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Den Reiseautor Jörg Martin Dauscher verschlägt es corona-bedingt in seine fränkische Heimat. Dort angekommen macht er, was er unterwegs immer macht: Er recherchiert und führt Gespräche, um herauszufinden, wo er ist und wie sich seine Umgebung zusammensetzt. Es kommt zu Gesprächen mit nahezu allen Gruppen in der Stadt - und plötzlich hat er ein aufregendes Porträt, ein Sittengemälde der deutschen Kleinstadt Treuchtlingen verfasst. Die sich als viel weltläufiger entpuppt, als er dachte.
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Seitenzahl: 79
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Jörg Martin Dauscher
TETAUN
Treuchtlinger Heimatgeschichten
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2022
Lektorat / Korrektorat: Isabell Michelberger
Redaktion: Anja Sandmann
Layout, Umschlaggestaltung: Laura Müller
E-Book: Mirjam Hecht
ISBN 978-3-8392-7216-9
Impressum
Die Hiesigen und die »Jenigen«
Bahnhof Tetaun
Im Zentrum der Gottlosen
Die Blume von Tetaun
Leben in Fränkisch-Sibirien
Rückkehr in die Fremde
Kein Ort, kein Treffpunkt
Die Siedlung über der Stadt
Lost in the Supermarket
Neophyten
Irische Trendsetter
Gastarbeiter-Kinder
Verschwinden, Vernichtung und Fläche
Aliens
Archipel der Kirchtürme
Kam ein heißer Juli
Danke!
Ich wurde unweit von Treuchtlingen geboren, so richtig dazu gehört habe ich trotzdem nie. Dies liegt daran, dass ich auf dem Dorf aufgewachsen bin, in dem die Einheimischen mich nicht zu den ihren gezählt haben. Ich war kein Hiesiger, ich gehörte zu den »Jenigen«. Zwar entstammt mein Vater einer fränkischen Familienlinie, die ursprünglich aus Kitzingen kommt, doch das ist viel zu weit weg, um »von hier« zu sein. Meine Mutter wiederum ist ein Flüchtlingskind, wurzelt also in Landesteilen, die jenseits der heutigen deutschen Grenzen liegen. Sie wuchs im Norddeutschen auf. Erst zum Studium verschlug es sie in den Süden. Wir waren daher »Zugereiste«: der fränkische Vater, die preußische Mutter, meine Schwester und ich. Und insbesondere in der Volksschule bekam ich das zu spüren, denn ich sprach nicht die Sprache meiner Klassenkameraden aus Ellingen, Stopfenheim oder Höttingen. Ich sprach Hochdeutsch. Bei den Kindern und Enkeln jener Flüchtlinge, die direkt nach dem Krieg aus den Provinzen Ostpreußens und des Sudetenlandes zu Abertausenden nach Franken kamen, blieb die Unzugehörigkeit ebenfalls bestehen. Ich glaube, keiner hat sich jemals als »Franke« bezeichnet. Mir fiele das ja auch nicht ein: Ich komme aus Franken, für einen Franken aber halte ich mich nicht. Hätte ich eine Fränkin geheiratet, dann wäre ich ein »Eingeheirateter«, aber immer noch kein Hiesiger. Man kann väterlicherseits aus einer fränkischen Familiendynastie stammen, im Landkreis geboren sein und kommt doch nicht von dort: Man bleibt ein »Jeniger«.
Gleichzeitig hat sich die Zusammensetzung der Bevölkerung seit den 30er Jahren massiv verändert: Die jüdischen Gemeinden Treuchtlingens, Pleinfelds, Gunzenhausens und Ellingens gehören der Vergangenheit an. Ganze Dörfer sind dem Nachkriegsmangel an Männern durch endogame Strategien begegnet, wodurch dort bis auf den heutigen Tag der Genpool sichtbar eingeschränkt ist. Während des Wirtschaftswunders waren es vor allem Italiener und dann Türken, die zuzogen, später kamen Jugoslawen, mit der Wiedervereinigung die Aus- und Übersiedler. Der wachsende Wohlstand war es, der dem Kinderreichtum der Bauernfamilien ein Ende setzte. Darüber hinaus wandert die Jugend seit den 80er Jahren beharrlich ab. Mittelfranken gilt als strukturschwache Gegend. Wer Bildung und Karriere will, der sucht diese andernorts. Gefüllt wurde diese Lücke durch Zuzug, Umzug, Migration, Remigration, Flucht und Asyl. Heute leben im Landkreis insgesamt 100.000 Menschen aus 140 Nationen. Diese letzte Zahl erzählt noch nicht einmal die Geschichte derjenigen, die einen deutschen Pass haben, eine deutsche Vergangenheit andernorts oder die Staatsbürgerschaft durch Heirat erlangten.
