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Weihnachten 2008: Nach der Trennung von seiner Freundin kehrt der Mittdreißiger David nach mehrjähriger Abwesenheit wieder in seine Heimat zurück. Er will die Bar seines Jugendfreundes Martin besuchen, aber weder den, noch sonst etwas Bekanntes trifft er dort an. Stattdessen erwarten ihn eine Reihe skurriler Gestalten, ein seltsames Mädchen und eine wilde Reise durch die Vorweihnachtsnacht, in der sich Gegenwart und Vergangenes zu vermischen scheinen. Am Morgen des Heiligen Abends findet er sich völlig aufgelöst ohne Geld und Papiere auf einer Zugtoilette wieder, heimgesucht von den Geistern der Vergangenheit und um eine schreckliche Gewissheit reicher ...
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Seitenzahl: 105
Für N, T, M und L
Amicus certus in re incerta cernitur.
(»Den wahren Freund erkennt man in der Not.«)
Marcus Tullius Cicero
Ich habe keine Lust, in den Spiegel zu sehen. Schon gar nicht, wenn er mich zwingt. Doch der Raum ist zu klein, um ihm auszuweichen.
Zum Glück ist der Spiegel bleich, fettig und schwarz besprayt. Von der Fratze, die er mir präsentiert, nehme ich nur Umrisse wahr.
Mein Kopf huscht an den misstrauischen Augen auf dem Glas vorbei, die versuchen, mich anzustarren. Mir irgendein Geheimnis zu entlocken.
Na, servus. Ein anderes Mal gern. Doch heute kann ich mich nicht leiden.
Im Grunde stiere ich die ganze Zeit auf den Boden, als hätte ich dort etwas verloren. Hocke auf dem abgenutzten Kunststoffdeckel. Bewegungslos. Und zähle Sekunden.
Ich horche auf, beim kleinsten Geräusch, dass das monotone Krachen der Eisenräder unterbricht, den Lärm der Motoren.
Ich halte die Hände ineinandergehakt, um mich an mir festzuhalten. Wenn ich nur lang genug verharre, regungslos, und mein Atmen gegen Null tendiert – vielleicht gelingt es mir, mich aus dem Zug zu beamen?
Doch bis es so weit ist, heißt es, unhörbar zu werden. So unhörbar, dass ich mich selbst nicht mehr wahrnehme. Als würde ich ernsthaft glauben, niemand von draußen merkte, dass ich hier drin bin.
Idiot! Du hast doch die Tür versperrt! Der rote Punkt fällt sogar Kindern auf. Und über den Schiebetüren, mitten ins Abteil hinein, wird jedem, der im Zug sitzt, angezeigt: WC besetzt.
Alle wissen, was du hier machst. Wer nur scheißen will, bleibt keine Viertelstunde. So schön ist es hier drinnen nun auch nicht.
Ich spüre, wie ein neuer Schweißschub aus meinem fröstelnden Kopf schießt. Ihn verklebt wie eine schleimige Paste, wie eine Spinne, die langsam herunterwandert, mit nassen Beinchen über Stirn, Wange und Nacken bis auf meinen Oberkörper.
Mein Herz überschlägt sich, gerät aus dem Takt. Als würde es hinter etwas herhetzen. Und Gefahr laufen, zu spät zu kommen.
Erst einmal die Augen schließen. Zur Ruhe kommen. Den Pulsschlag dimmen. Sekunden zählen. Die fühlen sich an wie Stunden. Auf die Uhr kann ich schon lang nicht mehr schauen. Sie ist zu meinem Feind geworden.
Am besten gar nicht mehr existieren. Oder klein sein, so klein wie ein Fötus. Der braucht keinen Fahrschein. Der wird beschützt, umsorgt und gefüttert.
Ich schüttle den Kopf. Will den Salat darin loswerden. Doch der hat sich festgehakt. Und mein Oberkörper zieht sich zusammen.
Ich taste mein Gesicht ab. Heiß, dann plötzlich wieder eisig, nicht nur die Stirn. Dazu die Schläge im Hirn. Sie pochen bis in meine Wirbelsäule. Als wolle mein Rücken sich nach außen wölben. Wie ein Werwolf.
Einfach nicht die Augen öffnen. Und wenn, dann nur, um zu sehen, dass alles nur ein Traum ist.
