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Seit ewigen Zeiten herrscht Krieg zwischen einem Geheimbund der Menschen und den Dämonen aus der Parallelwelt Tenebris – und niemand weiß davon. Auch Denizen ahnte nichts von der Existenz der Schattenjäger, bis er selbst einer von ihnen wurde. Denizens erste Schlacht gegen die Schattendämonen aus Tenebris ist geschlagen. Er allein hat die Tochter des dunklen Königs gerettet, und zum ersten Mal scheint der Frieden zwischen den Dämonen und der Allianz der Schattenjäger möglich. Doch nicht alle Parteien spielen mit offenen Karten. Wem soll Denizen vertrauen? Dem Anführer seiner Freunde und Verbündeten? Oder der dunklen Prinzessin, die doch eigentlich zu den Feinden gehört, und die Denizen trotzdem nicht vergessen kann? Der zweite Band der coolen Action-Fantasy-Reihe: Voller Action, Intrigen und schwarzem Humor!
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Seitenzahl: 435
Dave Rudden
Tenebris
Die Rückkehr der dunklen Prinzessin
Aus dem Englischen von Claudia Max
FISCHER E-Books
Für Graham Tugwell, Deirdre Sullivan und Sarah Maria Griff – Dunkelfedern, yo
›Das Feuer war unsere erste Zauberkunst, unsere erste Wissenschaft, aber bezwungen haben wir es wohl kaum.‹
Nick Harkaway, Die gelöschte Welt
›Die Leute denken, dass Geschichten von Menschen geformt werden. In Wahrheit aber ist es andersherum.‹
Terry Pratchett, Total verhext
DIE WORTE DES CROIT:
SIE LIEBTE.
SIE STAHL.
UND WIR HATTEN DAS FEUER.
Auserwählt
Uriel und seine Schwester kämpften in der spinnwebgrauen Morgendämmerung auf dem Grab ihrer Großmutter.
Ihr Mausoleum war das größte auf dem Hügel – Stein und Gold und dunkles Elektrum, glatt und kantig und voller Spitzen. Ganz wie die alte Frau selbst, wenn man Großvaters Geschichten Glauben schenkte, und für Uriel galt jedes Wort aus dem Munde Großvaters als Gesetz.
Kalte Linien und scharfe Kanten – das waren die Familienwerte, die die Croits hochhielten.
Mit dem Summen und Klirren von Stahl fand eine Waffe die andere. Nackte Füße traten Tau vom eisglatten Marmor. Fast wäre Uriel ausgerutscht, doch dann hielt er sich mit einer Hand an einer Spitze fest und holte mit der anderen nach Ambrel aus.
Sie sprang zur Seite. Natürlich. Uriel mochte stärker sein, aber Ambrel war schneller. Doch obwohl sein Körper vom Zusammenstoß mit den Steinstacheln der Mausoleumskrone schmerzte, lachte auch er. Er konnte nicht anders.
»Meinen Wachstumsschub«, stieß er hervor, während er ihre Hiebe parierte, »wirst du mir wohl nie verzeihen, oder?«
»Es ist unser Wachstumsschub«, rief sie. »Du hast ihn bloß gestohlen.«
Sie sprang in das Labyrinth der tiefer liegenden Gräber.
Uriel verfolgte seine Schwester durch den Garten der Wartenden – eine Stadt der Toten. Kein Grabmal glich dem anderen. Die Nekropolis war eine zusammengewürfelte Ansammlung bleicher Türme und Grüfte mit niedrigen Giebeln, Dolmen aus der Vorzeit und verwitterten Sarkophagen, deren einzige Gemeinsamkeit das allgegenwärtige Emblem einer Krähe auf einer Skeletthand war.
Es gab zwar diese Redewendung von Draußen – Die Vergangenheit ist ein anderes Land –, doch hier in der Totenstadt drängten sich die Jahrhunderte wie Cousins aneinander und erzählten die Geschichte der Croits in Statuen und Stein. Einige Wege zwischen den Gräbern waren so breit wie die Boulevards einer Stadt – die Graskanten waren penibel gerade geschnitten, aus der Erde zwinkerten Pfingstrosen. An anderen Stellen waren die Statuen vorgerückt und streckten die Hände nach ihren Brüdern und Schwestern auf der anderen Seite aus, ein Wirrwarr von Gliedmaßen und ausdruckslosen weißen Gesichtern.
Die Erde war von Gedenktafeln bedeckt, das letzte Zeichen der Verstorbenen. Uriel beachtete sie nicht weiter. Er kannte ihre Namen in- und auswendig.
Hatte sich da etwas bewegt? Er zwängte sich durch ein Dickicht aus Großtanten und legte auf der Schulter von
EUTHALIA CROIT
– im Kampfe gefallen –
eine kurze Pause ein, um sich zu orientieren.
Eine andere Familie hätte es vermutlich respektlos gefunden, die Ruhestätten der Vorfahren als Übungsplatz zu benutzen. Belanglos, dachte Uriel. Genau das machte einen schließlich zu einem Croit: Die Ansichten anderer Familien waren ohne jede Bedeutung. Dass sich Uriel überhaupt mit den Gefühlen anderer beschäftigte, hatte mit Großvater zu tun, der ihn gelehrt hatte, dass es nützlich war, sich in den Feind hineinzuversetzen. Und genau das waren andere Menschen. Nicht, weil sie irgendetwas getan hatten – Versuche, den Croits etwas anzutun, waren in der Vergangenheit ziemlich nachhaltig entmutigt worden –, sondern weil sie nicht zur Familie gehörten, nicht zu den Auserwählten zählten. So einfach war das.
Uriel schwang sich von Euthalia herunter und tätschelte ihr liebevoll das Knie. Zu wissen, dass sie zu seiner Ausbildung beitrug, würde sie bestimmt freuen. Croit’sches Blut war schließlich Mangelware. Und tot zu sein war noch lange kein Grund, den Dienst an der Familie einzustellen.
Bis auf die krächzenden fetten grauen Krähen war es still in der Totenstadt. Uriel nickte im Vorbeigehen einer von ihnen zu und berührte den aufgestickten Vogel auf seinem Hemd, damit er ihm Glück brachte.
Wäre er an Ambrels Stelle – die Vorstellung war nicht so schwierig, denn ihr Herzschlag lag höchstens eine halbe Sekunde auseinander, und so war es auch immer gewesen –, würde er sich langsam, vorsichtig bewegen, würden seine bleiche Haut und das ergrauende Haar ihn zwischen den Statuen unsichtbar machen, sie waren die natürliche Tarnung eines Croit.
Dort. Eine Spur. Eine winzige Bewegung. Von einem Bein, das eigentlich reglos sein sollte.
Uriel schlich darauf zu, seine eigenen Gliedmaßen verursachten keinerlei Geräusch, er hielt die Luft an. Seine Jagd wurde von anerkennenden Blicken toter Verwandter verfolgt, sein Hinterhalt war bereits geplant.
Weiter vorn, wo sich Mittelalter und Renaissance überlappten, machte der Weg eine Kurve. Uriel hatte diesen Abschnitt des Gartens schon immer besonders gemocht – Geschichte war sein Lieblingsfach, und die Bildhauer hatten keine Kriegswunde ausgelassen. Die Rüstungen waren verbeult, jedes Lederband und jedes Kettenglied war liebevoll in Stein gemeißelt. Uriel hatte Stunden in den Archiven der Galerie der Tränen verbracht und den Zusammenhang zwischen Geschichten und Narben hergestellt.
Es war ein guter Platz für einen Angriff aus dem Hinterhalt, vor allem weil es Ambrel zutiefst ärgern würde, wenn Uriel sie an seiner Lieblingsstelle zur Strecke bringen würde, nachdem sie den Garten als Kampfplatz ausgewählt hatte.
Bei Geschwistern ging es immer um Kleinigkeiten.
Die Gestalt weiter vorn war stehen geblieben. War Uriel zuvor lautlos gewesen, verwandelte er sich nun in einen Geist. Als er eines der Mausoleen hinaufkletterte –
LORD TERRATAS CROIT
– starb betrogen –
und wie ein Gecko über dessen Dach krabbelte, bewegte er kaum Luft. Aus Angst, sein durchdringender Blick könne sie vorwarnen, hielt er den Kopf gesenkt.
Uriel straffte sich, sein Schwert zitterte knapp über dem Marmor, dann setzte er zum Sprung an.
Nichts.
Er landete mit einem anmutigen Purzelbaum, der allerdings keinerlei Wertschätzung erfuhr. Mit erhobenem Schwert drehte er sich im Kreis, um einen Angriff abzuwehren, der jedoch ausblieb.