Dass die Großstadt Vielfalt sei, das Land aber einfältig, dies ist ein großes Missverständnis. Die Vielfalt auf dem Land wird jedoch von den dort Gebürtigen im Alltag kaum wahrgenommen: In meiner Heimatstadt versuchen sich die Weißenburger regelmäßig in rudimentärem Italienisch, obwohl die Pizza von Albanern gebacken und die Eisdiele von Rumänen bewirtschaftet wird. Sie haben keine Ahnung, wen sie vor sich haben. Die meisten kümmert es auch nicht. Wo aber kommen all diese Menschen her, wie sind sie hier heimisch geworden, warum geblieben? Wo waren sie vorher? Wie sind sie hierhergekommen, auf welchen Wegen und Umwegen? Und vor allem: Wer sind sie? Wer sind die »Jenigen«?
Der Kulturladen von Treuchtlingen war seit Anbruch der Pandemie verwaist, nichts fand mehr statt. Man hat mich eingeladen, das ehemalige Ladengeschäft in der Bahnhofstraße zu nutzen, so wie ich will und wie es die Corona-Maßnahmen gestatteten: Es gebe eine kleine Küche, es gebe eine Werkstatt mit einer Matratze. Ich könne also dort hausen. Und ich könne mir die Infektionsschutz-Verfügung zunutze machen, denn Menschen zweier Haushalte dürften sich treffen. Ich werde also Folgendes tun: Nachdem ich derzeit nicht hinaus darf in die Welt, lade ich die Welt zu mir ein. Ich will die anderen kennenlernen: Heimat als Bestandsaufnahme, Heimat als Ausgangspunkt und Ziel, Herkunft als Strecke, Biografie als das, was einem zufällt, wohin es einen treibt.
Treuchtlingen war wie ausgestorben. Niemand außer mir stieg aus dem Zug, niemand war auf der Straße. Einzig ein bemerkenswert modisch gekleideter junger Mann. Er saß auf der Bank vor dem Bahnhof und spielte noch nicht einmal mit einem Mobilfunkgerät. Er saß einfach da – wie ein Dealer ohne Kundschaft und ohne Strafandrohung, ein fehlplatzierter Farbfleck in eintöniger Umgebung. Ich fixierte ihn, bis er sich mir zuwandte, und fragte dann:
»Nix los?«
»So ist das. Willkommen in Tetaun, Fremder!«
Ich kam also als Flüchtling zurück in die Heimat, was an den absonderlichen Umständen des Frühjahrs 2020 lag. Während der März ohne Regen geblieben war, die Blaumeisen tot vom Himmel fielen und bei Tschernobyl die Trockenfeuer wüteten, war ich nicht sehr weit gekommen. Ein Virus hatte mir und all den anderen Bewohnern der bekannten Welt enge Grenzen gesetzt – also jener Welt, von der das Fernsehen in engen Ausschnitten berichtete. Ein paar Tage lang wollte ich das alles nicht einsehen, wand mich und sann nach Auswegen, nur um mich schließlich zu fügen und wochenlang auf vier weiße Wände zu starren. Erst im April wagte ich erste Schritte hinaus in die Welt. Diese führten mich nach Treuchtlingen – in eine Kleinstadt Mittelfrankens, die ungefähr zehn Kilometer südlich meiner Heimatstadt liegt. Nichts war mir zu diesem Zeitpunkt fremder als Treuchtlingen: Mit 19 ging ich aus der Gegend fort, und heute noch habe ich einen kindlichen Blick auf die unmittelbare Umgebung. Im Gegensatz zu denen, die geblieben sind, hat sich mein Radius vor Ort nie erweitert, er blieb auf die Grenzen meiner Heimatstadt beschränkt, die Nachbarstadt war nach wie vor ein fremdes Pflaster.