Alles.
Es klopft!
Auf der Stelle schrecke ich hoch. Im selben Moment verkrümmt sich mein Körper, in meine Finger schießt Eis.
Will da etwa jemand rein?
Doch selbst wenn? Ist doch verschlossen, du Depp.
Erste Lektion: Niemals das Klo abschließen! Wenn jemand kommt, kannst du immer noch sagen, du hast es vergessen.
Ja, ich weiß, Alter.
Ich mach grad alles falsch. Fehler um Fehler. Jetzt fange ich auch noch an zu beten, in meinem selbstgeschaffenen Verlies.
Die Augen schießen auf: Jemand drückt die Klinke runter, einmal … zweimal! Vielleicht muss er nur ganz dringend?
Und wenn schon, kein Mitleid. Geh weiter, nächstes Klo!
Ich versuche, ihn mit meinem Wunsch zu hypnotisieren, mitten durch die Wand, die uns trennt, vielleicht kommt die Botschaft an.
Ich horche. Wartet er? Oder hat er begriffen?
Ich presse den Schädel an die Tür. Ich will verdammt nochmal wissen, was da draußen vor sich geht.
Ruhig Blut! Wenn es ein Schaffner wäre, würde er etwas zu mir hineinrufen. Etwas, das mir zeigt, dass er mich durchschaut hat: Wird das bald mal mit ihnen? oder: Ich weiß, was Sie da drinnen machen!
Doch nichts ist zu hören, rein gar nichts. Vorerst.
Der Klopfer hat sich scheinbar verzogen, meine Hypnose hat gewirkt.
Das gleichmäßige Rattern der Schienen, das stupide Brummen, unterbrochen von keinem noch so geringen Geräusch – das alles lässt mich vermuten: Niemand ist gerade hinter mir her.
Ich lehne mich zurück, für ein, zwei Sekunden. Entkrampfen kann der Körper noch lange nicht.
Meine Hand wandert an die linke Brust, wo sich normalerweise die Brieftasche nach außen wölbt. Normalerweise. Wie oft hab ich das in den letzten zwanzig Minuten getan?
Denn nichts wölbt sich nach außen, immer noch nicht.
Nackt würd’ ich jetzt dastehen. Vor diesem Machtmann in Uniform. Ganz nackt und klein. Und er? Würde nur müde lächeln. Über mich und meine miese Ausrede.
Mir fällt ein Filmtitel ein: Schaffner kennen keinen Heiligabend.
Er hatte das Gepäck bei seiner Mutter abgestellt, bevor er sich wieder aufmachte in die zwei Bahnstationen entfernte Nachbarstadt, wo er zur Schule gegangen war und Martin seine kleine Bar besaß.
Genau drei Jahre war es her, dass David ihn zuletzt gesehen hatte, jenen Freund, den er immer noch als einen seiner besten bezeichnete. Manche Dinge ändern sich nicht, und Freundschaften schließt man nicht mehr so leicht mit Mitte dreißig, überlegte er, als er am Bahnhofsautomaten eine Hin-und-Rückfahrkarte löste.
Früher, als sein Vater noch gelebt hatte, war er jedes Jahr den weiten Weg von München in sein norddeutsches Heimatdorf aufgebrochen, um mit den alten Herrschaften Weihnachten zu feiern. Im Grunde das einzige private Ritual in seinem ansonsten eher weniger privatem Leben, das sich ruhelos und kurvig, doch meistens mürbe vor sich hinbewegte.
Es gab zwar Bescherung, obwohl sie einander nicht viel schenkten – meist lagen nur Süßigkeiten auf dem Gabentisch –, doch das reichte den Dreien, um einen zufriedenen Abend zu verbringen. Gestritten hatten sie sich, soweit er sich erinnern konnte, nie.
Es war ein leises und gleichmäßig verlaufendes Fest ohne Aufregung und wirkliche Höhepunkte. Angetrieben von seiner Mutter, die den ganzen Tag Fisch, Salate und Braten bereitete, während sich sein Vater mit Kreuzworträtseln ins Arbeitszimmer verzog.
Als der vor drei Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben war, war David bisher aber nur noch einmal in sein Nestchen gefahren, und zwar zur Beerdigung.
