Brust. Ich ließ es über mich ergehen.

»Das ist Rahim«, sagte Saeed und küsste ihn abwechselnd auf beide Wangen. »Auch er ist ein Freund von Mohsen. Wir sind damals zu dritt nach Deutschland gekommen, mit dem Flugzeug. Er ist ebenfalls hiergeblieben, und, wie du siehst, es geht ihm gut!«

Er lachte und zeigte auf die Einrichtung. Ich begriff, dass es sich bei dem Lokal um gar keinen Italiener handelte, und entdeckte auf einem der Tische eine Wasserpfeife.

»Wunder dich nicht«, schien Rahim meine Gedanken zu erraten, »sämtliche Pizzerien in Oldenburg sind in persischer Hand!«

Er wies auf einen Stuhl. »Kann ich dir einen Tee bringen?«

Ich nickte, obwohl ich zu Hause schon zwei Kaffee getrunken hatte. Als Rahim im hinteren Raum des Res­tau­rants verschwand, legte Saeed seine Jacke ab und wir setzten uns ans Fenster. Mich fröstelte.

»Was machst du beruflich?«, fragte Saeed und zündete sich eine Zigarette an.

»Ich bin Schauspielstudent«, antwortete ich, nicht ganz ohne Stolz.

Er blies den Rauch nach oben. »Schauspielstudent! Das haut mich aber um! Dein Vater hat mal als Filmschauspieler gearbeitet. Im Iran!«

Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog, beschloss das aber nicht wahrzunehmen. In meiner Adoptivverwandtschaft wäre niemand auf die Idee gekommen, sein Geld mit Kunst zu verdienen.

Ich wusste nicht, was mich mehr störte: Dass Saeed Moghaddam diesen unsichtbaren Typen in Zusammenhang mit meinem Traumberuf brachte, oder dass er die Frechheit besaß, ihn meinen »Vater« zu nennen.

Er lehnte sich nach vorne. »Dein Vater war Ringer, ein sehr guter. Ringen ist Volkssport im Iran. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der Film ihn entdeckte. Er hat nichts Bedeutendes gespielt, eher den Schläger. Aber er hatte Talent, das muss ich sagen.«

Rahim brachte den Tee auf einem Silbertablett und setzte sich zu uns. Die Gläser waren klein und geschwungen, wohltuend dampfte es aus ihnen. Er griff ein Stück Zucker, warf es in den Mund und hob ein Glas an die Lippen. Saeed tat es ihm nach.

Ich überlegte, ob sie für jeden Schluck ein neues Zuckerstück schmelzen lassen würden. Aber ein anderer Gedanke beschäftigte mich mehr: »Wie – wie habt ihr mich gefunden?«

Saeed stellte das Glas auf den Tisch. »Vielleicht fange ich besser ganz vorne an«, sagte er.

Er wäre mit Mohsen und Rahim 1970 nach Deutschland gekommen. Im Iran wäre es ihnen nicht gut gegangen, zumindest nicht beruflich. Er lernte meinen »Vater« bei der Arbeit kennen. Sie waren Mitte 20 und schufteten im Teheraner Straßenbau für sehr wenig Geld. Als das Arbeitsamt ihnen sagte, im Schiffbau in Norddeutschland wären die Chancen besser und sie könnten sich mit dem Geld im Iran eine Zukunft aufbauen, hätten sie sich auf den Weg gemacht.

Mit einer Handbewegung forderte er mich auf zu trinken. Vorsichtig setzte ich das Glas an die Lippen und kostete. Der Tee schmeckte erdig und bitter. Nur widerwillig ließ ich ihn über meinen Gaumen rinnen, verzog das Gesicht und stellte das Glas weit weg. Saeed tat so, als hätte er das nicht bemerkt.