Aber zunächst muss ich erzählen, wie Treuchtlingen zu seinem Spitznamen kam: Ahmed nennt die Stadt Tetaun, denn obwohl er inzwischen hervorragend Deutsch spricht, will ihm der eigentliche Name des Städtchens einfach nicht über die Lippen kommen. Wohl an die hundert Mal habe man ihm den Namen vorgesprochen: mal langsam, dann schnell, mal in einem Schwung, dann in alle Einzelteile zerlegt – allein, es fruchtete nicht. Die Anfangskonsonanten schaffte er noch, der folgende Doppellaut war ebenfalls kein Problem: »Troy…«. Weiter aber war Ahmed nicht gekommen, denn jetzt folgte einer jener gemeinen Zischlaute, die aus der deutschen Sprache allenthalben hervorzucken wie Schlangen aus der Wüste. Dem nicht genug, denn die zwei darauffolgenden Dentallaute, sozusagen auf einem Haufen, machten das ganze Gebilde unaussprechlich: »Troy…CH-T-L!« Irgendwann hatte Ahmed aufgegeben und die Stadt einfach Tetaun genannt. Aber auch andere Ortsnamen verwandelten sich durch Ahmeds Intonation in ferngerückte, fremdartige Stätten. Ahmed steuerte Melodiöses bei, das diesen profanen Namen einen seltsam exotischen Klang verlieh. Er sprach die Konsonanten weicher und stimmhafter aus, dehnte die Vokale und setzte eigene Betonungen. Dies hatte zur Folge, dass ich Orte, die mir von Kindesbeinen an geläufig waren, aus seinem Mund kaum wiedererkannte: »Inne-Goldéstadt« lief auf Ingolstadt hinaus, »Muh-henne-ché« war München. Jedes Mal musste ich nachfragen, und erst im zweiten oder dritten Anlauf wurden sie verständlich. An Treuchtlingen versucht sich Ahmed nicht weiter, Treuchtlingen bezeichnet er nur noch auf seine ganz eigene Art und Weise als Tetaun, denn Treuchtlingen ist seine Stadt und der Bahnhof seine Meile.
Wahrscheinlich gehört Ahmed zu jenen jungen Männern, die Hans, der Sargmacher, als »Gesocks« bezeichnet. Wahrscheinlich hat Hans nie verstanden, warum Ahmed damals am Bahnhof rumhing und was er dort tat; zumal Ahmed in einer Stadt wie Treuchtlingen eine ungewöhnliche Erscheinung ist. Ahmed legt Wert auf gute Kleidung. Gut bedeutet modischer Schnitt und absolute Sauberkeit, das T-Shirt gebügelt. Wahrscheinlich komme das vom englischen Schulsystem, gibt Ahmed mir Auskunft, als ich näher nachfrage. Die Uniform habe immer tadellos sitzen müssen, damals, in Mogadischu, Somalia. Der Witz jedoch ist, dass Ahmed wirklich der Dealer war, für den die Älteren ihn vermutlich gehalten haben. Allerdings machte er nicht in harten Drogen, seine Klientel war die Jugend Treuchtlingens, welcher der Erwerb von Tabak in den zwei infrage kommenden Läden wegen ihrem Alter unmöglich war. Ahmed aber war bereits 18, für ihn kein Problem. Natürlich habe er davon profitiert, denn jeweils ein wenig Tabak sei dabei abgefallen. Jetzt könne er sich das selbst leisten, von seinem Lehrlingsgehalt, aber damals sei das kaum möglich gewesen. Heute noch besucht Ahmed jedes Mal den Bahnhof, wenn er in Treuchtlingen ist. Die Jugendlichen am Bahnhof grüßen ihn, er genießt Respekt bei denen, die geblieben sind. Er selbst aber ist einen Schritt weiter gegangen und lernt Anlagenbau. Für Tabakdeals hat er keine Zeit mehr. Und es lohnt sich wohl auch nicht mehr für ihn, der jetzt ein Einkommen hat. Aber er raucht noch immer, inzwischen jedoch Filterzigaretten einer guten Marke.