Fortan nahm er seine kleine Mutter, die nach dem Tode ihres Mannes um Jahrzehnte gealtert schien, zu Weihnachten zu sich, ließ sie die lange Strecke nach Bayern mit dem Zug fahren und versuchte, ihr während der Feiertage einen Großteil seiner Zeit zu schenken.
Sie war ängstlicher geworden. Hinter allem und jedem lauerte eine Gefahr für sie. Und eine stundenlange Bahnreise glich einem ganzen Bombardement an Gefahren.
Jedes Jahr an Heiligabend empfing er sie nun am Münchner Hauptbahnhof, mit ihrem stetig bleicher werdenden Gesicht und immer panischer geweiteten Augen, die wirkten, als wären sie knapp einer Katastrophe entwischt. Und ließ sie zwei Tage später, kaum erholt von der kräftezehrenden Hinfahrt, mit schlechtem Gewissen wieder die Tortur der Rückreise antreten.
Seine Mutter konnte sich auf das Abenteuer Zug mit fast 80 einfach nicht mehr einlassen, und es brach ihm das Herz, ihr jährlich eine solche Strapaze zuzumuten.
So kam es, dass er sich entschlossen hatte, dieses Jahr Weihnachten wieder bei ihr zu verbringen.
Schließlich hatte er keinen Grund, über die Feiertage in München zu bleiben. Es gab keine Frau mehr in seinem Leben, Heike war im Herbst gegangen.
Er war frei und konnte fahren, wohin er wollte.
Warum also nicht nach Hause?
Die Freundschaft zu Martin hatte ihn auch in den Jahren, die er ihn nicht sah, im Geiste begleitet und er hatte sie nie in Frage gestellt. Martin war die Konstante in seinem Leben, immer verbunden mit den ach so wilden Jugendjahren, die ihre Heimat ihnen damals bot.
Sie hatten zusammen das Gymnasium durchlitten, von der Siebten bis zum Abitur, sogar gemeinsam die Achte wiederholt. Mit sechzehn waren sie nachts in Firmengelände eingedrungen, um dort Skateboard zu fahren, und im Sommer mit pickeligen Mädchen über Freibadzäune geklettert.
Sie hatten Schülerausweise gefälscht, damit sie Kinofilme ab 18 sehen konnten, und sich diebisch gefreut, wenn sie an der Kasse damit durchkamen, hatten Herrn Kehlkamp, ihrem Klassenlehrer, Furzkissen auf den Stuhl gelegt und zusammen Mathe geschwänzt, um im Stadtpark Dosenbier zu trinken. All das, was zwei Jungs wohl so machen, die sich in der Schulzeit Freunde nennen.
Minuten nach Davids mühevoll bestandenem Abitur hatte er den Eindruck, Martin würde sich mehr darüber freuen als er selbst.
Als er hinaustrat aus der mündlichen Prüfung, matt wie ein abgekämpfter Held, aber den Daumen nach oben gereckt, tanzte ihm Martin entgegen, zwei geöffnete Piccolos in der Hand, Fluppe im Mundwinkel, und warf dabei mit breitem Grinsen fast einen Lehrer um.
David dankte es ihm, indem er die ersten Wochen von Martins ödem Zivildienst in irgendeiner Vorort-Rettungswache so ziemlich jeden Tag vorbeispazierte; seine Bundeswehrzeit ließ noch ein paar Monate auf sich warten.
Joints auf dem Klo, Obstler im Dienst, sogar mal ganz unkeuscher Damenbesuch – all das war damals der Prolog für ein Leben ohne Grenzen, ein Leben unendlich scheinenden Abenteuers, mit Möglichkeiten, die sie selbst ja noch nicht erahnten.
Ungläubig und mit großen Augen stierten sie allem entgegen, was neu und frei war und Abwechslung versprach. Abwechslung von allem, was sie satthatten, aber noch nicht abstreifen konnten, doch sicher bald. Ganz bald.
Dann würde etwas anderes auf sie warten, irgendwas Geiles, noch nie Probiertes hinterm jetzt noch trüben Horizont.
Was auf sie wartete, war die Trennung.
Sicher, sie hatten nochmal einen richtig guten Sommer, als David zurückkam aus Gießen, im Gepäck ein kläglich abgebrochenes Studium nach zwei Semestern Medizin, und erst einmal wieder zu Hause wohnte.