»Unsere erste Station war Bremen«, fuhr er fort. »Später sind wir dann nach Oldenburg gekommen, arbeiteten als Schweißer für die Werft.«

Anfangs hätten sie kein Deutsch gekonnt, wären aber fleißig und lernbegierig gewesen, vor allem, um mit Mädchen in Kontakt zu kommen. In Teheran wäre das schwieriger gewesen, besonders für Mohsen, der aus einer strenggläubigen Familie kam. Sie merkten schnell, dass ihnen deutsche Frauen gefielen, mit ihrer offenen Art auf Männer zuzugehen, ihren blonden Haaren und Sommersprossen, und sie ihnen ebenfalls. Das hätten sie ausgenutzt.

Seine Augen funkelten. »Unsere Oldenburger Wohnung lag über einer Diskothek. Wohnung ist übertrieben – eher ein Zimmer, das wir drei uns teilten, mit einer Kochnische und einem Waschbecken so groß wie ein Spaghettiteller.«

Rahim goss neuen Tee nach, obwohl meiner noch nicht ausgetrunken war. Dass ich ihn widerlich gefunden hatte, schien er zu ignorieren. »Dein Vater war der größte Frauenheld von allen!«, lachte er.

Ich überlegte, dass ich mir das von Rahim ebenso vorstellen konnte. Er wirkte charmant und zugänglich. Saeed dagegen besaß etwas, das mir Angst einflößte. Wie ich geahnt hatte, griff dieser auch vor seinem nächsten Schluck ein Zuckerstück und steckte es in den Mund.

»Er hatte viele Freundinnen, mit denen es immer schnell aus war«, ergänzte Rahim. »Wir lernten die Mädchen in der Diskothek kennen. Wir hatten Hunger nach Liebe und Spaß, machten alles, was uns zu Hause fremd war, tranken Alkohol und vögelten herum. Um auf keinen Fall darüber nachdenken zu müssen, dass wir weit weg von unserem Land und unseren Familien waren.«

Saeed zündete sich eine neue Zigarette an und wischte mit der Hand über den Mund. »Eine Weile waren wir schon hier, als uns die Zwillingsschwestern Glienicke über den Weg liefen.«, sagte er und senkte seine Stimme. »Ich glaube, wir verliebten uns parallel in sie, dein Vater in Klara und ich in Katharina. Sie waren süß, wie sie da standen und ihren Jägermeister tranken. Ich glaube, sie hatten sich noch nie mit Männern eingelassen.«

Die Mädchen wären 17 gewesen, also viel jünger als sie. Sie bewunderten die kräftigen Arme der Perser und die Freiheit, die sie wohl damals ausgestrahlt hatten. Es wäre wie immer ein Vorteil gewesen, dass ihr Zimmer über der Diskothek lag und die beiden Mädchen keine Scheu gehabt hätten, nicht voreinander und auch nicht vor ihnen.

Er räusperte sich. »Verzeih mir, wenn ich zu direkt bin, aber ich will dir alles erzählen, alles. Du musst so lange darauf gewartet haben!«

Er schaute mich an und wollte vermutlich eine Antwort. Ich setzte mein Pokerface auf und erwiderte nach einer Pause: »Bisher hast du dich danach nicht erkundigt. Aber erzähl nur weiter, ich melde mich schon, wenn mich etwas stört.«

Er drückte die Kippe in den Aschenbecher. »Wir haben uns eine Zeit lang regelmäßig getroffen, gingen sonntags in den Park und machten abends Kartoffelsuppe. Ich glaube nicht, dass sie ihren Eltern von uns erzählten. Viel eher, dass sie sich etwas einfallen ließen, um uns zu treffen. Und eines Tages haben sie uns beide was gestanden. Das, was uns heute hier zusammenführt …«

Saeed machte eine Pause und wechselte einen Blick mit den Augen seines Freundes.

Ich verstand nicht. »Sie – beide?«

Rahim lachte. »Tja, es ist schwer zu glauben, aber sie wurden tatsächlich zur gleichen Zeit schwanger. Wenn nicht in derselben Nacht, dann in derselben Woche!«

Ich schüttelte mich. Mir wurde diese Geschichte langsam eklig. Außerdem begann ich, an ihrer Wahrheit zu zweifeln.

»Dann bist du – so eine Art Onkel für mich?«, scherzte ich bitter und griff nach seinen Zigaretten, ohne ihn gefragt zu haben. Eigentlich rauchte ich nicht, aber das Ganze wurde mir zu bunt.