Tja, das ist wirklich ärgerlich –
Und dann, aus heiterem Himmel, war sein Schwert verschwunden, jemand hatte es ihm aus den Fingern geschlagen, die sofort taub wurden. Als er ein Wimmern ausstoßen wollte, wurde ihm der Mund mit einer Faust gestopft, die Welt explodierte in schlieriger Dunkelheit. Als er auf den Boden knallte, war er beinahe erleichtert.
Uriel spuckte Gras aus. »Großvater.«
Großvater war ein kantiger Mann, dünn und fremd und mit einer Eisenblume auf der Wange; er sah aus, als sei er aus dem Herzen eines Gletschers gemeißelt worden, seine Haut war farblos und spannte sich straff über den Schädel. Manchmal wartete Uriel nur darauf, dass das Licht durch ihn hindurchscheinen würde, doch dann gab es wieder Momente, in denen der alte Mann der kompakteste Gegenstand der Welt war, fest und schwer wie ein Neutronenstern.
Als er die rechte Hand anspannte, ächzten seine Sehnen. Sein linker Ärmel hing leer herunter.
»Was hast du falsch gemacht?«
Es war die Standardfrage des alten Mannes.
»Ich habe mich zu sehr auf das Ziel konzentriert«, erwiderte Uriel wie aus der Pistole geschossen und rappelte sich auf die Knie. »Und nicht daran gedacht, dass ich selbst zum Ziel werden könnte.«
Nichts an Uriels Miene verriet, dass Ambrel sich langsam an Großvater heranpirschte. Kein einziger Muskel. Keine Wimper. Seine Augen waren die von Großvater: kalt, ruhig und glasfarben.
»Wenn unsere Stunde schlägt, müssen wir bereit sein zu sterben, Uriel«, knurrte sein Großvater. »Aber wir sind Croits.« Er sprach den Namen mit dem harten Stolz aus, den die scharfe Silbe verlangte. Hinter ihm funkelte Ambrels Schwert.
»Unser Blut ist seltener als der reinste Diamant, das feinste Gold. Opfer sind selbstverständlich. Aber nur wenn –«
Ambrel schlug zu, es war ein perfekter Hieb, und Großvater wich ihm aus, als seien sie zwei Teile derselben Maschine. Der Schwung ihrer Bewegung ließ Ambrel mit einem Klong in seinem Ellbogen landen, doch während sie benommen zurückwankte, kickte sie das Schwert, das Uriel hatte fallen lassen, mit dem Fuß in die Handfläche ihres Bruders. Er sprang mit einem Knurren auf –
Großvater hob die Hand.
Uriel hielt sofort in seinem Sprung inne und drehte das Schwert zum Gruß. Ambrel folgte auf dem Boden verlegen seinem Beispiel.
»Wenn es Ihr Wille ist«, beendeten sie einstimmig Großvaters Satz.
Aus seinem Mund dröhnte es allerdings wesentlich beeindruckender, dachte Uriel. Die Stimme des Familienoberhaupts klang immer, als würde eine Säge einen Sargdeckel zweiteilen. Uriels hingegen war nach wie vor noch in dieser unbestimmten kieksigen Phase, die ihn zögern ließ, sie überhaupt einzusetzen.
»Gut«, erwiderte Großvater. »Es ist Zeit.«
Zwei Herzschläge setzten aus, mit einer halben Sekunde Abstand.
Der Familiensitz der Croits trug den Namen Eloquenz und war eine Burgruine. Sie lag auf einer nur wenige Kilometer breiten Insel, deren Mitte vom Axthieb eines Tals geteilt wurde, steil und kahl und brutal, als habe jemand versucht, die Welt zu ermorden, und dies sei die Stelle, an der die Klinge niedergesaust war. An den Abhängen standen vereinzelt zerzauste, dürre Bäume. Die Luft roch nach Staub und dem entfernten Meer und war so kalt, dass sich das schwache Sonnenlicht auf Uriels Haut wie Eiswasser anfühlte. Es war keine Landschaft, die sich damit zufriedengab, von Touristen fotografiert oder von netten Männern mit Bärten gemalt zu werden. Es war eine Landschaft, in die sich Dichter verliebten, um anschließend dem Wahnsinn zu verfallen.
Mitten im Tal lag die Leiche der Burg.
Eloquenz hatte früher am westlichen Abhang geklebt, nichts als spitze Türme und Zinnen, die insektenähnliche Silhouette hatte den Himmel beherrscht. Doch dies war schon sehr lange her. Die Burg war ins Tal hinuntergestürzt, und zwar nicht unter freundlichen Umständen. Von ihrem ehemaligen Hochsitz war nur noch ein Streifen Schutt geblieben, die Burg selbst lag in Knitterfalten hundert Meter tiefer.
Es muss wie das Kalben eines Eisbergs gewesen sein, dachte Uriel, als er mit seiner Schwester den Garten der Wartenden verließ und den Pfad nach Eloquenz hinauflief. Er stellte sich den Sturz vor, der schon Jahrhunderte zurücklag: ein lautes Stöhnen, das die Luft erzittern ließ, Stein, der sich von Stein trennte, den Schreck, wenn man aus dem Fenster blickte und die ganze Welt nach oben stürzte.
Ambrel lächelte ihn nervös an. Er spürte sie ebenfalls – diese Mischung aus Angst und Aufregung, die sie angetrieben hatte, im schlaflosen Morgengrauen zu kämpfen. Dies war der Tag. Ihr Tag. Alles, was sie bisher gelernt hatten, alles, was sie gewesen waren, jeder Herzschlag –
Alles hatte auf diesen Punkt hingeführt.
Langsam und vorsichtig betraten sie Eloquenz. Der Aufprall auf dem Talboden hatte die Festung auf gewaltsame Weise neu angeordnet, wie einen Körper, der aus großer Höhe heruntergefallen war. Ehemals breite Flure waren in neue Formen gezwungen worden; einige Räume waren eingestürzt, andere hatten sich geöffnet; Böden waren zu Decken geworden, Decken zu Fußböden. Und überall die Drähte – straff und glänzend spannten sie sich kreuz und quer über jeden Weg und zerteilten die Düsternis in strenge geometrische Muster. Manche waren stumpfe Stränge. Andere hauchdünn und rasierklingenscharf.
Es war ebendiese schwarze Umarmung gewesen, die die Burg bei ihrem fast tödlichen Sturz zusammengehalten hatte, ähnlich wie Efeu, das eine Wand stützt, auch wenn es sie erstickt. In all den Jahrhunderten hatten sich die Drähte weder gelockert, noch hing einer von ihnen lose herunter.
Die Luft war voller Staubflocken. Ein paar schwebten gegen die Drähte und wurden in der Mitte zerteilt.
Immer tiefer stiegen die drei Croits hinab, durch den verlorenen Glanz der Empfangshalle, zwischen den zersplitterten Säulen des Throns der Majestät hindurch. Auf allem prangte das Emblem der Krähe und Skelettklaue. Eloquenz verzerrte das Hallen ihrer Schritte in überlappende Echos, bis sie die eigenen Schritte kaum noch von den Geräuschen der Geisterfüße unterscheiden konnten, die ihnen folgten.
Der Weg jedes anderen Croits wäre von der stummen Unterstützung der Familie gesäumt gewesen. Uriel nahm die Beleidigung jedoch einfach hin. Die wichtigen Menschen waren an seiner Seite.
Und vor ihnen, die Tür. Ihre Tür. Als Großvater wortlos hindurchging, zögerten Uriel und Ambrel einen Moment. An dieser Stelle endete das Licht. Wenn alles gutging, würden es die Zwillinge jedoch bald nicht mehr benötigen.
Der letzte Teil ihres Abstiegs fand in so undurchdringlicher Dunkelheit statt, dass sich Uriels Augen anfühlten, als seien sie mit Öl gefüllt. Doch Ambrel und er hatten diesen Gang geübt, zwischen unsichtbaren Drähten hindurchzugleiten kam ihm ebenso selbstverständlich vor wie Atmen: hier den Arm anwinkeln, dort ein Bein anziehen. Als Uriel etwas über seinen Wangenknochen streifen spürte, wusste er, dass er eine Hautschicht eingebüßt hatte. Aber das war schon in Ordnung. Seit Großvaters Kindheit war niemand hier heruntergestiegen, ohne dass Blut geflossen wäre. Alles im Leben hatte seinen Preis.