Martin hatte seine Heimatstadt nie verlassen, er war verbunden mit ihr wie all die Giebeldächer und jahrhundertealten Kirchen. Er wirkte so unveränderlich wie die alte Schule, an der nach Jahrzehnten höchstens einmal neue Fahrradständer angebaut wurden, oder das Stadttheater, an dessen Jugendstil-Balustrade alle Jubeljahre mal ein andersfarbiges Banner prangte.
Er hatte Martins Freundschaft immer als etwas in Stein Gemeißeltes begriffen, etwas, das sich nie ändern würde, durch alle Stürme hinweg, auch als sie anfingen, durch die räumliche Distanz ihren jeweils zweiten, fetten Liebeskummer nicht mehr miteinander zu teilen oder voreinander mit neuen Eroberungen zu prahlen.
Auch, als sie nicht mehr jede Woche mindestens einmal telefonierten, um mit kehliger Stimme Beavis und Butthead, das Comic-Duo von MTV, nachzuahmen, neue Konsolen kritisch ins Gebet nahmen oder bei ihren seltenen Briefen aus reiner Freude am Blödsinn ein Poster von Pamela Anderson beilegten, wie es sonst ihr Ritual gewesen war.
Das Leben plätscherte für sie beide dahin, war Mut, Wille, Konzentration und Frustration, aber immer, wenn David an Martin dachte, war es Rock ’n’ Roll, und sie waren beide achtzehn und ganz am Anfang mit unruhig pochenden Herzen.
Dass sie sich mehr und mehr aus dem Blickfeld verloren, übersahen sie. Zumindest, bis es zu spät war.
Sie waren nicht aus dem Holz geschnitzt, sich über solche Dinge sentimental auszulassen, schon gar nicht voreinander. Und so schrumpfte die Anzahl ihrer Begegnungen weiter und weiter, bis sie sich nur noch einmal im Jahr trafen, und zwar zu Weihnachten.
Martin hatte sich nach einigen vergeblichen Anläufen, ein Studium zu beginnen, »eine Auszeit genommen«, besuchte seine geschiedene Mutter in Helsinki und verbrachte in besetzten Häusern selige Kifferjahre, während er sich mit Aushilfsjobs über Wasser hielt.
Als sein Stiefvater überraschend an Krebs starb, hatte er plötzlich sein Elternhaus zur Verfügung, das er in Absprache mit seiner Schwester für einen unerwartet hohen Preis in Kapital verwandelte. Kapital, um einen ehemaligen Plattenladen in eine kleine Bar umzuwandeln, die er fortan sein Eigen nannte.
David hatte in München nichts davon mitbekommen und erfuhr es erst, als er eine formlose Postkarte mit der Einladung zur Eröffnungsparty erhielt.
Natürlich konnte er nicht kommen, schrieb aber einen dreiseitigen Schreibmaschinenbrief zurück. Selbstverständlich auf der alten Brother Deluxe, die er schon fürs erste Lebenszeichen aus Gießen benutzt hatte, in welchem er Martin klarzumachen versuchte, dass solche Städte wie seine neue Studienmetropole von den Alliierten am besten nochmal, und zwar endgültig, bombardiert werden sollten.
Gesehen hatte er die Bossanova Bar zum ersten Mal vor neun Jahren und zwar, wie sollte es anders sein, zu Weihnachten.
Sie lag etwas abseits von der Innenstadt, ein riesiges Namensschild mit rot blinkenden Großbuchstaben in Las-Vegas-Manier prangte über der gläsernen Eingangstür. Vor dem Lokal protzten vier mächtige Motorräder, was ihm schon einmal tüchtig imponierte.
Als er den randvollen Laden betrat, schlugen ihm eine Wolke Dunst, Rauch und Lärm entgegen. Kaum ein Stehplatz frei, er musste sich bis zur Theke drängeln.
So manches Gesicht aus der Schulzeit wankte ihm angetrunken entgegen. Bis er endlich vorne gelandet war, gab es den einen oder anderen Smalltalk, beinahe wie beim Klassentreffen. Aber auch ein paar jung gebliebene Altrocker, die er noch nie gesehen hatte, drängten sich um die Stehtische.