»Ja – das wäre ich, wenn – Katharina bei mir wäre, und wir – bei unserem Sohn.«

Er gab mir Feuer. Ich schaute ihn ungläubig an.

»Die Eltern der Zwillinge freuten sich nicht gerade, als sie von der Schwangerschaft hörten«, fuhr er fort. »Um es genauer zu sagen, sie verboten ihnen den Kontakt mit uns. Die Mädchen waren minderjährig, das war schon schlimm genug. Dazu waren wir Ausländer.«

Im Deutschland der 70er-Jahre wäre das noch ein echtes Problem gewesen und Saeed war außerdem immer klar, dass sie zurück in den Iran wollten.

»Ich glaube aber trotzdem: Wir hätten einen gemeinsamen Weg gefunden, wenn wir ihn nur gesucht hätten.«

Die Zwillinge entschlossen sich, die Kinder wegzugeben. So setzten auch Mohsen und Saeed ihr Zeichen unter die Adoptionsurkunden, ohne zu wissen, wo ihre Söhne landen würden. Mein »Vater« machte sich ein paar Tage nach meiner Geburt auf den Weg nach Teheran, mit gebrochenem Herzen – immerhin war er bei meiner Entbindung dabei gewesen. Am Flughafen wäre Mohsen Saeed noch um den Hals gefallen.

»Er hat geschluchzt wie ein Kind. Und hat Rahim und mich nie wiedergesehen.«

Ich konnte nichts sagen. Ich versuchte, meine Hand ruhig zu halten, um die Zigarette aufzurauchen. »Warum seid denn ihr nicht zurückgegangen?«, fragte ich endlich.

Rahim atmete schwer, bevor er etwas erwiderte. »Wir hatten schon gepackt und wollten ein paar Wochen später folgen. Die schönen Tage in Deutschland waren vorbei, seitdem wir wussten, dass die Kinder nicht bei uns bleiben würden.«

Sie hätten die Laune verloren und geahnt, dass es Zeit sein würde, zurückzukehren. Dann aber spürte sie ein gemeinsamer Freund auf, auch ein Perser, und sprach davon, dass er ein Restaurant aufmachen wollte, und ob sie ihm nicht helfen könnten. Er hätte einen Laden an der Angel, bei dem die Pacht nur wenig kostete, und die Leute in Deutschland wären ganz verrückt nach iranischem Essen.

»Saeed und ich schauten uns an und wussten, dass Kochen eigentlich das war, was wir am besten konnten, obwohl uns das zu Hause unsere Mütter nie machen ließen«, sagte er. »Wir überlegten nur kurz, dann war für uns klar, dass wir hier bleiben würden. Mittlerweile hat Saeed zwei Bistros in Rastede und ich das hier in Oldenburg. Es geht uns gut, obwohl: Aus den persischen Gerichten sind eher italienische geworden.« Er lachte. »Für die meisten hier ist die iranische Küche einfach zu exotisch.«

Ich hatte zu Ende geraucht. »Was ist aus deinem Sohn geworden?«, fragte ich Saeed.

Er ließ sich Zeit mit einer Antwort, warf ein Zuckerstück in den Mund, kaute und spülte Tee hinterher. »Ich habe ihn gefunden«, sagte er leise. »Ich habe ihn gefunden und besucht …« Er stockte. »Ein Freund von mir arbeitet bei der Polizei.«

Normalerweise dürften Eltern, die ihre Kinder weggegeben hätten, nichts über sie erfahren, das Jugendamt wäre streng. Sein Freund aber hätte ihm vor einem Jahr versprochen, sich um Informationen zu kümmern.