Schließlich fühlte sich die Luft anders an. Wo zuvor die Enge von Drähten und Stein gewesen war, konnte Uriel nun Raum um sich spüren. Der Schrein. Ambrel stand neben ihm, Großvater war irgendwo vor ihnen und weiter oben –
SIE.
Schwebend. Stumm. Riesig. Obwohl in der Kammer kein einziges Photon war, das Uriel die Sicht ermöglicht hätte, fühlte er Ihre Anwesenheit, die Dunkelheit wurde von Ihrer Herrlichkeit verdrängt. Seine Augen schmerzten schon vom Versuch, die Düsternis zu durchdringen, aber trotzdem konnte er ihre Gestalt nicht erkennen.
Genau, wie es sein musste. Wenn sie zu den Auserwählten gehörten, würden sie sie sehen. Falls sie zu den Auserwählten gehörten. Einen kurzen Moment lang überlief Uriel ein vollkommen uncroitscher Angstschauder.
»Kniet euch hin«, befahl Großvater.
Die Zwillinge taten wie geheißen.
»Vor langer Zeit«, hob der Großvater an, »hat man uns eine Aufgabe erteilt. Eine Bestimmung. Und nun kniet ihr an der Stelle, wo einst die ersten von uns niederknieten, weil ihr erfahren wollt, ob es auch eure Bestimmung sein wird. Ob ihr zu den Auserwählten gehört. Ob ihr Croits seid. Die Erlöserin blickt auf euch herab, und falls ihr euch als würdig erweist, wird das Feuer, das Sie euch verleiht, die Welt erzittern lassen.
Hat jeder von euch eine Form für dieses Feuer gewählt?«
Ambrel antwortete als Erste. »Mein Gebet wird ein Lied sein, Großvater. Meine Stimme, Ihr Inferno.«
»Gut«, sagte Großvater. »Und Uriel?«
Sein Geist wanderte zu den Vormittagen zurück, an denen er nachgedacht und sich so lange eine Form vorgestellt hatte, bis er sie hinter den Augenlidern sehen konnte, bis sie ihm im Traum erschien. Die Erlöserin gab viel, aber SIE verlangte auch viel, und die Nekropolis war voll von denen, die sich als unwürdig erwiesen hatten.
Glaube war Feuer im Blut eines Croits.
»Es wird ein Schwert sein, Großvater.« Genau wie ich.
»Unser Vorfahre hat uns erzählt, dass Sie zurückkehren wird.« Die Stimme des Großvaters enthielt ein dunkles Versprechen. »Sie wird uns in den Unvermeidlichen Krieg führen. Der Widersacher wird auftauchen, und wir werden ihn schlagen, und als Belohnung …«
Auf Uriels Gesicht bildete sich Schweiß. Ein Gefühl, das sofort ein Teil von ihm wurde, dann quetschte etwas Fernes sein Hirn in einen Schraubstock aus Schmerz. Er presste die Handflächen auf den Steinboden, um sich abzustützen, da spürte er ganz leicht einen Finger von Ambrel an seiner Hand.
Was, wenn wir nicht –
Ihm kam ein noch furchtbarerer Gedanke.
Was, wenn Ambrel und ich nicht –
Nein. Er weigerte sich, den Gedanken auch nur zu denken. Sie hatten ihr ganzes Leben lang nur eine halbe Sekunde voneinander entfernt gelebt. Es konnte nicht sein, dass sie nun getrennt wurden.
Zur Belohnung werden wir gerettet werden.
Sein Herz pochte so laut, dass die ganze Kammer zu beben schien. Großvater sprach noch immer, doch zum ersten Mal in seinem Leben schenkte Uriel ihm keine Beachtung. Seelenqualen hinterließen Streifen in der Schwärze seines Kopfes. Sein Atem kam flach und abgehackt, und während Ambrels Finger zitternd seinen berührte, hätte Uriel am liebsten vor Erleichterung geschrien.
Als es begann, fühlte es sich wie Schicksal an.
Aus Uriel strömte Licht, üppig und golden wie Honig, heiß und brennend wie ein Stern. Zwei Sterne. Das Haar seiner Zwillingsschwester wallte als knisterndes Feuer, die Luft verbog sich vor unvorstellbarer Hitze. Das Feuer schrie nach Freiheit, aber Uriel zähmte es, wie es sich für einen Croit gehörte.
Denn sie waren besonders.
Die Düsternis um sie herum war geflohen. Nein, nicht nur geflohen: Sie existierte nicht länger. Ich werde mich nie wieder vor der Dunkelheit fürchten, dachte Uriel, als Blut über seine abgeschürfte Wange lief. Vor ihnen wurde Großvater sichtbar, grimmig und hochgewachsen. Doch so groß der alte Mann auch sein mochte, gegen das, was hinter ihm aufragte – das verzerrte Grinsen, die Lücken und das Funkeln, erschien er zwergenhaft.
Ihre Herrlichkeit, dachte Uriel. Das Grauen.
Ihre Erlöserin.
Der Großvater schenkte den Zwillingen ein seltenes, triumphierendes Lächeln.
»Herzlichen Glückwunsch.«
Denizen Hardwick liebte Buchhandlungen.
Es war eine neue Liebesgeschichte für ihn, denn im Umkreis des Waisenhauses, in dem er aufgewachsen war, hatte es schlicht keine gegeben. Andererseits war Denizen auch kein außerordentlich reiches Waisenkind gewesen, sondern nur ein ganz gewöhnliches elternloses, so dass er sich sowieso nichts hätte kaufen können. Nun aber lebte Denizen in der Stadt, wo es an jeder Ecke eine Buchhandlung gab, und man bekam ihn nicht einmal mit einer Brechstange aus ihnen heraus.
Ob ein großes weitläufiges Kaufhaus oder eine winzige versteckte Höhle, die nur an feuchten Dienstagen im März für eine halbe Stunde öffnete, Buchläden besaßen etwas Magisches. Zwar eine stille Art von Magie, die nicht unbedingt Denizens Metier war, aber nichtsdestotrotz Magie.
Und einen so schönen Buchladen wie diesen hatte er noch nie gesehen.
Die Eichenregale hatten den karamellfarbenen Schimmer von Politur und erfüllten die Luft mit einem schwachen Duft nach Wald. Die genaue Größe des Ladens war nicht auszumachen: Die altertümliche Einrichtung konspirierte kunstsinnig, zerteilte die Stille und verwandelte jeden Gang in eine heimliche Liebesaffäre zwischen Kunde und Buch.
Obwohl die Sonne draußen halb von einer Wolke verdeckt wurde, erstrahlte das Ladeninnere irgendwie üppig und golden – dank des Sonnenlichts von Narnia, Lórien, Faerûn, Hyboria und Klatsch.
Es ist beinahe zu perfekt, dachte Denizen. Listen an der Wand und weiche bunt zusammengewürfelte Sessel verliehen dem Ort die beruhigende Atmosphäre von Durcheinander und Alter. Auf der Theke stand sogar ein Globus, so breit wie Denizens Schultern und mit den Krümmungen und Rissen der Welt tätowiert.
Denizen ließ vorsichtig die Tür hinter sich zufallen. Ein silbernes Glöckchen bimmelte – das klangliche Äquivalent eines höflichen Hüstelns.
Beim Bimmeln hob sich der Kopf des Besitzers. Er fügte sich so hervorragend in die Ausstattung ein, dass es den Eindruck machte, als wäre der Buchladen wie das Gehäuse einer Schnecke um ihn herumgewachsen. In seinem Tweedanzug – natürlich im Tweedanzug, dachte Denizen – und mit den lohfarbenen Löckchen, die um die Wölbung seiner leberfleckigen Kopfhaut wippten, war der Mann der Inbegriff eines Buchhändlers. Für diesen Mann konnte es – außer vielleicht Wereule – einfach keinen anderen Beruf geben.
Seine Stimme war das Geräusch eines Fingers, der über eine Seite strich.
»Kann ich dir behilflich sein?«
Denizen fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten roten Haare. Aus der Blässe seiner Haut drängten sich, vom nahenden Sommer ermutigt, samenähnlich neue Sommersprossen, die dunkelste ein einzelner Tintenfleck auf seiner Unterlippe. Er spähte misstrauisch aus dem hochgeschlagenen Kragen seines zu großen Mantels.
Misstrauen war für Denizen Hardwick nichts Ungewöhnliches. Schon sein ganzes Leben ging er an die Welt heran, als warte er nur auf den nächsten Schlag. Die letzten Monate waren allerdings auch seltsam gewesen und hatten eigentümliche und undefinierbare Spuren hinterlassen. Denizen schien noch immer auf den Schlag zu warten, allerdings hatte man jetzt den Eindruck, dass er sich wehren konnte.
Er musterte den Buchhändler mit durchdringenden grauen Augen.
»Mir gefällt Ihr Laden«, sagte Denizen. Und das war wirklich so – auch wenn sein Blick bei aller Bewunderung für jedes sorgfältig ausgewählte Detail immer wieder zu den leuchtend bunten Handzetteln an der Tür wanderte, deren billige Druckerschwärze schon ganz verschmiert war, weil sie durch zu viele Hände gegangen waren. »Es ist ruhig hier.«
»Ja, an den meisten Tagen ist es das«, erwiderte der alte Mann, »aber der Laden wirft genug ab, um davon zu leben.«
»Bei meiner Arbeit gibt es auch ruhige Tage«, sagte Denizen und blickte auf den zerknitterten Einband eines Krimis, »aber … heute wird es wohl eher ein lauter.«
Das Lächeln des Buchhändlers bekam etwas Verwirrtes. »Wie meinst du das?«
Denizen wählte seine Worte sorgfältig, die Wut pulsierte in einem festen Band um seine Schläfen. Das passierte seit kurzem immer häufiger. Normalerweise konnte er Stunden in einem Buchladen verbringen … Aber in letzter Zeit fehlte ihm die Ruhe dazu.
Er dachte ständig – zerbrechlich. Er dachte ständig – entzündlich.
»Ich bin zur Aufklärung hier«, sagte er. »Zur Beobachtung. Zur Überwachung. Solche Sachen.«
Auch wenn er den Buchhändler keinen Moment aus den Augen ließ, schwammen die Überschriften der Handzettel durch seinen Kopf.
VERMISST!
HATJEMANDUNSERE …
HILFE
Die letzte Überschrift setzte ihm am meisten zu. Ein Bild, eine Telefonnummer und eine Ein-Wort-Bitte.
Der alte Mann lächelte weiter vor sich hin, aber seine schmalen Lippen waren nach hinten gezogen und entblößten seine Zähne. Seine Pupillen schimmerten schwärzlich.
»Es dauerte eine Weile, bis ich sicher war«, fuhr Denizen im Plauderton fort. »Fotos machen. Den Laden überwachen. Ich habe sogar Ihren Müll durchsucht, nicht, dass es welchen gäbe. Aber das war ein weiterer Hinweis. Es werden immer die Kleinigkeiten vergessen. Das ist bei Ihnen offenbar auch so.«
An der Decke flackerte eine der Glühbirnen. Weder Denizen noch der Buchhändler schenkten ihr Beachtung. Auf dem Tweedanzug des alten Mannes bewegte sich der Stoffstrich wie Muskeln unter Haut. Von der fleckigen Kopfhaut fiel eine einzelne Locke, ein überraschtes weißes Komma.
»Mein Befehl lautet, Sie ihr zu überlassen«, fuhr Denizen fort. »Aber das kann ich nicht. Nicht nachdem …«
Schwärze in den Augen des Buchhändlers. Ein Zerren von Feuer in Denizens Kehle.
Nach was?, flüsterte der alte Mann, seine Stimme ein Flattern trockener toter Flügel.
»Sie haben ihre Bilder an der Ladentür angeschlagen.«
Der Tenebra griff an.
Das Gesicht des alten Mannes zerfiel in einem Gebrüll von Papier und Staub. Menschliche Zähne prasselten auf den Boden, herausgestoßen von Reißzähnen, die eher denen eines Hais ähnelten. Gliedmaßen fielen herunter, Schatten lösten sich hastig, um die Löcher zu stopfen. Als der Tenebra in großen Sätzen durch den Buchladen sprang und eine unbehaglich zuckende Realität hinterließ, gaben die Glühbirnen ein Zischen von sich.
»Jetzt!«, rief Denizen.
Zu seiner Linken wurde schimmernd Simon Hayes sichtbar, seine Hände glühten. Der Hai-in-Tweed versuchte eine Drehung in der Luft, doch auf ein Knurren des lang aufgeschossenen Jungen hin faltete ein Feuerpfeil das Geschöpf auf die Hälfte zusammen.
Es flog durch den Laden und knallte unter einem Schauer von Büchern durch ein Regal. Aus seinen Flanken stieg Rauch auf, doch die Flamme verschwand ebenso schnell, wie sie aufgetaucht war. Ein einziger Funke schwebte in einer Spirale zu Boden, wo er harmlos zischte.
Denizen seufzte erleichtert. Die Macht, die unter seiner Haut wütete, war alles Mögliche, nur nicht subtil. Mit gierigen Bestien vom dunklen Ende der Ewigkeit kam Denizen – irgendwie – klar, aber an Bücherverbrennungen würde er sich niemals beteiligen.
»Gute Arbeit«, sagte Denizen, als er sich zu seinem Freund wandte. »Sehr beherrscht. Und du wirst allmählich ein Profi beim Lichtbeugen. Ich konnte dich nicht mehr sehen.«
»Ich weiß«, lautete Simons trockener Kommentar. »Du hättest mich fast in der Tür eingeklemmt.«
»Oh, das tut mir leid«, sagte Denizen. »Ich wurde –«
Seine nächsten Worte verloren sich im Schnurren des aufkommenden Windes. Bücher wurden ihrer Seiten beraubt; die Handzettel an der Tür schlugen hilflos gegen ihr Klebeband, dann rissen sie sich ebenfalls los.
»– abgelenkt«, beendete Denizen seinen Satz.
Die Haut des Buchhändlers baumelte nun faltig an einer ausgemergelten riesigen Gestalt herunter. Eine Hand war noch menschlich, die andere stand als Klaue aus Papier und Knochen aus dem Arm. Die schwere Vitrine, die sie hochhob, musste mehr als Simon und Denizen zusammen wiegen.
Darauf hatte Denizen gewartet.
Sich beim Angriff des Tenebra zurückzuhalten war ihm sehr schwergefallen. Wenn er ehrlich war, begann der Kampf morgens, sobald er die Augen aufschlug, und dauerte bis zu dem Moment, wenn er sie abends schloss, anschließend verfolgte ihn derselbe Kampf in seinen Träumen.
Loszuschlagen fühlte sich großartig an.
Ein Schild aus geschmolzener Luft wurde flimmernd sichtbar, gerade lange genug, um die Ecke der Vitrine in der Luft abzuwehren und sie beiseitezuschleudern, bevor sie Schaden anrichten konnte. Sie zerschmetterte an der Wand und verwandelte den antiken Globus in eine Sammlung antiker Scherben.
O Mann. Es war wirklich ein schöner Globus gewesen.
Als sich der Tenebra zu voller Größe aufrichtete, bog sich das Papier und zerriss. Die Birne über ihnen zerbarst schließlich, und das Licht zerfloss zu Grau- und Blautönen, als würden Linsen davorgehalten oder als würde es durch das blinzelnde Augenlid einer Schlange gefiltert.
»Okay, dann mach du weiter«, zischte Simon aus dem Mundwinkel. Das Nicht-Licht der Glühbirne hatte alle Farbe aus seiner Haut gewaschen.
»Wie?«, zischte Denizen zurück.
»Mach du es. Du bist besser.«
»Warte, Moment –«
Die Bestie duckte sich und stürzte auf die Tür zu, die Bücherregale als Deckung nutzend. Denizen zögerte – wie ein Idiot zögerte er –, und als der Tenebra schließlich die Hintertür aus den Angeln riss und auf ihn schleuderte, konnte er nur noch den Kopf einziehen.
Ein abscheuliches Feixen blähte das Gesicht der Kreatur auf.
Leser, zischte sie voller Verachtung, bevor sie loskreischte, weil ein Komet sie von hinten entkernte.
Abigail Falx war zur Gründlichkeit erzogen worden. Sie ließ den Hai-in-Tweed nicht aus den Augen, als aus ihren Fingern Licht strömte, um den Tenebra niederzuhalten und jede Seite zu zerstören, die aus seinen um sich schlagenden Spulen wirbelte, jedes davonschwebende Staubflöckchen. Schicht für Schicht löste sich ab, und am Ende war nur noch eine auf dem Boden zusammengerollte Andeutung Dunkelheit übrig.
Sehr bald nicht einmal mehr das.
Als das Inferno in ihren Augen verblasste, verunzierte ein Rußschmierer Abigails dunkle Wange. Sie wischte ihn mit einem Eisenfinger weg.
»Ihr zwei«, sagte sie liebenswürdig, »seid wirklich Idioten.«
Wie sich herausstellte, war diese Meinung weit verbreitet.