»Ich tat ihm leid«, meinte er. »Die Sache ließ mir keinen Frieden. All die Jahre nicht. Er kam mit einer Adresse und Telefonnummer und steckte sie mir zu. Es dauerte lange, bis ich meinen Sohn einmal an der Strippe hatte – immer, wenn ältere Leute am Apparat waren, legte ich auf. Als ich irgendwann seine Stimme hörte, wusste ich, dass er es war. Ich sagte: ›Hallo, Martin. Hier ist dein Vater.‹ Dieses Mal legte er auf.« Saaed strich die Tischdecke glatt, die er mit Blicken durchlöchert hatte. »Ich beschloss ihn zu besuchen. Ich raste die Autobahn nach Frankfurt in einem durch, wie besessen. Das erste Mal hielt ich an, als ich vor seinem Elternhaus parkte. Ich stieg aus und läutete. Ich wusste, dass er fürs Abitur lernte, das hatte der Polizist herausgefunden. Und mir war klar, mein Besuch würde ihn überraschen. Aber ich konnte nicht anders. 20 Jahre hatte ich auf diesen Augenblick gewartet. Anscheinend war er allein zuhause. Aber er ließ mich nicht rein. Ich stand wie ein Landstreicher vor der Tür. Ich bettelte darum, nur mit ihm reden zu dürfen. ›Was willst du?‹, fragte er. ›Interessiert dich nicht, wer dein Vater ist?‹, erwiderte ich. ›Ich habe einen Vater‹, sagte er. ›Du bist es nicht.‹ ›Ich möchte mich nur mit dir unterhalten‹, sagte ich. ›Nur unterhalten, weiter nichts.‹ ›Aber ich nicht mit dir.‹ Dann schlug er die Tür vor mir zu.«

Es war plötzlich still im Raum und ich wollte nur noch raus. Irgendwie war ich dem Jungen in Frankfurt näher, als diesen Kerlen mit ihren haarsträubenden Geschichten. Mühsam unterdrückte ich ein Lachen.

Saeed bemerkte das nicht und redete weiter. »Ich habe ihm verziehen«, hauchte er, und ich sah, dass er wieder feuchte Augen bekam. »Ich habe ihm verziehen und warte auf seine Einsicht. Im Iran ist es üblich, jeden, der an die Tür klopft, hereinzulassen und ihm einen Tee anzubieten. Jeden, auch den größten Feind, den abgerissensten Penner. Er hat mich in meiner Ehre verletzt. Aber ich verzeihe ihm. Ich habe es schließlich nicht besser verdient. Ich sende ihm Postkarten, zu Weihnachten und zu seinem Geburtstag. Und das wird auch so bleiben. Ich erwarte keine Reaktion. Ich erwarte nicht, dass er mit mir spricht und schon gar nicht, dass er mich als das sieht, was ich bin: sein leiblicher Vater. Ich will nur anwesend sein und will, dass er das weiß. Ich war all die Jahre nicht bei ihm. Ich habe nicht gesehen, wie er laufen lernte. Wie er seine ersten Worte sprach. Wie er seine Schultüte in der Hand hielt. Ich weiß nichts von ihm und er nichts von mir. Aber ich bin sein Vater. Und das werde ich bleiben, bis ich im Grab liege …«

»Entschuldigt mich bitte …!« Auf einmal riss es mich nach oben und ich eilte den Gang entlang zur Toilette. Ich schaffte es noch bis zur Schüssel, dann übergab ich mich. Das Ergebnis war schwarz vom Kaffee und dem Tee. Die ungewohnte Zigarette hatte das im Magen durchgerührt.

Ich betrachtete mein Werk lange und überlegte, ob es nicht besser wäre abzuhauen. Mir war das alles zu viel und ich wusste nichts mit dieser ekelhaften Geschichte anzufangen. Selbst wenn sie wahr wäre: Was ging mich das an? Sollten diese selbstmitleidigen Perser doch in ihrem eigenen Trief ersticken. Sollten sie ihn herunterspülen mit tonnenweise Tee und Zuckerwürfeln! Die Zeit konnten sie genauso wenig zurückdrehen wie ich. Und wir waren alle Produkte unserer Erziehung und Erfahrung. Was, bitteschön, wollten sie denn gutmachen, und verdammt noch mal, für wen? Es ging doch sowieso nur um sie, um ihren Seelenfrieden. Für ihre »Söhne«, wie sie uns nannten, hätten sie doch in Wirklichkeit, damals wie heute, keinen Finger gerührt. Wo waren sie denn, als wir sie vielleicht gebraucht hätten? In dieser kurzen Spanne, wo unser Leben unklar war und sich im einsamen Vakuum befand, aus dem uns unsere Adoptiveltern befreiten? Jetzt war es zu spät, einfach zu spät. Es gab kein Zurück, nicht für sie und nicht für uns. Wir waren gewohnt, zu existieren, wie wir existierten. Und wir verschwendeten nicht die Mikrofaser eines Gedankens daran, dass es anders hätte laufen können.