»Verantwortungslos«, blaffte Denizens Mutter, »absolut verantwortungslos. Was hast du dir bloß dabei gedacht?«
Sie schwenkte beim Sprechen eine Kurbelstange durch die Luft. Zumindest hielt Denizen es für eine Kurbelstange. Vielleicht war es auch eine Nockenwelle. Oder ein Kolben. Oder irgendetwas … anderes.
Für die Garnison eines geheimnisumwobenen Ritterordens besaß die Seraphim Row eine recht moderne Kfz-Werkstatt. An den Wänden hing Werkzeug; auf dem Boden lagen ordentlich aufgereiht Maschinenteile. Denizen hätte sich vielleicht nach einigen erkundigt, doch Vivian Hardwick war, was ihr Auto anbelangte, schon sehr eigen gewesen, bevor es eine Horde marodierender Tenebrae demoliert hatte, und nun duldete sie überhaupt niemanden mehr in dessen Nähe.
»Ihr solltet die Bestie ausfindig machen«, erklärte sie, während sie sich schwarzes Schmierfett von den schwarzen Eisenhänden wischte, »nicht stellen.«
Denizen starrte auf seine Schuhe und wusste, ohne hinzusehen, dass Simon dasselbe tat. Es war nicht das erste Mal, dass sie zusammen in einem Büro standen und mitgeteilt bekamen, dass ihr Verhalten inakzeptabel war, allerdings war die Gefahr, zerstückelt zu werden, damals im Waisenhaus von Crosscaper entschieden geringer gewesen.
Abigail hingegen starrte garantiert stur geradeaus, aber Abigail war eben Abigail. Im Gegensatz zu Denizen und Simon, die versucht hatten, Süßigkeiten aus der Waisenhausküche zu mopsen, war sie in Garnisonen wie dieser aufgewachsen und hatte gelernt, eine Armbrust zu zerlegen. Als sie die behandschuhten Finger bewegte, knarzte das Leder. Abigail missachtete keine Befehle, schon gar nicht, wenn sie von einer Kriegsheldin stammten.
Vivian Hardwick war … einschüchternd. Sie überragte sie alle um Haupteslänge, selbst Simon – eine hagere langgliedrige Frau mit stahlgrauem Haar und einem Blick, der Glas schneiden konnte. Ihre Haut war von Narben zerfurcht, die Landkarte eines harten und gewalttätigen Lebens, ihre Bewegungen klimperten vor aufgestauter Anspannung – als würden ihre langen Gliedmaßen jeden Moment mit zielgerichteter und unaufhaltsamer Gewalt losschlagen.
»Ich warte auf eine Strategie«, bemerkte sie mit ausdrucksloser Stimme. »Einen Grund.«
Vivian war eine Malleus, eine Edle aus der Allianz der Schattenjäger, und sie hatte schon vor Denizens Geburt gegen die Tenebrae gekämpft. Er und die anderen waren bloß Neulinge, Auszubildende, und wie alles andere in ihrem derzeitigen Leben war dies ein Test gewesen.
»Darcie hat den Tenebra aufgespürt«, setzte Denizen an. »John-oder-so-ähnlich – er ersetzt am liebsten Menschen. Er drängt sich in ihre Gemeinschaft, wo er sich dann von ihrem Misstrauen und ihrem Verfolgungswahn ernährt.«
Tiere waren zu verstehen. Pflanzen waren zu verstehen. Menschen hingegen waren nur zu verstehen, wenn man sie vom biologischen Standpunkt aus betrachtete und den ganzen chaotischen, individualistischen Blödsinn ignorierte, der in ihren Köpfen vor sich ging. Aber da Tenebrae nicht aus dieser Wirklichkeit kamen, galt diese Verpflichtung für sie nicht. Die Allianz der Schattenjäger wusste nur wenig über deren Fähigkeiten, und jede Erkenntnis hatten sie mit Eisen und Blut bezahlt.
Auch Denizen hatte schon einen angemessenen Teil entrichtet. Er hatte Tenebris, das rabenschwarze Jenseits, aus dem die Tenebrae kamen, selbst erlebt. Hatte am eigenen Leib gespürt, wie ihre bloße Anwesenheit die Realität verzerrte, als hätte man einen Stein in einen Teich geworfen. Jede ihrer Bewegung sagte: Wir gehören nicht hierher.
Und er wusste, dass sie entzündlich waren. Die meisten Schattenjäger waren der Ansicht, mehr brauche man auch nicht über sie zu wissen.
»Wir haben herausgefunden, dass irgendwann niemand mehr in den Buchladen ging«, erklärte Simon, ohne aufzublicken. »In den letzten zwei Wochen gab es so gut wie keine Kunden, und diejenigen, die hineingegangen sind, kamen … verängstigt heraus.«
»Jugendliche aus der Nachbarschaft haben eine merkwürdige Atmosphäre bestätigt«, fügte Abigail sofort hinzu und strich eine schwarze Haarsträhne hinters Ohr. Sie hatten sich gern mit ihr unterhalten – sie war bezaubernd, freundlich und besaß die wilde Schönheit eines Habichts. »Sie trauten sich nicht in die Nähe des Ladens.«
Manche der Tenebrae gingen auf die Jagd. Andere stellten Fallen. Doch ganz gleich wie gekonnt die Verkleidung eines Tenebra war, unbewusst bekamen die Leute immer mit, dass irgendetwas nicht stimmte. Etwas Verkehrtes um die Augen. Ein Gelenk, das sich drehte statt beugte. Irgendein Hinweis auf das Ungeheuer unter der Oberfläche.
»Und deshalb seid ihr hineingestürmt?«, erkundigte sich Vivian finster, doch Simon schüttelte den Kopf.
»Wir haben uns vergewissert. Ich habe mich vergewissert. Ich habe mich mit gebeugtem Licht unsichtbar gemacht und das Haus hinter dem Laden ausgekundschaftet. In den Schränken dort verdarben Lebensmittel. Im Flur stapelte sich die Post. Und im Keller …«
»Der Tenebra hatte Kinder genommen«, brach es aus Denizen heraus. »Sie saßen in Käfigen, aber er hatte ihnen nichts zuleide getan – noch nicht.«
Er riskierte einen kurzen Blick nach oben. Vivian starrte ihm ins Gesicht.
»Ich bin nicht in den Buchladen gegangen, um anzugreifen«, log Denizen. »Ich wollte mir bloß alles ansehen, und Simon war meine unsichtbare Unterstützung. Abigail hat uns Rückendeckung gegeben. Aber der Tenebra wusste vom ersten Augenblick, als ich durch die Tür kam, was ich bin. Wir haben uns bloß verteidigt.«
Vielleicht war es keine Lüge. Vielleicht war ein guter Angriff ja wirklich die beste Verteidigung. Das Einzige, was Denizen mit Sicherheit wusste, war, dass er den Geruch brennenden Papiers zum ersten Mal genossen hatte.
Vivian nickte. »Und die Kinder?«
»Wir haben sie freigelassen. Aber sie waren zu verängstigt, um uns auch nur anzusehen. Sie werden nicht in der Lage sein, uns zu identifizieren.«
Die Stimme der Malleus bekam einen milderen Unterton.
»Und der Buchhändler?«
Denizen schüttelte den Kopf. Abigail wandte den Blick ab.
Das Schweigen dauerte an, bis Vivian sich räusperte. »Nun gut. Ich bin zwar trotzdem nach wie vor der Meinung, dass ihr leichtsinnig gehandelt habt, aber offenbar hattet ihr einen Grund. Eure Strategie war solide, und keiner von euch wurde verletzt.« Sie runzelte die Stirn. »Ich billige es nicht, dass ein eindeutiger Befehl missachtet wird, aber … Ich bin froh, dass ihr alle unversehrt seid.«
Denizens Schultern liefen zwar Gefahr, vor Erleichterung herunterzusacken, doch er hielt sich aufrecht.
»Und noch eine letzte Sache«, sagte Vivian.
Sie warteten.
»Hattet ihr das geübt?«
»Nein!«, riefen sie einstimmig, was Vivians Augenbrauen nach oben wandern ließ.
»Verstehe. Nun gut. Das ist alles.«
Die Neulinge wandten sich zum Gehen, aber Vivians Stimme rief: »Denizen – einen Moment noch.«
Simon warf ihm einen mitleidigen Blick zu, bevor er durch die Tür verschwand, dann waren Denizen und seine Mutter allein.
Bis vor kurzem hatte Denizen sich für eine Waise gehalten. Zu seiner Verteidigung muss allerdings gesagt werden, dass etliches dafür gesprochen hatte. Er war in einem Waisenhaus aufgewachsen. Und das machte man nicht einfach mal so, wenn man nicht Waise war – schließlich war es wie ein exklusiver und deprimierender Club. Denizen hatte sich deshalb immer mutterseelenallein auf der Welt geglaubt. Aber da alle um ihn herum ebenfalls allein gewesen waren, hatte es ihm eine traurige Art Frieden gegeben.
Vor einem halben Jahr hatte sich alles geändert. Sein dreizehnter Geburtstag hatte ihn mit der Gabe flüchtiger Magie beschenkt. Er hatte herausgefunden, dass es Tenebris gab, eine Welt, nur einen Schatten breit unter der unsrigen, und die Schattenjäger – jene geheime Organisation, die die Stellung zwischen beiden hielt. Das Schrecklichste war, zu erfahren, dass dieses Geheimnis seinen Vater das Leben gekostet hatte, als Denizen gerade zwei Jahre alt war, und dass es seine Mutter in einen wahnsinnigen Kreuzzug aus Trauer und Rache getrieben hatte.
Es waren einige bewegte Wochen voller Enthüllungen gewesen.
Vivian fuhr mit der Hand über die gerade erst reparierte Kühlerhaube ihres Wagens. »Was ihr getan habt, ist in Anbetracht der Umstände in gewisser Weise nachvollziehbar«, erklärte sie. »Das warum bereitet mir größere Sorgen.«
Irgendwo tief in Denizens Brust erwachte die Macht in sich windenden glühenden Ranken. Das Reich von Tenebris. Es war die äußerste Waffe eines Schattenjägers, ein brodelndes Inferno direkt unter dem Herzen. Vielleicht lag es an dieser Nähe, dass es Gefühle wie Benzin behandelte. Als Denizen seine Macht zum ersten Mal kanalisiert hatte, war er unfassbar wütend geworden, und Vivian hatte diesen Zorn geschürt, indem sie ihn provoziert hatte, ihr die Wut in Feuer gehüllt entgegenzuschleudern. Er fragte sich immer noch, warum sie das getan hatte, warum sie keinen sanfteren Weg gewählt hatte.
»Ich glaube, du hast dir einen Kampf gewünscht«, fuhr Vivian fort. »Ich glaube, du wolltest die Macht in dir, die … die Wut, herauslassen.«
Denizen war mit Fantasybüchern aufgewachsen und hatte deshalb die Vorstellung gehabt, böse sei das Gegenteil von gut – dunkel, grüblerisch, ein bisschen romantisch. Er hatte sich geirrt. Als eine Truppe heimtückischer Tenebrae namens Uhrwerktrio in sein Leben eingedrungen war, hatte er zu seiner Überraschung feststellen müssen, dass sie unverhohlen kleinlich waren.
Sie hatten einen Plan geschmiedet, den Herrscher von Tenebris durch die Entführung seiner Tochter Venia zu provozieren, es der Allianz anzuhängen und einen Krieg zwischen den beiden Welten anzuzetteln – doch dann hatte das Trio ebenso viel Zeit darauf verwendet, Fenster einzuschlagen, Glühbirnen zu verspeisen oder Kindern Angst einzujagen. Für sie ging es um Elend, nicht darum, irgendein großes Ziel zu erreichen oder die Welt von ihrer Sache zu überzeugen. Sie fanden bloß Gefallen daran, Schmerz zu verursachen.
Deshalb hatten sie auch vor vielen Jahren Denizens Vater getötet.
»Ich bin nicht wütend«, sagte Denizen. Diese Lüge ging ihm leicht über die Lippen. Er erzählte sie sich selbst häufig genug. »Ich habe getan, was getan werden musste. Mehr nicht.«
In seiner Magengrube raste Feuer. Die Macht war schon immer eifrig gewesen, doch in den letzten Monaten waren diesem Eifer Zähne gewachsen. Vielleicht ging das allen Schattenjägern so, allerdings war Denizens Ausbildung … anders gewesen.
»Du beherrschst die Canti wesentlich besser, als es nach deiner Ausbildung der Fall sein sollte. Das ist gefährlich. Was immer Venia mit dir getan hat –«
»Sie hat mir geholfen«, erwiderte Denizen, schärfer als beabsichtigt. »Ohne sie hätten wir nicht überlebt.«
Hieß es nicht, verzweifelte Zeiten erforderten verzweifelte Maßnahmen? Und vor einem halben Jahr war die Situation sehr verzweifelt gewesen. Das Chaos nach dem Angriff des Trios und der drohende Zorn des Unendlichen Königs hatte die Allianz verwirrt zurückgelassen, Vivian war verwundet und Denizen allein gewesen – ein ungeschulter Neuling, der zunächst einmal seinen ersten Cantus beherrschen musste, die schauerlichen Worte, um die Macht von Tenebris zu kanalisieren. Ohne Canti war der Gebrauch dieser Macht für einen Schattenjäger ein Akt schierer Willenskraft – der häufig damit endete, dass besagter Schattenjäger von den Wänden gekratzt werden musste.
Aber dann hatte Venia … mit ihm gesprochen. Die Canti schienen ursprünglich von ihrem Vater zu stammen – noch eine Enthüllung auf dem großen Stapel –, und sie hatte Denizen ein noch nie dagewesenes Verständnis der Canti eingehaucht, um sie beide vor dem Tod zu bewahren.
»Venia hat dafür gesorgt, dass ich sie fließend beherrsche«, sagte Denizen und zwang sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Ich hätte Jahre gebraucht, um sie alle zu lernen. Und nun kenne ich sie. Ich spüre sie in meinem Kopf.«
Jede Stunde. Jede Minute. Ich spüre sie. Eine Schweißperle rann über Denizens Stirn. Er unterdrückte das Bedürfnis, sie wegzuwischen.
»Ich weiß«, unterbrach ihn Vivian. »Ich weiß. Aber du musst vorsichtig sein. Die meisten Schattenjäger lernen nur die Canti, die sie brauchen, weil mit dem Wissen auch die Lust kommt. Das Feuer möchte benutzt werden. Die Macht fordert –«
»Einen Tribut«, beendete Denizen den Satz. Früher war das Mal in seiner linken Hand klein gewesen, bloß eine zerdrückte Blüte aus dunklem Metall, aber ein halbes Jahr mit Canti und Kämpfen hatte sie wachsen lassen. Mittlerweile bedeckte sie beide Handflächen und leckte an den Adern seiner Handgelenke, als sehnte sie sich nach weiterer Ausbreitung. »Ich weiß.«
»Das meine ich nicht«, sagte Vivian müde. »Es gibt noch andere Dinge … mit denen ein Schattenjäger bezahlen kann.« Sie drehte ununterbrochen das Ersatzteil in den Händen. Wie eine Besessene hatte sie alles repariert, das der Zerstörungswut des Uhrwerktrios zum Opfer gefallen war; es schien ihr nicht zu genügen, dass sie getötet worden waren, jeder Hinweis auf ihre Existenz musste ausgelöscht werden.
Es gehörte zu den wenigen Seiten seiner Mutter, die Denizen wirklich verstehen konnte.
»Ich möchte bloß, dass du vorsichtig bist«, sagte sie.
»Ich weiß.«
Denizens Wangen brannten, doch ob aus Wut oder Verlegenheit oder wegen der Macht, konnte er nicht sagen. Es war der nervige und unglamouröse Nebeneffekt, ein Schattenjäger zu sein: Zog man tief an der Macht, leuchtete aus jeder Pore Licht, ein Heiligenschein kriegerischer Absichten … was meistens wie ein leichtes Erröten aussah.
Er deutete mit einem Achselzucken auf die Tür. »Kann ich …«
Vivians Antwort bestand in einem stummen Nicken. Als Denizen in das von Kerzen erleuchtete Dunkel der Seraphim Row verschwand, folgte ihm das Kratzen eines Topfreinigers, ihre Worte hallten in seinem Kopf wider.
Ich möchte bloß, dass du vorsichtig bist.
Die Macht knisterte und zischte in ihm. Sie schien nicht einverstanden zu sein.
Seraphim Row überragte die anderen Gebäude der Straße wie der Knochenhaufen eines Riesen. Wasserspeier sangen stumm die Totenklage vom Dach und fletschten lange Steinzähne. Auf den ersten Blick sahen sie furchterregend aus – ein asymmetrisches Durcheinander aus Klauen und Flügeln, die gemeinsten Körperteile von Schlangen mit Albtraumvögeln gekreuzt. Erst bei genauerem Hinsehen entdeckte man, dass die Wasserspeier nicht brüllten, sondern sich zusammenkauerten, ihre Gliedmaßen waren gekrümmt, als wollten sie einen Schlag abwehren.