Ich drückte die Spüle und wusch mir am Waschbecken das Gesicht. Im Spiegel darüber sah ich mitgenommen aus. Diese Tage hatten es in sich. Wer zum Teufel erkundigte sich eigentlich, wie es mir bei der Sache ging? Ich kam mir vor wie ein Spielball und verließ wütend den Kloraum.

»Ich habe nicht mehr lange Zeit«, rief ich. »Wenn ihr mir noch etwas sagen wollt, dann bitte schnell!«

Saeed wies wortlos auf meinen Stuhl, ohne mich anzuschauen. Ich folgte ihm widerwillig.

»Ich hatte am Telefon deinem Vater von diesem Polizisten erzählt«, fuhr er fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. »Er schickte dem Kerl Geld, damit er nochmals Informationen aus dem Jugendamt schmuggelt. Diesmal über dich.« Er sah mich an. »Mein Gott, wenn du wüsstest, was dein Vater um dich gelitten hat.«

Saeed bewegte seine Hand in Richtung meines Gesichts, doch ich konnte meinen Unmut nicht länger verbergen und schlug sie zur Seite. Dass Rahim in der Zwischenzeit aufgestanden war und ins Telefon sprach, hatte ich nicht bemerkt. Er redete vermutlich auf persisch, seine Stimme klang aufgeregt. Er lachte und winkte Saeed an den Hörer.

»Das ist dein Vater!«, rief mir Rahim entgegen. Saeed eilte zum Apparat und schrie in die Muschel. Nach einer Weile wandte er sich an mich. »Sie haben heute ein Lamm geschlachtet! Nur für dich, weil wir dich gefunden haben!«, übersetzte er und heulte nun vollends. Er streckte mir den Hörer entgegen. Ich hatte keine andere Wahl, als ihn zu greifen.

»Salem Aleikum, Mathias!«, rief eine unbekannte dunkle Stimme, ähnlich wie meine. »Bist du es wirklich? Sag, dass du es bist!«

Ich schluckte. »Ich bin es«, sagte ich leise.

Von da an hörte ich nur noch Jubelschreie im Hintergrund.

Die meisten Worte, die ich mit meinem biologischen Vater wechselte, gingen also in einer Geräuschsuppe unter. Das war mir recht, denn ich hätte nicht gewusst, was ich mit ihm reden sollte. Er fragte mich, wie es mir ginge.

»Gut, gut«, antwortete ich. »Und wie geht es dir?«

»Sehr, gut, sehr gut …«, rief er und ich meinte zu hören, dass er weinte. Die Leitung brach immer wieder für Sekunden ab, so dass keiner verstand, was der andere sagen wollte.

Ich schaute zu Rahim. Wie Saeed ließ auch er seinen Tränen freien Lauf. Ich merkte, dass er das von mir ebenfalls erwartete, aber ich konnte und wollte nicht. Ich verbat es mir sogar. Was ich herauslassen wollte, hatte ich auf der Toilette getan.

Mein Erzeuger redete ohne Pause, aber jedes zweite Wort ging verloren. Dennoch bekam ich mit, dass sein Deutsch ziemlich fließend war. Ich selbst hörte mich nur sprechen: »Jaja …«, »Ich auch …«, »Wie schön …«, und »Mach ich, mach ich …«

Der einzige Wunsch, den ich dabei hatte, war, den Hörer schnell wieder an Saeed weiterzugeben. Nachdem wir uns mehrfach verabschiedet hatten, konnte ich es endlich tun. Das Gespräch hatte mir den Rest gegeben.