Dies war ein Ort, lautete ihre stumme Botschaft, den Monster meiden sollten.
Simon und die anderen waren nach draußen gegangen; Denizen fand sie im Garten hinter dem Haus, wo sie, vom Flickenteppich der Baumschatten gesprenkelt, die letzte Abendsonne genossen.
Er setzte sich neben Darcie, die ihn mit der Schulter anrempelte. »Ich bin froh, dass es euch gutgeht. Jedem von euch.«
»Danke«, erwiderte er mit einem halbherzigen Lächeln.
»Ihr Idioten«, fügte sie missbilligend hinzu. Darcie Wright hatte eine Stimme, die gut tadeln konnte – knapp und präzise. Abgesehen davon war sie mit ihren sechzehn Jahren immer die Klügste – überall –, und wenn sie etwas sagte, hörte sogar Vivian Hardwick zu.
»Okay, damit sind wir offenbar alle gemeint«, sagte Simon, und Denizen grinste. »Sind wir Idioten, weil wir uns haben ablenken lassen oder weil wir uns nicht an den Auftrag gehalten haben?«
»Kannst du dir aussuchen«, sagte sie. »Ich halte nichts davon, sich unnötig in Gefahr zu bringen.«
»Tut mir leid«, sagte Denizen und meinte es wirklich so. Seit Vivian ihn nicht mehr prüfend beäugte, hatte sich ein Teil seiner Wut gelegt.
Abigail musterte ihn mit verschränkten Armen.
»Was ist?«
»Hast du mit ihr geredet?«, bohrte Abigail weiter. »Wie lief es?«
»Okay«, sagte Denizen. »Beziehungsweise – keine Ahnung. Schrecklich. Irgendwas.«
»Super, dann ist ja alles geklärt.«
»Simon«, sagte Darcie. »Reiß dich zusammen.« Die dunklen Brillengläser konnten ihre gespielt ernste Miene nur schlecht verbergen, und als sie sich zu Denizen wandte, wippte ihre schwarze Lockenmähne. »Habt ihr nun geredet?«
Denizen hielt die Hände hoch.
»Wir haben geredet. Aber wir haben nicht miteinander geredet. Wir reden nie miteinander. Es gibt nichts, worüber wir reden könnten.«
»Natürlich nicht«, sagte Simon. »Sie ist ja auch schließlich bloß diese fremde Mutter, die dich vor elf Jahren im Waisenhaus abgeliefert hat, um ihren selbstmörderischen Rachefeldzug durchzuziehen. Worüber solltet ihr da auch reden?«
Hätte jemand anderes die große tragische und ausgesprochen melodramatische Familiengeschichte der Hardwicks in einem Satz zusammengefasst, wäre Denizen vermutlich genervt gewesen. Simon jedoch hatte sich das Recht auf Schnoddrigkeit verdient, weil vieles von Denizens Geschichte auch seine eigene war. Er hatte in jeder einsamen Nacht, die Denizen im Waisenhaus verbracht hatte, im Nachbarbett gelegen. Und er hatte an seinem dreizehnten Geburtstag dasselbe gewalttätige Erwachen der tenebrischen Macht erlebt. Das Einzige, was Simon in dem ganzen Debakel fehlte, war die mysteriöse Rückkehr eines Elternteils.
Denizen war sehr froh, dass Simon mit ihm in der Seraphim Row war. Es gab ihm etwas mehr das Gefühl eines Zuhauses. Sehr viel mehr als seine Mutter, und das war im Grunde genommen schon das eigentliche Problem.
Im Allgemeinen redeten Vivian und Denizen nicht miteinander. Beziehungsweise … sie redeten über die Ausbildung, den korrekten Einsatz der Canti oder in welche Richtung man den Schleifstein über eine Klinge ziehen musste. Nach dem Angriff der Tenebrae hatten sie einmal ein ausgesprochen langes Gespräch darüber geführt, welche Menge Mörtel nötig wäre, um das Badezimmer neu zu kacheln.
Worüber sie nicht gesprochen hatten, war, warum sich seine Mutter nach der Ermordung seiner Vaters durch das Uhrwerktrio vor elf Jahren für die Rache entschieden hatte, statt … nun ja … seine Mutter zu sein.
»Wir haben über das geredet, worüber wir immer reden«, sagte Denizen und krümmte die Schultern, als wolle er sich zusammenfalten und unsichtbar machen. »Sie hat Angst, mit den ganzen Canti in meinem Kopf könnte es ein … böses Ende nehmen. Sie möchte mit mir über Zurückhaltung sprechen. Was ich total verstehe. Darin ist sie schließlich Expertin.«
Das kam ein wenig härter als erwartet, aber es war Denizen egal. »Es musste erst fast zur Apokalypse kommen, bis sie mir letztes Mal von meinem Vater erzählt hat. Aber jetzt, wo die Welt nicht mehr in ernsthafter Gefahr schwebt, hat sie wieder dichtgemacht.«
»Du könntest versuchen, sie darauf anzusprechen«, schlug Darcie vorsichtig vor. »Und ihr ein bisschen entgegenkommen?«
»Warum sollte ich?«, konterte Denizen wütend. »Warum kann nicht sie mit mir reden? Sie ist jahrelang vor mir davongelaufen, und jetzt soll ich einfach was – vergeben und vergessen? Schon beim Gedanken daran möchte mein Kopf am liebsten explodieren. Und dann kommt sie mir immer wieder mit Venia und starrt mich an, als sei ich eine tickende Zeitbombe. Als würde etwas mit mir nicht stimmen, nur weil mir …«
Denizens Lippe zitterte an der Stelle, wo die Blitze sie einst berührt hatten. Er räusperte sich eilig.
»Nur weil mir eine Tenebra geholfen hat.« Er seufzte. »Weißt du, mit euch kann ich darüber reden, das ist … das ist einfach. Ihr versteht es.«
Er musterte die Gesichter um sich herum.
»Ihr versteht es doch, oder?«
Abigail hielt eine Hand hoch. »Na ja … Nein. Du hast recht. Wir tun, was getan werden muss.«
Simon zuckte die Achseln. »Im Allgemeinen aber lieber ohne Apokalypse.«
Darcie runzelte die Stirn. »Ich würde es gern verstehen«, sagte sie vorsichtig. »Ist alles in Ordnung mit dir? Du hast uns zwar erzählt, was mit Venia passiert ist, aber wir haben es nicht diskutiert. Nicht richtig.«
Die Canti rutschten unbehaglich in Denizens Kopf hin und her. Schon der leiseste Gedanke scheuchte sie auf – sie reagierten wie Vögel, die mit einer Leitung in Berührung kamen. Wenn sie sich bewegten, in seinem Kopf drehten, konnte er sich nur schwer konzentrieren oder denken. Manchmal erkannte er ein Muster, ähnlich wie man im Knistern der Flammen fast eine Sprache heraushören konnte.
Es dauerte einen Moment, bis er merkte, dass er nicht auf Darcies Frage geantwortet hatte. »Bei mir ist alles bestens. Wirklich. Außerdem habe ich Venias Hilfe gebraucht. Es war die einzige Möglichkeit zu überleben.«
»Ich weiß«, erwiderte Darcie ruhig. »Ich bin sicher, dass Venia tat, was es tun musste.«
Das von ihr gewählte Pronomen entging Denizen nicht, und so duckte er sich hinter einen nichtssagenden Spruch.
»Das wird sich bestimmt irgendwann klären.«
»Bei Vivian klärt sich nichts einfach so, Denizen«, widersprach Abigail. »Wenn sie nicht in der Lage ist, das Gespräch anzufangen, solltest du es tun. Ganz ehrlich, leg einfach die Karten auf den Tisch –«
»Die kann ich nicht auf den Tisch legen. Der Tisch würde zusammenbrechen«, sagte Denizen, etwas bissiger, als geplant, dann seufzte er. »Entschuldigung. Mach ich. Wenn ich so weit bin.«
Er wusste, dass seine Freunde recht hatten. Aber über seine Gefühle zu reden gehörte nicht zu seinen Stärken. Schließlich war es eine Fähigkeit, die sich bislang als wenig nützlich erwiesen hatte. Nachdem er elf Jahre vom Tod seiner Eltern überzeugt gewesen war, hatte Denizen eine ziemlich simple Bewältigungsstrategie entwickelt:
Gefühle um jeden Preis vermeiden. Schön sicher einsperren. Vergrab sie irgendwo ganz tief in dir drin, ohne Etikett und anonym, im hintersten Winkel deines Hirns.