Saeed brachte mich zurück zum Bahnhof und ich fuhr mit dem nächsten Bus nach Hause. Dort verkroch ich mich in mein Zimmer, konnte nicht essen, nichts trinken und kam erst Stunden später heraus.

»Ich muss mit dir reden«, sagte meine Mama, als wir anschließend zu Abend aßen. Beethovens Siebte dröhnte aus dem Küchenradio. Papa war früher fertig gewesen und hatte sich im Wohnzimmer vor den Fernseher gelegt.

Ich selbst hatte wenig Hunger. Die Geschichte vom Mittag lag mir noch im Magen, obwohl ich sie meinen Eltern stockend mitgeteilt hatte. Ein abgebissenes Käsebrot schmückte meinen Teller und ich wollte mich gerade auf den Weg machen. Ich hatte gehofft, sie würde mich in Ruhe lassen.

Langsam fiel ich auf den Stuhl zurück, faltete meine Hände und starrte auf die Serviette. Ich spürte ihren sorgenbelasteten Blick. Den trug sie seit Tagen, und er machte mich rasend. Ich wusste ja, worum es ging.

Sie putzte ihre Brille und blickte zum Fenster hinaus. »Du weißt, was die Perser gemacht haben …«

»Nein«, schnaufte ich, denn es interessierte mich nicht.

»Sie haben vor einiger Zeit in Berlin ein Restaurant in die Luft gesprengt, um irgendwelche Randgruppen zu töten. Mittlerweile ist klar, dass ihre Regierung dahintersteckt.«

Ich hatte davon gehört, mich aber nicht damit beschäftigt. Warum auch? Dieses Land und seine Probleme waren mir so fern wie der Jupiter.

Ich lachte resigniert.

Sie blickte mich scharf an. »Findest du das komisch?«

»Nein«, sagte ich, »aber ich bin keine Randgruppe. Und auch kein Perser. Was also willst du von mir?«

Sie lehnte sich vor. »Mathias, das sind gefährliche Menschen!«, wurde sie deutlicher. »Du bist ja so naiv. Du lebst in deiner Scheinwelt von Theater und Leuten, die einander Gutes wollen. Aber wenn du mit denen Kontakt hältst, betrittst du einen anderen Raum!«

Mir wurde das Gespräch zu absurd und ich stand auf. »Ist es das, über was du mit mir reden willst? Über schlechte Perser? Über die gute und die böse Welt? Mama, du machst dich lächerlich. Ich bin alt genug, selbst zu entscheiden, mit wem ich Kontakt haben will!« Ich verließ die Küche.

»Mathias, ich habe Angst!«, rief sie mir hinterher und begann zu schluchzen.

Ich warf die Jacke über und schmunzelte. »Vor was denn?«, wurde ich neugierig.

Ihr Gesicht sah mitgenommen aus. »Ich habe Angst«, wimmerte sie, »dass sie – dass sie dich entführen!«

Ich zog den Reißverschluss hoch, griff nach meiner Mütze. »Auf einem fliegenden Teppich, nicht wahr?«

Ich wollte gehen und öffnete die Tür. Es war noch zu früh für die Disco, wo ich verabredet war. Aber ich hielt es hier nicht länger aus.

»Bitte setz dich noch einmal!«, versuchte sie es erneut.

Ich stöhnte. Mühsam tat ich ihr den Gefallen, ließ mich noch einmal nieder und schaute ihr mit gespielter Neugier in die Augen.

»Du brauchst nicht zynisch zu sein, die Sache ist ernst genug«, meinte sie und konnte meinen Blick nicht erwidern.

»Aha, für wen denn?«, konterte ich.

Sie ging nicht darauf ein. »Ich werde morgen einen Termin ausmachen. Beim Jugendamt.«

Jetzt musste ich lachen. »Was heißt das? Wollt ihr mich zurückgeben?«

»Bleib bitte bei der Sache! Es geht darum, zu erfahren, was damals wirklich geschehen ist.«

»Das fällt dir ja früh ein …«