Er konnte die Boxen jetzt fühlen – Stapel auf Stapel – und wie sie beim kleinsten Atemzug schaukelten.
Sobald du eine herausziehst, stürzt alles zusammen.
Als Denizens Vater vom Trio getötet worden war, hatte Vivian Rache geschworen, in vollster Überzeugung, dass sie dabei sterben würde. Hätte sie sich nicht hartnäckig als untötbar erwiesen, hätte Denizen sie nie kennengelernt.
Wie sollte man das je begreifen?
Nein. Es war entschieden einfacher, jedes Gefühl zu ignorieren, beiseitezuschieben, davor davonzulaufen oder es den Flammen zum Fraß vorzuwerfen. Und das Schlimmste war die Frage in seinem Kopf –
Tat Vivian genau dasselbe?
Manchmal fragte sich Uriel, wie ein Leben ohne Gewissheit wäre.
Auf jeden auserwählten Croit kam ein Dutzend Gunstlose. Vom Feuer ungesegnet, kümmerten sie sich um die Versorgung von Eloquenz und um alle Fragen, die mit Draußen zu tun hatten – selbstverständlich überwacht von Großvater. Dann gab es jedoch auch Andere – weltliche Nichtse, die wie Ameisen auf der Welt herumschwärmten. Falls Großvater überhaupt geruhte, sie zur Kenntnis zu nehmen, sprach er nur mit Abscheu über sie.
Da nur Auserwählte den heiligen Boden von Eloquenz betreten durften, wusste Uriel von ihrer Existenz lediglich durch Hörensagen. Und trotzdem hatte Uriel sich immer Gedanken gemacht.
Wie mochte es wohl sein, wenn man kein Croit war?
Woher wusste man, was man sein wollte? Wie fand man sein Ziel? Suchte man sich einfach zufällig etwas und tat es dann? Woher wusste man, ob es das Richtige war?
Irrsinn.
Die Croits waren sich sicher, weil sie die Auserwählten waren, und Uriel war der Erlöserin dankbar, dass sein Leben keinen mutwilligen Zufällen überlassen war.
»Erzähl mir die Geschichte«, verlangte Großvater, seine Stimme hallte durch den Schrein.
»Es ist keine Geschichte«, antworteten Uriel und Ambrel gleichzeitig, er spürte, wie das Feuer in ihr raste, und wusste, dass sie seines ebenfalls spürte.
»Dann erzähle mir die Wahrheit.«
Die Krieger im Schrein trugen Rüstungen, allerdings hatten sie ihnen nicht viel geholfen. Jeder von ihnen war hier umgekommen, mit vor Angst und Hass weit aufgerissenen Augen. Uriels geübter Blick erkannte zahllose unterschiedliche Rüstungen und Waffen – dies war keine Armee, sondern ein Angriff von Einzelkämpfern, die eine gemeinsame Sache verband. Sie besaßen nur zwei Gemeinsamkeiten: erstens, jeder von ihnen war im Zorn gefallen. Zweitens, alle waren aus Eisen.
Die Wahrheit.
Uriel begann, wie sie es geübt hatten. »Es lebte einst ein Mann. Ein großer Mann. Der Erste Croit. Er wanderte durch die Welt, und die Dunkelheit konnte ihn nicht am Sehen hindern.«
»Und die Dunkelheit konnte ihn nicht am Sehen hindern«, wiederholten Großvater und Ambrel, die Hände vor die Augen haltend. Obwohl im Schrein kein Licht brannte, konnte Uriel nun hervorragend sehen, jedes kleine Detail hob sich in kaltem Silber ab.
Der Glanz. Danke, meine Erlöserin.
Ambrel stieg über eine Frau im Todeskampf, die Augen hinter dem Helmgitter waren weit aufgerissen. Die Hände eines Mannes streckten sich in die Höhe, als wolle er etwas in der Luft formen, sein Mund war zu einem bösartigen Zähnefletschen aufgerissen.
»Er hörte eine Stimme«, fuhr seine Schwester fort und ging zwischen den Statuen hindurch. »Eine Dunkelheit in der Gestalt eines Mädchens.« Ein strahlendes Lächeln erhellte ihre Züge. »Sie verliebten sich ineinander.«
Es schien so unbedeutend. Wie konnte ein kleines Wort so viel Bedeutung haben. Wenn Uriel über Liebe nachdachte, dachte er deshalb an diese Liebe, an die Gunst in seiner Brust – ihre weißglühende Hitze. Sie sehnte sich danach, eingesetzt zu werden, herauszuquellen und die Dunkelheit zu erhellen, aber Uriel hielt sie im Zaum, indem er die Worte benutzte, die ihn Großvater gelehrt hatte.
Es steht mir nicht zu, sie zu benutzen.
Sie gehört Ihr.
In Eloquenz wimmelte es vor Drähten, doch hier kamen sie alle zusammen, ein elegantes Gewirr von gezacktem Schwarz. Sie bildeten Kreis um Kreis, wanden und schlangen sich ineinander, bis ein weitschwingender Rock entstand, danach die Schlankheit einer Taille.
Die Erlöserin der Croits – eine Skulptur aus Tausenden feinen Drähten, die sich spreizten, um Gliedmaßen und einen Brustkorb und einen Kopf zu formen. Eine Göttin im Drahtgittermodell.
Sie war wunderschön.
Nicht schön in dem Sinne, in dem ein Mensch schön sein konnte – nein, es war eine dürftige und schreckliche Art Schönheit, eine Schönheit, die der Insel ähnelte, die Art Schönheit, die auf den Tod abzielt.
»Sie verliebten sich ineinander«, wiederholte der Großvater und in seiner Stimme lag eine seltsame neue Traurigkeit. Uriel hatte noch nie darüber nachgedacht, aber das Zittern in Großvaters Worten ließ Uriel überlegen, wie einsam das Leben des alten Mannes sein musste. Großmutter war schon so lange tot –
»Ihr Brautschleier war das Licht einer Welt.« Großvaters rechte Hand umklammerte den leeren linken Ärmel. »Und in seiner Brust blühte das Feuer der Gunst auf.«
Es war ein simpler Katechismus. Leicht zu merken, genau, wie solche Unterweisungen sein müssen. Die Worte, die alle Croits kannten.
SIE LIEBTE.
SIE STAHL.
UND WIR HATTEN DAS FEUER.
Auf dieser Geschichte beruhte ihre Gewissheit.
Ambrels Hand nahm Uriels. Ihre Stimme war leise. Ehrfürchtig.
»Sie ist vollkommen. Oder?«
Drähte teilten sich und verwoben sich miteinander, um eine Andeutung von Wangen zu erschaffen, Augenhöhlen und eine grausam gebieterische Nase. Ihr Haar fiel über den dürren Zacken Ihrer Wirbelsäule, vielleicht wurde es auch zu Ihrer Wirbelsäule – bei all dem Schwarz in Schwarz ließ sich das schwer sagen. An manchen Stellen konnte Uriel durch Löcher in Ihr hindurchsehen, an anderen war Sie undurchdringlich.
Aus Ihrem Körper quollen gezackte Kaskaden feiner Drähte, wickelten sich um die Gliedmaßen der Statuen, würgten, schlugen und prügelten wie tausend Schwertklingen gleichzeitig.
Aus Solidarität schmerzte auch Uriels Herz. Dies war die Geschichte seiner Familie – seine Geschichte, direkt vor ihm. Uriel wusste, dass die Weltlichen ihren eigenen Glauben hatten – Glaubensüberzeugungen, die aus Ungewissheit, aus Angst, aus Hoffnung geboren worden waren. Idioten. Wie konnte man an etwas glauben, das man nicht sah?
Seine Göttin befand sich direkt vor seinen Augen. Sie war die Wahrheit. Im Vergleich zu Ihr kam sich eher Uriel unwirklich vor, wie eine leichte Papierlaterne, in der Ihre Flamme schwach brannte.
»Und nun erzähle mir vom Widersacher.«
Großvater hatte sich bereits zwischen den erstarrten Kriegern hindurchgeschlängelt, als würden sie überhaupt nicht existieren, und stand in der Mitte des Schreins.
Sie waren keine Statuen. Das hätte Uriel sogar ohne den schwarzen Eisenfleck in seiner Handfläche gewusst. Statuen besaßen nicht die qualvoll erstarrte Lebenskraft dieser Metallkrieger. Statuen hatten keine Wimpern.